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V

Nachts stiegen sie in Mantua aus, aber es war schwül wie bei Tage. Am Morgen erschrak Mai über Lolas Aussehen. Sie habe kaum atmen können, sagte Lola; Mücken seien unter ihren Bettschleier gedrungen. Und Mai:

»Ah! Du verträgst nichts. Drüben bei uns würdest du etwas erleben.«

Kaum aufgestanden, streckte sie sich wieder aus. Von den geschlossenen Läden war ein grünlicher Schimmer auf ihrem weißen, runden Arm, den sie mit kindlicher Genugtuung betrachtete.

»Jetzt ist's ganz wie zu Hause.«

Nie hatte Lola sich weniger heimisch gefühlt. Sie überlegte, daß sie hierher nur wegen einer Persönlichkeit geraten sei, die es gar nicht gab.

»Nun muß ich mich wohl nach meiner Freundin umsehen«, äußerte sie.

»Es ist wahr, du bist schon wieder angezogen. Eine richtige Deutsche bist du!«

Lola überließ Mai der Einschläferung durch die träumerischen Geräusche im Hof und ging aus. Die Straße war von Hitze wie verzaubert. Unter dem alten Uhrturm hatte ein kleines, von Zeltdächern beschirmtes Marktgedränge etwas künstlich Aufgewecktes: als würden diese paar munteren Wesen dem ungeheuren Druck der leeren, heißen Stadt auf einmal nicht mehr widerstehen können, sich aneinander lehnen und einschlafen. Am Ende der nächsten Gasse galt es, sich in einen Platz zu stürzen, über dem das Licht wogte und blendete wie auf einem Meer. Dort weit hinten, am schmalen Schattenufer von kaum durchdringlicher Schwärze, begegneten zwei schwarze Gestalten sich, neigten mit groteskem Ruck die großen Priesterhüte gegeneinander, – und plötzlich klappte die Matratze der Domtür über ihnen zu.

Lola eilte mit angehaltenem Atem durch die Sonne. Ein Arkadenhof nahm sie auf, überlieferte sie einem zweiten mit einer feurig geschweiften Kirchenfassade, – und dann fand sie sich in einem, um den die Säulen zerbrechlicher tänzelten und, wie unter Komplimenten, zu einem kleinen gezierten Theater geleiteten, das geborsten, bemoost, mit Schutt auf seinen rosigen Marmorschwellen, noch zu lächeln schien, galant und schmerzlich wie ein Rokokogesicht, worauf die Schminke eintrocknet in Staub. Gras wuchs aus den feinen Fliesen; darüber flimmerte die Luft; und ging man, wandte man rasch noch den Kopf nach einem gespenstischen Kichern und Fächerschlagen ... Da starrte aber, im nächsten Hof, eine riesige dunkle Burg einen an. Hinter ihrem Tor setzte eine graue Brücke ein, um, ein endloser Trauermarsch, durch Sümpfe zu ziehen.

Wie Lola sich in ihre Straße zurückgefunden hatte, ward vor einem Café, dessen Tür Karyatiden bewachten und worin niemand saß, ein sehr alter Herr von Wirt und Kellner an eine ungetüme schwarze Karosse begleitet. Der Kutscher nahm die schwarze Peitsche in seinen schwarzen, faltigen Handschuh, und knarrend bewegte sich das Gefährt.

Im Hotel hing Mais Hand noch über dieselbe Armlehne.

»Meine Freundin ist –«

Lola hatte sagen wollen: »Abgereist«, schrak aber vor einer ganzen Lüge zurück.

»– ist nicht zu finden«, sagte sie.

Mai erstaunte nur leicht.

»Wirst du sie noch einmal suchen?« fragte sie.

Lola suchte sie bis zum Abend noch mehrmals. Dann erklärte sie die Wohnung der Freundin für gefunden, sie selbst aber kehre erst in mehreren Tagen von einer Reise zurück.

»Wir haben nichts Besonderes vor, wollen wir nicht hier warten?«

Mai wandte nichts ein. Wenigstens war Zeit gewonnen.

Und Lola, die im Zimmer nicht Ruhe fand, durchirrte weiter die tote Stadt, betrat hinter verlassenen Haustoren, über denen die schöne Palastmauer barst, feuchte Höfe mit schmuckreichen und zerbrochenen Brunnen – und mußte denken: wenn die müde, ausgestorbene Treppe nun in all seiner Lebendigkeit Pardi herabliefe! Da drückte die Sonne noch dumpfer auf das leere Pflaster. Alle hatten sie sich selbst überlassen!

Auf der Flucht vor der nahenden Sehnsucht fuhr sie, ganz allein, in das braune, traurige Land hinaus. Weiß stand darin, auf ihren groben Säulen, eine kleine Gnadenkirche: innen bäurisch bunt und die Wände umringt von Holzfiguren in den schweren Stoffen und Rüstungen von einst, von den Bildern Geretteter. Jener Ritter war aus der Schlacht bei Pavia heil hervorgegangen, diese Dame von einem Pestgeschwür gesundet, und der verdächtige Gauch dort in Schnürkittel und schütterem Bart hatte schon im Block gelegen, mit Feuer an den Füßen, und doch hatte die Madonna ihn frei gemacht. Und Lola erschien sich auf einmal als die Beute einer Leidenschaft, einer Krankheit, eines barbarischen Übels; wünschte sich, gleich diesen die Madonna anrufen zu können; sank, vernichtet von der Einsamkeit dessen, den keine Götter mehr hören, auf eine Bank.

Als ihr dann wieder die Sonne ins Gesicht schien, war sie beschämt, als habe sie sich dort innen eine Komödie vorgespielt.

›Dieses Leben macht mich verrückt. Warum laß ich ihn nicht kommen: alles wäre so einfach, wäre freundschaftlich abzumachen.‹

Zwar bedachte sie sogleich, er sei kein Freund: er, der mit jedem Tag schwerer zu Vermeidende ... Und auch Mai hatte Lola hierbei nicht zur Freundin. Das erbitterte sie. Wie oft hatte Mai sich, wenn's nicht not tat, zu einem Opfer erboten. Jetzt kam's darauf an, – und Mai schwieg. Sie hütete sich, noch einmal, wie am Anfang der Bekanntschaft, Lola zu fragen, ob sie Pardi heiraten wolle; denn diesmal fürchtete sie eine andere Antwort zu bekommen. Sie tat, als sei nichts los, und nötigte Lola, zu heucheln. Die Unaufrichtigkeit und die geheime Spannung zwischen ihnen beiden lagen, fand Lola, nur an Mais bösem Willen.

Genug, ein Ende mußte gemacht werden; und wie Lola eintrat, sagte sie sofort heraus:

»Also sie kommt nicht mehr zurück nach Mantua. Damit wir nun nicht ganz umsonst gewartet haben, könnten wir wenigstens Pardi kommen lassen. Er hat es mir angeboten.«

Gelassen antwortete Mai:

»Mir auch. Ich dachte sogar, wenn wir ankämen, würde er schon dasein. Du würdest dafür gesorgt haben.«

Lola starrte Mai an. Da hatte sie die ganze Zeit gelegen, hatte Lola gewähren lassen und sich ihr Teil gedacht!

»Dann haben wir wohl Verstecken miteinander gespielt?« fragte sie. Mai erwiderte:

»Komm her, ich will dich umarmen.«

Aber während der Liebkosungen errötete Lola. Sie ging hinaus. ›Oh, sie hat sich gehütet, zu fragen, ob ich ihn liebe.‹

 

Bei seiner Ankunft waren sie am Bahnhof. Lola dachte: ›Das erstemal, daß Mai sich angezogen hat.‹ Er begrüßte Lola zuerst mit den Augen und Mai zuerst mit der Hand. Lola achtete peinlich darauf. Keine Einzelheit seines Verhaltens gegen sie und Mai entging ihr. Den Champagner bestellte er, nachdem Lola ihn abgelehnt und Mai ihn angenommen hatte. Lola trank keinen Tropfen. Er wünschte noch in Mantua zu bleiben.

»Wir haben es genossen«, erklärte Lola. Mai war's recht.

»Wunder romantischer Versunkenheit werde ich Ihnen zeigen«, verhieß er.

»Wir bekommen noch das Fieber«, meinte Lola; und Mai:

»Bisher hast du dich gar nicht gefürchtet und warst immer unterwegs.«

Im Palazzo del Tè, unter dem Schwall der Fleischlichkeiten, die nach Jahrhunderten noch aus Decken und Wänden überquollen, beneidete und verachtete Lola Mais unbefangene Freude. Sie selbst konnte Pardi nicht in die Augen sehen und gab zornige Antworten. Er neckte sie anfangs mit ihrer Übellaunigkeit, dann zeigte er sich um ihr Befinden besorgt, und auch Mai äußerte Besorgnis. ›Sie weiß ganz gut –‹ dachte Lola und verlor vollends die Herrschaft über ihre Nerven. Als man sich in der Stadt eine Kapelle zeigen ließ, stand sie teilnahmslos neben dem Sakristan, der den Stock mit der Kerze über die Wände hinführte. Pardi drehte ihr, auf Mai geneigt, den Rücken. ›Ich werde ihnen nicht im Wege sein‹, sagte Lola sich; ›aber zu ihrer Bedeckung gebe ich mich auch nicht her!‹ Und wie der Sakristan den Schrein aufschloß, machte sie sich leise davon, schmerzlich berauscht von ihrer Rache. Sie erwartete, Mai werde an ihr Bett kommen, und war entschlossen, sich schlafend zu stellen. Aber Mai blieb aus.

Am Morgen beschäftigte Pardi sich nur mit Lola. Ihr schien's, daß Mai sich zurückhalte; und sie argwöhnte, dies sei Verabredung, er habe Mai im voraus um Entschuldigung gebeten. Sie sah ihn plötzlich fest an.

»Sie brauchen nicht soviel Rücksicht auf mich zu nehmen, wissen Sie.«

Wie er etwas einwandte, hob sie die Schultern.

»Nachgerade habe ich doch schon Erfahrung darin, daß meine Mutter besser gefällt als ich; und ich kann Ihnen versichern, daß mich das nicht beleidigt.«

»Sie sind kokett.«

»Gar nicht. Ich brauche niemand. Jeden gönne ich meiner Mutter.«

Er sagte zuredend: »Sie werden doch begreifen, daß ich Ihrer Mama den Hof machen muß.«

Lola fand nichts mehr. Wie lag es nun? Oh, grundfalsch! Sie erschrak tief, wie schlimm sie sich schon verrannt habe. Am zweiten Tage! ›Was soll daraus werden. Wenn ich mich nicht zusammennehmen kann, bin ich verloren.‹ Von der Minute an war sie ruhig. Und aus der Genugtuung, daß sie nichts mehr durchblicken ließ, ward allmählich wirkliche Überlegenheit.

Sie brachen nach Viareggio auf. Pardi hielt sie noch einen Abend in Florenz zurück, obwohl Mai gern ihre Sachen ausgepackt und Lola lieber am Meer als in der heißen Stadt geschlafen hätte. Aber er erklärte, es würde nicht gut aussehen, wenn er mit fremden Damen so spät noch ankäme. Auch das Hotel zum Übernachten wählte er ohne Rücksicht auf ihre Wünsche. Zuvorkommend und bestimmt brachte er sie in eins, wo sie bessere Bedienung und ein gediegeneres Publikum finden würden. Bevor er sich verabschiedete, um in sein eignes Haus schlafen zu gehen, empfahl er sie dem Hotelier. Er, der Conte Pardi, sei verantwortlich für die Damen.

»Hast du nicht auch den Eindruck?« sagte Lola nachher zu Mai. »Wenn wir jetzt abreisen wollten, würde man ihn holen und uns vorher gar nicht fortlassen.«

»Eigentlich ist es ganz hübsch hier«, antwortete Mai; und Lola dachte, klarer als Mai: ›Einmal nicht allein über sich bestimmen; nicht mehr gar so frei sein und überall hingehen dürfen, ohne daß etwas darauf ankommt: beinahe tut es wohl ...‹

Dennoch geriet sie noch vor der Weiterfahrt mit Pardi aneinander. Sie mußte aus einem Kupee wieder aussteigen; ein Paar hatte darin gesessen, dessen gesetzliche Zusammengehörigkeit Pardi leugnete.

»Aber Sie werden jetzt schrecklich!«

»Ich bin für Sie verantwortlich! Sie kompromittieren mich!«

Lola war fassungslos. Mai äußerte schüchtern:

»Auch ich habe dir so etwas schon manchmal verweisen wollen, Lola.«

Plötzlich fuhr Lola auf, als habe sie nun verstanden.

»Wie kann ich denn Sie –«

Aber sie nahm sich zusammen und sah lächelnd und mit Kopfschütteln zum Fenster hinaus.

Bei der Ankunft wollte sie zu Fuß gehen, mußte aber, denn ein Auftritt drohte, in den Omnibus steigen. Die Hotelzimmer, die Pardi seinen Damen zugedacht hatte, waren am Abend vergeben. Lola sah ihn bei der Gelegenheit zum erstenmal in Wut; sie dachte: ›Gut, daß ich ihn kennenlerne.‹ Der Wirt war trostlos, die Kellner traten mit den Zehen auf. Mai und Lola saßen, von neugierigen Badegästen umringt, im Salon, wie feindliche Fürstinnen, denen ihr Marschall die Unterwerfung der Völker erzwang und die ihm mit ebensoviel Angst wie Stolz dabei zusahen.

Er erreichte, daß die Fremden die Zimmer räumten. Dafür wurden Mai und Lola beim Lunch mißbilligend gemustert. Pardi sah den Männern nacheinander in die Augen, die auf einmal unbeteiligt dreinblickten. Er erklärte, man habe die Leute nicht nötig und bestellte die Gedecke künftig an eigenem Tischchen.

Dann führte er seine Damen in ihre Zimmer, mit einer anmutigen Größe, als vertrete er eroberte Provinzen. Die weißen Vorhänge flatterten von Stößen blauer Luft. Die großen eisernen Betten sahen kühl aus unter ihren Musselinzelten. In dem kleinen Salon standen die Theaterstühle in zwei Reihen an den Wänden. Überall Spiegel: und wenn sie schräge hingen, rollten Wellen darin und sprang Schaum.

»Mit Verlaub« – in vier Stimmen; und vier Herren ließen sich vorstellen, hatten schlechterdings nicht länger warten können, machten Pardi Vorwürfe, daß er ihnen die Damen drei Tage vorenthalten habe, und fingen gleich an:

»Du weißt nicht, daß die kleine Miß Edith ...«

Mai und Lola wurden auf das Laufende gebracht. Die ganze Gesellschaft zog an ihnen vorbei, jedem war eine Bosheit angeheftet. Ihnen wurden alle geopfert; sie brauchten nur fragend einen Namen nachzusprechen, und sogleich beleuchteten ihn Geschichten. Die einzigen Unanfechtbaren blieben sie selbst; und eine Ergebenheit ohne Grenzen, die rückhaltloseste Zutraulichkeit und eine spontane Verehrung drangen in knabenhaft ehrlichen Lauten und Gesten von vier Seiten auf sie ein. Nutini zog gleich seine leeren Taschen ans Licht: alles verspielt. Der Leutnant Cavà handhabte seinen Säbel mit so glücklichem Gesicht, als habe er ihn soeben geschenkt bekommen; und seine Ballhandschuhe, errötend mußte er's gestehen, trug er schon aus Vorfreude auf heute abend. Deneris sprach mit etwas schwächerer Stimme als die anderen; aber Botta wippte beim Reden mit den Absätzen und schlug sich auf die fette, straff bekleidete Brust. Allen saßen die Anzüge nach der Mode vom nächsten Jahr und ohne Falte, wie auf guten Bühnen.

Sobald Nutini zu Lola ein unbemerktes Wort sprechen konnte:

»Er hat Sie nicht früher herbringen wollen, wie? Und er hat recht gehabt, denn die Damen Arletti sind erste heute früh fort.«

»Was machen uns die Damen Arletti?«

»Oh – Ihnen, nichts. Aber ihm!«

Und Nutinis Miene stellte so viele Enthüllungen in Aussicht, daß Lola etwas wie Schrecken kam.

»Sind Sie nicht sein Freund?« fragte sie.

»Versteht sich ... Und weil ich sein Freund bin, freut mich's, daß die Arletti fort sind. Ich glaube, es waren Abenteurerinnen. Er läßt sich zu leicht ein. Sein Temperament ist sein Unglück. Ah, bitte, so viel Geld als er nötig hätte, kann ihm auch der beste Freund nicht gehen. Darum habe ich vorhin meine Taschen sehen lassen.«

Lola lachte mit; aber indes sie Nutinis Augen funkeln sah in seinem eingefallenen Gesicht, nahm sie sich, unter einer Wallung von Freundschaft, vor, Pardi über diesen Feind aufzuklären. Pardi spähte schon herüber. Noch bevor er da war, zeigte Nutini vom Balkon nach Badenden. Cavà rief über Lolas Schultern, unaufhaltsam:

»Ist sie schön, die Mistreß Nicholson!«

»Bravo!« machte Pardi. »Sicher ist sie die längste der gelben Stangen.«

Nutini klopfte Cavà auf die Schulter.

»Mich hat er einmal mit meiner sechzigjährigen Sprachlehrerin gehen sehen, und dann fragte er mich: Du, sag, wer war die wunderschöne Amerikanerin?«

Lola wandte sich lächelnd nach dem Leutnant um. Er lachte wehrlos. Seine Augen in ihren sorgfältigen Wimpernhecken blickten aus seinem rosigen Gesicht wie aus einem Öldruck. Lola erinnerte sich, daß er vorhin nur den harmlosen Klatsch mitgemacht habe.

»Sie haben alle in Italien diese Vorliebe für die Amerikanerinnen, und über Ihre eigenen Damen wissen Sie nur Unvorteilhaftes. Wie kommt das?«

»Ja, sie sind nicht so schön«, erklärte Cavà. »Sie sind nicht blond.« Botta wußte mehr.

»Wenn wir uns mit einem unserer jungen Mädchen sehen lassen, heißt es sofort, wir sind verlobt.«

»Mit jungen Mädchen ist hier nicht zu verkehren«, bestätigte Nutini; und Botta setzte hinzu:

»Auch haben andere mehr Herz.«

»Schon wieder deine Olimpia? Dieser Gigi hat nämlich hier im Walde an einem Teich einen halben Sommer mit einer Balletteuse verbracht.«

»Ach ja«, seufzte Botta und schlug sich auf die Brust, daß sein fetter Tenor ins Zittern kam. Nutini störte ihn: schließlich sei sie ihm doch davongelaufen; und Botta fuhr verwundet gegen ihn los.

Deneris seufzte laut. Er lehnte rückwärts auf dem Balkon und schmachtete von unten Mai an. Seit seinem Eintritt hatte er sich keinen Augenblick von Mai getrennt. Es gäbe wertvollere Frauen, versicherte er in gezogenem Ton, als die Balletteuse Olimpia.

»Wenn die Mühe, die man sich ihretwegen gibt, ihren Wert bestimmt –« meinte Pardi. Nutini klopfte nun Deneris.

»Ja, du hast das Talent, unglücklich zu lieben.«

»Könnten Sie das?« sagte Cavà kindlich zu Lola. Sie mußte lächeln.

»Ich habe in der Liebe keine Erfahrung.«

Sogleich begann Botta, um Lola die Liebe zu erläutern, wieder von seiner Olimpia. Und auf Lolas ungläubiges Lächeln:

»Denken Sie nur an die Lieblingspuppe, die Sie gewiß gehabt haben, und wenn Sie sich die Arme Ihres kleinen Lieblings um den Hals legten. Auch wir jungen Leute spielen gern mit Puppen, aber ach! Nicht selten werden sie uns gefährlich.«

»Wirklich?« machte Lola, dankbar. Botta sprach mit dicker Zunge, schmatzend, und rollte in seinem massigen Gesicht selbstzufriedene Kuhaugen. Aber Deneris wartete nur, daß er fertig sei. Er hatte sich aufgerichtet, das Monokel eingesetzt und trachtete mit Gesten, die beiden Damen um sich zu versammeln. Auf seinem kleinen blassen Kopf lagen die kanariengelben Härchen seiden wie Kinderhaare. Seine blauen Augen starrten ängstlich.

»Wissen Sie wohl, daß ich um die, die ich liebte, zu sehen: jawohl, nur um. sie zu sehen, täglich sechs Stunden mit der Bahn gefahren bin? So ist es: dreiundeinenhalben Monat täglich nach Pisa und unter ihrem Fenster vorbei. Selten ließ sie sich sehen; aber im Salon eines Photographen stand ihr lebensgroßes Porträt, – vor dem ich mich eines Tages fast erschossen hätte. Wäre nicht gerade der Photograph gekommen –«

»Er spricht wahr«, sagte Cavà, mit Achtung. »Der Photograph hat es überall erzählt.«

»Dein Tod, mein Lieber«, sagte Nutini und klopfte Deneris, »wäre zu öffentlich gewesen. Viel zartfühlender handelte doch die Contessa Gavazzo, als sie um meinetwillen Gift nahm. Eigens reiste sie nach der Schweiz.«

»Sie war eine Morphinistin, mein Lieber«, wandte Botta ein.

»Mein Lieber –« und Nutini nickte dringlich, »ich weiß, wie jene Frau mich liebte.«

»Ich aber weiß«, entgegnete Botta, von sich erfüllt, »wie es war, als ich die Olimpia liebte; und ich werde es Ihnen erklären, mein Fräulein.«

Pardi unterbrach ihn:

»Ich könnte Liebe nicht erklären: ich vergesse jedesmal wieder, wie es war. Ist sie aber da, weiß ich's und handle!«

Als er der Wirkung ein wenig Zeit gelassen hatte:

»Wir holen die Damen ab, nachdem sie sich angezogen haben.«

Von der Schwelle mußte er noch mahnen:

»Marchese, komm!«

Denn Deneris konnte sich von Mai nicht trennen. Sie strahlte.

»Ist das nicht ein reizender Mensch? Sage, Lola! Es scheint, daß er mich liebt!«

Und Lola, voll Freude:

»Gewiß, Mai! Das muß jeder sehen!«

Die Dazwischenkunft all dieser Männer hatte ihre Spannung unterbrochen. Zum erstenmal konnten sie einander wieder unbefangen und mit Wohlwollen ins Gesicht sehen.

»Ich freue mich eigentlich auf das Ausgehen. Es ist doch schön, daß wir hergekommen sind!« sagte Lola. Und Mai:

»Heute abend werden wir also tanzen! Was soll ich nur anziehen?« – Lola ging mit in Mais Zimmer. Wie sie zurückkehrte, stieß sie im Korridor auf Nutini. Sie blieb unschlüssig auf der Schwelle des Salons.

»Dieser Botta macht mich lachen«, sagte Nutini. »Wissen Sie wohl, daß er von seiner Olimpia ganz einfach ausgehalten worden ist?«

»Nicht möglich –« und Lola brach ab. Sie hatte sagen wollen, Botta mache ihr gerade den Eindruck des vollkommenen Liebhabers. Nutini zuckte die Achseln.

»Aber nicht dies führt mich her. Sondern ich möchte Sie bitten, mir doch gleich jetzt Ihre Noten zu geben. Im Augenblick habe ich Zeit, die Begleitung zu üben. Denn das Geschwätz der andern zieht mich nicht an.«

»Wohin sind die andern gegangen?«

»Ich weiß es nicht einmal.«

»Aber die Noten sind unten im Koffer, und er steht in meinem Zimmer.«

»Mein Fräulein! Ein guter Freund spricht mit Ihnen, – wenn er's auch erst seit kurzem ist. Wären Sie eins unserer Püppchen, ich würde mich Ihnen zum Auspacken Ihres Koffers nicht anbieten. Aber Sie sind eine Amerikanerin ...«

Lola erinnerte sich, daß nicht sie, sondern Germaine die Sachen hineingelegt habe: sie lagen sicher sehr ordentlich. Sie öffnete Nutini ihr Zimmer.

Er schob zuerst die Jalousietür weg, half ihr dann geschickt und diskret und trat mit den Noten ans Licht, auf den Balkon. Er schien sich in die Musik zu vertiefen und stieß nur seltene Worte der Bewunderung aus. Lola mußte auf die Stimmen hören, die aus der Nähe kamen. Zuerst war's die kindliche des Leutnants Cavà; Lola wollte es nicht glauben, daß sie diese Dinge sagte; dann, bevor Lola sich gefaßt hatte, die schmatzende Bottas und Deneris' näselnde. Eins seiner Worte ward von Gelächter zugedeckt. Dann beglückwünschten sie Pardi. Er antwortete:

»Mich reizte es, sie einem Deutschen wegzunehmen.«

Bei seinem verächtlichen Auflachen errötete Lola und erblaßte wieder. Sie hielt sich am Pfosten, begriff nicht, daß sie noch dastand, und starrte angstvoll auf Nutini, der über die Noten geneigt blieb und manchmal entzückt den Hals bewegte. Lola dachte in einem Atem und im Wechsel ihres Errötens und Erblassens: ›Wenn er hört!‹ und ›Er hat mich herausgeholt, damit ich hören sollte!‹

»Was ist Ihnen?« fragte plötzlich Nutini und warf alles hin. Sie brachte nichts hervor; und deutlich kamen Bottas Worte herauf:

»Wenn ich wählen sollte: Teufel. Vielleicht beide – auf einmal.«

»Prahlhans!« rief Pardi scharf. »Handeln ist alles!«

»Wovon redet man? Mein Gott! Doch nicht –«

Nutini schlug sich vor die Stirn.

»Ich Unseliger! Konnte ich aber ahnen, daß diese Leute drunten bei offenem Fenster solche Abscheulichkeiten von sich geben würden? Halte ich selbst mich doch meist von ihnen zurück. Aber dieser Art Menschen ist nie zu trauen ...«

Und drinnen, flüsternd:

»Dem Pardi noch weniger als den anderen. Wenn ich Ihnen erzählen wollte, wie er's mit den Damen Arletti getrieben hat ...«

»Lassen Sie's!« stieß Lola aus. Sie warf die Balkontür zu.

»Sie haben gehört, wie er über Sie und Ihre Frau Mutter spricht. Denn so ungeheuerlich es mir vorkommt, er meinte offenbar Sie! Ich kann nur wiederholen, wie schmerzlich ich bedauere –«

»Ich vermute«, sagte Lola kalt, »daß so über alle gesprochen wird.«

»In der Tat, es gibt Männer: die Mehrzahl sogar, kann man sagen, ändert, kaum daß sie die Damen verlassen hat, durchaus den Ton. Die Damen, die all die Achtung und Rücksicht um sich sehen, ahnen nicht –«

»Es ist auch nicht nötig.«

Unvermittelt kam ihr Wut auf sich selbst, daß sie diesen Menschen nicht hinauswies. Vorgebeugt, ihre dicke Falte zwischen den Brauen, sagte sie in unheimlich hellem Frageton:

»Wollen Sie mich jetzt nicht allein lassen? Ich habe etwas Kopfschmerzen.«

»Tatsächlich sind Sie sehr blaß«, stammelte Nutini und sein eingefallenes Gesicht erblaßte selbst noch mehr. Er verbeugte sich. Lola sah, immer in derselben Haltung, seinen weichlich geschweiften Rücken sich dem Ausgang zuwiegen. Als sein Händchen in dem nach vorne weibisch erweiterten Ärmel die Tür geöffnet und geschlossen hatte, fiel Lola auf einen Stuhl, gelähmt von Ekel. So war nun hier die Welt! Weil sie gerade aus einer anderen kam, hatte sie sich eine Stunde lang täuschen lassen können. Sonnig, elegant und herzlich hatte es sich ausgenommen: alles gerade entgegengesetzt den schlecht gekleideten, geistig hochmütigen Menschen dort hinten in ihrem Nebel. Aber wäre jener Arnold fähig gewesen, mit allen Leuten und zum offenen Fenster hinaus über ihren Körper zu verhandeln? Die Frage demütigte sie so, daß sie das Gesicht in die gerungenen Hände drückte ... Auch Gugigl hätte das nicht fertiggebracht und nicht einmal Gwinner! So aber war man hier. So war der Mann, den sie vielleicht lieben wollte. Ach! Es hatte keinen Sinn, sich ihm befreundet zu fühlen, ihn vor diesem Nutini zu warnen. Der Intrigant und der Brutale waren einander wert.

 

Mai wußte schon durch Germaine, Lola sei schlechter Laune. Zögernd kam sie herein.

»Bist du fertig? Mein Gott, hast du mit den Sachen herumgeworfen! Die letzten Haare wirst du dir noch abbrennen!«

»Mach mich nicht ganz verrückt, ich bitte dich, Mai!«

»Dort liegen diese dummen Bücher! Du hast gewiß wieder gelesen und dann kommen die Kopfschmerzen.«

»Ja, ich habe gelesen.«

»Sie liest, Pardi! Kommen Sie doch herein und schelten sie! Sie ist ein wahres Kind.«

»Sie sind schlecht angezogen«, sagte Pardi sofort. »Sie müssen sich noch einmal umziehen.«

Lola fuhr auf.

»Was fällt Ihnen ein!«

»Wenigstens müssen Sie das Halsband anders stecken, es liegt in Falten. Auf den Schultern haben Sie übrigens zu viel Puder.«

»Das ist nicht Ihre Sache. Erwarten Sie mich im Salon! Hätten Sie sich früher vielleicht erlaubt, mein Zimmer zu betreten?«

»Hier ist es etwas anderes. Ich bin für Sie verantwortlich.«

»Ach ja, ich kompromittiere Sie! Warum aber sagen Sie Mai niemals etwas?«

»Ihre Mama ist tadellos angezogen.«

Mai konnte ihren frohlockenden Blick nicht mehr zurückholen. Lola hatte ihn aufgefangen und wandte sich stumm weg.

Beim Aufbruch hatte sie noch etwas gefunden, was ihn treffen sollte.

»Jetzt sagen Sie mir, was Sie auf der Reise ausgelegt haben!«

»Das hat Zeit, gehen wir!«

»Ich will Ihnen nichts schuldig sein.«

»Gehen wir! Die Herren warten.«

»Ich soll gehen, ich? Weil die Herren warten?«

»Aber Lola!« sagte Mai, ganz erschrocken über so viel heftigen Widerstand. Pardi nickte ihr zu.

»Ihre Tochter ist tatsächlich noch ein Kind.«

Aber er rechnete zusammen. Lola gab ihm das Geld, mit vielem Geklapper der Münzen. Pardi schloß kaltblütig:

»Ehrlich sind Sie.«

Lola war sprachlos. ›Hat er das nicht erwartet?‹ dachte sie. ›Er tut, als wäre ich eine Kokotte ... Das stimmt mit dem Gespräch beim offenen Fenster. Wenigstens ist er konsequent.‹

Und mochte sie's noch zu leugnen versuchen, seine Art, sie zu nehmen, ohne Rücksicht auf ihre Stimmungen, ohne Verzärtelung: seine Art besiegte sie und erleichterte sie. Auf der Treppe bemerkte sie, daß sie sich hätte weigern sollen mitzukommen, und ärgerte sich, weil sie keine Lust hatte umzukehren.

Den ganzen Abend unterhielt sie sich, und nicht schlechter am nächsten. Die Tage vergingen mit Baden und Nichtstun. Das Bad dauerte Stunden. Man lebte in diesem durchsonnten, blauen und weichen Wasser. Mai lachte vor Glück, wenn sie ihre Hand hineintauchte und sagte, es sei, wie wenn sie durch den Stoff eines Ballkleides gleite. Man schwamm, so weit man mochte; und ermüdete man, waren immer Herren mit einem Boot da. Man kletterte hinein – und indes man recht unbeteiligt und träumerisch die Augen schloß, gewahrte man durch ihren Spalt doch die hungrigen und diskreten Blicke des halbnackten Ruderers. Sie prickelten einem auf der Haut. Pardi verbot ihnen diese Rast im Boot; Lola hatte, in aller Beisein, einen Auftritt mit ihm. Er hielt ihr Mai als Beispiel vor.

»Ihre Mama ist noch eine der wirklich weiblichen Frauen, die gehorchen können. In Ihnen ist etwas Feindliches.«

»Glücklicherweise«, sagte Lola höhnisch.

Denn dies Feindliche reizte ihn! Lola sah immer deutlicher: ›Mai gefällt ihm. Zu mir zieht ihn seine Herrschsucht.‹

»Eines Tages«, verhieß er, »werden wir uns auseinandersetzen müssen: ich sage es Ihnen voraus.«

»Ich glaube, wir haben uns gar nichts zu sagen.«

»Zu sagen vielleicht nicht viel.«

Er lachte, und sie drehte ihm den Rücken. In dieser Minute hätte sie keine heftige Antwort gewußt. Sie war erschlafft und einem weichen Weinen nahe. Manchmal spürte sie so, inmitten seiner Unverschämtheiten, eine begehrliche Wärme von ihm her, etwas wie einen jähen Stoß Südwind, daß einem der Atem stockt; oder wie den heißen Brodem aus einem Tigerrachen, die Sekunde, bevor er zuschnappt.

Tags darauf schwamm sie wie gewöhnlich hinaus. Mai hatte ihr zugerufen, sie dürfe nicht weiter. Wie sie ins Boot wollte, war keins zu sehen. ›Diese Feiglinge!‹ Lola kehrte um. In immer kürzeren Pausen mußte sie sich auf dem Rücken ausruhen. Solange sie noch einen Überschuß an Kraft fühlte, dachte sie mit befriedigter Rachsucht daran, daß sie nun vielleicht umkommen werde. In dem Augenblick, als es ihr ängstlich ward, tauchte neben ihr Pardis Kopf auf. Wie lange war er denn unter Wasser geschwommen?

»Rühren Sie mich nicht an!«

Auf der Stelle hatte sie ihre Kraft zurück und schoß in großen Zügen dem Strande zu. Mai winkte mit dem Sonnenschirm.

»Kind, mein Kind! Hat er dich gerettet?«

Und sie fiel Lola um den Hals. Lola mußte erst zu Luft kommen. Sobald sie's hervorbringen konnte:

»Wie käme ich dazu, mich von diesem Herrn retten zu lassen?«

Aber sie fühlte sich dennoch von Pardi überrumpelt und in ihrer Niederlage glücklicher als Mai. Auch Mai mußte es fühlen. Sie sah von Lola zu Pardi, der stumm blieb und ruhig atmete. Darauf betrachtete sie besorgt ihr eigenes Kleid und dann die beiden in ihren triefenden, um die Körperformen geklatschten Kostümen. Plötzlich wandte sie sich ab.

»Ich bin nicht schuld, wenn sie sich schlecht benimmt. Man hat mir nicht erlaubt, sie zu erziehen.«

»Wir werden es nachholen«, sagte Pardi, – indes Lola schon von dannen war.

Und es ward Mittag, und man flüchtete auf die Hotelveranda, an den Frühstückstisch. Sah man hinaus, ward das Auge verbrannt von Sand und See; von dem frechen Wirrwarr der roten, grünen, gelben Karren vor dem wütenden Meerblau; von den weißen Flammen der Zelte, der Anzüge. Die Gäste traten aufatmend in den Schatten, oder sie schlichen an seiner Grenze vorbei, die Häuserreihe hin, in deren grausame Helle die Balkone scharf, dünn und schwarz hineinschnitten. Ermattete, schöne Frauen, die sich rückwärts bogen, willenlos und doch in einer Linie, als hätten sie Ballett tanzen gelernt, riefen mit sehr häßlicher Stimme einen Namen, streckten, ohne umzublicken, einen Arm nach hinten – und eins dieser Kinder hängte sich daran, die nie ganz Kinder waren, die schon kokett waren, keine Ungeschicklichkeit begingen, und deren schmelzend blasse Gesichter manchmal, wie von Strapazen, die erst noch auszuhalten waren, unter den Augen bräunlich dunkelten. Matronen flankierten, mit erfahrenem Lächeln, Töchter, deren weißes Gesicht wie ein schmales Stück aus dem der Mutter aussah. Näherten sie sich, lagen beide, das der Mutter und das der Tochter, unter einem Teig von Schminke. Die alternden Männer bekamen Säcke unter die gewölbten Augen; den sehr alten entleerte sich das Gesicht von Blut; – aber sie blieben schlank, behielten den aufrechten, raschen Gang des Jünglings und trugen, wie er, ihre silbernen und goldenen Stockgriffe, über den Arm gehängt, spazieren. Die aristokratische Gruppe auffallender, lauter Damen und verlebter Herren in großgewürfelten Anzügen streifte an eine Bande von Lastträgern und Schiffern; und beide sprachen mit Schleier losen Stimmen und Gebärden von Liebe und von Geld. Alle waren aus einem Blut; und wie sie gleichmäßig schritten und sich kleideten, war sicher, meinte Lola, auch die Art, zu denken und zu lieben, bei allen dieselbe. Lola gedachte der Menschen im Norden, die sie verlassen hatte, wie an Sonderlinge, von denen jeder seinen kleinen verrückten Kreis lief. Der alte Baron Utting übertrieb nur ein wenig die Sucht der übrigen. Hier ließ sich keiner aus der Masse reißen, er wäre verloren und sinnlos gewesen. Die Amerikanerinnen allein kreuzten dazwischen in gelben Winkeln, zu scharf von Umriß, um von der Sonne gedämpft zu werden. Die anderen alle schwammen ohne Mühe und jeder für sich fast unbemerkt, in dieser Atmosphäre, die sie getönt hatte und ineinander mischte.

Die Sonne tränkte gleichmäßig alles, berauschte, erschlaffte und verzauberte alles und einen selbst. Hohe, dünne Gerten mit Blumen, die nicht daran gewachsen waren, umstanden einen als Hecken, man lehnte sich in grell lackierte Sessel, hörte springenden oder schmachtenden Noten zu, fühlte sich in seiner gewagteren Strandkleidung freier und dreister als sonst, trank mehr, lachte mehr, ließ losere Worte zu, glaubte halb, man träume, und empfand bei allem, was geschah und was man tat, daß nichts darauf ankomme. Mit Cavà hatte Lola Freundschaft geschlossen. Seine rohen Worte von neulich deuchten ihr kaum noch wirklich, wenn sie seine Knabenaugen ansah. ›Man vergißt hier so rasch. Übrigens würde man mit niemand leben können, wollte man daran denken, was die Leute sagen und tun, wenn man nicht dabei ist.‹

An Mais und Lolas Tisch war ein Hin und Her von Herren: Nutini, Botta und Deneris führten Freunde ein. Der Dichter Merluzzo war dabei, mit den Puppenaugen in seinem Modellkopf, auf seinem langen, nackten Halse. Er huldigte Lola mit seiner Altweiberstimme und versprach ihr, vorzulesen, wenn sie singe. Sie sang, ohne ihn um das Seine zu bitten: sang leichtfertig darauf los und freute sich des Beifalls, ob er verdient oder unverdient war. Sie lachte.

»Klatschen Sie! Sie klatschen doch auch, wenn der kleine Beppo aus Neapel uns in seinem weiten Frack und seinem Riesenzylinder Spaße vormacht. Fragt man das Kind, ob es auch in Rom auftreten werde, schneidet es eine betretene Fratze und sagt: ›O nein, so stolz sind wir nicht.‹ Auch ich bin nicht so stolz ...«

In aller Ausgelassenheit fühlte sie sich eifersüchtig bewacht von Pardi. Mai, harmloser, vergaß; einmal hörte sie Deneris zu lange an. In seiner schwermütigen Schwärmerei war er eben dahin gelangt, daß er nach Afrika wollte, um sich von der Schlaffliege den rätselhaften Tod geben zu lassen. Da erklärte ihm Pardi, daß diese Dame unter seinem Schutze stehe! – und verblüfft, des Widerstandes unfähig, wich unter seinem Ansturm Deneris vom Tisch. Nur noch heimlich wagte er sich, dem Verbot zum Trotz, an Mai. Sie ergab sich dann zum voraus in das Geschick, die Seufzer des einen mit der barschen Rüge des anderen zu büßen. Lola versuchte umsonst, sie aufzuhetzen.

»Du kennst das nicht: so sind sie. Auch dein Vater war so.«

Pardi faltete die Brauen, und Mai senkte die Stirn.

Den und jenen schloß er von der Vorstellung aus: sie hatten sich mit einer zweifelhaften Person gezeigt!

»Und sie sind wohl nicht langweilig genug?« fragte Lola, kampfbegierig. Dann:

»Warum machen Sie uns mit keiner Dame bekannt? Fürchten Sie, daß uns Geschichten über Sie zu Ohren kommen? Wer sind die beiden puppenhaften Blonden mit den rotgeschminkten Lidern?«

Cavà antwortete statt Pardis:

»Die Contessa Bernabei und ihre Schwester.«

»Eher die hätte ich für zweifelhaft gehalten.«

»Bedenken Sie, was Sie sagen!« heischte Pardi.

»Ach! Sie sind sehr befreundet mit ihnen?«

Lola lag nichts an Frauen. Dennoch warf sie es Pardi immer wieder vor, daß er gleich bei der Ankunft durch seine rücksichtlose Eroberung der Zimmer alle Damen des Hotels zu ihren Feindinnen gemacht habe. Einmal, im Wasser, hoffte sie eine für sich gewonnen zu haben, eine noch Unbekannte. Als nachher Pardi ihnen entgegenkam, ward die neue Freundin verlegen, Pardi verhielt sich unleidlich abweisend, und Lola brach, als die Fremde sich ängstlich entschuldigt hatte, in ernste Wut aus. Er wartete mit steinernem Gesicht, bis sie ihn sprechen ließ.

»Sie ist eine Chanteuse.«

Erst als Lola sich durch diese Enthüllung nicht geschlagen zeigte: was das schade, im Wasser habe die Dame keine schlüpfrigen Lieder gesungen – da verfiel auch er in Sturm. Lola habe haarsträubende Begriffe; er werde sich von ihr trennen oder sie einschließen müssen. Er verstieg sich zu der Frage:

»Warum sind Sie hergekommen, wenn Sie eine Wilde bleiben wollen?«

»Ich werde abreisen, um Sie nicht länger zu kompromittieren«, entschied sie mit Leidenschaft. Statt dessen hielt sie sich bei Tisch heftig über Pardis Lächerlichkeit auf; denn er habe ein hübsches Mädchen nur darum vom Blumenkorso ausgeschlossen, weil sie eine Schneiderstochter sei. Woher sie's wisse, fragte er; und kaum, daß sie einen Namen genannt hatte, stand er auf. Man sah dort hinten ihn und den andern gegeneinander fuchteln. Pardi verlangte, daß ein Gericht sich bilde und sofort über seine Handlungsweise entscheide. Als er recht bekommen hatte, forderte er seinen Kritiker. Mit Mühe besänftigte man ihn. Und wie er dann, entladen, heiter, bezaubernd, unter lauter bewundernden Blicken an den Tisch zurückkehrte, begann Lolas Herz nachträglich zu klopfen. Was sie nun fast angerichtet hätte! Sie kannte ihn doch: er verlor mitunter die Besinnung. Einen Engländer hatte er aus dem Spielzimmer weisen wollen, weil ihm sein Tabak nicht gut roch. Der Engländer aber hatte Humor gehabt, und jetzt spielte Pardi mit ihm und rauchte aus seinem Beutel. Lola bemerkte erstaunt, daß er, der sich mit hundert Dummheiten aufhielt, sich an die Leitung von hundert Festen verzettelte, hundert Ehrenhändel erregte, bei alledem nicht kleinlich wirkte. Denn er trat für jede Nichtigkeit mit ganzer Persönlichkeit ein: immer bereit zur Verantwortung, immer im Begriff, sich zu verfinstern, sich mit dem Zweifler zu messen. Lola dachte an seine Erzählungen aus Afrika. Im Großen, das ihm bekannt war, blieb er derselbe wie hier im Flüchtigsten. Er war das Kind, das das Meer vor sich hat, und doch darauf besteht, aus einem Sandloch, worin das Wasser versickert, ein zweites Meer zu machen.

Sie ging umher und sann ihm nach. So war er. Er war etwas Ganzes – und dies Ganze war vielleicht nicht weit von einem Helden. Die Frau, die ihn geliebt hätte, wäre beinahe gerechtfertigt gewesen. Und eigentlich war's von einer weniger starken Natur unnütze, peinliche Streitsucht, sich ihm zu widersetzen ... Da schrak sie auf. Lieben? Diesen Abenteurer, der nur nach außen und nach allen Seiten lebte? Der sich nie hätte zusammenhalten können für eine? Diesen unzuverlässigen Spieler, für den kein Gewinn, nichts in Spiel oder Leben endgültig war? Diesen immer von seinen Launen gequälten Mann aller Frauen?

›Mai will er gerade so sehr wie mich! Mehr vielleicht!‹

Das war das Schlimmste. Darüber hätte man die Augen schließen mögen und gar nicht mehr aufstehen. Aber Lola wollte alles wegwerfen. ›Sollen sie tun, was sie wollen!‹ Und sie kam nicht zu Tisch; war gleich nach dem Bade in den Pinienwald gelaufen und durchstrich ihn weiter und weiter. Er nahm kein Ende. Man konnte sich verirren. Wie das kitzelte! Sie drehte sich mit geschlossenen Augen mehrmals um und wußte nun die Richtung nicht mehr. Das weiße Schloß lag tief, tief in den Bäumen, so gedämpft blaß, als hätte nie Sonne es beschienen. Daß nun der Wald sich wie mit Schleiern füllte! War das Dämmerung? Schon? Man konnte hier sitzen und sich in den fremden, gelben Geruch all dieses Gestrüpps hineindenken, bis man weit fort war und die Zeit vergaß. Zwar hatte man den ganzen Tag nichts gegessen, – und dort, auf der Lichtung, packten Holzfäller ihr Gerät zusammen und legten Brote auf den Baumstamm ... Nein, noch weiter: jetzt gerade, nun man schon sehr, sehr müde war und die Nacht kam ... Da sah mit Eulenaugen das Meer zwischen die Stämme; die Richtung war wiedergefunden, die Stelle erkannt. ›Eine halbe Stunde höchstens nach Haus! War ich dumm!‹

Sie kam zurück und fühlte sich ganz fremd und verachtend. Sie brauchte von dem hellen, lauten Tisch nur wegzublicken – und ins Dunkel, jenseits der Terrasse, waren friedvolle Bäume gezeichnet und Waldwege, die stumm verrannen. Ganz erfüllt war sie noch von ihrem schönen Tag in Einsamkeit, und das zwischen Menschen galt ihr gleich.

Erst tags darauf fühlte sie, daß ihre Abwesenheit Mai und Pardi einander irgendwie nähergebracht habe. Mai hatte ihr nur laue, etwas künstliche Besorgnis gezeigt, Pardi ihr keinen Auftritt gemacht. Als die andern von einer gestrigen Ruderpartie anfingen, schwiegen sie. Waren sie allein geblieben? Mai sah an Lola, die sie prüfte, vorbei. Lola tat keine Frage. Sie sprach mit vom Rudern. Pardi fiel ein:

»Sie wären gern dabei gewesen? Dann gehen Sie also heute mit! Ihre Mama verträgt die See nicht, ich leiste ihr Gesellschaft.«

Lola sah von ihm zu Mai. Sie suchte nach einer spöttischen Ablehnung. Plötzlich aber stieß sie hervor:

»Gut denn!«

Sie hatte sich geschämt! Als sie ins Boot stieg, bereute sie's. Mai gab den Herren lauter Empfehlungen mit, zu Lolas Wohl. ›Wie sie heuchelt!‹ Lola dachte weiter: ›Warum erlaube ich ihr, daß sie ihn mir wegnimmt! Gebe ich mich denn auf? Ich habe doch mein Recht aufs Glück!‹ Sie beschloß: ›Ich werde mich nicht mehr fortdrängen lassen! Ich kann ihn geradesogut haben wie Mai. Er hat mir sogar gesagt, daß er Mai nur meinetwegen den Hof macht.‹ Sie verlangte nach einer Bucht weit dort hinten; und wie eingewendet ward, ihr Vormund werde böse sein:

»Meinen Vormund nennen Sie ihn? Es fehlte noch, daß er's wäre! Finden Sie ihn nicht, im Ernst, ziemlich anmaßend?«

»Wenn man einen unverschämten Menschen sucht«, sagte Cavà frisch, »da hat man ihn.«

»Er geht so weit, daß er mir manchmal unsympathisch wird«, sagte Botta.

»Das ist recht!« – und Lolas üble Laune hob sich – »schimpfen wir ein bißchen auf ihn! Was wissen Sie von ihm, Marchese?«

Deneris antwortete:

»Als junger Mann hat er sich einmal selbstmorden wollen.«

»Das – wollten Sie doch selbst schon.«

Deneris, tief erstaunt:

»Das ist doch etwas anderes. Übrigens hatte er keine unglückliche Liebe. Höchstens Schulden.«

»Die sind ihm treu geblieben«, begann Nutini. »Trotz seinem großen Familienbesitz kann man den Zeitpunkt seines Ruins schon berechnen. Leute wie er enden immer schlimm.«

»Tatsächlich hat er zusammengewachsene Brauen«, bemerkte Cavà. Botta bedauerte das Haus Pardi.

»So altadelig!«

Deneris widersprach:

»Alt wohl, aber nicht lange adelig. Diese Florentiner Bürgerhäuser sind spät geadelt.«

Nutini wollte auf die Geldsachen zurückkommen, aber Lola verlangte:

»Lassen wir ihn gehen!«

Sie ertrug es auf einmal nicht mehr, hier draußen, abgesondert von ihm, gemeinsame Sache zu machen mit seinen Feinden, von denen keiner sich an ihn wagte. Auf einmal fühlte sie sich voll Angst; beklommen und gereizt durch all das feindliche, leere Blau um sie her, durch die Gesichter, die sie ansahen. Er liebte Mai, man mußte schnell ans Land – liebte Mai. Und Mai ihn.

 

Sie begann Mai neu zu beobachten, mit Blicken, die sie selbst schmerzten und unter denen Mai sich verwandelte. Ihre liebenswürdigen kleinen Torheiten bekamen etwas Untergeordnetes, ihre Kindlichkeit ward albern. Bei jeder von Mais Äußerungen sah Lola in den Schoß, schämte sich und empfand Genugtuung in einem. ›Wie kann man so dumm sein!‹ Diese verbrauchten Listen! Daß eine Mutter die Tochter, die sie fürchtete, als Kind behandelte: es war so alt, so alt. Nur ein wenig Geschmack, und man ließ es. Aber Mai wäre, in ihrer Eifersucht, nicht einmal davor zurückgeschreckt, Lola schlecht anzuziehen! Mais Ratschläge empfing Lola nur noch mit Mißtrauen. Einmal machte sie die Probe: frisierte sich absichtlich sehr unvorteilhaft und fragte Mai, wie es ihr stehe. Mai war entzückt: Lola wußte nun Bescheid. Zum Schein ging sie ein Stück mit; – aber unten auf der Treppe blieb Mai stehen, ihr Gesicht war verwirrt und errötet, und sie sagte:

»Laß dich noch einmal ansehen: nein, ich glaube, es geht doch nicht.«

Mais Kampf rührte Lola nicht. Es verdroß sie, daß sie nun weniger harte Gedanken hegen mußte. Sie wollte jetzt wirklich, wie sie war, unter die Leute. Aber Mai flehte und jammerte, bis sie Lola wieder oben im Zimmer hatte und sie eigenhändig, mit eifrigen reuigen Händen, von neuem frisieren konnte. ›Ist es Verstellung? Was hat sie vor?‹ dachte Lola und haßte sich selbst dafür. Aber sie konnte nicht dagegen, daß Mais Hände auf ihrem Kopf ihr widerstrebten. Sie konnte nicht hindern, daß Mais Art mit den Männern sie erbitterte, ihr schließlich übel machte. Dieses Schnurren und Schmachten, diese singende, lispelnde Sprechweise, diese seitwärts geneigten Köpfe, unenthaltsamen Blicke, und dies ironische Lächeln einer gedämpften Wollust, womit ein Mann und eine Frau sich verständigten! Und der Mann war irgendeiner, – nicht bloß Pardi: früher auch Deneris, neuerdings auch Botta; und die Frau, das lockende Weibchen, war Lolas Mutter, ihre eigene Mutter! Die Kokotten nebenan mochten dasselbe treiben, und die Aristokratinnen; Lola mochte umringt sein von unreiner Weiblichkeit – erst in Mai aber bekam sie etwas Groteskes und etwas, das Grauen machte. Eine Mutter hatte nicht das Recht, noch Weib zu sein!

Je länger sie sich hineindachte, um so überwältigender deuchte ihr das Unrecht, das sie von Mai erfuhr. »Als ich sie damals für gefallen hielt, war's weniger schlimm. Es war wirr wie ein Weltuntergang; es peinigte nicht, denn alles war auf einmal aus – und es war eigentlich nur, weil ich Romane gelesen hatte. Ich wußte nichts, ich stand draußen. Jetzt sehe ich von innen, wie alles geschieht. Ich liebe einen der Männer, mit dem sie kokettiert: denn so würde sie es nennen, und doch ist es entsetzlicher, als wenn sie ihn mir einfach wegnähme. Dann würde ich mich vielleicht töten! So aber äfft sie, mit allen und ihm, die Liebe nach, die ich fühle, zeigt mir, namenlos verzerrt, was eine Frau ist, macht mir Grauen, daß ich eine bin. Ich liebe einen, mit dem meine Mutter solche Blicke wechselt! Bin ich nicht beschimpft und ganz beschmutzt durch das, was ich in mir trage? Ich will nicht Frau sein! Ich will nicht lieben!«

Sie machte sich jungfräulich steif, hörte von den Reden weg, die auf allen Wegen zur Liebe glitten, und verlangte, daß man in ihrem Dabeisein von ernsten Dingen spreche.

»Ich begreife nicht, daß man hier in einer Gesellschaft von Männern und Frauen sich immer nur miteinander, nie mit unpersönlichen Fragen beschäftigen kann.«

»Ja, Sie sind eine Amerikanerin«, sagte Cavà ... Lola sah von allen Seiten Komplimente für die Amerikanerinnen kommen, fiel nervös ein und erklärte die Stellung der Frau in Italien für unwürdig und vollkommen veraltet.

»Glücklicherweise wollen Ihre Minister endlich die Ehescheidung einführen.«

Botta bat: »Nur das nicht. Wenn die Scheidung, was Gott verhüte, Gesetz wird, sind wir verloren.«

»Sie machen wirklich ein ganz betretenes Gesicht. Solche Angst haben Sie vor den Frauen?«

»Im Gegenteil«, versicherte Botta. »Ich habe Angst für sie. Denn sie zuerst werden unter dem Gesetz leiden: haben sie doch wenig Urteil, die Armen. Sie werden, kaum daß etwas sie ärgert, aus der Ehe laufen. Dann meiden alle sie, und sie verkommen.«

»Schon jetzt«, begann Deneris, »sitzt die Caputi allein in den Konditoreien, und sie ist nur getrennt. Was werden erst die Geschiedenen tun!«

Nutini bemerkte:

»Ein Sodom und Gomorra wird entstehen. Wir jungen Leute werden uns nicht darüber zu beklagen haben.«

Deneris aber klagte:

»Uns wird die poetischste Sache verlorengehen, nämlich unsere unbedingte Ehrfurcht vor der Frau, die in der Ehe unantastbar und die erste ist.«

»Ich hätte meine Mutter nicht achten können, wenn mein Vater sie hätte entlassen dürfen!« rief Botta.

»Gut, Advokat!« machte Nutini.

»Die Frau, die geschieden werden kann, wird man vielleicht nicht einmal mehr zuerst grüßen«, fürchtete Deneris. Cavà rief entschlossen:

»Ich werde sie grüßen!«

»Genug«, folgerte Botta, »wir haben die Pflicht, die Frauen vor sich selbst zu schützen.«

Lola hätte gern erwidert: ›Und wie schützt ihr sie jetzt? Indem ihr möglichst viele von ihnen zum Ehebruch verführt?‹ Aber Pardi kam über den Sand herbei.

»Und Sie? Sie sind natürlich für die Scheidung?« fragte Lola ihn. Er antwortete:

»Ich bin der unversöhnliche Gegner jeder Regierung, die sie uns aufzwingen will!«

Cavà bedeutete Lola mit einem Blick, daß sie auf ihn sich verlassen könne.

»Warum soll unser Land das letzte von allen sein?« rief er hell. »Die Amerikanerinnen sind meistens geschieden, und sie sind reizend ...«

Botta unterbrach.

»Der Fortschritt! Das ist euer Wort. Wenn es nun aber bewiesen ist, daß die Scheidung geschichtlich und ethnographisch eine tiefstehende Einrichtung ist und sich in direkter Verbindung mit allen Entartungserscheinungen der menschlichen Psyche befindet, als da sind Verbrechen, Selbstmord, Wahnsinn und – noch mit einer, die ich vor Damen nicht nennen kann?«

»Gut, Advokat«, sagte Nutini. Cavà behauptete frisch:

»Die Ehe ist das Grab der Liebe!«

Seine drei Widersacher fielen zugleich über ihn her. Pardi verschränkte die Arme und wartete. Als er sprechen konnte:

»Die Ehe ist das Grab der Liebe, wenn man von Liebe einen falschen Begriff hat, wenn man für Liebe hält, was nichts weiter ist als tierische Fleischlichkeit, nichts als die Berührung zweier Epidermen. Die echte Liebe aber, die in der Seele wohnt und gereinigt, vergeistigt und von den Launen der Sinne unabhängig ist, kann nur eine einzige Person angehen und nirgends vorkommen als in der unlösbaren Ehe! Nur sie ist der ganz reine Herd dieser Liebe!«

Lola betrachtete ihn. Da stand er, der Idealist, und glaubte an sich! Unter denen, die ihm so leidenschaftlich zustimmten, hätten vielleicht noch einige Ehefrauen sein sollen, deren reiner Herd dank ihm etwas weniger rein war, und ein paar Gatten, die er halbtot gestochen hatte.

»Oh!« machte sie. »Was Sie da sagen, ist die Logik eines Dichters. Wenn nun die Wirklichkeit nicht immer so logisch wäre? Dann würde man, Ihrer Poesie zuliebe, unglücklich.«

Er merkte gar nicht ihren Spott. Mit Strenge entgegnete er:

»Auf diese oder jene, vielleicht vorschnell geschlossene Ehe kann nicht Rücksicht genommen werden, wo es sich um die Ehe als Grundstein des gesamten gesellschaftlichen Gebäudes handelt.«

»Sehr richtig!« bemerkte Botta. »In der Ehe befiehlt der Staat.«

»Besteht der Staat nicht aus Menschen?« fragte Lola. Pardi erklärte:

»Sie haben sich zu opfern. Nicht ihr Glück ist das Wesentliche. Das Wohl der Kinder geht ihm vor, der Bestand der Gesellschaft. Wer mit seinem freien Willen gewisse Pflichten eingegangen ist, hat, was nachkommt, nur sich zuzuschreiben und kein Recht, sich zu beklagen. Ich würde mich nicht beklagen«, schloß er, durchdrungen.

›Und er ist ein Mensch‹, dachte Lola, ›der noch keine Handlung mit ruhigem Blut und Voraussicht der Folgen begangen hat!‹ Sie äußerte:

»Wie Sie von Pflicht zu sprechen wissen! Sie sind förmlich ehrwürdig!«

»Tatsache ist«, sagte Botta, »daß Sie einen ausgezeichneten Verteidiger der guten Sache geben würden – und Gott weiß, daß sie Verteidiger braucht ...«

Er wartete, ob man nicht ihn selbst auffordern werde. Dann beschied er sich:

»Stellen Sie doch Ihre Kandidatur auf!«

Deneris und Cavà stimmten ein. Lola bestätigte:

»Sie müssen ins Parlament und die Ehe retten.«

Er sah ihr spähend in die Augen. ›Sein Tigergesicht‹, dachte sie.

»Von diesem Augenblick bin ich entschlossen – und Sie werden sehen, wer recht behält!«

»Also wetten wir: für und gegen die unlösbare Ehe?« schlug Lola vor.

»Nein! Dafür ist es zu ernst. Aber Sie können schreiben, Nutini, daß ich kandidiere. Bereiten wir doch gleich das Nötige vor ...«

Schon ward er umringt, im voraus beglückwünscht und begann einem Kreise Neugieriger sein Programm zu entwickeln. Die Hotelgäste kamen die Terrasse herunter, und von weit her sah man laufen. Die aristokratische Gesellschaft mit ihren gewürfelten Anzügen und riesigen Schleiern drängte sich, warf skeptische Bravos in die Rede, fächelte, plapperte; und während der Kopf nach der andern Seite lächelte, betasteten unten sich irgendwelche Hände.

Pardi ließ keinen einzigen Scheidungsgrund zu, nicht Zuchthausstrafe, nicht Wahnsinn.

»Wenn erst Bresche gelegt ist, gibt's kein Halten, und man endet dabei, daß der Wunsch des einen Gatten genügt! Eher bin ich dafür, daß das Band noch fester geknüpft wird, daß wir, meine Herren, die Verantwortung für unsere Frauen übernehmen und sogar ihr Verbrechen büßen!«

›Welch wilder Romantiker!‹ dachte Lola, auf ihrem Sesselchen im Schatten des Badekarrens.

»Dafür muß unsere Herrschaft nicht lockerer, sondern noch fester werden. Meine Herren, es haben sich Richter gefunden, die entgegen dem Gesetz eine Frau der Verpflichtung enthoben haben, ihren Mann zu begleiten, wohin immer er befiehlt ...«

Eine der beiden puppenhaften Blonden mit den rot geschminkten Lidern, die Contessa Bernabei, wandte sich Lola zu, machte einen Schritt aus der Masse, daß ihr Schatten darauf fiel, und hob, mit angeregter Miene, nochmals den Fuß. Als Lola gleichgültig sitzenblieb, trat sie ärgerlich zurück, sprach nach links und nach rechts, als rührte sie in einem Sandhaufen – und auf einmal waren drei, vier Lorgnons auf Lola gerichtet.

Aber eine Stimme, Deneris' Stimme, zog die Aufmerksamkeit ins Innere des Kreises zurück.

»Die Furcht vor der Scheidung würde keine Frau vom Ehebruch abhalten und keinen Liebhaber. Denn in der Leidenschaft fürchten wir nichts.«

»Meine Meinung!« rief Pardi; und die beiden streckten einander die Hände hin.

»Mag der Gatte aufpassen!« höhnte Cavà, knabenhaft hell; und der Chor erklärte sich fürs Aufpassen.

Die Versammlung bröckelte ab; auch Mai löste sich heraus, mit Deneris hinter sich.

»Hat er reizend für die Scheidung gesprochen, und auch Sie, Marchese! Oh! ich schwärme für die Scheidung. Meine Tochter übrigens auch: Nicht wahr, Lola?« – Und Mai lief trippelnd herbei, ganz unbefangen, wie immer, wenn Leute dabei waren. Deneris hielt sie zurück; er hatte ihr etwas zuzuflüstern. Mai schüttelte auf alles den Kopf. Schließlich sagte sie:

»Gut, daß Sie mit Pardi versöhnt sind; jetzt können Sie wieder mit uns reden. Sonst aber, liebe Marchese, Sie dürfen es nicht übelnehmen, eine glückliche Liebe würde Ihnen nicht stehen. Ihnen steht eine unglückliche. Als Sie täglich sechs Stunden gereist sind und sich bei einem Photographen haben erschießen wollen, da müssen Sie schön gewesen sein ... Sollen wir jetzt nicht baden, Lola?« – und Mai ließ Deneris zurück.

Lola dachte: ›Sie ist so dumm, daß sie keine zwei Worte versteht, die etwas Allgemeines sagen. Gleich darauf aber, wenn es sich um ihren Körper handelt und um die Sinne eines Mannes, wird sie beinahe geistreich. Muß man als Frau so sein? Dann bin ich ein verfehlter Mann. Wenn ich hätte auftreten dürfen: wie ich denen dort die Wahrheit gesagt hätte! Was für eine Gesellschaft! Sie sind schlaff und unmenschlich zugleich; frivol und philisterhaft, alles beides. Pardi ist das alles auch: nur heftiger als die anderen. Ich kenne ihn: sich würde er alle Freiheiten nehmen, und seine Frau würde er einsperren. Draußen würde er wie ein wildes Tier herumstreichen oder wie ein Narr, und in seinem Hause würde er alles abgezirkelt und niedlich wie in einem Vogelbauer wollen. Kann man so abscheulich ungerecht sein! Nein, ich möchte kein Mann sein. Oder ich wäre einer wie Arnold ...«

Zornig riß sie sich die Bluse auf – da erschien um die Ecke des Karrens auf nacktem Hals der Modellkopf des Dichters Merluzzo. Seine Puppenaugen spähten hinein.

»Was wollen Sie, mein Gott!«

Mai, schon halb entkleidet, schrie und stürzte umher.

»Endlich treffe ich Sie allein. Erinnern Sie sich nicht, daß ich Ihnen eine Novelle vorlesen wollte?«

Es mußte sofort sein. Lola ließ ihn sich auf die Karrentreppe setzen und versprach, hinter dem Vorhang genau zuzuhören. Aber die weichliche Stimme reizte sie noch mehr. Zum Schluß sagte sie:

»Recht hübsch. Aber den Gedanken, daß an der Untreue der Frau auch der Gatte schuld haben kann, finde ich sehr kühn.«

»Nicht wahr?« – ganz stolz: »Das sagten mir schon andere: die Idee sei neu und vielleicht zu kühn. Auch der Conte Pardi sagte es.«

»Das dachte ich mir« – und Lola schlug den Vorhang zurück und ging in ihrem Mantel an Merluzzo vorbei. Im Wasser erklärte Mai:

»Ich mag diese Dichter nicht. Dieser ähnelt wieder dem vorigen, dem in Deutschland.«

Lola antwortete:

»Liebe Mai, solche Leute wie Deneris verstehst du sehr gut« – und dann schwamm sie unter Wasser davon.

Mai sprach sie nicht wieder an. Am Abend ward Lola von Pardi zur Rede gestellt. Sie sei so unartig, daß ihre Mutter geweint habe, und dabei verschwende sie das Geld ihrer Mutter. Wie sie dazu komme, die ganze Familie des Stubenmädchens zu unterhalten. Ob sie nicht sehe, daß der Mann ein Lump sei, der nicht arbeiten wolle und sie belüge. Sie wisse es, sagte Lola; da er aber einmal so sei und die Familie Not leide –

»Das ist unmoralisch!« behauptete Pardi.

»Wenn ich fragen wollte, wem ich helfe, käme ich nie zum Helfen. Glauben Sie, daß der betrunkene Bauer in Deutschland, den Sie ins Dorf trugen und so reich beschenkten, würdiger war?«

»Er war ein sehr guter Mann, ich habe mit den Leuten gesprochen.«

»Ich auch. Und er hatte die Messerstiche, weil er gestohlen hatte. Aber Ihr Geld verdiente er darum, meine ich, nicht weniger.«

Da Pardi nur fuchtelte:

»Sehen Sie, Sie waren in Afrika, haben so vieles hinter sich. Ich aber, die ich nichts erlebt habe, bin enttäuschter als Sie. Sie brauchten mich wirklich nicht so oft zu belehren.«

 

Das war ein Triumph! Auch daß er Merluzzos Albernheiten kühn gefunden hatte, war einer; und daß die süßlichen Bilder im Saal ihn entzückten. Für alles, was süßlich und veraltet war, für jeden Kitsch war er zu haben. Er mußte als Held in älteren Romanen vorkommen. Sein Abenteuer, sein Ehrbegriff, seine Ideen, seine Lebensanschauung und sein Urteil über Menschen rührten von solchem Helden her. Für ihn gab es natürlich nur Gute und Böse, Ehrenmänner und Schufte, und wer das Fechten verstand, erhielt sich stets auf der Seite der Ehrenmänner. Eine Welt, so einfach in ihrer Wildheit, daß es nicht zu glauben war. Eine Naivität, die manchmal rührte, manchmal empörte. Nur Achtung konnte sie nicht eingeben.

Ihre Beobachtungen rieben sie auf, sie erschrak bei jeder neuen Waffe, die sie gegen ihn in die Hand bekam, denn mit allen traf sie sich selbst. Sie schlief nicht mehr, verbarg mit Mühe ihre ständige Gereiztheit, und von früh bis spät war sie in der Angst, einen Zug an ihm zu bemerken, der ihn entstellte, der ihn vervollständigte. Nutini war ihr Schrecken; bei jeder Begegnung lüftete er, feixend oder unter Freundschaftsbeteuerungen, wieder ein Stück von Pardis Vergangenheit. Pardi hatte die Chiarini, als sie von ihm in anderen Umständen war, mit dem Wagen umgeworfen, wobei sie umkam ... Nutini verhehlte nie, Lola auf den Mut hinzuweisen, womit er sie über den gefürchteten Duellanten aufkläre. Sie hielt trotzdem das meiste für Verleumdung; aber ein ruheloses Mißtrauen und eine verzweifelte Lust an seinem Gezischel trieben sie zu Nutini. Sie standen zusammen abseits, wiesen nach dem Horizont, lachten laut, und dabei sagte Nutini:

»Sie wissen wohl nicht, warum die Bernabei Sie soviel durchs Lorgnon ansieht?«

»Die mit dem zusammengedrückten Gesicht und den roten Lidern? Nein.«

»Weil sie Pardis Geliebte ist ... Ja, man spricht seit zwei Tagen davon, aber ich habe mich erst überzeugen wollen ...«

Lola hörte gierig die Einzelheiten von Nutinis Entdeckung an.

»Sie begreifen nun, die Bernabei ist auf Sie eifersüchtig.«

»Aber neulich, als Pardi seine Rede gegen die Scheidung hielt, schien sie sich mir ganz freundlich nähern zu wollen.«

»Das glaub ich!« – und Nutini lachte auf, mit großen Falten neben dem Munde; »Sie wissen wohl, was Eifersucht ist: man muß die Gegnerin kennenlernen!«

»Nein, ich weiß das nicht. Und ich bin nicht die Gegnerin der Frau Bernabei.«

»Im Ernst? ... Ich will aufrichtig sein. Die Gräfin hat mich beauftragt, zu machen, daß Sie beide sich kennenlernen.«

»Mich verlangt nicht nach der Bekanntschaft.«

»Oh! Sie sind nicht eifersüchtig. Sie sind ein bewundernswertes Geschöpf, in das auch ein ernster Mann sich verlieben könnte. Unglaublich, wieviel Seele in den Augen dieses Mädchens ist ...«

Lola dachte: ›Für alles andere habe ich Blick, nur nicht für Liebessachen ... Jetzt begrüßen sie sich: ja, es ist wahr. Daß ich das nicht früher gesehen habe! Und doch war sie mir unsympathisch vom ersten Augenblick, und ich habe mich ihretwegen mit ihm gestritten! Also hat er eine Geliebte, hier gleich neben mir, die er doch behandelt, als ob ich ihm gehörte ...‹

Gegen die Liebe in ihr vermochte das alles nichts; nur die Last dieser Liebe konnte es vermehren. Ihr Wachstum war nicht mehr aufzuhalten. Kein Tag, der ihr nicht Nahrung gab. Noch mit der Verachtung des Geliebten nährte sie sich!

Und ihr Dasein glich jetzt ganz jenem Spaziergang, die letzte Nacht in Deutschland, als sie in die Luft schlug, aus blinder Angst vor seiner Berührung. Immer war sie in Angst, sich zu verraten. Mochten ihre Worte noch so gehalten sein, sich mit Blicken zu verraten wie die Bernabei, mit einer Betonung, die ihr, sie merkte es, ausglitt, mit einer Bewegung, die entschlüpfte. Stand ihr nicht der Traum der vergangenen Nacht noch in den Augen, als sie sich, einen steilen Weg hinab, fest auf ihn gestützt und sich abgespannt und genesen gefühlt hatte? Konnte er nicht in sie hineinsehen? Drang nicht ihre Leidenschaft ihr durch die Haut? Sie drang doch bei allen durch, so lang die Terrasse war, so viele Menschen hier gehäuft saßen, so viele Gesichter sich aufeinander zuneigten, so viele Hände nacheinander tasteten. Lola sah jetzt dies alles und fühlte es, ohne hinzusehen. Ein neuer Sinn war ihr gekommen für den Strom, der um diese Tische und durch diese Menschen lief und von dem der Blick jedes Mannes und jeder Frau, die sich ansahen, dieses ironisch gedämpfte Einverständnis empfing. Sie fragte nicht mehr, warum hier zwischen Frauen und Männern kein Gespräch über irgendeine draußen liegende Sache aufkam. Sie selbst konnte nur noch darauflosschwatzen, schlaff lachen und, nun Nutini ihr den Hof machte, sinnlos herausfordernd an seinen Augen haften. Dazwischen empörte sie sich gegen ihren Zustand, begriff nicht, wie er hereingebrochen sei. Schrieb ihn dem Scirocco zu, der einem den Atem nahm, einen gedankenlos, matt und nach Schauern gierig machte. Man zog die Mahlzeiten hin, trank, rauchte – und wenn man die heiße schlaffe Hand über das Geländer hängte, traf Regen sie, der nicht kühlte. Die Gerüche dieser eleganten Menge standen still in der Luft. Das Meer sandte bleierne Reflexe. Die Blicke erschienen fiebrig, die Gesichter fahl, gedunsen und von aufstachelnder Zerrüttung.

Lola fand jetzt viele beneidenswert schön. Manche dieser Frauen schminkten sich Masken wie Kokotten. Man mußte das herausbekommen. Man mußte ihren lauten Schick erlernen. Sie probierte des Nachts. Mai, sah sie, hatte täglich breitere Kohleränder. Wenn sie zusammen die Terrasse betraten und von der Bernabei und den anderen gemessen wurden, spürte Lola von weitem den Erfolg. Mais dunkle, weiche Schönheit und Lolas herbere blonde Eleganz hoben einander. Sie sprachen unter sich kaum ein Wort, sie hielten beim Ankleiden die Tür zwischen sich geschlossen, gaben sich keinen Rat mehr. – Am Fuß der Treppe aber blieb Mai stehen, tim Lola an ihre Seite zu nehmen, und am Strande legten sie einander die Hand in den Arm und lachten sich zu.

›Wir sind eigentlich wie ein Paar Abenteurerinnen‹, dachte Lola. ›Wer uns nicht kennt –.‹ Mit der Wucht des Schreckens vertiefte sie sich dahinein. ›Wir sind immer, ohne irgendwo hinzugehören, durch Europa gezogen, haben nur an Plätzen gelebt, wo sich Abenteuer finden lassen – und haben wir keine gefunden? Womit habe ich, wenn ich die Branzilla abziehe, meine Zeit verbracht? Auch hatten wir nur unregelmäßig Geld ...‹ Und da hatte sie ihr Dasein umgesehen, verstand sich, sehr befremdet, auf einmal ganz anders. ›Ich bin es! Ich bin eine Abenteurerin! ... Die anderen, die es sind, wissen es vielleicht auch nicht. Man merkt das wohl selbst erst, wenn die Leute es schon längst sehen ...‹

Sie wehrte sich: ›Ich habe doch soviel gelesen; durch meinen Kopf, der jetzt wohl leer ist, sind doch Gedanken gegangen, wie gewiß niemals durch diese Köpfe hier. Wenn ich jetzt in diese Gesellschaft gehöre – noch vor kurzem war ich doch mit ganz anderen Menschen fast verwandt. Wie war mir zumut, als ich mit Arnold war? Alles war anders. Frauen, wie diese, die ich jetzt nachahme, hätten mich gedemütigt durch ihre bloße Gegenwart.‹ Dann: ›Aber vorher war ich mit Da Silva. Auch das habe ich in mir. Und das bricht jedesmal mehr durch. Jetzt bin ich hier und bin so.‹

Einen halben Tag lag sie gelähmt von ihren Entdeckungen; und als sie aufstand, hatte ihre Rolle einen tragischen Sinn bekommen. Wie Mai, die nichts ahnte, es kläglich gut hatte! Für sie war, sobald Paolo einmal wieder ein paar tausend Franken schickte, alles in Ordnung. Man mußte sanfter mit ihr sein ... Beim Anblick der Bernabei schnellte in ihr ein Stolz auf, der sie erschütterte. ›Diese Frau‹, dachte sie, ›wird sich mir vorstellen! Sie wird in das Palais der Contessa Pardi kommen und sich ihr vorstellen!‹ Sie ließ kein Erstaunen über den Einfall in sich aufkommen. ›Ah! Diese Leute halten mich für eine Abenteurerin. Der Geliebte solcher Weltdame hat nebenher noch eine etwas verdächtige Bekanntschaft, die er in die Gesellschaft nicht einführen kann. Denn er hält mich von ihnen getrennt, er behandelt mich wie eine Kokotte. Aber sie sollen sehen! Er soll sehen!‹

Sie verachtete diese Menschen! Und dabei gab die Aufgabe, sich unter ihnen Platz zu machen, ihr Begeisterung. Nun wußte sie sich wieder unangreifbar, suchte keinen Schutz mehr vor Pardi, nahm ihn sogar mit auf ihre einsamen Spazierwege.

»Nicht in den langweiligen Wald, bitte: nach den Bergen zu.«

»Es wird sehr heiß sein – und weit.«

»Sie sehen ganz nahe aus, und droben geht gewiß Wind.«

»Wie Sie meinen ... Übrigens wiederhole ich Ihnen, daß Sie verschwenden. Ihre Mama weiß nicht mehr, wie sie die Kleider bezahlen soll, die jetzt wieder für Sie da sind.«

»Möchten Sie, daß ich hinter der Bernabei zurückstehe?«

»Warum vergleichen Sie sich der Bernabei?«

Lola hörte, wie er stammelte. Sie fühlte sich, da sie den Namen seiner Geliebten nannte, im Genuß einer Überlegenheit; fühlte, daß ihr kühles Lächeln ihm unheimlich sei, wie gewissen Wilden eine Jungfrau.

»Ich kenne Sie schon«, sagte sie. »Sie gehören zu den Männern, die ihrer Freundin etwas Festes im Monat geben und von ihr verlangen, daß sie darüber abrechnet. Man kann, denke ich mir, ganz gut eine Menge Geld verspielen und dann in Kleinigkeiten geizig sein. Nicht?«

»Was Sie sagen, schickt sich nicht für Sie!«

»Nehmen wir an, es wäre eine Frau, eine ältere Frau, die es Ihnen sagte.«

»Sie sind viel zu klug für eine Frau! Übrigens: wozu reden wir. Lange genug haben wir getan, als ob nichts wäre zwischen uns, als ob wir nicht wüßten, daß ich Sie besitzen werde und daß Sie darauf warten. Ihre Klugheit ändert daran nichts. Was Sie reden, sind bloß Worte; und im stillen wissen wir mehr. Ist es nicht so?«

Seine Stimme fühlte sich an wie eine Hand, die im Würgen noch schmeichelt.

»Was Sie sagen, schickt sich nicht für Sie«, erklärte Lola.

»Sie bringen mich zum Äußersten!«

Halb ihr zugewendet, hielt er seine beiden bebenden Fäuste vor sie hin. Sie ging weiter, ohne hinzusehen.

»Was hindert mich? Was? Wenn Sie die Contessa Dingsda wären oder auch das Stubenmädchen –«

Er zischte nur noch; aber sie verstand ganz gut: man behandelte sie nicht wie eins jener Weibchen. Eine Scheu benachrichtigte selbst diesen, daß das nicht ging. Sehr hochgemut, mit Auflachen:

»Ich nehme an, daß dies alles einen Heiratsantrag bedeutet.«

»Nein!« – ganz brutal. Lola duckte den Nacken, sie konnte nicht anders. Sie versuchte zu trotzen:

»Einen Gegner der Ehescheidung könnte ich auch nicht brauchen.«

Aber sie dachte in Panik: ›Soll ich sagen: wenn es keinen Antrag bedeutete, war's Unverschämtheit? ... Darf ich das noch? Ich hatte mich ihm gleichgestellt! Plötzlich schlägt der Mann dann zu; so ist es immer. Dies Nein werde ich nie vergessen.‹ Sie setzte sich hin.

»Gehen Sie, bitte, allein weiter. Ich will hierbleiben.«

»Auf der Mauer, in der Sonne? Ich warte natürlich, bis Sie sich ausgeruht haben.«

Lola sah nach den Bergen und dachte: ›In was für einer Lage. Mai wäre nie in solcher. Sie, die ich so oft dumm finde.‹ Sie lachte gewaltsam:

»Wissen Sie wohl, daß Sie ziemlich grob waren? Aber ich verzeihe Ihnen. Für die dummen Frauen hat man die Galanterie; aber was tut man mit den Klugen. Da ist man ratlos.«

Dann: »Die Berge kommen aber gar nicht näher. Kehren wir also um.«

»Sehen Sie, daß Sie nachzugeben verstehen?« sagte Pardi.

 

Er trällernd im Tenor, Lola mit Kopfschmerzen, so kamen sie zurück. In ihrem Zimmer schloß sie sich ein, fand aber keine Ruhe.

›Wenn er mich nicht heiratet, – ich muß mich erschießen! Dies geht nicht einfach vorüber, das weiß ich. Oh! wie ich ihn hasse.‹

Im Umherirren gab sie ein leises Wimmern von sich. Plötzlich, stehenbleibend:

›Oder – ist das Haß ... Was tut er jetzt? Ist er bei der Bernabei?‹

Sie horchte an Mais Tür, öffnete leise: Mai war nicht da. ›Und was tut Mai?‹

Fieberhaft trieb es sie nach allen Seiten. Keinen Augenblick konnte sie länger allein bleiben. Da kam Mai und hatte wieder dies verdächtig Unsichere.

»Woher kommst du?« fragte Lola hastig. Mai stutzte, und ihr Blick, der um Teilnahme gebeten hatte, verschloß sich. Lola mußte sich erst sanft machen; dann erfuhr sie, Mai habe wieder einmal Pai erblickt, vorhin, während ihrer Nachmittagsruhe. Aber noch seien ihre Augen offen gewesen; Pai sei von links gekommen und habe ein schrecklich ernstes Gesicht gehabt.

Mais sklavische Angst entrüstete Lola auch diesmal. Sie wollte sagen: ›Wenn du mit vollem Magen schläfst –‹ Aber sie sagte:

»Pai ist offenbar nicht zufrieden mit dir. Wundert dich das?«

Mai sah vor sich hin. Ihre Brust ging immer heftiger. Da fiel sie Lola, ohne ihr in die Augen zu sehen, um den Hals.

»Willst du Pardi? Ich lasse ihn dir. Ich begnüge mich mit Botta.«

Lola vermochte nichts gegen die eigene Gereiztheit. Sie erwehrte sich Mais.

»Du weinst mir das ganze Gesicht naß, und ich hatte mich eben gepudert ... Wie willst du mir Pardi lassen? Gehört er dir?«

Und Mai, enttäuscht, aus der Stimmung gerissen und auf einmal voll Feindschaft:

»Also dann wirst du's sehen!«

»Was werde ich sehen, Mai?«

Sie maßen sich – und wie Lola dies haltlos und kindlich böse Gesicht dringend betrachtete, brach ein Schauer von Mitleid über sie herein. ›Das ist doch Mai‹, dachte sie. Da umfaßte sie Mai, drückte sie auf den Stuhl nieder, legte, vor sie hingekniet, Stirn und Augen in ihren Schoß. Dunkelheit: die tat wohl. Was sich noch eben so wild angefühlt hatte, war nun abgeschafft. ›Es ist doch gar nicht nötig‹, dachte Lola.

»Ich brauche ihn gar nicht«, sagte sie und hielt die Augen geschlossen; »ich liebe ihn gar nicht.«

Mai legte ihr die kleinen weichen Hände um das Gesicht.

»Das kennen wir«, flüsterte sie nur. Und wie Lola die Lider öffnete:

»Sagte ich's nicht?«

›Was sieht sie in meinen Augen?‹ dachte Lola und ging zum Spiegel.

»Ich habe wohl etwas Fieber, Mai. Meinst du, daß ich heute abend zu Hause bleiben soll?«

»Ich meine, daß wir jetzt keine Zeit mehr verlieren, sondern dich verheiraten müssen«, antwortete Mai wichtig. »Ich muß für dich handeln, sonst kommen wir zu nichts. Du bist so klug, aber ich sagte dir's schon oft, eine Negerin weiß die Männer geschickter zu nehmen als du. Auch betest du zu keinem Heiligen. An welchen Gott glaubst du eigentlich?«

»Wie willst du handeln, Mai? Daß du ihm kein Wort sagst, du würdest mich sehr böse machen.«

»Ich habe das Recht, ihm zu verbieten, daß er meine Tochter noch länger kompromittiert. Man bleibt nicht mit einem jungen Mädchen drei Stunden vom Hause fort. Laß mich nur machen, ich bin erfahrener.«

Lola wendete sich hin und her.

»Warum muß ich denn heiraten?«

»Damit du einmal zur Ruhe kommst. Weißt du das nicht? Und die Geldsachen aufhören. Seit Paolo all unser Geld in dieses Ansiedelungsunternehmen gesteckt hat, kriegen wir immer weniger.«

Mai war ganz Gesetztheit, ganz Vernunft.

»Aber wenn das Geschäft gelingt, sind wir reich.«

»Du selbst hast noch gestern gezweifelt. Besser, wir versorgen dich gleich.«

»Mir widerstrebt es, Mai. Ich werde Pardi nur heiraten, wenn unser Geschäft gelungen ist. Jetzt mußt du dich wohl anziehen«, setzte sie rasch hinzu.

»Nein«, sagte Mai ebenso rasch, und als habe sie darauf gewartet. »Ich werde mich gar nicht anziehen. Ich bin gut genug, wie ich bin. Aber ich werde dir helfen.«

»Was fällt dir jetzt ein? Irgend etwas mußt du doch anhaben.«

»Dann ziehe ich das grüne Kleid an.«

»Das die Schneiderin ganz verdorben hat? Und Grün steht dir nie!«

Mai wiederholte mit einer Festigkeit, unter der es zitterte:

»Ich ziehe das grüne Kleid an.«

»Du bist schrecklich!« – und Lola sah sich verzweifelt nach allen Seiten um. Daß Mai sich häßlich machen wollte, war ein peinlicheres Opfer, als wenn sie ihr Pardi freiließ.

»Zu dem grünen mußt du wenigstens Rot auflegen, hörst du?«

»Ich werde mich überhaupt nicht schminken; nur Eau végétale.«

Und Mai ging, von sich selbst erschüttert, hinaus.

 

An diesem Abend schickte Mai alle Tänzer fort, machte Bekanntschaften unter den Müttern einiger kleinen Provinzlerinnen und führte sorgenvolle Gespräche über die Kinder. Dafür ließ sie sich das nächstemal zu ihrer silberbestickten weißen Empirerobe überreden, und jedesmal, wenn sie in Pardis Arm an den Wänden hinglitt, trieb es Lola ihr nach. Sie gab dem eigenen Begleiter keine Antwort, hing nur an Mais und Pardis Mienen, die zu süß, zu vertieft waren. Quälte sich um die Worte, die er in Mais Corsage sprach. Litt unter dem weichen Seidenfluß um Mais Gestalt, unter den blaßbunten Palmen darauf aus altem Kaschmir, unter Mais Flimmern und üppigem Gleiten und der nie gestörten Weiße ihres Gesichts in den breiten schwarzen Haarwellen. Sie selbst erhitzte sich, ihren Fächer bewegte sie nicht so melodisch, und nie würde sie es verstehen, solche Hingebung zu spielen! ›Diese Männer hier wollen nichts, als daß man ihren Augen schmeichelt und allen ihren Sinnen. Das ist alles, was sie kennen.‹ Sie ließ sich ins Freie führen, ans Büfett, von einem Raum zum andern. In aller Hitze klapperten ihr plötzlich die Zähne; und sie begann wahllos zu schwatzen. ›Wie ich mich schäme!‹ dachte sie dazwischen.

»Was haben Sie mit Mai gesprochen?« fragte sie Pardi und lachte.

»Wir haben uns gestritten. Ihre Mama will nicht, daß ich mit Ihnen spazierengehe. Sie wissen, daß ich darauf nicht verzichte. Eher auf alles andere«, sagte er mit dieser sengenden Süße. Sie lachte schwächer, schloß eine Sekunde die Augen – und in der Sekunde war alles gut.

Beim Hinaufgehen verhielt Mai sich kleinlaut. Am Morgen sah sie verweint aus, hatte eine Stimme voll Mitleid mit sich selbst, war einfach angezogen und wollte, nur mit Botta, an den unbelebten Strand unter der Pineta. ›Bis zum nächstenmal‹, dachte Lola. Denn sie wußte jetzt: Mai opferte sich stückweise. Immer noch blieb ein Rest Selbstsucht zu bezwingen. Aber ihre unerklärten Abwesenheiten mit Pardi wurden seltener, und nach ihnen war's, als flüchtete sie sich verstört zu Lola, als wollte sie nie mehr von ihrer Seite, mit Blicken und Bewegungen, wie um Schutz und um Verzeihung ... Lola erinnerte sich seines furchtbaren ›Was hindert mich –.‹ Vielleicht, daß ihn bei Mai nichts hinderte? Nicht die Scheu, die sie selbst umgab? Nein! Bei Mai nichts. Und Bilder brachen herein ...

Kein Mittel gab es, ruhig zu atmen, als wenn man aus jeder Stunde wußte, was sie getan hatten, sie und er. Lola verbündete sich enger mit Nutini.

»Wir betragen uns zu sehr als Amerikanerinnen, nicht? Mai ist wieder mit jemand allein fort, ich glaube mit Pardi. Gestern auch, glaube ich.«

»Nein, gestern mit Botta. Sie haben droben an der Düne gelegen. Aber jemand lag auf der andern Seite und hat sie belauscht. Botta hat zuerst von seiner Balletteuse geseufzt, dann hat er Ihrer Mama einen Antrag gemacht, und nachdem er abgelehnt war, hat er sie um Geld gebeten. Es scheint, er steckt, von der Balletteuse her, noch immer in Schulden.«

»Wie man hier, bei allem Gefühl, praktisch ist. Das gefällt mir. Also Geld sucht man bei uns? Aber hält man uns denn nicht für Abenteurerinnen? Sagen Sie's nur!«

»Mein Gott, manche geben vor, es zu glauben. Wer Ihnen schadet, ist Pardi. Hat er nicht geprahlt, er werde Sie beide zu seinen Geliebten machen? Ihre Mama und Sie?«

Lola sah ihm in die Augen: sie waren lügnerisch. ›Und doch könnte Pardi das sagen!‹ mußte sie denken.

»Wo und wann hat er das geäußert?«

»Vor aller Welt, noch gestern. Sie und Ihre Mama brauchen nur den Rücken zu wenden.«

Lola bebte vor Zorn.

»Das lassen Sie ihn sagen? Und Sie behaupten manchmal, Sie lieben mich.«

»Ich liebe Sie«, wiederholte Nutini, durchdrungen. Gleich darauf nahm sein Gesicht einen anderen Faltenwurf an.

»Was den Herrn Pardi betrifft, verachte ich ihn zu tief, um seine Prahlereien wichtig zu nehmen. Niemand nimmt sie wichtig. Übrigens macht er mich nicht eifersüchtig, denn ich habe die Überzeugung, daß er es viel mehr auf Ihre Mama absieht.«

Lola zuckte zusammen. Vergebens hielt sie sich vor: ›Nur aus Feigheit spricht er so.‹ Sie fühlte sich tief niedergeschlagen und rätselhaft gefangen, wie mit Stricken aus Luft. Nutinis Ränke, Pardis Unzuverlässigkeit, Mais Schwäche und Lolas eigene Ängste würden immer so weitergehen. Eine atemlose Ungeduld quälte sie auf einmal. Keinen Augenblick länger durfte dies alles dauern. Sie machte eine Bewegung, als risse sie sich los.

»Daß ihr Männer, kaum daß ihr unter euch seid, von uns Frauen so redet, das ist mir nichts Neues. Sie erinnern sich, was ich einmal auf meinem Balkon von euch zu hören bekam.«

Nutini legte die Hand aufs Herz.

»Ich war nicht dabei, vergessen Sie das nicht.«

»Auch Sie hätten dabeisein können. Was würde das ändern. Nur von Pardi glaube ich nichts.«

»Damals haben Sie seine Stimme wohl erkannt; und was seine Worte von gestern betrifft –«

›Nichts glaube ich, und dürfte es auch nicht; denn –‹

Laut:

»Ich liebe ihn!«

Aufatmend, mit Stolz:

»Ja, ich liebe ihn. So ist es. Was wollen Sie dabei tun.«

Sie grüßte und ging. Das tat wohl, etwas Unwiderrufliches war geschehen. Zurück ging's nun nicht mehr. Nutini würde dies herumschwatzen. Pardi erfuhr es ... Er konnte sie auslachen – oder sie heiraten. ›Wenn nicht, erschieße ich mich.‹ Das Mitwissen aller konnte auch einen Druck auf ihn bewirken, konnte ihn nötigen, sie zu heiraten. ›Wie ich berechne! Ich werde wirklich zur Abenteurerin.‹ Gleichviel: wer alles wagte, hatte Rechte auf alles. ›Werde ich mich nicht erschießen?‹

 

Pardi holte sie ein; er war ganz in Flammen.

»Wissen Sie, daß ich den Nutini zur Rede stellen werde? Ihre Duos mit ihm gefallen mir nicht mehr.«

»Wenn sie aber mir gefallen?«

»Das genügt nicht –« und sie zankten schon wieder, vorgeneigt, mit leidenden Gesichtern, aufeinander ein. Lola verfiel in die Furcht, er möchte schon wissen, was sie erst eben gesagt hatte; der Lauscher, der hier hinter jedem Baume stand, hatte wohl schon gesprochen! Und jetzt, da sie ihm in die Augen sah, begriff sie nicht mehr, daß sie's hatte sagen können. ›Ich habe mich aufgegeben, ich habe ihn zu meinem Herrn gemacht!‹ In Verzweiflung:

»Was geht Sie's an: ich liebe Nutini!«

Pardi war plötzlich still. Lola sah verstört beiseite. Er erholte sich.

»Das ist natürlich wieder eine Lüge.«

»Wie kommen Sie dazu –«

»Sonst würde es ihm schlecht ergehen. Aber Sie werden ihn nicht wiedersehen. Sie werden ihn wegschicken, wenn er Sie anredet!«

»Sie sind verrückt. Sie vielmehr: Sie werde ich besser einige Tage nicht sehen. Heute abend fahren wir nach dem Hause, wo Botta die Balletteuse geliebt hat. Ich bitte Sie, hierzubleiben.«

»Heute abend überreiche ich dem Kommandanten der ›Savoia‹ im Namen des Komitees die Fahne. Sie werden mit mir auf das Schiff kommen.«

»Ich werde im Hause der Balletteuse dinieren.«

»Sie werden mit mir auf das Schiff kommen!«

»Gute Unterhaltung!«

»Ich befehle Ihnen ...«

»Bitte?«

»Sie werden nicht mit Nutini gehen! Sie werden ihn nicht lieben!«

»Ich liebe, wen ich will.«

»Hüten Sie sich!«

»Morgen reise ich, und er folgt mir.«

»Schweigen Sie! Ich befehle es!«

»Sie befehlen mir? Gehen Sie!«

Die lange Halskette, die von ihren vorgestreckten Schultern herabschaukelte, knirschte unter Lolas Fingern: sie hatten eine Perle zerrieben. Die andern rannen auf den Teppich, ein dünner, bunter Regen. Pardi sah zuerst ihn, dann Lolas dicke Falte, die bewußtlose Wut ihrer Augen, die ganz leise und ohne die seinen loszulassen, hin und her rückten. Und da gewahrte Lola, wie er rückwärts ging. Kein Wort mehr sagte er, tastete hinter sich nach dem Türgriff und verschwand. Lola erstaunte; aber im Begriff, sich aufzurichten, erkannte sie im Spiegel den ganzen irren Schwung des Hasses, den ihr Körper ausdrückte. Sie setzte sich, strich sich über die Stirn. ›Er hat wohl geglaubt, ich würde ihm in die Augen springen?‹ Die Wonne der Freiheit begann plötzlich in ihr zu strömen. ›Ich bin ihn los! Er ist vor mir davongelaufen! Ich kann tun, was ich will!‹

Sie stellte sich mit einer Zigarette auf den Balkon. Dann:

»Mai! Mai! Heute abend wird an den See gefahren, den Kanal hinauf. Wir wollen uns furchtbar amüsieren!«

Und als Mai die Fahne und Pardi einwendete:

»Er ist vor mir davongelaufen! Wir sind ihn los! Mai! wir wollen tanzen!«

Ohne Mai Fragen zu erlauben, drehte sie sie herum. Als Mai endlich, atemlos, zu Wort kam:

»Ich muß aber hierbleiben.«

Dabei verharrte sie, weinerlich und feindlich.

»Mai! du kannst mir nicht in die Augen sehen. Das ist nicht recht. Das ist nicht recht.«

Und Lola ging aufgebracht durch das Zimmer. Mai klagte:

»Was soll ich denn tun?«

»Wählen!« antwortete Lola, den Türgriff in der Hand.

»Also ... fahren wir an ... diesen dummen See?«

»Und inzwischen packt Germaine! Und wir werden Pardi nie wiedersehen!«

»Das glaubst du selbst nicht«, sagte Mai.

Sie behandelte den Ausflug mit Verachtung, lehnte es ab, sich dafür anzuziehen und fragte schon, wie man ins Boot stieg, ob es lange dauere. Lola erklärte sich zu allem aufgelegt. Sie warf den Kindern, die am Ufer des Kanals mitliefen, Süßigkeiten zu. Nutini hatte eine Gitarre, Cavà setzte sich, seiner Uniform ungeachtet, eine künstliche Nase auf. Die kreischenden Kleinen blieben allmählich zurück. Mai nahm die Hände von den Ohren und sagte »Gott sei Dank«. Die große Stille der leeren Wiesen, der grenzenlos umblauten Kornfelder ward fühlbar. Mochte Botta ihn verhöhnen: Deneris seufzte ergriffen. Als Lola zu singen begann, nahm Cavà seine Nase wieder ab. Ihr Lied galt der rosigen Wasserbahn, die man, ohne je zu landen, ohne je mit Menschen Gemeinschaft zu wollen, einsam entlanggleite. Nur fremd und gleich wieder entrückt, konnte man die Menschen lieben, konnte von ihrer Liebe träumen, wie die blauen Pfade dem Walde entgegen träumen.

Sie sang dies am Boden ausgestreckt, den Kopf im Arm, der sich auf die Bank stützte. Mai fragte, widerspenstig:

»Riechst du denn nicht die Füße des Ruderers? Was für eine ekle Hitze! Während wir in unserm kühlen Salon liegen könnten!«

Aber Lola verlangte ein kleines Mädchen ins Boot zu nehmen, das im dünnen Schatten der seltenen Pappeln ein Lamm vor sich her trieb. Sofort flüchtete Mai vor dem Lamm an das Ende des Bootes. Die Herren bewunderten es. Unter Lolas Augen überboten sie sich mit Zärtlichkeiten an die Kleine. Deneris küßte sie, Cavà schenkte ihr seine Nase, Botta gab ihr, im fetten Tenor, väterliche Ratschläge, Nutini schnitt ihr Fratzen. Dann sahen alle sie mit wehmütigen Köpfen an, wie Lola sie in den Armen hielt.

»Ich dachte, ihr würdet viel lustiger sein«, bemerkte Mai boshaft.

Und Lola gestand sich, daß sie Komödie spiele; daß der schöne Abend ihr verloren sei; daß nicht auf der rosigsten Bahn das Glück mitfahre, wenn sie abgewendet sei von ihm. Leere und Verlassenheit ängstigten Lola. Das Kind fing an zu weinen: es war an seinem Hause vorüber und glaubte, es solle entführt werden. Es ward ausgesetzt – und nun glitt das Boot in den lang vorgeschobenen Schatten des Waldes. Der dunkle Wasserweg blinkte tief drinnen auf. Das nasse alte Grün duftete wild und einsam; die Ruderschläge hörten sich an wie ein Wagnis.

»Ihr habt alle fahlgrüne Gesichter«, sagte Botta.

»Die Fahrt zur Unterwelt!« sagte Cavà.

Mai klagte, sie werde sich erkälten. Da wichen die Laubmauern zurück; und unbewegt, dreieckig und voll abgründiger Schatten öffnete sich der See. Das Haus drüben im letzten Licht sah, über sein Spiegelbild hinweg, weiß und sehnsüchtig her, wie eine Gefangene, deren Kleid im Wasser schleppte.

»Ich kann nicht glauben, daß sie fort ist«, sagte Botta, durchdrungen, indes er die Tür aufschloß.

»Olimpia!« rief Cavà unter ein Sofa und schlug sich dabei lockend aufs Knie.

»Zeige uns die Küche!« verlangte Deneris. »Die gnädige Frau will die Güte haben, uns eine süße Speise zu bereiten.«

Er sah, die Hand am Herzen, in Mais schmollendes Gesicht.

Dann kehrte Botta mit Lola vor eine noch verschlossene Tür zurück. Er sperrte auf.

»Das Schlafzimmer!« – und er seufzte, aus fetter Brust. Lola lächelte trübselig. Sie gingen hindurch, traten auf den Balkon und lehnten sich über das Wasser. Botta seufzte nochmals: »Wie oft habe ich hier mit ihr gebadet!« – und er spuckte hinab. Aus jener Bucht kam mit Nutinis Geklimper Cavàs frische Stimme gesprungen.

»Da nun Succi bewiesen hat, daß man ohne Essen leben kann, liebe Nina, will ich dich heiraten: dann können wir zusammen fasten.«

»Was ist der Mensch«, sagte Botta. »Ein wenig Gesang, einen Sommerabend am Wasser – und ein Herz, das sich alt glaubte, wird wieder ungestüm. Fräulein Lola, haben Sie Mitleid mit einem, der leidet. Holen Sie Deneris aus der Küche, ich muß mit Ihrer Mama sprechen. Alles hängt davon ab!«

»Ich glaube«, sagte Lola, »Deneris spricht schon mit ihr; er tut es, sooft er kann.«

»Ein hochherziges Geschöpf wie Sie kann nicht den gemeinen Eitelkeiten des Weibes verfallen. Ich weiß, Sie sind nicht eifersüchtig auf Ihre Mama. Auch werden Sie es angenehm finden, wenn ein ehrenhafter Mann Ihre Mama heiratet. Die Sorge um sie, die von Ihnen beiden das Kind ist, nimmt er Ihnen ab ...«

Lola dachte: ›Er hat recht: ich würde sie nicht mehr vor all den Männern behüten müssen.‹ Aber darunter, insgeheim: ›Sie würde mir nicht mehr ihn wegnehmen!‹

»Sind Sie meine Bundesgenossin?« fragte Botta vertraulich. »Oh, natürlich erwarten Sie auch Ihren Nutzen davon.«

Da sie errötete:

»Das ist billig ... Seien wir offen. Mag das dumme Volk hier glauben, was es will. Ich habe mich nach Ihnen erkundigt und weiß, daß Ihr Herr Bruder sehr aussichtsreiche Geschäfte in Händen hat. Sie werden einmal reich sein. Aber Ihnen persönlich nützt dies nichts, bevor Sie heiraten, und (ich kenne die Sitten Ihres Landes) nur wenig, bis zum Tode Ihrer Mama. Machen wir einen Pakt: Sie begünstigen meine Werbung um Ihre Mama; und im Fall, daß ich sie bekomme, verpflichte ich mich Ihnen zur Abzahlung eines noch zu bestimmenden Kapitals ...«

Lola dachte, ohne sich zu regen: ›O mein Gott, und eben wünsche ich mir, Mai möchte ihn nehmen!‹ Sie wandte ihm das Gesicht zu.

»Aber ich habe meine Mutter nicht zu verkaufen.«

Botta sagte im selben väterlich vertraulichen Ton wie das übrige: »Sie sind noch sehr jung.«

»Dann warten wir also, bis ich älter bin.«

Sie richtete sich auf. Drinnen war's nun ganz finster. Cavà und Nutini riefen nach Licht. Wie man die Speisekörbe auf den Tisch leerte, trat Mai ein, lächelnd, als brächte sie ein Versöhnungsgeschenk – und Deneris trug hinter ihr das süße Gericht. Es ward bestaunt; jeder verlangte gleich eine Probe.

»Du tust ja, als wäre es dein«, sagte Botta zu Deneris.

»Wer weiß«, machte er bedeutsam und starrte glücklich auf Mai, die an ihm vorbeilächelte.

»Wie du heute gesund aussiehst!« bemerkte Cavà.

»Und ich?« fragte Nutini an Lolas Ohr. »Werden Sie den gesund machen, dem ihretwegen die Wangen einfallen?«

Bei Tisch, neben ihr:

»Ich kann Ihnen versichern, daß Sie heute ungewöhnlich schön sind. Der andere schadet Ihnen. Sie haben förmlich etwas Beruhigtes. Eine Frau mit Ihren Nerven braucht einen bequemen Gatten. Ich würde einer sein. Sie dürfen es glauben. Ich liebe Sie so sehr, so sehr, daß ich sogar bereit wäre wegzusehen, wenn einmal eine Laune Sie ankäme ...«

»Das ist mehr, als ich erwartete«, sagte Lola. ›Nein‹, dachte sie, ›Pardi würde nicht wegsehen. Weder Bottas Vorschlag wäre ihm eingefallen, noch das, was ich nun gehört habe ...‹

Cavà sah mit knabenhaftem Spott herüber, indes er seinen Uniformrock aufknöpfte und ihm eine Photographie entnahm. Er stellte sie vor Lola hin: Pardi!

Alle lachten: da ging die Haustür. »Nun?« Jemand tastete die Treppe herauf. Noch rührte sich keiner; man sah einander in die Augen. Cavà lachte laut auf:

»Er wird uns doch nicht alle umbringen!«

Und auf einmal sprangen alle Männer an die Tür. Lola erschauerte vor Grauen und Stolz. ›Welche Furcht haben sie alle vor ihm!‹ Sie leuchteten in den Gang, und auf die Schwelle trat in dürftiger Eleganz ein blasser Kellner aus dem Hotel und hielt einen Brief hin. »Wer? Wer? ... Nutini!« Die andern zogen sich ein wenig von ihm zurück, wie von einem, den's getroffen hatte. Er hatte gelesen und sah erbleicht umher.

»Er fordert mich. Pah!«

»Gratuliere«, sagte Cavà.

»Endlich!« – und Nutini schielte hastig nach den Damen. In die Brust geworfen, fuchtelnd: »Ich habe ihn erwartet! Oh! ich triumphiere. Zu spät wird er erkennen, daß er diesmal an den Rechten kam.«

Er schrie den Kellner an:

»Sage dem, der dich schickt, daß er's bereuen wird! Daß dies sein letztes Duell sein wird!«

»Beachte die Formen!« sagte Botta. »Du sprichst mit Pardis Sekundanten.«

»Er sieht verhungert aus, der Sekundant. Er soll essen!«

Nutini drückte ihm, gewaltsam lachend, die Schüssel mit Mais süßer Speise in die Hand und schob ihn zur Tür hinaus. Mai griff nicht ein; sie hielt eine angstvoll geballte Faust an den Mund und wimmerte. Lola saß reglos da, mit erweiterten Augen und ineinandergepreßten Fingern. Nutini nahm den Brief vom Boden auf, schien ihn nochmals lesen zu wollen. Plötzlich zerriß er ihn in zackige Fetzen und stampfte darauf. Dann fiel er gegen den Türpfosten, griff sich, rasch atmend, ans Herz und zerdrückte, unter krampfigen Grimassen, Tränen zwischen den Lidern. Stockend murmelte er:

»Was will er übrigens von mir ...«

Sogleich, wie gehetzt, fuhr er wieder auf, schielte wild nach den Damen, gab sich verzweifelt Haltung.

»Laß nur!« – und Cavà reichte ihm ein Glas Champagner. »Das würde jedem passieren. Im ersten Augenblick macht solche Forderung uns stolz, im zweiten besinnen wir uns. Der Pardi ist ja wirklich ein furchtbarer Gegner. Wer aber seinen Schrecken sehen läßt –«

Cavà wandte sich den Damen zu.

»– schlägt sich nachher oft am besten.«

Botta bemerkte: »Aber schön siehst du nicht aus.«

»Schweige!« schrie Nutini. »Oder ich fordere auch dich und schone dich ebensowenig!«

»Armer Kerl, seine Forderung geht ja vor; und nachher, wo bist du dann?«

»Sst!« machte Cavà – und zu Mai und Lola:

»Die Damen begreifen, daß es in diesem Augenblick unter uns Männern einiges zu besprechen gibt. Da Sie leider Zeuginnen der peinlichen Sache geworden sind, darf ich Ihnen sagen, daß sie wohl schon bei Tagesanbruch geordnet werden wird und daß wir ein wenig Eile haben ...«

Deneris bot Mai den Arm, Botta Lola. Sie machten ihnen im Schlafzimmer Licht und ließen sie allein. Lola ging in einen Winkel, Mai in einen andern. Ein erregtes Schweigen – plötzlich, unterdrückt:

»Lola!«

»Mai!«

Und Mai lief Lola entgegen, drängte sich in ihre Arme, die sie empfingen.

»Das darf doch nicht geschehen!« sagte Lola mehrmals, indes Mai nur wimmerte. Da entquoll ihr alles auf einmal.

»Mit welchem gefährlichen Menschen haben wir uns eingelassen! Oh, Lola! Das hättest du nicht tun sollen ...«

Ohne auf Lolas Widerspruch zu hören:

»Wir sind viel zu weit mit ihm gegangen; jetzt schießt er, damit er uns allein hat, um uns her die Leute tot. Warum hast du dich ihm auch widersetzt! Bist nicht dageblieben, wegen dieser Fahne, wie er's wollte! Einem solchen Mann darf man sich nicht widersetzen. Ich habe mehr Erfahrung als du, aber du glaubst mir nicht. Wird er dich heiraten? Welche Ängste! Was soll ich tun?«

»Beruhige dich, Mai, ich werde verhindern, daß er ihn tötet!«

»Was soll ich tun! Dein Vater erscheint mir, – aber auch Pardi! Nur durch den finstern Korridor brauche ich zu gehen, und mir ist's, als hätte ich ihn hinter mir. Ich bin zwischen ihnen beiden, die mich ängstigen! Aber ein Ende muß gemacht werden. Wir entkommen nicht anders: er muß dich heiraten. Dein Vater verzeihe mir, aber ich werde alles tun, damit er dich heiratet: ich werde mich opfern.«

Lola hörte das nur von fern, ohne einzudringen.

»Mai! Mai! Gib doch acht: ich muß verhindern, daß er diesen Menschen tötet. Ich könnte das nicht aushalten: es wäre durch meinen Leichtsinn geschehen. Denn ich habe ihm gesagt, daß ich Nutini liebe. Verstehst du, weil ich kokett und widerspenstig und kleinlich bin und gelogen habe, stirbt ein Mensch. Das ist furchtbar, das ist das Äußerste. Davor muß ich mich retten! Zu allem bin ich bereit. Soll ich mich ihm hingeben?«

»Nein! Was denkst du denn!«

Eine Pause. Mai löste sich aus Lolas Armen und nahm sie selbst in die ihren.

»Du bist unpraktisch«, sagte sie mütterlich, und schmerzlich stolz: »Ich bin viel praktischer.«

»Wie denn, Mai?«

Lola suchte, durch ihre Tränen hindurch, vergebens in Mais Gesicht. In diesem Augenblick kam Mai ihr befremdend groß vor. Sie selbst fühlte sich wie ein kleines Mädchen.

Wie sie den Kopf gegen Mais Schulter senkte, traten die Herren ein, sie abzuholen. Alle zusammen, mit Nutini an der Spitze, der Haltung zeigte. Er beteiligte sich mit Maß und freiem Kopf an der Unterhaltung, die nichts Kriegerisches hatte. Lola mußte immer nach ihm hinsehen, gequält von nichtiger Neugier und unablässig versucht, von seiner schlimmen Angelegenheit anzufangen, wie eine Verbrecherin, die nicht schweigen kann.

»Haben Sie nicht das Bedürfnis, sich zu betäuben?« fragte sie endlich, durchschauert. Nein, Nutini war nüchtern und besonnen. Er beabsichtigte noch einige Stunden zu schlafen. Man stieg ins Boot. Vor dem Gesicht des Schiffers, das plötzlich aus dem Dunkel trat, schrak Lola zurück. Nutini war's, der sie festhielt, als ihr Fuß schon das Wasser berührte. Sie haßte dies kurzatmige Klappen der Ruderschläge; es klang nach Flucht – und doch wartete, wohin immer sie ins Dunkel die Augen richtete, kurz und geisterhaft aufflammend, Pardis bleiches, drohendes Gesicht. Was die andern ihr sagten, machte ihr Ungeduld. Mai hatte ganz recht, daß sie Deneris Geflüster abschnitt und ihn bat, er möge vergessen, was sie vorhin verabredet hätten. Alles sei verändert; sie könne ihn nicht mehr heiraten. ›Natürlich‹, dachte Lola. ›Ist nicht alles in Auflösung?‹

 

Sofort schickte sie nach Pardi. ›Wäre ich nur die erste, mit der er spräche!‹ Vom Balkon sah sie ihren Boten von Hotel zu Hotel irren und ohne Eile in die schlafende Stadt biegen. Lola ging bis in den Winkel bei der Tür, übersah das helle, heitere Zimmer, suchte den Stuhl aus, auf dem er sitzen würde, und nahm sich zusammen: ›Was werde ich ihm sagen?‹ ›Damit er den Nutini nicht tötet, mich ihm hingeben? Wie bin ich zu der Überschwenglichkeit nur gekommen? Das dunkle, moderige Haus muß Schuld haben, an dem unheimlichen See. Ich habe Phantasie, wie ein Mann. Nutini, den es doch am nächsten angeht, ist viel nüchterner geblieben. Wie die Menschen hier, trotz ihrem Feuer, eigentlich mäßig und vernünftig sind! Im rechten Augenblick bekommen sie immer ihre Nerven in die Gewalt. Ich bin sicher, Gugigl hätte sich betrunken. Er fing damals schon damit an ... Woran denke ich denn? Gleich wird er dasein. Was will ich? Ohne Umschweife: ich will, daß er mich heiratet. Und hat er meinetwillen jemand umgebracht, dann werden vielleicht alle und sein Gewissen ihn drängen, zu tun, was ich will? Ich müßte also Nutinis Tod wünschen. Das bring ich nicht fertig. Dann muß ich ihm sagen: Es war eine Lüge, ich liebe nicht Nutini. Und da er mir nicht glauben wird, muß ich hinzusetzen: Ich liebe niemand, und gleich morgen reise ich ab ... Auch das kann ich nicht. Aber es ist furchtbar, dort, wo man liebt, keinen Augenblick mit Rechtlichkeit und Sanftmut rechnen zu dürfen, immer nur mit unbedingtem Drang ...‹ Wieder sah sie auf den Platz, den er einnehmen würde, und dachte sich dort statt seiner eine verhaltene, befangene Geste, eine nachdenkliche, verläßliche Freundesmiene: Arnold. Sie seufzte und schüttelte den Kopf. ›Das ist abgetan. Der Zwang und das Leiden der Sinne sind gegeben und erprobt. Ich kämpfe nicht mehr. Besser ist's, ich beruhige ihn und stimme ihn menschlich ...‹

Da schrak sie auf, es klopfte heftig. Erregt trat sie ihm entgegen. Der Vorsatz der Milde war ihr schon entfallen, und sie sagte drohend:

»Wenn Sie sich mit Nutini schlagen, ist zwischen uns alles aus.«

»Ah! wie Sie ihn lieben. Aber lange genug haben Sie mich genarrt: ich werde ihn töten.«

»Hören Sie die Wahrheit! Ich liebe ihn nicht. Erst wenn Sie ihn getroffen haben, werde ich ihn lieben. Hüten Sie sich, ihn nicht ganz zu töten! Sie werden sehen, wie ich ihn lieben werde!«

»Oh! ich treffe!« – und sein Gesicht war zerfahren von Haß. Sie rief, hingerissen, voll Not:

»Was wollen Sie! Sie lieben mich doch nicht!«

»Doch!«

»Dann heiraten Sie mich! Begreifen Sie nicht, daß Sie es mir längst schulden? Was hält Sie ab? Ich bin aus angesehener Familie, die künftig reich sein wird. Glauben Sie, sich meiner schämen zu müssen? Nein, nein: gerade aus Eitelkeit lieben Sie mich! Und irgendeine zieht Sie von mir ab, die Sie anders lieben.«

»Sie irren sich ...«

»Sprechen Sie doch!«

Wie dies hassenswert und trostlos aussah: das Schwanken, die Unehrlichkeit und Unzuverlässigkeit dieses von seinen Launen gequälten Mannes aller Frauen! Und das mußte man begehren: gerade das!

»Was sage ich, irgendeine: alle vielmehr! Sie sind eine männliche Dirne! Gehen Sie!«

Pardi zischte:

»Danken Sie Gott, daß Sie kein Mann sind!«

»Danken Sie Gott dafür!«

Er rang sich nieder.

»Ich würde mich vergessen; lieber verlasse ich Sie. Ihre Mama hat mich gerufen.«

Lola, über die Schulter:

»Mai heiratet Deneris.«

»Das ist nicht wahr! Ich werde es verhindern!«

»Gut, auch das noch.«

»Und dann sehen Sie mich wieder!«

Die Tür krachte. Lola ging, die Hände vor der Brust, rasch hin und her. ›Was geschieht nun! Mai wollte ihn mir lassen. Aber im äußersten Augenblick vergißt man die andern. Mai ist schwach. Wenn er sie statt meiner will, sie heiratet ihn!‹ Sie warf sich in Kissen, drückte das Gesicht weg. ›Es ist klar, war immer klar: sie liebt er, nicht mich!‹ Tiefer in die Kissen, weit fort. ›Was tun sie nun!‹ Nein, auf! Das Haar ordnen! Sich bereit halten, stolz zu lächeln, wenn er eintrat und die erwarteten Worte sprach.

Da flog, ohne Klopfen, die Tür auf. Er stand da, stürmisches Glück auf seinem schönen Gesicht. Wie er Lola ansah, kam ihm eine Falte; mit wiedergekehrter Gereiztheit in der Stimme fragte er:

»Wollen Sie mich also heiraten?«

Sie antwortete, zornig nach vorn geworfen:

»Ja!«


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