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III

Am Nachmittag erinnerte sie sich, daß Claudia empfange. Sie haßte Claudia nicht: fast war sie ihr ein Trost, die Gefährtin, die derselbe Mann schwachgemacht hatte und quälte. Sie fühlte sich von Claudia beneidet und mit schlechtem Gewissen geliebt. Sobald sie sie sahen, durchforschten Claudias Augen sie eifersüchtig. Dann hatte sie, in Gegenwart Fremder, diesen Ton, der um Harmlosigkeit bat; und kaum waren sie allein, ward sie fast demütig. ›Arme Claudia! Als ob du vor mir dich niedrig fühlen müßtest. Vor mir!‹

Wie Claudias Salon ihr geöffnet ward, schnellte dahinten vom Teetisch etwas Schwarzes, Gelbes, Zappelndes auf sie zu.

»Ah! Guidacci.«

Der kleine Priester trat zwischen sie und die anderen, tanzte vor Freundlichkeit, zwang seine großen kranken Hundeaugen, an den ihren festzuhalten, – indes seine nervigen Hände nicht wußten, ob sie ihre Hand drücken oder durch die Luft fahren sollten, sein gelenkiger Mund alle die engen gelben Falten seines Gesichtchens auf und nieder riß und sein Atem, mit dem Geruch von Kellerluft, ihr ins Gesicht fuhr. Plötzlich:

»Wen habe ich Ihnen mitgebracht, Contessa?«

Und er machte ihr Platz. In diesem Augenblick bekam der Teetisch einen kopflosen Stoß, eine Tasse fiel über Claudia, die aufschrie, – und Lola, die sich bleich werden fühlte, sah in ein Gesicht, das bleich war und zuckte. Sie fand keinen Atem, ein inneres Stammeln geschah: ›Arnold, Arnold –‹ und ihr Herz, mochte sie selbst ohne Regung stehen, beschrieb die weite, zitternde Gebärde des Armen, der nach langem Darben und Nöten des Todes an einer Straßenwendung auf seinen Wohltäter stößt. Sie dachte: ›Nun ist alles gut. Jetzt weiß ich, warum ich solche Nacht bestehen mußte. Ich habe ihn gerufen, er ist gekommen. Oh! Jetzt wird sich's leben lassen.‹ Ganz hingegeben war sie der Güte des Schicksals; ihr Leben flößte ihr, wie einen neuen Atem, unverletzliches Vertrauen ein – und wie sie wach gerufen ward, war's die eine Minute gewesen, in der Claudia sich das Kleid getrocknet hatte. Claudia umarmte sie.

»Das ist wohl eine angenehme Überraschung, Lolina?« – flüsternd, mit zaghafter Andeutung, daß sie verstehe. Die Augen des Priesters lächelten fiebrig; er preßte die Mundwinkel und fand den Platz nicht für Lolas Stuhl. Sie suchte, in plötzlicher Hast, ihr Tuch hervor und machte sich über Claudias Kleid her.

»Er hat eine Tasse umgeworfen? Ja, ich erinnere mich, er warf immer Tassen um ...«

Alle lachten, erlöst und gutherzig. Unvermutet fing Lola, als entschädigte sie ihn für das Gelächter, auf deutsch an:

»Und wo waren Sie seitdem? Haben Sie kürzlich meine Verwandten gesehn? Ich hatte einen Brief von Tini: sie ist jetzt Schauspielerin ... Meine kleine Kusine wollte Diakonissin werden und ist jetzt Schauspielerin«, wiederholte sie den beiden anderen; und deutsch weiter: »Was für Schicksale eigentlich! Wer alles hätte voraussehen können!«

Claudia bemerkte, tief erstaunt:

»Ich verstehe kein Wort.«

»Sie auch nicht, Herr Guidacci? Aber Sie kommen doch aus Deutschland?«

Ja, Guidacci kam aus Deutschland. Ihm gefiel das Bier. Überhaupt das eigentümliche Leben der Länder dort oben. »Ah! reisen, etwas unternehmen. Er hatte London bei Nacht durchforscht.«

»Er kennt keine Furcht!« rief Claudia. »So allein!«

»Ich. habe immer meinen Freund in der Tasche«, und er griff hin.

»Ich weiß«, sagte Lola, »Sie sind tapfer. In Prato«, erzählte sie Arnold, »vor zwei Jahren bei den Wahlen –« Und, ein wenig leiser, auf deutsch:

»Sie wissen, in Prato sind viele Arbeiter. Herrn Guidaccis Besitzung liegt in der Nähe. Er hat sich einmal mit dem Revolver gegen den ganzen Haufen behauptet ... Man spricht noch jetzt davon«, setzte sie hinzu und kehrte, mit einer keuschen Wendung, zur Sprache der anderen zurück. Der Blick des kleinen Priesters hatte, gespannt wie ein Hund bei der Fütterung, seinen Ruhm, Wort für Wort, von ihren Lippen geschnappt. Kaum schien sie fertig, zeigte er eine bescheidene Miene.

»Das ist nicht der Rede wert. Jeder gute Bürger kann jeden Tag in die Lage kommen. Da, noch gestern: bei San Lorenzo sehe ich einen Kutscher nach einem Kinde schlagen. Ich habe das Pferd zum Stehen gebracht, und der Mann wird bestraft werden.«

»Ein Pferd zum Stehen gebracht?« rief Claudia. »Er hat sich darangehängt, er ist geschleift worden, hat die Zähne zusammengebissen, und mit dem Schaum des Tieres ganz bedeckt, hat er gesiegt!« Und mit ihren kleinen weichen Händen malte sie alles in die Luft.

»Was für ein Held Sie sind, Guidacci! Werden Sie Ihre Tat nicht in Ihre Zeitung bringen?«

Nein, in der Zeitung berichtete Guidacci nur über kirchliche Dinge, und es störte ihn nicht, wenn in einem anderen Teil des Blattes die Priester angegriffen wurden. Übrigens hatte er, als jener rohe Kutscher daherkam, grade die Kirche San Lorenzo im Geist mit ihrer künftigen Fassade geschmückt. Er hatte die Sache in Händen, der Plan der Fassade war bei ihm zu Hause, man konnte ihn ansehen.

»Auch werde ich Ihnen sehr schöne alte Stoffe zeigen, die ich aufgetrieben habe.«

Er bestätigte Lolas Bemerkung: ja, in Tätigkeit war er immer – und er hatte die geplagten Finger um den Sitz: nur bereit zum Aufspringen! So viele fremde Freunde, denen er Florenz zu zeigen hatte!

»Mein lieber Freund Arnold zwar kennt es besser als ich selbst. Wie froh bin ich, daß er mich nach Italien begleitet hat. Er selbst schien, als ich ihn in Berlin wiedersah, traurig. Er werde Florenz nicht mehr betreten, sagte er; wer weiß, warum. Dann stellte sich heraus, daß ich wie er Ihre Freunde waren, Contessa ... Ich hoffe, wir werden einmal alle zusammen bei Digerini die Musik anhören? Lieber würde ich Ihnen ein Theater vorschlagen, aber das Kleid, das ich trage, verbietet es mir. Auswärts bin ich frei; nur hier, wo man mich kennt –. Ah! Von allem am schwersten entbehre ich das Theater.«

»Und die Frauen?« fragte Claudia begierig.

Der Priester hatte plötzlich ein tief stilles Gesicht. Aber die Finger, am Stuhl, wanden sich angstvoll.

»Den ganzen Tag ist er mit Frauen; die schönsten Fremden kennt er. Ich glaube ihm nicht, daß er das alles für nichts tut. Es wird wohl manches dahinter stecken. Ein Genie wie er, ist so tief. Nicht umsonst heißt er der galante Priester.«

Er hob nachsichtig die Hand. Dann, fest:

»Man muß verzichtet haben: und man ist fertig; alles ist gut.«

Claudia seufzte.

Lola sah ihn an.

»Sie sagen das, als ob es vom Willen abhinge.«

Der Priester antwortete mit Schultern, Händen und einem geduckten stummen Lachen, daß er nichts dafür könne, wenn die anderen sich nicht beherrschten. Er begreife sie; sich nehme er aus. Er verurteilte sie nicht; einer wie er, habe zu leiden.

Lola verstand ihn. Heute war sie durch eigenes Leiden geschärft genug, in ihn einzudringen. Einfachen Wesen konnte er wie ein gequältes Genie aussehen. Aber er war nur einer, der sein Blut hatte unterdrücken, seine Rasse hatte verkehren müssen. Alle diese, deren Geschlecht allzu wach war, verlangten von ihm, daß er seins abtöte. Sie brauchten ihn zu ihrer Ergänzung und Rechtfertigung. Er sollte statt ihrer fasten und rein sein. Er war's – und da er vom Geschlecht nicht weniger erfüllt gewesen war als sie alle, war, was er erwarb, ein sehr leeres Glück. Er floh vor dem Alleinsein, vor dem Stumm- und Müßigsein. Er reiste zwecklos, brach Abenteuer vom Zaun, betäubte sich ohne Geschmack an den Mitteln: nur um sich leben zu fühlen, sich noch leben zu fühlen, nachdem das eine, größte geopfert war.

»Was ist's denn auch«, sagte er, »was ich opfere. Einmal habe ich einen Hund aufgezogen; es machte mir wahre Leidenschaft; aber ich wurde darum nicht zum Hundezüchter. Alle diese Tiere gleichen sich«

Claudia lachte betroffen.

»Sie vergleichen uns Frauen den Hunden?«

Die Augen des Priesters funkelten, weil er sich rächte. Lola sagte schlicht:

»Sie vergessen, daß die Seelen sich nicht gleichen.«

Und er, überlegen:

»Die Seele sehnt sich fort und wird erst im Himmel ihre Flügel entfalten. Hier sind alle gleich. Der Leib ist ein Tyrann, der nicht nachgibt, der keine Konstitution gewährt und keinen Pakt eingeht. Jeder Mann will von Ihnen dasselbe.«

Lolas Blick verließ ruhig den Priester, ging zu Arnold und fragte ihn. Er wollte sprechen; aber Claudia murmelte stürmisch:

»Es ist zu wahr, es ist zu wahr.«

»Und darum«, fuhr der Priester fort, »hat die Kirche recht, daß sie keine Scheidung zuläßt. Mögen die Seelen sich scheiden; wer will sie hindern? Aber den Körpern darf nicht ihr Wille geschehen, sie müssen sich beugen. Damit das Fleisch demütig sei, darf es keine Scheidung geben.«

Claudia sagte und nickte schwer:

»Wir würden sie nicht verdienen, Reverendo.«

Erschüttert goß sie Tee ein. Wie sie Lola die Tasse gab, flüsterte sie ihr, mit erweiterten Augen, ins Gesicht:

»Er wird mich umbringen; er hat mir gesagt, daß er's tun wird. Aber er ist mein Mann.«

Guidacci fragte:

»Wollte nicht Ihr Gatte, Contessa, sich zum Abgeordneten wählen lassen, vor zwei Jahren, als man meinte, uns drohe eine Ehescheidungsvorlage? Jetzt kommt sie sicher, und er sollte sich seiner edlen Absicht erinnern.«

Bei der Erwähnung Pardis sah Lola weg und errötete. Arnolds Blick machte ihr Scham; sie fühlte sich ihm bloßgestellt.

Arnold räusperte sich, er begann mit bedeckter Stimme:

»In Italien ist die Ehescheidung wohl wirklich nicht wünschenswert. Die Leidenschaft würde hier, trotz der Möglichkeit, sich zu scheiden, Verbrechen zeitigen; vielleicht mehr als vorher. Diese Frauen wären der unverhofften Freiheit möglicherweise nicht gewachsen ...«

»Sie haben recht«, sagte Claudia stürmisch. »Schlecht würde es uns ergehen.«

Der Priester nickte wissend. Lola sagte, ernst lächelnd, zu Arnold:

»Auch Sie?«

Er verwirrte sich.

»Sie, Contessa, vertreten in diesen Fragen natürlich das Land Ihrer Erziehung und den Fortschritt Ihres Geschlechtes. Bedenken Sie nur, bitte, daß dem Fortschritt sein Weg von der Rasse gewiesen wird. Ein Teil der italienischen Frauen wird vielleicht, lange vor den deutschen, das politische Wahlrecht erlangt haben; und im Hause werden noch immer alle Odalisken sein.«

Claudia verwahrte sich. Nicht alles müsse die Frau erdulden. Führe der Mann eine Geliebte unter ihr Dach ein, dürfe sie's verlassen.

»Das ist doch viel, Lolina«, setzte sie hinzu, »daß wir das dürfen?«

»Zu viel«, erklärte spöttisch der Priester. Er konnte nicht länger stillhalten. Er schürzte sein enges Kleid, ließ sich vor dem Kamin nieder und blies hinein.

»Gleichviel«, meinte Arnold, »in dieser geselligen, vor allem öffentlich empfindenden Rasse bleibt die öffentliche Freiheit immer wichtiger als die private. Wir Deutschen reden uns, wenn wir an politischen Rechten ärmer sind als irgendein anderes Volk Europas, gern auf unsere innere Freiheit hinaus. Was tut's uns, daß wir in der rohen Welt der Erscheinungen Herren haben, da wir ja innerlich über alles hinaus sind und jeder für sich, im Kämmerlein, ein kleiner König, wohl gar ein großer, sind. Diese hier aber sind selten im Kämmerlein. Sie steigen auf die Plätze hinab, reden durcheinander, denken nur gemeinsam und durch Ansteckung und kennen, als rechte Jünglinge, die noch mit Vernunft und Auge leben, keinen Unterschied zwischen Gefühltem und Sichtbarem.«

Claudia sah, fassungslos, auf Lola.

»Wie diese Deutschen klug sind!«

Guidacci kehrte mit tränenden Augen vom Kamin zurück und wiegte, Kennerschaft heuchelnd, den Kopf.

»Denn sie sind Jünglinge«, wiederholte Arnold mit Liebe; ewige Jünglinge.«

Lola lehnte sich zurück, sah irgendwohin, wo kein Blick den ihren kreuzen konnte, und lauschte seiner Stimme, die sich befreite.

»Geblüht haben sie ein für allemal zur Zeit der Renaissance, als es galt, jung zu sein, für Freiheit, Schönheit und Liebe zu schwärmen. Darüber kamen sie nie hinaus. Nie konnten sie sich moralisch spalten und vertiefen. Von unserer neuen Kultur geht nur die Technik sie an, nicht das Sittliche. Skepsis erlernt sich nicht unter dem Hochdruck des Geschlechts. Sie macht Leidenschaft hart; und macht sie hochherzig und romantisch. Voll jugendlicher Widersprüche sind sie, die uns rühren. Sie, denen auf ein Leben so wenig ankommt, haben die Todesstrafe abgeschafft.«

»Spricht dieser Herr gegen uns?« fragte Claudia.

»Im Gegenteil«, sagte Lola, »er gibt euch so viel Gutes, daß ich's nicht verantworten könnte.«

Guidacci erklärte:

»Diese Deutschen sind alle Philosophen und wissen stets zu beweisen, daß sie die Ersten sind. Hat mir nicht in Berlin einer klargelegt, daß von jeher nur die Völker Erfolg gehabt haben, die tüchtig tranken?«

Und Arnold:

»Sie irren, mein Lieber: nicht uns wollte ich herausstreichen. Das Wünschenswerte ist, jung zu sein, und ihr seid es. Ich habe euch zu danken, denn der Aufenthalt unter euch erleichtert und erfrischt mich. Und ich bin überzeugt, euch steht die Aufgabe bevor, unsern übermüdeten Erdteil zu erleichtern und zu erfrischen. Er wird genug bekommen von Innerlichkeit und von Tiefe. Im Begriffe, am Geist zugrunde zu gehen, wird die Menschheit des Nordens sich erneuern müssen durch die des Südens: durch ihre gesündere Animalität, die sie vor den Verführungen und Lastern des Geistes bewahrt hat. Es ist nicht wahr, daß ihr nur eine Blüte gehabt haben sollt. Ihr werdet nochmals blühen, sobald die Zeit euch nochmals braucht. Und die Menschheit wird glücklicher sein, wenn ihr repräsentativer Typus wieder der Jüngling ist!«

Claudia gähnte. Sie entschuldigte sich.

»Es ist so heiß, daß man müde wird. Was haben Sie denn für einen Holzstoß errichtet, Reverendo? Bei dieser Frühlingsluft! Gleich zerstören Sie ihn!«

Guidacci schürzte schon wieder sein Kleid.

»Ich wollte nur zwei Scheite anzünden«, erklärte Claudia, »zum Anblick für meine Besucher. Nun scheinen wir heute allein zu bleiben.«

Aber da meldeten jugendliche Stimmen sich, und mit Botta an der Spitze, brachen vier junge Leute herein. Claudia erwachte und begann, mit der Kuchenschüssel von einem zum andern, zu zwitschern und kleine weiche Mienen zu rollen.

»Und Sie, Cipriani, wann malen Sie mich?«

Und aufs Fenster gestützt, nahm sie eine Pose ein. Im schief gelegten Köpfchen gab zum Gefunkel der Augen, die ihres eigenen Schmachtens spotteten, der große mürbe Mund kindischen neapolitanischen Singsang von sich, den Cipriani nachahmte. Seine fleischige Nase rückte dabei hin und her. Zwei leichte, ungeduldige Vögel hüpften und girrten, eine halbe Minute lang, auf demselben Zweig.

»Cipriani ist noch bei der Lippi«, sagte Botta, »er malt gern reiche Konditorfrauen; das Bild wird dann süß und verschafft ihm Aufträge.«

»Ich bin nicht Landrini«, sagte Cipriani, und er machte den süßen, zitterigen Mund des alten Malers und seine gezierte Jünglingsmanier.

»Sie kennen ihn doch, Contessa? ... Was er am besten malt? Sich selbst: aber in Natur ... Oh, er war in London, hat alle Engländerinnen porträtiert und viel Geld mitgebracht.«

Botta schob ein, Landrini sei geizig. Er spare die Droschken und wische sich, bevor er ein Haus betrete, mit einem Lappen die Schuhe ab. »Neulich, bei Valdomini, kam ich mit zwei andern darüber zu, und, mein Wort, er war so gefällig, auch uns die Schuhe abzuwischen. Ich ermahnte ihn, er solle nur nicht drinnen statt seines Taschentuches den Lappen hervorziehen.«

»Und kennen Sie Musso?«

Lola erfuhr, Musso sei ein Eisenbahnbeamter mit Leidenschaft für Geselligkeit. Jeden Unbekannten fragte er nach der Adresse und gab noch am Abend seine Karte ab. Alle verschwanden, wenn er kam.

»Aber auch vor Ihnen, Herr Cipriani«, sagte Lola, »läuft man davon. Die Prinzipessa Dora hat mir erklärt, wo Sie seien, werde sie keine Gedichte mehr lesen.«

»Und seitdem werde ich zu jeder Gesellschaft geladen.«

»Merluzzo, lesen Sie uns Ihre neueste Novelle vor!« verlangte Claudia, hinterhältig. »Sie haben sie nicht da? Daß Sie auch nie Ihre Sachen bei sich haben!«

Cipriani raunte: »Aber gleich wird seine Mama kommen und die Novelle zufällig bei sich haben.«

Guidacci fing von seinem Freunde an, dem Leutnant Cavà. Er schreibe trostlose Briefe aus Sizilien. Allmählich müsse er ganz verwildert sein, meinte Cipriani.

»Gewiß geht er mit einem langen Hirtenstab vor seinen Soldaten her.«

Lola spottete lustig mit. ›Sie sind eigentlich sympathisch‹, dachte sie. ›Sobald man sich nicht dazu zu rechnen braucht ...‹ Diese flüchtige kleine Menschheit umflatterte sie wie ein leichter, raschelnder Schleier. Dahinter war sie mit Arnold allein. ›Seltsam‹, dachte sie, ›wir sitzen unter lauter Freunden, im Lärm, sehen einander nicht an, und uns ist so heimlich zu Sinn ... Aber was ich jetzt fühle, kann doch nur sein Blick sein?‹ Rasch sah sie hin. Nein; er suchte unruhig und verlegen am Boden; er sann darauf, wie er fortkäme. Erschrocken schlug sie die Augen nieder. ›Ich werde ihm vieles zu erklären haben!‹

Guidacci nahm Abschied; Arnold schloß sich ihm hastig an. Claudia wollte Arnold nicht weglassen vor Herzlichkeit. Dann kam sie zu Lola, und als sie Lola umarmte, sagten ihr Auge, ihr ganzer Körper, wie demütig froh sie sei, daß sie Lolas Nachsicht vergelten dürfe. Sie drückte noch, ganz rasch und heimlich, Lolas Hand sich aufs Herz und auf den Mund. Wie Mund und Herz verschwiegen sein sollten!

Arnold stand vor Lola. Sie schluckte hinunter und brachte es nicht fertig, ihn zu sich zu bitten, in das Haus des andern ... Unschlüssig ging sie mit Guidacci zur Tür.

»Ich werde Sie besuchen, wissen Sie, und mir den Plan der Fassade ansehen, und Ihre alten Stoffe. Wann paßt es Ihnen?«

»Zu jeder Stunde, Contessa, bei Tage und bei Nacht. Sie wissen, ich schlafe nicht.«

»Ach, Sie können nicht schlafen?« – und weil sie dadurch Arnold noch hielt, damit er nicht ohne ein Zeichen, ein Wort der Hoffnung verschwinde, ließ sie sich ausführlich Guidaccis nervöse Erscheinungen berichten. Plötzlich:

»Ich habe nachgedacht. Um halb fünf bin ich morgen bei Ihnen.«

Schnell, mit einem vollen, ganz offenen Blick, reichte sie Arnold die Hand.

›Nun weiß er, daß ich ihn liebe!‹

 

Sie erstaunte, zu Hause und allein, wie sehr sie ihn liebte. Sie hatte das nicht gewußt. Ihre Liebe war wie ein Gebet gewesen zu einem Gott, an dessen Dasein man nicht fest glaubt. Die Wirklichkeit ihrer Liebe überwältigte sie. Arnold war gekommen! Ihr Rufen in der Nacht, ihr ›Komm!‹ – ein Wort nur in die Luft, ein qualgeborenes Wort in dunkle Luft: und er war gekommen; das Wunder war geschehen. Viel größer war's, als auf den ersten Blick! Welten mußten verlassen und gefunden werden, damit sie beide sich treffen konnten. Er kam aus solcher Weite, daß er wohl durch luftlosen Raum kam. ›Wie ganz verloren war ich schon!‹ Und dennoch: da er nun da war, war's also bestimmt? War's zuletzt ganz selbstverständlich? – ›und indes ich so vieles litt, in denselben Stunden, ward in ihm der Gedanke an mich immer größer, immer größer –, bis er kommen mußte? ... Alles war gut! Die Qualen waren gut? Es ist zum Weinen und zum Lachen! Nein, zum Staunen ... Und jetzt weiß er, daß ich ihn liebe. Und ich sitze hier in Sicherheit und Ruhe.‹

 

An Guidaccis Tür war die kleine Pierina. Ihr Bruder müsse gleich kommen. Aber sie zögerte, sein Arbeitszimmer für Lola zu öffnen.

»Ein Herr ist drin.«

»Es tut nichts«, sagte Lola, und:

»Ah! Sie!«

Sie reichten sich die Hände und blieben einander gegenüber, ohne ein Wort. Lola fühlte, daß Pierinas schwermütig spöttischer Blick schon begriffen habe. Sie wandte sich zu ihr, um nach ihren neuesten Zeichnungen zu fragen, und sah in ein rasch verschlossenes Gesicht. Die schwarzen Brauen unter dem harten schwarzen Haarkamm zogen sich zusammen, finster und einsam; der schwere Mund stand fühllos etwas offen; in der grobkörnigen Haut sah eine kleine weiße Narbe aus wie die Verletzung eines Steines. Das Mädchen neigte fragend das Ohr hin. Endlich, beglückt, sich aufschließend: ihre Zeichnungen – o ja! Und sie ging, sie zu holen.

Sie saßen zu beiden Seiten des Schreibtisches, eines geistlos geschnitzten Möbels mit vielen Frauenbildnissen darauf. Die Photographien warfen sich in einer Garbe die Wand hinan; unter dem Porträt des Papstes hing eine weit ausgeschnittene und lächelte, wie er. Hellgrüne, schmalblätterige Gerten stiegen aus Töpfen lustig durch den engen Raum; und zwischen ihnen am Boden lagen leere Strohflaschen übereinander gestürzt. ›Ist es nicht ein reizendes Zimmer?‹ dachte Lola. ›Darin sitzen nun wir beide, ganz allein. Die Sonne scheint herein. So ist es gekommen.‹ Sie sah nichts mehr; die Augen standen ihr voll Tränen. Rasch verließ sie den Stuhl und kehrte sich nach dem Fenster.

»Warum so stumm?« fragte sie, ohne ihr Lächeln ihm zuzuwenden.

»Contessa –« mit ungefälliger Stimme.

»Lassen Sie den albernen Titel!«

Sie sah ihn an. Auch er war aufgestanden; er verneigte sich und wich ihrem Blick aus.

»Ich bin froh, Sie unter Freunden, so glücklich zu finden.«

Sie schluckte angstvoll hinunter. Dann lächelte sie stärker. Natürlich! Er glaubte ihr noch nicht. Zweifelmütig und unsicher war er, wie je. ›Ich werde ihn zur Vernunft bringen müssen. Diesmal ist's meine Sache allein.‹

Da kam die Kleine mit den Zeichnungen; dann Guidacci. Er entschuldigte sich inständig, zählte seine Beschäftigungen her, kehrte immer zu einer österreichischen Baronin zurück, die ihn Florenz erst kennen lehre. »Besser, als aus den Büchern.« – »Ach ja«, – und Lola fiel es auf, daß in diesem priesterliehen Arbeitszimmer kaum ein Buch lag. Guidacci schickte seine Schwester mit Aufträgen fort; er sprach mit ihr nicht lauter, sie mußte ihm auf den Mund sehen und verstehen. Dann holte er den Plan der Kirchenfassade hervor und, mitten in den Erklärungen, die alten Stoffe. Dazwischen: er war seit heute ganz gesund; er nahm Brom, und alles war gut.

»Etwas Wunderbares! Wenn ich's früher gekannt hätte!«

Man mußte die Stoffe über seinem Bett sehen.

»Warum lassen Sie keine Decke daraus machen?«

Das ging nun wieder nicht.

»Das Kleid, das ich trage –«

Und er führte seine Gäste in den Salon. Pierina hatte das Tischchen hergerichtet.

»Wie? Der Vino Santo! Ja, ich bereite ihn selbst, er ist von Monte Turno. Sie müssen mich dort besuchen, wir fahren eines Tages zusammen hin, alle vier. Versprechen Sie's mir? Beide?«

Da Lola das Gebäck mit erhobener Stimme lobte, lächelte er unzufrieden und Lola verstand. Niemand hatte zu merken, daß Pierina nicht gut hörte. Es war ungesellig, taub zu sein, und darum schändete es fast ... Und zwischen den weltlichen, hellblumigen Möbeln sprang die schlanke Soutane hin und her, öffnete ein Fenster, zeigte im grauen Hof den Rosenschleier, pries das Haus, seine Wärme im Winter, seine sommerliche Kühle, und trieb die Besucher durch die Räume. Aus einem sah man das schmale Gäßchen, aus dem nächsten in einen Mauerwinkel von San Lorenzo. Kellerig frisch lagen ein paar stille Zimmer am Rande des Rosenhofes. Sie waren zu vermieten: der Priester rühmte sie Arnold, der ihm recht gab. Wie so wohl diese klösterliche Ruhe tue, sagte er zu Lola. Sie empfand Eifersucht. Nicht dazu sollte er hergekommen sein! Sollte nicht im Bereich von Menschen wohnen, die ihn ihr nehmen würden! Sie lenkte ihn auf die kleinen, sonnenleeren Fenster, auf die Feuchtigkeit des Steinbodens – und sie lächelte für sich: jetzt fürchtete er Krankheit.

Guidacci hatte keine Zeit, enttäuscht zu sein; er tummelte sich zwischen den Rosen. Für Lola brach er einen Strauß und steckte Arnold eine ins Knopfloch. Dann führte er sie in das Eßzimmer, vor seinen Heiligen, den Lorenzo des Donatello, aus der Sakristei seiner Kirche.

»Würde man glauben, daß es eine Kopie ist?«

Arnold neben Lola, standen sie vor dem Heiligen. Von seiner Truhe herab sah sein menschlich gefärbtes Gesicht, etwas höher als ihre beiden sie an. Es war schön; frei und mild, mit braunen Augen, die einen erkannten. Rosen an der Brust, waren sie vor ihn hingetreten. Und würde nun nicht die Büste ihre verlorenen Arme, ihre Hände, die fest und gut sein mußten, aus dem Leeren heben und sie segnen? ... Lola ward zu Guidacci zurückgenötigt. Seine fiebrig lächelnden Augen hielten die Andacht keine Minute länger aus. Er hatte seine altjüngferlichen Herrlichkeiten zu zeigen, seine Ansichtskarten, seine Sammlung künstlicher Blumen. Und immer spürte Lola, zwischen sich und Arnold, den schwermütig spottenden Blick Pierinas.

Als Lola aufbrach, reichte sie Arnold als letztem die Hand.

»Wie kommt es eigentlich, daß Sie mir, Ihrer ältesten Freundin, noch keinen Besuch gemacht haben? ... Sie sind erst seit gestern da? Mag sein. Aber ich muß Ihnen doch mein Haus zeigen, mein Mann wird sich freuen. Übrigens – wieviel ist die Uhr? In diesem Augenblick treffen wir ihn. Wenn Sie gleich mitkämen?«

Sie stiegen in den Wagen; ihr klopfte das Herz; die Minute vorher hatte sie nicht gewußt, daß sie so viel wagen werde.

»Was haben Sie seitdem getan?« fragte sie, kaum daß der Schlag geschlossen war, in Angst vor einem Schweigen.

Er sagte mühsam: »Ich bin gereist ...«

Und plötzlich begann er zu erzählen, irgend etwas, als schlüge er ein Buch bei einer zufälligen Seite auf.

Sie kamen an.

»Mein Mann nicht zu Hause? Das wundert mich. Eine Stunde vor dem Essen ist er immer in seinem Zimmer zu finden.«

Seit jenem Auftritt aß er nicht mehr zu Hause. Lola war rot von ihrer Lüge. Wie Arnold noch immer in der Haltung eines Fremden durch die Zimmer mitging, empörte sie sich. ›Er sollte doch fühlen, daß ich's hier sehr schwer gehabt habe! Denkt er nicht daran? Wozu ist er gekommen?‹ Sie hatte Lust, die Tür zum Schlafzimmer aufzureißen: ›Aus dem Fenster dort wäre ich, zwei Nächte sind's her, fast hinausgesprungen: um deinetwillen!‹ Er begann wieder von dem großen Bildwerk, draußen am Hause. Sie mußte ruhig antworten, mußte ihm von dieser Jungfrau, diesem Engel sprechen, als ob sie ihr nicht furchtbar gewesen wären, als habe sie unter der Botschaft, die jene brachten und empfingen, wie unter einer Drohung und einem Hohn, nicht bitter geweint. Sie fragte schroff:

»Wollen Sie hin, sie aus der Nähe sehen?«

In der raschen Dämmerung ging sie ihm voran, hinab in den Saal, öffnete die Fenstertür und blieb wortlos stehen. Er trat hinaus, kehrte zurück, sprach Abbrechendes, schwieg ganz und wendete ihr, mit einem Ruck, die Augen zu. Sie sahen sich in die verschlossenen Gesichter. Lola dachte: ›Es war Irrtum; wir haben uns zu viel vorzuwerfen. Zu spät. Das Leben ist nicht anders ... Sagte ich ihm das nicht schon einmal? Damals?‹

»Auch von den Porträts sind manche sehenswert. Ich werde Licht bringen lassen.«

»Aber diese Beleuchtung ist sehr interessant; sehr eindrucksvoll. Noch den Kopf dort werde ich ansehen und dann gehen.«

Wieder fiel, wie in ihrer ersten Abendstunde bei diesen Bildern, von drüben der weiße Schein auf die Wand, und wieder sahen jenes vergangenen Knaben braune gewölbte Augen herüber, die sein Fleisch betrauerten. Die Stirn, die sanfte Wange neigten sich dem Schatten zu, als wollten sie sich ganz von ihm überziehen lassen. Lola war ihm einst begegnet, dort draußen, zwischen den Hügeln im letzten schwachen Glanz, auf Steinen. Er hatte sich ihr geneigt, die arm, häßlich und fremd war; hatte sich zu ihr gelegt ... Sie senkte die Stirn. Ungesehen im Dunkeln errötete sie. Da stand er vor seinem Bilde, vor dem Bild seiner Seele! Noch stand er, und gleich wendete er sich. Sie hatte ihn erträumt. Sie hatte von ihm die äußerste Freude erträumt: ein Kind. Das war geschehen: so sehr gehörte er ihr. Und er würde gehen, nichts wissen, wortlos sollte alles vorüber sein. Die Angst vor dem ewigen Dunkel packte sie. Sie erzwang sich Atem. Fast stimmlos:

»Ich bin nicht glücklich. Sie hatten recht, mir abzuraten.«

Er machte einen Schritt, hielt an.

»Ich fürchtete es«, sagte er gepreßt.

»Konnte ich anders? Vielleicht, ja. Ich bekenne; ich mußte die bessere Liebe wählen. Nun bin ich unrein geworden und büße.«

Sie beugte sich tief über sich selbst. Die Tränen brachen brennend aus. Er ließ sie in den Sessel nieder und stammelte, vor ihren Knien, Bitten um Verzeihung.

»Ich bin schuldig, daß wir uns versäumten. Ich mußte stärker sein. Wie Sie gelitten haben! Ich schmecke Ihre Tränen. Alles Eitle ist hinter mir. Ich war eitel; aber nun habe ich in mir nur Ihre Tränen. Was ich selbst litt, ist nichts mehr. Wie ich Ihre Tränen stillen kann, ist alles. Vertrauen Sie mir denn noch? Verachten mich nicht?«

»Verachten, Sie? Glauben Sie mir also meine Reue nicht? Wie soll ich sie Ihnen beweisen? Soll ich Ihnen die Hände küssen?«

Er entriß sie ihr und schlug sie vor sein Gesicht. Er neigte den Kopf, und sie neigte ihn; ihre Stirnen berührten sich zitternd; sie weinten.

… »Daß ich dich wiederhabe!« sagte sie, die Hände mit Leidenschaft um seine Schläfen. »Nur wissen will ich, daß du an mich denkst. In deiner Hut sein. Sage mir, ob du mich nie vergessen hast. Oh! du könntest es nicht. Du warst bei mir, ich fühlte es!«

»Ja. Denn ich bin gar nicht gereist, es waren Lügen. Die weite Welt, die Sie mir vorgezogen hatten, schien mir hassenswert. Sie waren meine letzte Enttäuschung und meine tiefste. Das einzige Geschöpf, das meine Sprache verstanden hatte, verschmähte es, mir in ihr zu antworten. Ich war allein wie nie vorher. Die Einsamkeit war auszuschlürfen wie ein eisiger Bergsee. So wollte ich's. Ich wollte nicht reisen, mich nicht zerstreuen. Ich hatte doch nur Wert, meinte ich, wenn ich bei mir blieb, den Schmerz und die Sehnsucht, die ich von Ihnen hatte, gesammelt ließ. Die feenhafte Pracht des einsamen Leidens, die Eisgrotten und Schneefelder, durch die Sie mich schickten, waren zu erproben, zu genießen. Sie sehen, daß ich eitel war. Mich ekelt's, gedenke ich dieser Selbstsucht. Ich war nur darauf aus, von Ihnen, vor der ich demütig gewesen war, den Nutzen großer Gefühle zu ziehen und nun Sie zu demütigen vor meiner Seele. Ich dachte, mich an Ihnen zu rächen. Meine Kunstgebilde waren allzuoft Rache ... Aber ich konnte nicht; was mich rettet, mich Ihrer Verzeihung würdig macht, ist nur dies: daß ich nicht konnte, weil ich Sie liebte. Denn ich liebe dich!«

Sie erriet diese Worte; er sprach sie mit versagender Stimme, bewegte den Kehlkopf, als sei er ausgetrocknet; und in seinen Augen stand Angst.

»Mit Ihnen zum erstenmal ward ich nicht fertig, ich habe aus Ihnen meine Sache, mein Werk nicht machen können. Sie erfüllten mich zu sehr und machten meine Hand zittern. Mein Blick ward verdunkelt von Ihrem Schatten. Sie waren in mir, faßten mein Herz an, und der Arm, der bilden sollte, sank mir. Ich konnte nur zu Ihnen sprechen, in meine Tiefe hinabsprechen, mit Ihnen kämpfen, Ihnen erliegen, Sie um Gnade bitten und endlich, gebrochen, mich Ihnen hingeben und Sie lieben. Dich nur lieben.«

»Und ich! Gerade so, gerade so habe ich dich in mir gefunden und habe zu dir gesprochen. Gefürchtet habe ich dich, einmal gehaßt. Und doch, ohne dich, der mir verzieh, mit seinem Hauch mich umgab, auf seinen Gedanken mich trug, wäre ich verdorben und untergegangen. Lieber, weißt du nicht, daß ich viele Monate allein mit dir gelebt habe? Du mußt es wissen.«

»Vielleicht war's die Zeit, da ich dir so viele Briefe schrieb. Schrieb ich sie? Oder erträumte sie nur mit wachen Augen?«

»Wie ich deine! So empfingst du sie doch! Hast mich nie verlassen! Wie ich dir danken muß! Was wäre ich jetzt ohne dich? Nie werde ich dir alles sagen können. Ich bin deiner nicht würdig.«

Sie neigte das Gesicht in die Hände. Hastig, mit Beben richtete er sie auf.

»Ich habe mich zu beugen, ich, und allen Stolz gutzumachen. Denn ich war stolz auf meine Einsamkeit, die doch nur Schwäche war. Nicht aus Stärke stehen wir allein, ohne über ein anderes Wesen unsere Hand auszustrecken. Jetzt bin ich gebrochen und dennoch erstarkt. Sehnsucht tat es. Ich bin dein. Mache aus mir, was du willst!«

Unter seinem zitternden Geflüster zog sie sich weiter in den Sessel zurück, machte sich steif und drückte die Lider zu, als erleide sie Gewalt. Sein Kopf sank auf ihre Knie.

… Aufschreckend trennten sie sich. Er tat ein paar Schritte, blieb stehen und sah umher.

»Seltsam!«

»Ist nicht das Damals seltsamer?« fragte Lola. »Damals, als wir uns trafen? Wie seltsam ist alles, was war! Die alten Bilder dort, bedenken Sie, waren Menschen, lebten und hatten eine Welt, die von uns nichts wußte. Und so wenig wußten wir, wußten die, die damals wir waren, von uns, von dem, was wir nun doch sind. Ist es zu glauben, wie blind, wie fremd uns selbst wir waren? Oh! Die unwissende, die grauenhaft kindische Vergangenheit.«

Aufatmend:

»Sagen Sie mir noch einmal, daß ich Sie nie verlieren werde!«

Er kam und nahm ihre Hand. Lange hielten sie ganz still.

»Jetzt müssen Sie gehen«, sagte Lola, ohne sich zu bewegen.

Als er fort war, schloß sie die Augen. Ihre Hand fühlte noch immer seine. Sie lächelte furchtsam: ›Ist das möglich? War es wirklich?‹ und wünschte sich, nie mehr die Lider zu heben.

 

»Haben Sie gewußt, wie es mit mir stehe?« fragte Lola tags darauf. »Wußten Sie, daß ich Sie erwartete? Oh, ich wagte wohl nicht zu hoffen; – aber daß ich Sie doch erwartete?«

Er wehrte ab.

»So stark fühlte ich mich nicht. Ich nahm nicht an, daß mir über Sie noch Macht zustände. Ich glaubte mich von Ihnen verurteilt und unterwarf mich. Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich niemandem zumute, mich sehr lange zu ertragen? Schon längst ertrage ich selbst mich bloß noch, weil ich muß. Und ich verstehe nur schwer, wie andere sich nicht satt, in Jahrzehnten nicht satt bekommen, wie sie sich herumführen, sich immer wieder den Leuten anbieten, ihre seelischen Gebärden immer wieder abspielen mögen vor Menschen, denen sie schon bekannt, von denen sie einmal durchschaut und erledigt sind. Was hatten Sie noch in mir zu entdecken?«

»Daß Sie mein sind«, sagte Lola.

Er atmete auf.

»Ja. Daß ich nicht mehr mir gehöre: nicht mehr diesem nie abgelösten Tyrannen, den man endlich nicht ohne Empörung sehen kann. In Qual und Kampf hat man ihm gedient, mit dieser Kunst, die Verherrlichung ist des Ichs – und nun, welche Erlösung, wird man des Herren Herr. Er dankt ab; frei wählt man einen anderen. Man liebt.«

Von Scham verwirrt, sah sie zu Boden.

»Ich verdiene es nicht.«

»Aber Hoffnung?« – und er lächelte erstaunt. »Hatten Sie mich nicht schwach gesehen? Und – andere so viel stärker?«

Sie sah, mit ihrem hastig bittenden Blick, daß er errötet war. ›Wie ich ihn liebe für diese Scham!‹

»Ich glaubte, Sie hätten nun bei anderen die Heimat gefunden, die Sie suchten. Ohne die sinnlose Dringlichkeit Guidaccis hätte ich Sie schwerlich wiedergesehen.«

Sie erschrak.

»Sie konnten glauben, ich sei hier zu Hause? Sehen Sie mich doch an: sitze ich nicht wie in der Halle eines Hotels? Sitze ich nicht auf meinem Koffer? Sie wußten doch, daß –«

Auch sie hielt jenen Namen zurück.

»– diese anderen mir innerlich nichts zu geben hatten.«

Den Kopf gesenkt:

»Nichts als Schande.«

Und aufgerichtet, blaß vor Zorn über sich, vor Drang, zu offenbaren, sich preiszugeben:

»Sich bei Menschen, die nur das Betastbare, nur Körper kennen, zur Sklavin, zu einer Sache zu machen –!«

Sie sahen sich in die Augen; Arnold zuerst schlug sie nieder.

»Und in Nachteil zu kommen gegen alle«, sagte Lola bitter, »weil alle weniger Gewissen haben. Mein Mann betrügt mich, aber kann ich's ihm erwidern? Ich wußte voraus, was ich tat, mein Trieb zu ihm war nicht blind wie seiner zu mir. Was diese hier nicht bindet, mich bindet es. Und ich habe den Sinnen ein für allemal das Ihre gewährt; ich verachte sie. Mir ist oftmals, als verachtete ich das Glück selbst; als wünschte ich mir auch von Ihnen nur Leiden.«

Er sagte mit wankender Stimme:

»Sie sind krank; könnte ich Sie heilen!«

Sie schwiegen. Ein Glockenton sprang munter herbei; barsch holte ein anderer ihn ein; und singend und drohend stürmten viele durcheinander. In den englischen Gruß hinein sprach Lola, leise und klar:

»Wir wissen beide, nicht wahr, daß wir uns nie gehören werden.«

Das Getümmel der Klänge lichtete sich; der letzte ging dröhnend unter. Beide bleich, saßen Lola und Arnold, aus ihren Sesseln ein wenig vorgeneigt, in einer schneidenden Stille sich gegenüber.

Da, Lola zuckte leicht auf, stand im Türvorhang Pardi und sah ihnen zu. Er trat heraus, den Blick noch immer vom Spähen fest. Bei seinem Lächeln, sah Lola, hatte er die Zähne hart geschlossen – und dann sagte er, als bedächte er's nicht, und dennoch höhnisch:

»Ein alter Bekannter! Sie haben den Weg zu uns gefunden, mein Herr?«

»Und wie geht es meinem Freunde Gugigl? Ich bedaure noch immer, daß aus unserm Duell nichts geworden ist.«

Er lachte.

»Nächst ihm erinnere ich mich am liebsten eines schönen Mädchens im Dorf. Wie leicht man diese deutschen Weiber bekommt!«

Er klopfte Arnold aufs Knie.

»Sie müßten sehr ungeschickt sein, mein Lieber, wenn Sie jemals mit einer lange vergeblich beisammen säßen.«

Arnold stand auf; er verbeugte sich vor Lola, die starr dasaß.

»Sie gehen?« fragte Pardi. »Ich begleite Sie. Ich erzähle Ihnen eine ganz frische Skandalgeschichte. Der Leichnam des Liebhabers ist noch warm: Sie sind grade rechtzeitig zu uns gekommen ...«

 

Bei Arnolds nächstem Besuch trat Pardi laut und rasch dazwischen.

»Hier sprach man von Napoleon? Ah! Napoleon, welch großer Mann!« Und die Hand am Kragen, der ihm zu eng ward: »Wäre diese Zeit nicht so klein!«

Arnold sagte prüfend:

»Ich bewundere den Kaiser nicht. Viel eher den General Bonaparte, da er, ein strenger Befreier, durch entzückt erwachende Länder stürmte. Damals krönte ihn ein Ideal. Später, als verfetteter Schauspieler der eigenen Größe, hatte er nur mehr sich selbst. Das ist wenig, sei das Ich noch so groß. Man muß den Helden hinter sich haben und verstehen, daß er wichtig erst durch Liebe wird.«

Arnold saß sinnend. Pardi überflog ihn mißtrauisch; dann legte er sich, die Hände in den Taschen, im Stuhl hintüber und summte zur Decke. Lola fand Arnold beleidigt durch des anderen Haltung, durch seine Gedanken; sie fühlte sich schambeschwert, weil beide vor ihr beisammen waren. Sie wagte Arnold nicht anzusehen; der andere war die greifbare Mahnung ihres Unwertes. Und alles, was in Arnold entstand, war Liebe! Seine Worte hatten nicht sich und sie gemeint, und doch war jedes gefärbt von seinem Gefühl. Pardi spürte es heraus; er ahnte sich dunkel gefährdet, fand nichts, worauf er die Hand hätte fallen lassen dürfen, und rächte sich durch kindische Unart. Er fing von Leuten an, die Arnold nicht kannte, griff zu Angelegenheiten des Hauses und verlangte eine Rechnung zu sehen. Wie Arnold ging, tat Pardi erstaunt, als habe er ihn längst fortgeglaubt.

Mehrmals überwachte er ihr Zusammensein und zerstörte es. Lola vermutete, er habe Spione im Hause; sonst hätte er nicht so pünktlich da sein können. Sie sah ihn gähnen bei diesen Dingen, zu denen er keine Beziehungen hatte, sein Auge argwöhnisch aufschrecken – und dann mischte er sich plump ein. Er wurde fast plump in seiner falschen Rolle. Lola rief ihn sich zurück, wie er gewesen war, als er ihr glänzend schien, fand ihn nicht wieder und bemitleidete ihn: wie man ein Tier bemitleidet, weil es nicht weiß, wahllos, ohne Widerstand gegen sich selbst ist, unter seinem Blute leidet und keine Seele hat. Aber helfen konnte sie ihm nicht, konnte ihn nicht lehren, daß er für das, was sein war, ihren Körper, nichts zu fürchten hatte. Sie wandte ihm ein kaltes Gesicht zu: er mußte dulden, denn sie war ihm treu. Und sie ließ ihn unterbrechen, das Gespräch an sich reißen, ohne daß ihr Ungeduld kam. Es war genug, daß dort, gleich vor ihren Knien, Arnold saß. Er wußte von ihr! Ohne nur mit dem Blick sich zu berühren, waren sie tief ineinander versenkt – indes der andere sich abarbeitete, sie getrennt zu halten.

Eines Tages war er früher da als Arnold und verlangte, daß sie sich für ein Konzert fertig mache.

»Ich gehe nicht, ich erwarte Arnold.«

»Als ob das ein Grund wäre! Vielmehr ist's einer, auszugehen. Seine Besuche fangen an aufzufallen. Du tust, als könntest du dir das gar nicht denken.«

»Bist du nicht der Mann, eine falsche Meinung zu beseitigen? So tapfer, und einer Meinung gegenüber feige? Denn du weißt, was ist, und daß ich ihn nur unter deinen Augen sehe.«

»Weiß ich's?«

Sie trat heftig vor.

»Wage nicht, diese Sache zu verdächtigen! Er ist zu gut, als daß ich ihn –«

Sie maß den Mann. Sie hatte sagen wollen: ›– als daß ich ihn dir zum Nachfolger geben möchte.‹

»Du kannst das nicht verstehen«, sagte sie kühl; »aber sei ruhig: du darfst es sein.«

»Ich werde euch zeigen, wie ich ruhig bin!«

Er keuchte; seine niedergestoßene Faust zitterte. Auf einmal spaltete und krümmte sich sein Mund, vor Wut leidend, wie das Maul einer fauchenden Katze; den Augen entwich die Besinnung; alles zu lange Verhaltene brach aus den plötzlich zerrissenen Zügen.

»Ich werde so ruhig sein, daß ich euch beiden den Hals umdrehe!«

Er nahm vom Tisch eine Tonfigur, schloß die Faust – und zu Boden rann Staub.

»Ah! Du hast geglaubt, das gehe mit mir? Sie hat es geglaubt! Ich bin dir nicht recht, du magst nicht mit mir schlafen: deine Sache, ich tröste mich. Aber wehe, nimmst du einen Liebhaber! Er ist einer; sage nicht, daß er's nicht werden soll! Oh, ich weiß, du bist eine verlogene Fremde. Eine Frau meiner Rasse würde wohl mir, aber nicht sich selbst vorlügen, daß dieser nicht ihr Liebhaber werden soll. Wenigstens wäre sie eine grade Dirne, und du bist eine krumme. Ich, ein Ehrenmann, verachte dich! Was nicht hindert, daß ich meinen guten Ruf verteidige und mit euch beiden, treffe ich euch das nächstemal beisammen, ein Ende mache!«

Er war hinaus. Lola zitterte und wußte sich bleich. Er tötete sie und ihn! Sein Gesicht war furchtbar gewesen. Wie sollten sie ihm entgehen. Welche Worte konnten ihn beschwichtigen. Sie fühlte sich feige. Sterben? Jetzt, da Arnold gekommen war, sterben? Ihn nur wieder gefunden haben, um ihn und das Leben zu verlieren? ›Ich kann nicht! Ich kann nicht ein Leben lassen, in dem er ist! Hin zu ihm! Fliehen!‹

›Vergesse ich? Ich bin gebunden. Es wäre vergeblich, zu fliehen; ich würde nicht ertragen, feige gewesen zu sein und verraten zu haben. Und ich habe kein Recht, keins. Er, der uns töten will, hat Rechte: ich nicht. Es ist nicht genug, daß ich treu bin; ich darf ihm nicht den Verdacht auferlegen, ich sei schuldig. Nicht einmal fälschlich darf ich ihn entehren. Ich muß leben, wie die unreine Beschränktheit um mich her es will; denn ich habe mich ihr verkauft für Lüste, und ich darf Arnold nicht wiedersehen.‹

Sie rang.

›Aber ich leide tödlich. Arnold wird mir nicht glauben, wird mich für falsch und wankelmütig halten und mich verraten. Ich selbst soll mich ihm verleumden? Das ist mehr, als jener von mir fordern darf. Ich nehme ihm einen Ruf, den er nicht verdient; er aber nimmt mir das Leben, wenn er mir Arnold nimmt!‹

Aber sie wußte, unerbittlich:

›Ich darf ihn nicht wiedersehen.‹

 

Sie schrieb es ihm – und unfähig, den Tag zu sehen, in den er nicht treten sollte, schluchzte sie in ihrem verdunkelten Zimmer. Angst, lebendig begraben zu sein, erstickte sie.

›Und ich hielt es für ein Glück, als er kam! Hierher führte das Glück! Wäre er nicht gekommen, ich wäre gesunken, hätte vergessen und litte nicht mehr. Wäre er nicht gekommen!‹

Claudia war da und ließ sich nicht abweisen. Sie sah hinter alle Türen; dann leise und wichtig:

»Ich habe einen Brief.«

Lola stieg steif im Bett auf.

»Du scherzest? Tue es nicht!«

»Lolina! Kleine! Sieh her!«

Die Hand, die Lola hinstreckte, griff daneben; beim Lesen mußte sie die Zähne zusammenbeißen, damit sie nicht klapperten. Plötzlich ließ sie sich, aufseufzend, zurückfallen.

»Du lächelst wie ein kleines Mädchen«, sagte Claudia. »Er liebt dich wohl sehr?«

»Oh, sehr.«

Die Augen geschlossen:

»Willst du mich für heute allein lassen, liebe Claudia? Ich bin von der Aufregung noch schwach.«

Er glaubte ihr! Er verstand, daß sie jenem andern gehorchen konnte und dennoch ihn lieben, nur ihn. Und er war bereit, sie zu lieben: von fern, ohne Hoffnung auf einen Druck, einen Blick, ohne noch in die Welt hinauszugehen, deren Bild er nicht in ihrem Auge auffangen durfte, – eingeschlossen für den Rest seines Lebens mit dem Gedanken an sie! Sie sollte, war auch sein Leib verschwunden, für immer mit seinem Worte leben. Schon hatte sein Wort ihr Licht und Atem zurückgegeben.

Seine Briefe zu holen, ging sie zu Claudia.

»Er schreibt und schreibt«, sagte Claudia. »Was bleibt euch noch zu sprechen, wenn ihr euch seht?«

»Ich sagte dir doch, daß wir uns niemals sehen.«

»Aber seine Briefe kommen aus der Stadt!«

»Und doch sehen wir uns nie, nie. Wenn du seine Sprache verständest, könntest du's in seinen Briefen lesen.«

Claudia ließ die Lippe fallen; sie sah aus wie ein zurückgesetztes Kind. Plötzlich warf sie Lola die Arme um den Hals. »Also, ich glaube es!«

Wenn sie das Vertrauen der Freundin nicht genießen sollte: sie fügte sich! Sie diente ihr dennoch! Das kam ihr zu, und Vertrauen war sie nicht wert, sie, die der Freundin den Gatten genommen hatte! Lola verstand; sie umarmte Claudia schweigend, wie ein unschuldiges Tier, das einen liebt und dem man sich nicht erklären kann.

»Es ist sehr gut«, sagte Claudia, »daß du deine Briefe nicht bei dir aufbewahrst.«

»Da ich täglich meinen Schreibtisch durchsucht finde! Da Pardi sogar auf der Post nach Briefen fragt, die für mich lagern! Da meine Jungfer das Futter meiner Kleider auftrennt und ich mich nicht ausziehen kann ohne das Auge eines Spions am Schlüsselloch!«

»So sind sie«, bestätigte Claudia; »so ist auch meiner. Und darum, Lola, sind deine Briefe auch bei mir nicht sicher. Mein Mann wird mich töten, ich weiß es. Sieh hier meinen Hals: das Rote, Geschwollene ist die Spur seiner Finger. Es war nur ein Verdacht, ich habe ihn noch besänftigt. Aber einmal wird er nicht wieder loslassen ...«

Claudias Gesicht war von Schicksal steinern.

»Und wenn dann nicht er das Versteck mit deinen Briefen findet, finden's die anderen, die nach solchem Unglücksfall in ein Haus kommen ... Lolina, du mußt die Briefe verbrennen.«

Lola senkte klagend die Stirn.

Aber als das Opfer vollzogen war, ward ihr, inmitten des Schmerzes, fast heiter. Das letzte Sichtbare, den Fremden Greifbare war aufgelöst. In diesem täglich verbrannten Stück Papier, auf dem seine Hand gelegen hatte, ward täglich der Körper überwunden. Was blieb, war Geheimnis und Seele. Von einem Entrückten wußte Lola Worte, die seine Stimme nicht gesprochen hatte und die kein Auge erspähen konnte. Wieder floß eine Geisterwelt lautlos durch die wirkliche. Im Park der Cascine kreuzten sich die Wagen, immer dieselben, immer der Vitali, zwischen seine zwei Damen eingeklemmt, zwei im Vorüberjagen aufwehende, leichtfarbige Gebilde aus Federn und Spitzen; immer die reichgewordenen Ladenbesitzer mit ihren dicken Frauen auf ihren Karren und die jungen Leute auf den ihren, mit ihren Kokotten; immer in den stattlichsten Karossen ein safrangelbes Gesicht, böse aus Pelz heraus. Und immer Lola, dunkel gegen den perlgrauen steilen Fond, den leidenden Glanz des Blickes unbeteiligt vor sich hin, auf die Rücken ihrer schwarzen Livreen. Nie mischte ihr Blick sich in das Durcheinander der Fußgänger. Der eine, wußte sie, war nicht darunter. Unter alten Bäumen, in einem verlassenen Gartenhause am Ende des ödesten der bröckelnden Plätze dort überm Fluß: in einer Welt, zu der kein Steg führte, die Lola nie betreten würde und aus der sie dennoch ihren Atem herleitete, weilte er und wußte von ihr. Nun hinter seinen Bäumen die Sonne zerfloß, erblickte sie ihn auf seiner Schwelle. Sein Kopf, die breiten Schläfen vorgeneigt, sank tiefer in die Hand, die ihn hielt. Sein Körper erschlaffte; sein Blick schwamm am Boden. Aber da zitterte über der Spitze der Zypresse der erste Stern; blaue Pfade entlang tänzelten Mondfüße – und er hob die Augen, und in weißem Mondlicht zeigten sie ihr Bild. Er sah in Lolas Gesicht und sagte: ›Auch du? Leidest auch du?‹ – ›Ich leide; aber ich bin stolz darauf. Schreibe mir nicht mehr, du Lieber! Ich will dir nicht mehr schreiben; will nicht mehr die Hand auf ein Stück Papier legen, das du küssen kannst, und deine Schriftzüge nicht mehr an Augen und Lippen führen. Es ist zuviel, es ist Sünde. War nicht reiner, unser würdiger, jener geisterhafte Sommer, als wir, die Seelen voll voneinander, uns sogar der Hoffnung auf ein Zeichen enthielten?‹

Musik schreckte sie auf. Auf dem runden Platz hielten alle Wagen. Junge Leute traten an ihren Schlag.

›Contessa, man sieht Sie wenig. Wieder die Nerven? Sonderbar, daß Sie unser Klima nicht vertragen ... Aber Sie wissen doch, daß ihr Gatte dem Brocca hunderttausend Franken abgewonnen hat? Gestern nacht. Und dem alten Geizhals geschieht recht. Jetzt ist's an ihm, die Taschen aufzuknöpfen. Vor kaum acht Tagen hat er Ihren Gatten wegen lumpiger Fünftausend auf offener Straße bedrängt. Er soll unhöfliche Ausdrücke gebraucht haben, – und Pardi sah die Damen Vitali kommen. Ein Glück, daß er Geistesgegenwart hat, Ihr Gatte. Wenn der Alte schrie: »Das ist nicht ehrenhaft!« fragte Pardi: »Sagten Sie ihm: Spielschulden zahlt man oder man wird ausgestoßen? Sagten Sie ihm?«, so haben die Damen geglaubt, man spreche von einem dritten. Ah! Ihr Gatte, Contessa: der erste Herr von Florenz!‹

Sie fingen an, ihr Winke zu geben. Solange sie Valdomini bevorzugt glaubten, hatten sie Pardi geschont. Jetzt, da wieder jeder sich Hoffnungen machte, gaben sie ihr zu verstehen, daß sie einen Liebhaber brauchen, ihn bald schon wegen ihrer Modistin und ihres Blumenhändlers brauchen werde. Lola erfuhr von jedem Pachthof, den Pardi verkaufte. Sie ward darüber aufgeklärt, daß das Schloß San Gregorio, als sie den vorigen Sommer darin gewohnt habe, nicht mehr Eigentum ihres Mannes gewesen sei; er habe es ihr gemietet – und sie mußte es glauben, wenn sie sich die Vorbereitungen zurückrief, die er damals nötig gehabt hatte. Sein Untergang kündigte sich ihr manchmal greifbar an. Eines Abends fehlte, als sie ihn bestellte, ihr Wagen. Er sei zerbrochen. Tags darauf erschien der junge Vitali und pries sich glücklich, ihr den Wagen zurückzubringen; Pardi habe ihn verloren und wiedergewonnen.

Ein Augenblick völligen Geldmangels. Aber wäre sein Spiel selbst immer glücklich gewesen: gleich hinter ihm stand die Sarrida und verlangte mehr. Man hatte dafür gesorgt, daß Lola auch sie sehe. Auf der Bühne der Alhambra, unter dem Licht tausend begehrlicher Augen wendete das götterähnliche Tier sein nur mit Juwelen bekleidetes Fleisch langsam hin und her, gab ihm alle Stellungen der Wollust, zeigte es Begierde dünstend, wie eine Himmlische, die zu den Männern der Erde herabsteigt, und Sattheit atmend, wie eine lagernde Kuh. Abseits saß Pardi; seine drohenden Augen beherrschten die Sarrida und den Saal. Diese Juwelen hatte er zu beschaffen, dies Fleisch zu bewachen. Lola hörte, daß er Duelle habe und Wucherern zufalle. Man sprach von seiner Prügelei mit einem Amerikaner, in der Wohnung der Sarrida. Lola war, sah sie ihn bleich von wütendem Gram, versucht, an ihn hinzutreten und ihm zu sagen, sie wisse wohl, er liebe die Sarrida nicht mehr als jede andere: aber sein Ehrgeiz und seine Phantasie hielten ihn besessen, zwängen ihn, sich zu behaupten gegen Jüngere und Reichere, legten ihm wieder einmal ein sinnloses, verkommenes Heldentum auf. ›Sei sicher‹, hätte sie gern gesagt, ›von allen bin noch ich es, die dich am besten zu würdigen weiß.‹ Von der Höhe ihres entfleischten, hoffnungslosen Leidens bemitleidete sie sein einfach sinnliches, das ein hoher Haufen Metall hätte stillen können. Sie verhandelte mit den Gläubigern, die hereindrängten, half an den lautesten Forderungen mit ihrem Gelde vorbei, suchte aus der Wildnis von Zetteln auf seinem Schreibtisch seine Lage zu verstehen.

Paolo schickte etwas; und sie betrat Pardis Arbeitszimmer, hob eine Handvoll Papiere auf und mischte einige Banknoten darunter: er würde vielleicht glauben, sie hier vergessen zu haben. Da blieb ein Blatt ihr zwischen den Fingern, ein Brief – mit einer Schrift, die sie im Leben drei- oder viermal gesehen hatte und doch in jedem Zuge kannte: Mais Schrift. Am Schluß die Adresse eines Hotels in Genua. Lola hatte von Mai seit ihrer Abreise nach Amerika keine Zeile bekommen, und was hatte sie Pardi zu schreiben gehabt? Die vierte Seite enthielt Danksagungen für ein empfangenes Glück. Für welches? Dann Lolas Namen.

›Sei gut mit ihr, so werde ich nicht bereuen, was ich für dich getan habe!‹

›Und sie nennt ihn du?‹

Lola wandte den Bogen; oben trug er: ›Mein Geliebter!‹

Alles in ihr stand still. Sie war vor sich selbst erschrocken, vor der, deren Geist die beiden Worte wiederholt hatte. Zögernd weiter. Sie warf den Brief hin und sagte laut:

»Er war ihr Geliebter.«

Sie fiel auf einen Stuhl und hielt sich die Ohren zu.

›Ich will es nicht glauben! Es ist nicht wahr; ich bin krankhaft mißtrauisch!‹

Aber da lag der Brief. Mai schwur ihrem Geliebten, daß von diesem einzigen, so kurzen Glück den ganzen Rest ihres Lebens ihr Herz sich nähren sollte. Und plötzlich warf Lola die Arme in die Luft, haltlos, zwischen Abgründen, mit einem Schauder vor dem Schicksal, das stumm gewesen war und auf einmal mit verfaultem Atem ein scheußliches Wort ausstieß.

›Sie hat mich verkauft: schlimmer, sie hat mich mit in den Kauf gegeben, bei dem sie ihn bekam! Er wollte uns beide! Ich wußte das und war so blind? Immer noch gibt es Schleier wegzuziehen? Mein Gott! was wird noch kommen ... Bin ich denn ganz anders als alle? Auf den Gedanken, der der erste jeder Frau wäre, verfalle ich nie ... Und sie hat mir, nun sehe ich's, den Verdacht fast aufgedrängt: gleich vor meiner Hochzeit, als sie ein letztes Mal um ihn kämpfte. Wie hat sie mich gehaßt! Als sie verlangte, ich solle ihn lassen! Natürlich: ihren Geliebten! Eine Mutter ist das, eine Mutter!‹

Neuaufwallend:

›Und ich hätte ihn ihr lassen können! Ein Wort von ihr. und alles war unnötig, alles seither Erlittene! Das Glück wäre möglich gewesen. Ja, ganz frei lag es da!‹

Sie drückte die Fäuste vor die Augen und schluchzte aus Zorn.

›Ich wäre entronnen. Ein kurzer, verächtlicher Schmerz, und es war hinter mir. Alles Elend umsonst, eine gräßliche Posse. Da: sie dankt ihm auch dafür, daß er sie auf ihrer Bootfahrt geliebt hat, obwohl sie so krank war. Man liebt und erbricht sich, durcheinander. Um solches Lebens willen sitze ich hier.‹

Wild sprang sie auf.

›Nein! Nicht länger. Zu lange war ich schwach. Auch ich will endlich rücksichtslos glücklich sein. Dahinten ist Arnold, den ich liebe. Ich weiß das Haus und den Weg, kenne sein Herz und meins – und was dazwischen stand, ist alles gesprengt. Ich erkenne nichts mehr an, will nichts mehr wissen. Ich gehöre wieder mir und gebe mich ihm. Ich will zu ihm!‹

 

Der Weg war weit: sie schwankte vor Erschöpfung und dachte doch nicht daran, in einen der vorüberfahrenden Wagen zu steigen. Die Häuserreihen ringelten sich fahl dahin im erlöschenden Blau. Alles hastete bestürzt durcheinander, und man kam nicht weiter, wie in einem Traum. Die Welt war in Verwirrung und suchte einen Retter. ›Zu ihm, der handeln wird, handeln und mich retten wird!‹ Sie erkannte die Straßen nicht wieder, fragte einen Menschen – sein Gesicht deuchte ihr unheilvoll – und hörte sich sprechen, wie eine andere. ›Ich bin krank‹, dachte sie deutlich; ›ich weiß es wohl. Aber was kommt darauf an. Vorwärts!‹

Über der Mauer schwebten Baumkronen: die Kronen seiner Bäume. Das Tor erwartete sie, unverschlossen. Er saß dort hinten, vor der Schwelle seines niedrigen Hauses, die Schläfe in der Hand, zu Boden sinnend. Dies alles gab es nicht nur in ihren Gesichten? Die Sonne schmolz hinter jenen Zypressen, wie in alten, süßen Erinnerungen. In Lolas Kopf klopfte es wirr und heiß. Bemooste Gartengötter streiften sie, den Gang entlang, mit schiefen Blicken ›Seht nur zu!‹ – und sie schlug den Mantel zurück, als würfe sie alles von sich und böte sich ihm. Der Kies spritzte von ihren gehetzten Füßen. Arnold sah auf, bewegte eine ungläubige Hand und erstarrte. Sie lag vor ihm.

»Es ist aus. Wir sind frei. Ich bin dein. O ja, nimm mich nur in deine Arme, frage mich nur! Du sollst alles wissen, du bist der, den ich habe. Einen Menschen muß man doch haben, einen. Ich war immer allein. Ich weiß noch, wie mein Vater mich in dem fremden Garten zurückließ. Keinen verstand ich. Nie habe ich eine Sprache ganz erlernt. Die Mädchen dort beschimpften mich einst, weil ich nirgends hingehörte. Als ich groß war, hielt man mich für eine Abenteurerin. Und behandelte mich wie eine. Fremde in allen Ländern, Feinde. Weißt du, daß sie hier mich kaufen wollen, mich zu ihrer Dirne machen wollen? Kein Volk, dem ich zugehöre, keine Sprache, die mich ganz ausdrückt, – und kein Mensch, an dessen Herzen ich daheim bin? Du! Oh, du!«

»Meine Lola. Meine liebe kleine Lola.«

»Sag mir das! Sag es mir oft. Ich habe es so lange entbehrt. Ich bin schlimm daran. Du weißt nicht: hier ist's so still, aber draußen geht alles drunter und drüber. Du mußt mich retten.«

»Meine arme Lola, du fieberst.«

»Es ist möglich, ich verliere den Kopf. Aber bedenke, was sie mir getan haben und daß meine Mutter seine Geliebte war. Ja: seine, meines Mannes. Ist das nicht mehr, als alles was ich zu tragen verpflichtet war. Soll ich so viel Buße zahlen? Oh! ich ersticke. Es soll endlich aus sein. Hörst du? Ich will, daß es aus sei!«

»Gib mir deine Hände, lege den Kopf hierher, an meine Schulter. Halte still, höre zu. Ich habe dich so lieb, daß ich wollte, an deinem Leid stürben wir augenblicklich, alle beide. Wir sind arm, und ich denke schon längst an den Tod mit dir, als an das Beste. Vielleicht, daß wir nachher uns haben würden?«

»Sterben? Ja, mag sein, daß es das war, was ich wollte. Ich wußte nicht ... Gib vorher deinen Mund!«

… da schrak sie aus der Umarmung.

»Nein! Nicht das. Ich kann es nicht.«

»Wenn du mich liebst? Ich weiß nicht, wie es kam, – aber liebst du mich dafür denn nicht genug?«

»Sei nicht traurig! Ich schwöre dir –«

»Du liebst mich also nicht genug. Ich wußte es.«

Ganz voneinander gelöst, standen sie da. Lola führte die Hand zwischen die Augen. ›Warum kann ich es nicht? Warum bereue ich fast, daß ich ihn liebe? Was erwarte ich denn anderes von ihm! Sollte er mich fortreißen aus den Feinden und um sich schlagen? Heldentaten? – Ich bin kindisch. Ein Held ist der andere, ich kenne den Helden. Dieser ist ein Mensch – und zu fein, zu sehr mir gleich, um es mit dem Leben aufzunehmen, das lügt und vergewaltigt. Bei ihm ruhen. Nur ruhen. Den Hals nicht wenden; nicht zurückdenken.‹

»Kannst du mich nicht so lieben? So? Ohne das andere?«

Und sie lehnte sich an ihn, ohne die Arme zu erheben.

»Ich werde trotzdem nur dir gehören. Wir werden uns immer sehen, ich verspreche es dir. Gern will ich mein Leben wagen für wenige Minuten mit dir! Aber das andere – siehst du, wir können's nicht. Auch dir wäre gleich wieder eingefallen, daß wir's nicht können. Lügen und betrügen: wir! Lieber das Schlimmste erleiden. Im Grunde, was ist geschehen. Er und meine Mutter sind wie alle. Auch das hab' ich verschuldet und muß es tragen. Warum verlor ich mich? ... Siehst du, nun senkst du die Stirn und siehst wieder alles ein. Du bist gut, du bist mein Trost. Alle Not will ich vergessen, wenn ich bei dir bin. Versprichst du, daß dir das genügen wird?«

Er hob ihre Hand an seine Lippen. Sie standen lange im Dunkeln. Mehrmals, nach verträumten Pausen, fragte Lola:

»Wirst du mich immer lieben?«

Und er hob ihre Hand an seine Lippen.

Ganz erwachend, unter einem Seufzer, sagte sie:

»Ja, es ist schön. Aber –«

Mit einer kleinen gefrorenen Stimme, an deren Decke ein leiser Spott pochte:

»– wir werden uns nie gehören.«


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