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III

In Verona, nach dem Übernachten und wie der Omnibus schon vor dem Gasthof stand, sagte Lola plötzlich:

»Jetzt wieder nach Venedig? Geht es wirklich nicht anders?«

»Uns zwingt doch niemand?« fragte Mai verdutzt.

»Das ist es. Uns zwingt nie jemand. Hierhin, dorthin: für uns ist alles gleich.«

Und Lola ließ sich müde auf einen Stuhl nieder.

»Daß du auch grade in diesem Augenblick deine Nerven kriegst!«

Mai sah erschreckt hin und her zwischen Lola und dem Kellner, der zur Abfahrt mahnte.

»Es scheint, wir reisen nicht.«

»Wozu?« seufzte Lola. »Um wieder einen Fingado zu treffen und einen Aguirre und einen –?«

Sie besann sich.

»– und alle die andern? ... Weißt du noch nicht im voraus, wie deine Verehrer aussehen werden, was sie dir sagen werden? Man kennt sie auswendig, und es bleiben doch Fremde. Wir sollten lieber zu Pais bayerischen Verwandten fahren. Nach deiner Ankunft in Europa sahen wir sie nur so flüchtig; aber es schienen – was weiß ich –, es schienen herzliche Menschen.«

»Aber die Grimani erwartet uns.«

»Wir telegraphieren ihr ab.«

Sie telegraphierten auch nach München. Gugigls waren auf dem Lande – und zwei Tage später, auf der kleinen Station zwischen Kufstein und Rosenheim, jauchzte den Ankommenden ein ganzer Trupp festlich erregter Sommerfrischler entgegen. Frau Gugigl und die Baronesse Utting schrien in einer Tonlage mit der Lokomotive. Die eine schüttelte dabei ihre offenen Haare; die andere ihre Zöpfe. Die Baronesse trat sofort an die Damen heran, zeigte auf ihr Bauernkostüm und sagte stolz:

»I bin d' Oberdirn.«

Gugigl schwenkte noch, als Frau Gabriel schon vor ihm stand, auf die Zehen gehißt, sein grünes Hütchen. Er war rotfleckig, hatte geblähte Nüstern, und seine Kinnhaare wehten wirr. Die kleine Schwester seiner Frau ließ, als sie Lola und Mai erblickte, seinen Arm los; ihr Geschrei brach ab, und mit großen Augen, ganz entgeistert, sah sie den beiden eleganten Damen entgegen. Gwinner küßte ihnen die Hand und führte von unten sein freundlich freches Lächeln im Kreise umher, als hätte er einen Witz gemacht.

Frau Gugigl rühmte zuerst ihren Lodenkragen.

»Da schaut, wie er naß ist. Regenschirme gibt's bei uns nicht, meine Lieben, und wenn man so daherkommt wie ihr ...«

»Aber was ist denn hier los?« fragte Lola, da sie gleich hinter dem Bahnhof in ein bäurisches Gedränge und Geschrei, in Jahrmarktgerüche und Blechmusik gerieten.

»Das ist das Gaufest.«

Und zu der gespannt horchenden Frau Gabriel:

»Ja, auf französisch, Tante, kann ich das Wort nicht sagen. Die Bauern zeigen ihr Vieh und sich selbst her, in den alten Trachten.«

»Das Vieh in den Trachten«, ergänzte Gwinner und gab Lola durch unterwürfiges Grinsen zu verstehen, daß er bei Gott nicht über sie sich lustig mache; nur könne er nicht gegen seine Natur. Er umtastete die Spinnenfinger der einen Hand leise mit denen der andern. Den runden, schwarz und gelben Kopf trug er eigen vorsichtig zwischen den hohen Schultern, als sei sein Nacken leicht zerbrechlich. Lola wandte sich weg.

Gugigl krähte in das Gebrüll der beim Wirtshaus Tafelnden hinein: »A Bier! Cehn–zi! A Bier kriag' i!«

»Grüß Gott, Spezie!« rief die Baronesse.

»Dees is nämlich mein Oberknecht«, erklärte sie, lief hin und schwang sich, rotbackig, mit dicken, fliegenden Zöpfen in die Bank zu den Bauern, die sie feierten. ›Ihre Zöpfe sind fast von der Farbe meines Haares‹, dachte Lola, und: ›Wenn ich mich zu den Bauern setzen sollte! Wie wäre einem zumut, wenn man hier heimisch wäre?‹

Da begegnete sie dem bewundernden Blick der kleinen Tini.

»Wir haben uns noch gar nicht recht begrüßt. Sie sind groß geworden.«

»Wie geht es Ihnen?« stammelte das junge Mädchen.

»So nennts euch doch du!« schrie Gugigl und drängte der Kellnerin nach.

»Gut. Und – also, und dir?« fragte Lola, lächelnd. Tini errötete; dann entschloß sie sich:

»Du hast Ähnlichkeit mit deinem Papa.«

»Ach! Hast du ihn gekannt?«

»Sehr gut, und nie hab ich ihn vergessen. Er hat mir meine Lieblingspuppe mitgebracht. Nach ihm hieß sie Gustl, weil er Gustav hieß, nicht? Jetzt ist sie zwar kaputt ...«

Lola dachte: ›Und Pai tot.‹

»Spielst du noch mit Puppen?« fragte sie mühsam.

»O nein ...«

Und, als sei endlich das Eigentliche herbeigeführt:

»Lola, du bist wunderschön!«

»Du sagst das? Du wirst viel schöner werden als ich; man sieht es schon jetzt.«

Sie liebkoste das schwarz eingerahmte, sentimentale Gesichtchen. ›Noch etwas zu lang und zu blaß ist es‹, dachte sie zärtlich. Da drehte sie rasch den Kopf.

»Mai! Mai! Die Tini hat Pai gekannt!«

Mais Miene, die ganz Befremdung und Verlassenheit war, ward auf einmal kindlich beglückt. Und Lola nickte ihr strahlend zu: »Wie schön, nicht wahr, daß wir hergekommen sind!«

Da waren nun Wesen, die Pai gekannt hatten, die mit Lola verbunden waren, vielleicht denselben Menschen liebgehabt hatten wie sie!

»Hast du meinen Papa gern gehabt?« fragte sie.

»Sehr«, sagte Tini, und sie setzte nochmal an: »Und auch –«; aber dann schwieg sie, ganz rosig.

»Sage, wie du ihn gefunden hast? Als er mich nach Europa brachte, trug er meist einen grauen Anzug ...«

›Ach, was für Dummheiten!‹ merkte sie selbst. Mai, die dazwischenschwatzte, konnte sich nicht naiver gebärden. Wie das belebte! Wie einem warm ward! Sie sah sich um, sie hatte Lust, diese Menschen zusammenzurufen, die Pai gekannt hatten, die ihr du sagten, die ein wenig Blut mit ihr gemeinsam hatten. Gugigl trank ihr zu. Er stand dahinten, auf gespreizte Beine gestemmt, hob das endlich eroberte Glas Bier nervig an sein Gesicht, das es mit geblähten Nüstern erwartete, und führte Lola, den Blick fest und ernst in ihrem, seine Schluckkunst vor. Seine Frau hatte ihren Lodenkragen abgeworfen, hatte flatternden Haares die tannenbekränzte Estrade der Schuhplattler erstürmt, die Dirn weggestoßen und sich statt ihrer gegen den beleibten Balzer geschmiegt. Aber von ihrem Tanzdämon überzeugt, kam sie seinen Bewegungen zuvor, brachte die Äußerungen seiner gravitätischen Brunst in Verwirrung, zappelte in der Luft, wie er sie emporstemmte – und ohne vorherige Ankündigung, im Zorn noch mit gelassener Kraft, setzte er die enttäuschte Mänade über das bekränzte Geländer. Frau Gugigl mußte einige Pfiffe hören, trotzte aber der Menge und holte sich ihren Mann, um ihn herumzuschwenken.

Mehrere Paare drehten sich zwischen den Püffen der Vorbeidrängenden. Die meisten saßen indessen unter den tropfenden Kastanien, Rücken an Rücken, die Arme auf die Tischkanten gewälzt, und so oft die Musik sich von ihrem Knarren und Meckern ausruhte, sangen sie sich gegenseitig in die Münder. In ziehenden Tönen, deren Ende sie vor Gefühl nicht fanden, stimmten die Burschen unwahrscheinlich schmutzige Verse an, und die Madln unter ihren Zopfkränzen fielen herzhaft ein, wie in der Kirche. Aus dem Winkel beim Hause wurden sie beobachtet von der eleganten Gesellschaft, deren ragender offener Reisewagen aus dem Verschlage hervorstand. Die Dame hob das Lorgnon vor ihre aufgerissenen Morphinistinnenaugen und führte ihre unbewegte, schlaffe, perlfeine Miene langsam umher. Ein dürftig gewachsener Mensch, der ihr den Rücken im Sonntagsrock halb zudrehte, fesselte sie länger als die übrigen. Niemand fand an ihm vorbei, ohne die Faust, als solle sie das biedere »Grüeß Gott, Schuasta« verstärken, auf seinen eingedrückten Nasenrücken fallen zu lassen. Der Schuster lachte verlegen, und von Zeit zu Zeit wischte er mit dem Handrücken das Blut weg, das ihm sonst ins Bier tropfte. Sichtlich war er's gewohnt, war dies ein durch lange Jahre geweihter Brauch, dem sich zu entziehen er selbst am unpassendsten gefunden hätte.

Das Lorgnon der Dame zielte unbewegt in dieselbe Richtung. Nun aber folgte Mai ihm, und Mai begann, die Hand an der Wange, kleine entsetzte Schreie auszustoßen. Gugigl, seine Frau und die Baronesse Utting liefen herbei:

»Ja, was gibt's? Der Schuster? Aber ihr seht doch, daß es ihm selber Spaß macht. Seid ihr zart besaitet!«

»Mir san derbes Volk«, erklärte die Baronesse.

Mai schrie auf: wieder war dem Schuster eine Faust auf die blutige Nase gefallen; und Mai beruhigte sich nicht mehr, hörte auf kein Zureden, verfiel, außer sich, in ihre heimische Sprache und wiederholte ihre Meinung den um sie her feixenden Bauern auf französisch. Dies alles sei abscheulich roh; sie sollten nicht trinken, nur die Neger tränken; sie sollten einander wie Menschen behandeln.

»Sei still, Mai«, bat Lola, leise vor Scham. Ihr war, als trage sie ein Stück Verantwortlichkeit für dies Volk, das Pais Sprache hatte und zu dem sie Mai hergeführt hatte wie zu den Ihren.

Aber Mai drang, erbittert durch die Grimassen, denen sie begegnete, auf Gugigl ein. Ob er meine, sie kenne so etwas nicht. Auch zu Hause die Neger begangen ihre Feste, tanzten – nicht häßlicher als diese hier –, betränken sich, schlügen einander blutig. Aber man gittere sie ein, stelle Wachen herum, und kein anständiger Mensch sehe den schmutzigen Dingen zu. Lola war sehr froh, daß Frau Gugigl und die Baronesse schon wieder in den Armen zweier Knechte dahintollten. Gugigl verstand nichts; er äffte Mais erregte Gebärden nach, klappte mit den Kiefern und parodierte, ihr vor den Füßen hüpfend, irgendeinen Laut, den sie gerade gesprochen hatte – ganz stolz, daß er, als studierter Beamter, nicht zwei französische Worte wußte. Mai brach ab. Die Augen naß vor Zorn in ihrem beleidigten Kindergesicht, drehte sie ihm den Rücken. Gwinner kam – und er trug den Kopf noch vorsichtiger – mit dem gewaltigen Schuhplattler herbei. Vor der Ankunft machte er noch einen Bogen, führte, demütig und frech grinsend, den ernsten Koloß den Damen von allen Seiten vor, wie einen Preisochsen.

»Diese Damen«, äußerte er, »sind aus Amerika gekommen, um Sie zu sehen.«

»Viel Ehr', viel Ehr'«, sagte der Mann, mit einer Stimme, der er eine erbärmlich wirkende Zurückhaltung auferlegte. Gwinner hielt lächelnd die Hand neben seinem Arm, wie um eine unsichtbare Kette. Er wies hinüber, von wo die eingepferchten Tiere brüllten.

»Warum lehren Sie nicht auch die andern Ochsen das Schuhplatteln?«

Sein begütigendes Nicken hieß: ›Es ging doch nicht anders.‹ Die kleinen tückischen Augen des Riesen wanderten auf dem bleichen Gesicht umher, das nach Frechheit rang, und unentschieden zwischen Drohung und Respekt, fragte er:

»Ja, wie moanens denn jetzt dös?«

Die kleine Tini trat energisch vor.

»Er meint, wer nicht tanzen kann, ist ein dummer Mensch. Und jetzt müssen wir nach Haus, es ist höchste Zeit. Benno! Thekla! Marie!«

Sie beruhigte sich nicht eher, als bis alle aus dem Biergarten heraus waren. Auf der Straße zwischen den großen Fußspuren voll braunen Regenwassers hieß es einen Eiertanz aufführen. Vor den vier Jahrmarktsbuden lungerten einige Buben, ein paar Weiber mit den Schürzen über dem Kopf. Mit starrem Gesicht führte ein verwittertes Mädchen eine Moritat vor.

»Haben Sie das verbrochen?« sagte Gwinner zu Gugigl und zeigte auf das Bild. Frau Gugigl sprang vor Freude in eine Pfütze.

»Aber Benno! Das ist ja eine Idee! Ich mal eine Moritat! Künstlerische Moritaten gibt's noch nicht.«

»Mehr als genug«, meinte Gwinner; aber Frau Gugigl verlangte:

»Ohne Witz! Dem muß man künstlerisch nähertreten.«

Sie besprach dies im Weitergehen mit ihrem Mann und der Baronesse Thekla. Gwinner bemühte sich, für Frau Gabriel französische Wortspiele zu erfinden. Tini nahm plötzlich ihren Lodenkragen ab und legte ihn Lola um.

»Es regnet nicht mehr, dein Schirm nützt nichts; aber die Luft ist so feucht.«

Lola sträubte sich vergebens.

»Bitte, bitte! Du bist das nicht gewohnt. Dort, woher du kommst, ist immer blauer Himmel, nicht?«

»Was meinst du? Ich war ja die längste Zeit meines Lebens in Deutschland.«

»Ach! Du siehst ganz aus wie eine Fremde – und so elegant. Du mußt diesen Kragen entschuldigen. Bei dir ist gewiß alles aus Paris?«

»Oh, gar nicht. Und ich finde deine Bluse sehr gut gemacht. Meine Mama und ich haben zuletzt in Genua bestellt. Wenn es kommt, sollst du's sehen. Die Schneiderin arbeitet für die halbe italienische Aristokratie, sie kennt uns schon ...«

Und Lola dachte hinzu: ›So wird sie uns hoffentlich für die Bezahlung Zeit lassen.‹

»Ein Gesellschaftskleid ist dabei, Empire, was wieder das Allerneueste ist. Schwarze Gaze mit Chantillyspitze besetzt, und im Ausschnitt ist dicke Silberspitze, unterlegt mit ... Aber willst du mich nicht einhaken?«

»Unterlegt mit?« – in seliger Erwartung.

»Mit türkisblauem metallischem Stoff.«

»Wie wundervoll!«

»Auch unter der Chantillyspitze liegt er.«

»Ja. Aber –«

Tini hielt sich grader und sammelte sich; denn jetzt kam das, was sie Lolas Toiletten entgegenzusetzen hatte.

»Hast du schon von der Umwertung aller Werte gehört?«

»Ich muß gestehen: nein. Und wer hat dir davon erzählt? Herr Gwinner?«

»Woher –«

»Erschrick nicht! Woher ich das weiß? Du sahst grade nach ihm hin.«

Tinis Blick hatte mit solcher schwermütigen Schwärmerei an seinen hohen Schultern gehangen. ›Darum‹, erkannte Lola, ›ihre Angst vorhin bei dem Riesen, als sie ihn in Gefahr sah.‹

»Das muß interessant sein«, sagte sie. Da trennte die Baronesse Thekla sich von ihren Freunden, lief – und ihr kurzer roter Rock flatterte – Lola entgegen und schwang den Arm über ein entferntes Kornfeld hin.

»Morgen in der Früh geht's da droben wieder an die Arbeit!«

»Was für eine Arbeit?«

»Ans Kornschneiden. Ich bin allweil draußen mit die Knecht und Mägd. Mich nennens die Oberdirn ... Ja, das wundert Sie. Aber meine Großmutter war ja eine Bäuerin und hat drunt im Mühltal ihren Hof gehabt. Ich bin ein richtiges Bauernblut, und in der Stadt freut's mich nicht.«

»Renommiert die Baronesse schon wieder?« fragte Gwinner, der sich umdrehte.

»Mir ist's ernst«, erklärte sie. Und er, nachgiebig:

»Ich weiß, bei Ihnen kommt's von Herzen.«

Tini lachte Beifall.

»Schon wieder!« flüsterte sie, vor Stolz errötet, Lola zu. »Ist er geistreich! Sie hat ja eine unglückliche Liebe; darum kommt bei ihr das Bauerngetue ›von Herzen‹!«

Gwinner merkte erst jetzt, daß er einen Witz gemacht hatte, und dankte mit den Augen.

Die schmale Straße aus nassem, durchfurchtem Lehm krümmte sich zwischen den flach ansteigenden Äckern hin. Die gelben und die grünen erglänzten gewitterhaft in dem späten Licht, das unter dem schwarzen Himmel hervor schräge über sie hinschlich, und jäh an den letzten, der heller vor ihr flackerte, schien die blauschwarze Bergwand zu stoßen. Frau Gugigl jagte vorbei.

»Kinder, kriegt ihr nicht auch Magenkrämpfe? Mir kommt's bald vor, als wären das –«

Sie wies über das gelbgrüne Land hin.

»– Pfannkuchen mit Spinat, und ich möchte mich drauf setzen wie eine Fliege.«

Die Baronesse fuhr auf.

»Ich hoff nur, du hast für eine Haxn und Knödln gesorgt; sonst müßt ich dir die Wirtschaft wieder abnehmen!«

Gugigl hatte sie erwartet.

»Die Marie ist ja ein Kulturmensch«, versicherte er. »Sie schaut nach der Küche, nicht weil sie muß, sondern weil sie weiß, daß die Frau, je höher sie steht –«

Gwinner legte ihm zärtlich die Hand ans Haupt.

»Schlaukopf«, sagte er.

»Gleich kommt's!« rief Tini und ließ Lola nach der Stelle sehen, wo hinter der Senkung ihr Haus auftauchen sollte. Inzwischen polterte mit Harmonikagedudel und betrunkenem Gesang ein Stellwagen herbei; alle mußten auf den Grabenrand treten, und die Baronesse tauschte mit den Vorbeirasenden Scherze aus. Nachher entzückte sie sich:

»So lebfrische Buam!«

Mai, von ihren Rädern arg bespritzt, sah ihnen wütend nach.

Einige Schritte vorm Ziel bog aus einem Seitenweg ein junger Mann, der den Lodenkragen über der Brust zusammenhielt und den Kopf gesenkt trug. Gugigl machte Zeichen, man solle sich ruhig verhalten; und wie jener dicht herangekommen war, brach er mit seiner Frau, der Baronesse Thekla und Tini in gelles Geschrei aus. Der andere fuhr herum und hielt der Schadenfreude ein etwas schüchternes, etwas trübes Lächeln entgegen. Noch während sie ihn auslachten, fragte er, ob sie sich gut unterhalten hätten.

»Und Sie, sanfter Träumer?« erwiderte Gwinner, und sein Grinsen war geduckt und geärgert.

»Das Wetter drückt mich; ich hätte nicht auch noch den Lärm der Bauern ertragen.«

Dies berührte Lola verwandt; sie gönnte auch Mai eine Genugtuung und übersetzte seine Antwort. Mai belebte sich. Als man die Veranda betrat, sagte sie:

»Nicht wahr? Das Fest wäre ganz hübsch; aber diese Menschen ...«

»Ein Fest ohne Menschen, gnädige Frau?« fragte Gwinner. »Musik, die freiwillig aus den Instrumenten kommt, und Bier, das sich selbst trinkt? Nein –«

Und er wandte sich nicht mehr gegen Mai und ihren unbesonnenen Ausspruch.

»Menschen bleiben die Hauptsache: Das verkennt Herr Arnold Acton. Was haben wir von Einsamkeit? Ich weiß nur, was sie uns nicht gibt: Menschenkenntnis, Geistesgegenwart, Sinn für das Mögliche und das Wirksame.«

»Bravo!« machte Gugigl. »Und jetzt gehns mit, Bier abziehen!«

Sie gingen. Frau Gugigl hatte gerufen: »Ich richt nur rasch eure Zimmer!« – und war mit ihrer Schwester und der Baronesse von dannen.

Lola und Mai betraten die große, ganz hölzerne, stark dämmerige Stube. Arnold Acton war hinter ihnen. Lola wartete noch immer, was er zu sagen habe – mit einer seltsamen Angst davor, er möchte nichts wissen. Er sagte mit verschleierter Stimme und in Pausen zum Prüfen der Worte:

»Menschenkenntnis ... Geistesgegenwart ... Sinn für das Mögliche und das Wirksame ... Sehr scharf. Sehr richtig. Wenn nur nicht alles das hoffnungslos zweiten Ranges wäre! Die Einsamkeit, es ist klar, unterrichtet uns nicht über die Welt, lehrt uns nicht, ihr antworten, ihren Spott bestehen ... Oder doch? Käme uns ein von ihr abgewandtes, ihr nicht mehr untertanes Wissen, wenn wir allein sind? Wissen über sie und uns, in einem? ... Ich weiß nicht, ob Sie, gnädiges Fräulein, das kennen: ein kleines Zimmer, allmählich in allen Winkeln voll von Erschautem und Erlittenem, glücklichen und schlimmen Spielen; nächtliche Gänge, einen Buchenhügel oder Terrassen mit Oliven hinan, wenn in den Laubschleiern ein vom Tal heraufgeschwebter, merkwürdig stiller Glockenschlag zittert: wie hell und gespannt einen das macht! Ganz zusammengezogen auf sich; frei von den weltlichen Hemmungen. Man wird sich selbst zur Leidenschaft. Genehmigen Sie ein noch stärkeres Wort: ein Flügelrauschen rührt sich in einem, wie vom eigenen Schicksal ...«

»Ich glaube Sie zu verstehen ...«

Lola fühlte, daß er unter einem Druck rede, vielleicht nur aus Unruhe, um nicht zu schweigen, und daß er darauf gefaßt sei, wenn das Dunkel gelüftet werde, ein befremdetes Gesicht vor sich zu haben. Ehrgeizig sagte sie:

»Ich selbst habe einsame Zeiten gehabt.«

Da er die Augenblicke vergehen ließ, sprach auch sie aus Befangenheit weiter.

»Damals haßte ich die Menschen und ersann mir zum Trost eine eigene Welt ...«

»Ich möchte nicht sagen, daß es Haß ist. Sie abzuschütteln, fernzuhalten, ist das Bedürfnis; auch sie zu reinigen und zu übertreiben und so über sie zu herrschen. Von ihnen stammt nichts als das Alphabet, aus uns aber, als die Verlängerung unserer Schicksalslinie, die prachtvolle Tirade, die bis zu den Sternen schießt.«

»Auch für mich gab es Freude und Glück nur auf anderen Sternen.«

Jeder von ihnen tastete im Dunkel der fremden Erlebnisse nach den Umrissen der eigenen.

»Die Welt: sie wird uns, sind wir sehr allein, zum Spiel nach eigenen Rhythmen, dient uns als Vorwand, uns selbst zu genießen. Wir sind so gut über sie im reinen, daß wir sie unter uns gebracht haben und, ihrer sicher und getrost, nun anfangen können, sie zu lieben ...«

»Wohl erinnere ich mich, daß ich nach solchem Gewittertag im Walde mit dem Glauben heimkehrte, das ganze All liebe mich, und ich solle jedes seiner Geschöpfe lieben ...«

Da ward die Tür aufgerissen, und Frau Gugigl rief:

»Was munkelt denn ihr da?«

Lola sah sich, in der plötzlichen Helle, neben einem Unbekannten an der Wand eines fremden Zimmers sitzen; ihr war, als sei sie aus weiter Ferne herversetzt, und sie sagte erstaunt:

»Wir sprachen von einsamen Spaziergängen.«

»Sicher hat er wieder von sich selbst gesprochen; das ist seine Spezialität, und anfangs verblüfft er einen damit. Nachher kennt man's schon. Gehen Sie mehr unter Menschen, Arnold! Schauen Sie Gwinner an: der redet stundenlang, ohne sich selbst zu erwähnen.«

»Was gäbe es über ihn auch zu sagen!«

»Bravo, Sie werden boshaft! Endlich! ... Weißt du wohl, Lola, daß er abreisen wollte, als er hörte, ihr kämet? Solch Waldmensch ist er.«

Lola sah ihn an, ließ aber seinen unfreien Träumerblick, aus unwillkürlichem Respekt, gleich wieder los. Ihr schien, vorhin im Dunkel habe er zusammengesunken dagesessen und erst jetzt sich hager aufgereckt, als gälte es, etwas zu bestehen. Sie fragte, ohne mit Frau Gugigl mitzulachen:

»Wirklich? Sie wollten abreisen?«

Er stammelte:

»Im Gegenteil ... Ich hatte den Wunsch, nach München zu gehen; ich brauche wieder einmal die Stadt.«

»Und wozu?« fragte prompt Frau Gugigl. »Wen kennen Sie dort? Wen suchen Sie auf? Sie sind ein merkwürdiger Mensch.«

Frau Gugigl drehte sich, vor Gereiztheit rot, halb weg und machte zwei Schritte. Lola war im Begriff, zu sagen:

›Es ist immer schade, wenn jemand kein merkwürdiger Mensch ist.‹

Aber es kam ihr vor, als hätte es ein wenig Geringschätzung bedeutet, wenn sie ihn in Schutz genommen hätte.

»Also ich zeig euch eure Zimmer«, schloß Frau Gugigl. »Wo steckt denn deine Mama?«

»Mai!«

Mai kam aus der Ecke beim Ofen. Im Dunkeln war sie sofort kindlich eingeschlafen.

»Ich habe nasse Füße«, sagte sie gekränkt.

Über eine leiterartige Stiege gelangten sie auf einen Flur aus Brettern, die sich bogen. Das Zimmer war voll vom feuchten Duft des weiten, schwarzen Landes. Wie Lola sich aus dem Fenster lehnte, geschah in ihrer Nähe ein Poltern wie von Pferdehufen auf Holz, und da tauchte der Kopf des Tieres in den Schein ihrer Kerze. Ein alter Herr ritt eine flache hölzerne Brücke hinauf, bis vor eine Tür im ersten Stock. Er stieg ab, und das Pferd ward vom Knecht gewendet und hinabgeführt.

Mai rief, durch die Spalten der Holzwand hindurch, nach Lola. Mai wußte nicht, wo sie ihre Toilettengegenstände ausbreiten sollte. Wenn die Koffer kämen, wohin dann mit den Kleidern. Dieser Schrank sei lächerlich.

»Er ist schön geschnitzt und bemalt. Er ist alt, weißt du.«

»Diese Fremden sind genügsam, daß sie sich mit alten Sachen begnügen.«

Mai gebrauchte noch immer ihren heimischen, verachtungsschweren Ausdruck für die »Fremden« und meinte damit alle Europäer.

»Wenn man sich anzieht wie sie, die Dienstmädchen gleichen, genügt wohl solch ein Schrank.«

Und Mai schüttelte das wacklige Möbel.

Zweimal klopfte die Magd an; endlich holte Frau Gugigl selbst sie hinunter. Um den quadratischen Ecktisch und unter der Hängelampe saßen auf den Wandbänken, auf lehnenlosen Schemeln und auf Stühlchen mit einem Herzen im Rücken schon alle beim Abendessen.

Gugigl rief ihnen entgegen: »A Gullasch ham mer.«

»Leitmotiv des Ästheten«, erläuterte Gwinner.

Frau Gugigl erlaubte Mai und Lola noch nicht, sich zu setzen; vorher mußten sie sich, aus dem Schatten heraus, darüber klarwerden, welche Farbenwerte der erhellte Kreis vertrete.

»Ist es nicht künstlerisch? die Thekla in ihrem Rot und Weiß, die Tini in ihrem Weiß und Blau, Gwinner in Creme, der Baron mit seinem angerauchten Meerschaumbart. Kinder, wie auf den Bart das Licht drauf gesetzt ist! Mein Mann hat doch einen großartigen Kopf. Arnold dient als Dämpfer. Und in dem Blumenstrauß in der Mitte wiederholt sich alles. Aber wartet, ich muß noch mit hinein!«

Sie lief auf ihren Platz; ihr Reformkleid mit Schulterhenkeln war kraft goldener Borten, die Brokat vorstellten, auf Renaissancepracht aus, und sie sah sich strahlend um.

»Wie findet ihr das? Künstlerisch, nicht?«

Mai fühlte, was man von ihr wolle, und heuchelte Entzücken. Aber sie sah nur abgetragene Kleider, die mit der Mode nichts zu tun hatten. Heimlich prüfte sie die Hände, ob sie gewaschen seien.

Die Gulaschschüssel dampfte auf dem Bauernleinen, neben der Vase aus Bauernsilber. Gugigl ruhte nicht, bis Mai aus dem Kruge getrunken hatte, der vor ihr stand. Darauf, etwas fremd, zu Arnold Acton:

»Sehen Sie? So wie Sie gibt's keinen mehr.«

»Also bitte, einen Krug.«

»Gott sei Dank!«

Gugigl lief selbst. Er beaufsichtigte, indes auch er schluckte, den anderen bei der Handlung des Trinkens. Dann, aufseufzend, unvermittelt herzlich:

»Also Freunderl, gut is! Aber 's ist schon so: mir wird bei einem Menschen erst wohl, wenn ich ein Bier mit ihm getrunken hab!«

Darauf fragte er den Baron Utting nach seinen Hunden. Der Baron hielt eine Meute. Er wohnte zur Miete in einem Bauernhaus; aber in allen Waldungen ringsum hatte er die Jagd gepachtet. Den Tag hatte er mit seinen Hunden verbracht, sie erst gefüttert, dann gemalt, und am Abend war er aufs Pferd gestiegen, um in sein Schlafzimmer zu reiten. Er war zufrieden mit seiner Leistung. Seine Tochter und Gugigl waren in ihrer Ecke ganz bei der Sache. Arnold Acton mischte sich von drüben ein: hastig, um den Augenblick nicht zu verpassen, wo sich etwas für diese Menschen Geeignetes sagen ließ. Er sagte, straff aufgerichtet, Jagdhunde seien ihm sympathisch, weil ihre Triebe in Freiheit spielten; aber er hasse die hündischen Gendarmen, die in Bauernhöfen und hinter den Staketen der Vorstädte umherstrichen, um, komme ein Fremder, ein Armer nahe, mit blutunterlaufenen Augen und wüster Stimme über die Bretter zu schnappen. Diese der Gesellschaft, dem Bestehenden dienstbar gemachten Raubtiere seien, in ihrem viehischen Fanatismus für die Rechte ihres Herrn, etwas wie das verkörperte Prinzip des Eigentums, etwas wie die Verdichtung alles Harten, Stupiden und Unmenschlichen im besitzenden Menschen. Nichts sei kläglicher und widerwärtiger als der Argwohn des Hundes gegen jeden, der seinem Herrn etwas abzunehmen komme.

»Zum Beispiel gegen den Steuereinnehmer«, sagte Gwinner gelassen und scharf.

Eine Sekunde des Stutzens – und alle lachten. Die Baronesse Thekla wühlte das Gesicht in die aufgestützte Hand; Tini sah, unter kurzen Gänseschreien, triumphierend von Gwinner zu Arnold: »Da haben Sie's!« Und Frau Gugigl drüben ließ sich, den Kopf schüttelnd, mit geöffneten Armen vornüberfallen, zum Zeichen von Arnolds Ohnmacht vor ihrem witzigen Freunde. Gwinner lächelte demütig frech und Arnold ratlos. Lola, neben ihm, begann plötzlich leise, als soufflierte sie ihm:

»Sie stellten den Hund als Gendarm, als Vertreter der gesetzlichen Ordnung hin. Der Steuereinnehmer ist dasselbe, warum sollte er ihn anbellen. Herrn Gwinners Witz war also keiner.«

Er hob die Schultern und bewegte schüchtern die Hand: sie möge es gut sein lassen. Übrigens hatte Frau Gugigl zu fühlen angefangen, daß das Gespräch eine Abwechselung brauche. Sie griff hinter sich nach einem Buch. Diese Stelle müsse unbedingt ihr Mann hören. Er kaute, und es sah aus, als kauten auch seine abstehenden Ohren an dem, was ihnen zugeführt ward. Plötzlich erklärte er, nur einen Augenblick habe er an sein Gulasch gedacht, und da habe er den Faden verloren. Frau Gugigl fand dies unkünstlerisch. Sie fand es auch unkünstlerisch, daß Arnold durch einen Bauernkopf an ein Bild erinnert ward; sie verlangte Unmittelbarkeit. Riesig künstlerisch (sie konnte nur noch »künschelrisch« sagen) war es, dass die Baronesse in ihrer Bauerntracht mit aufgestütztem Arm aß. Hoffentlich werde es hier noch recht kalt werden, dann wollten sie mit hölzernen Löffeln Fett essen, alle aus einer Schüssel. Gwinner übersetzte dies für Mai, deren Augen erschraken. Vom Gulasch aber nahm sie nochmals und reichte Gugigl, nachdem er ein wenig gebeten hatte, nochmals ihren Krug. Ihr Nachbar Gwinner gefiel ihr, es ließ sich mit ihm lachen; und immer, wenn sie etwas miteinander hatten, was Tini nicht verstand, bekam sie, zu seiner Rechten, ein angstvolles Gesicht. Sie wollte mit ihm von der Umwertung aller Werte beginnen, aber er antwortete nur scherzhaft. Arnold vermutete, in Fräulein Tini wiege der Intellekt vor, und Frau Gugigl rief ihm zu:

»Sind Sie ein schlechter Psychologe!«

Er hatte auch das Unglück, Gugigl eine Ansicht zum Malen zu empfehlen, die seine Frau unkünstlerisch fand.

»Sehen Sie! Sie haben keine Ahnung, was ein Bild ist!«

Lola stellte sich, um nicht sprechen zu müssen, als lausche sie auf des Barons Jagdgeschichte. Sie nahm es Arnold übel, daß nicht auch er schwieg. Er fragte Mai nach Leuten in Rio: er habe eine Kusine dort. »Oh, eine entfernte.«

Pünktlich fiel Gwinner ein:

»Natürlich entfernt: wenn sie in Rio ist.«

Wieder Gelächter; wieder Arnolds aus Ratlosigkeit beifällige Miene.

Nach einer Weile wagte er zu fragen:

»Macht Ihnen die hiesige Landschaft nicht Lust zum Spazierengehen?«

Lola antwortete:

»Ja. Sie erinnert mich an eine, in der ich als ganz junges Mädchen viel und ganz einsam umherging.«

Und Gwinner, unentwegt: »Ganz einsam. Also Abfuhr, mein Lieber: Ihre Begleitung ist nicht genehmigt.«

Lola sah Arnold zornig an. Warum ließ er sich einschüchtern von einem gemeinen Witzler, der in ihr Gespräch hineintappte, ohne seine Beziehungen zu verstehen? ... Er fand nichts, und sie stand auf.

Auch Frau Gugigl hatte ihren Platz verlassen, die Mandoline von der Wand gehoben und sang, ein Bein übergeschlagen, mit hoher Blechstimme Santa Lucia. Dann begleitete sie die Baronesse Thekla, die das Schmachten der vom Biergenuss erweichten Bauern nachahmte.

»Aaf da Wies schreit a Heischreck,
Aaf oamal is a stad,
Weil eam da dumm Bauer Michl
Hat an Kohpf abigmaht.«

Da Gwinner sich, unter Benutzung seiner dialektischen Gewandtheit und Schärfe, mit Gugigl über die Zugverbindungen nach München stritt, legte Tini den schweren Band, den sie feierlich herbeigetragen hatte, beiseite und lief hinaus. Sie weigerte sich, zu sagen, was sie im Regen getan habe, und setzte sich vor ein Blatt Papier. Sie wolle Namen sammeln, die auf l endeten, und vorher müsse g oder p kommen oder so; und sie schrieb »Gugigl« hin. Der Baron Utting sollte ihr helfen, mehr zu finden, aber auch ihm fielen keine ein. Statt dessen hängte er in seine buschigen Brauen Brotkrumen, die trotz Kopfschütteln nicht herausfielen, was Tini sehr erheiterte und auch Mai.

Lola führte mit der Baronesse Thekla ein Gespräch über Rom, woran Arnold teilnahm. Die Baronesse hatte zuerst ein ahnungsloses Madl vorstellen wollen, das einmal »zu die Welschen« verschlagen worden war, Fabeln daher mitgebracht hatte, alles verwechselte und die Namen falsch aussprach. Allmählich kam sie von ihrer Rolle ab und gab sich gescheit und dem Schönen offen, wie sie war. Ihr Vater, erzählte sie, hatte sie damals in seine Leidenschaft für Italien hineingezogen, wo sie Verwandte hatten; dann war ihm eine andere gekommen, die für die Kunst seines französischen Koches. Und seit diese zweite Passion ihn fast das Leben gekostet hätte, ergab er sich der jetzigen, einer höchst merkwürdigen ... Getrappel entstand. In der Tür erschien ein Pferdekopf, und Baron Utting verabschiedete sich höflich von jedem, ehe er aufsaß und zum Hause hinausritt. Gleich darauf polterte es nochmals, er ritt über die Brücke zu seinem Schlafzimmer.

Tini kauerte wieder fruchtlos vor ihrem Papier. Gwinner forderte sie auf, irgend etwas daraufzuschreiben, und legte ihren Charakter in ihrer Schrift bloß. Sie sei eine zärtliche, suchende Natur; sie habe eine Liebe, die Vorsicht heische – eine glückliche, eine unglückliche, es sei noch nicht deutlich zu ersehen. Frau Gugigl musterte sie unruhig. Da Lola ablehnte, kam sie selbst daran. Sie war eine sehr grade, wahre und freie Seele. Daß der erste Bogen beim M viel höher war als die beiden anderen, bekundete berechtigtes Selbstbewußtsein. Eine geheime Leidenschaft war zu erkennen ... Frau Gugigl saß, indes Gwinner über sie gebeugt an ihr herumrätselte, ganz zusammengerollt, hatte weichere Bewegungen und schien zu schnurren. Ihr Mann klagte, daß ihm nach der Mehlspeise das Bier nicht mehr schmecke; er müsse einen Käs haben. Die moderne Frau sei frei, aber sie bekümmere sich um solche Dinge aus künstlerischem Gewissen. Ob in der Handschrift seiner Frau das künstlerische Gewissen nicht besonders zur Geltung komme. Gwinner bestätigte es zwinkernd, und Frau Gugigl holte den Käse.

Inzwischen verlangte Mai, daß Gwinner ihr wahrsage, und hielt ihm ihre kleine unschuldige und schicksallose Hand hin. Er ergoß ironische Schmeicheleien über sie, und sie kicherte vor Freude. Als es ihm einfiel, ihr sehr viel Geld zu verheißen, schrie sie auf. Dann lief sie zu Lola.

»Laß dir auch wahrsagen! ... Warum denn nicht?«

Mai war mit ihrer neuen Umgehung versöhnt. Alles regte sie an: die sonderbaren Gesänge; der komische alte Herr mit den Krumen in den Brauen, der aus dem Zimmer ritt; die vielen Scherze, das viele Hinundher; das unglaubliche Essen und dieses Bier, das schließlich nicht so übel war; die phantastischen, gutgelaunten Menschen, die wohl zu ihren Ehren etwas aufführten, im Lichtkreis dieses bizarren Raumes, in dessen Schatten Heiligenbilder mit unbegreiflichen, noch nassen, Klecksereien wechselten, unter dessen Decke Tabaksqualm hinzog und zu dessen engen Fenstern der Garten feucht und kühl hereinduftete. Mai lugte aus der Tür. Tini schoß an ihr vorbei, in den Regen, zum Briefkasten. Mit leeren Händen, aber nicht trauriger als vorher, kehrte sie zurück. Da wagte sich auch Mai auf die Veranda, hörte erstaunt das weite, regnerische Dunkel rauschen und hinter sich das bunte Gejauchze – und lief, mit plötzlicher Lust, in die Hände zu klatschen, entzückt von Abenteuerstimmung, wieder hinein.

»Sieh nur!« flüsterte sie Lola zu. »Sind sie schlecht angezogen, und dabei so unterhaltend!«

Lola unterhielt sich wenig. Alles erschien ihr anspruchsvoll, gemacht und ärmlich. Sie wünschte sich aus dieser geschminkten Bauernstube nach dem Café in Barcelona, zu der Gelida, Da Silva und dem natürlichen Pathos des Dichters, der Verse sprach. Gwinners Witze klangen daneben hektisch. Frau Gugigl machte ihr Scham: sie hatte die Vordringlichkeit einer kürzlich Freigelassenen, und die Männer sahen ihr zu wie einem Spielzeug, das allein durchs Zimmer laufen durfte.

Gwinner hatte auch in Tinis Hand die Zeichen gedeutet und ersuchte Arnold um die seine. Sie lag auf dem Tischrand; Arnold selbst betrachtete sie unschlüssig, und auch Lola sah sie an. Sie strafte die mühsam angespannte Haltung seines Körpers Lügen. Sie war weich, leidend; die geschwollenen Adern machten sie molluskenhaft und charakterlos ... Arnold gab sie hin. Gwinner suchte mit einem vieldeutigen Lächeln in ihren Linien umher, wendete sie, blinzelte über sie weg Frau Gugigl zu.

»Bei Ihnen steht noch gar nichts fest. Alles unentwickelt. Sie sind noch sehr jung. So jung!« Gerührt und höhnisch. »Wie alt sind Sie denn?«

Lola horchte auf. Wahrhaftig, er antwortete.

»Zweiunddreißig.«

»In Wirklichkeit sind Sie viel jünger.« Und mit ruhiger Geringschätzung ließ Gwinner die Hand fahren. Arnold lachte mit, mußte Tinis verachtenden Augen ausweichen, sagte ein paar matte Worte und setzte sich in den Schatten.

Gugigl entdeckte in der Zeitung, daß ein alter, berühmter Maler seine Frau verloren habe. Die Baronesse Thekla wußte, daß die Gatten schlecht miteinander gestanden hatten, und sogleich warf Gwinner sich aufs Parodieren der Traueranzeige.

»Mit dem Tode meiner Frau trifft mich kein Schlag – nur sie hat er getroffen ... Oder: Der Tod meiner lieben Frau ist ein Schmerz für mich, aber ein unverhoffter ... Oder: Gott dem Allmächtigen hat es gefallen, durch den Tod meiner lieben Frau mich von langem Leiden zu erlösen ...«

Dies ging mühelos so weiter. Gwinner wanderte, die Hände in den Taschen, durchs Zimmer, und aus seinem runden Kopf, den er mit Vorsicht zwischen den hohen Schultern trug, kamen die Witze fast gleichzeitig wie Kücken aus den Eiern. Der ganze Hühnerhof begackerte sie. Die Baronesse Thekla hielt sich die Seiten, Frau Gugigl schluchzte auf dem Tisch, Tini klatschte in die Hände vor Glück und Stolz, und Mai, die kein Wort verstand, jubelte noch lauter.

Lola und Arnold lachten beklommen mit. Da trafen sich ihre Blicke; sie bekamen auf einmal ernste, erschöpfte Gesichter und rückten, beide im selben Augenblick, einander näher. Er wies unbestimmt in den hellen Kreis, den Gwinner, herumwandernd, mit Witzen anfüllte.

»Wie finden Sie das?« fragte er befangen. Sie erwiderte, halb lächelnd:

»Künstlerisch.«

»Ich verliere manchmal ganz den Mut, noch in Gesellschaft zu gehen.«

Sie fand, er sage ihr schon wieder mehr, als ihr zukomme, und begriff: jene erste Beichte im Dunkeln sei schuld daran. Ihr war befangen, weil sie sich diesem Fremden verbunden fühlte, und ohne Willen kam ihr der Ton kameradschaftlichen Ärgers.

»Warum sind Sie da? Soviel ich sehe, passen Sie gar nicht hierher.«

»Ich weiß, und ich hänge so sehr davon ab, wie man mir gesinnt ist. Es ist krankhaft, es ist kindisch ... Aber im äußeren Leben kommt so vieles zufällig. Ich behandle es nachlässig.«

Sie nickte, als erinnerte sie sich. Dann:

»Mehrmals habe ich mich doch für Sie geärgert.«

»Zum Beispiel hätte ich die Hand nicht geben sollen ...«

Lola mußte sie ansehen. Sie sah nicht mehr weichlich aus; ihre Adern hatten sich entleert, und sie schien fester und nerviger.

»Aber ich schäme mich in solchen Augenblicken ein wenig – und das verhindert die Geistesgegenwart –, schäme mich für mich und auch für den, der seine dumme Herrschsucht an mir auslassen mag ... Dabei glaubt dieser Herr sehr geistreich zu sein.«

»O sehr«, und sie horchte flüchtig auf das Gelächter, das Gwinner unterhielt.

»Fällt Ihnen aber gar nicht ein, daß Sie die Hand aufheben könnten?« sagte sie, mit einer Wallung von Zorn.

Er antwortete: »Nachher manchmal, ja. Doch möchte ich's im Grunde nicht getan haben. Die Gebärde dessen, der schlägt, kann ich nicht umhin, ein wenig grotesk zu finden. Zuviel Selbstbehauptung. Wer die Dinge überblickt, regt sich nicht so stark und legt sich selbst nicht soviel Recht bei.«

»Ach! ...«

Sie setzte mehrmals an; hiermit mußte sie erst fertig werden. Und inzwischen sah sie ihn dasitzen, schon wieder so zusammengesunken, wie er wohl auch im Dunkeln neben ihr gesessen hatte, die breiten, flachen Schläfen vorgeneigt und das schwache Untergesicht von ihnen beschattet – und in dieser spannungslosen Haltung viel sicherer, viel edler, sichtlich viel mehr er selbst, als wenn er sich krampfhaft zu kriegerischen Mienen nötigte, die jeder durchschaute, deren jeder spottete ... Seine Haltung war's, die ihr Verständnis für seine Worte gab, Mitempfinden seiner Worte.

»Das ist enthaltsam – rein, wenn Sie wollen. Aber ist es nicht widermenschlich?«

»Wider den herkömmlichen Menschen, wohl.«

»Und Sie waren immer so? Sie haben wirklich als Knabe keinen Frosch gequält?«

»Natürlich habe ich. Aber die Nerven werden schwächer, und man kommt zur Güte.«

»Oh! Der Gütige wäre immer ein Schwacher?«

»Da nur Schwäche Geist hervorbringt und Güte von Erkenntnis abhängt ...«

Lola erinnerte sich ihrer selbst.

»Ich weiß, daß, wer ohnmächtig und unglücklich ist, auch mißtrauisch wird und boshaft.«

»Viel schlimmer noch als unsere Ohnmacht ist's, wenn wir zufällig zur Macht gelangen. Der Schwache kommt dann in Gefahr, die Herrschaft über seine Nerven zu verlieren; die abscheulichsten Triebe des primitiven Menschen werden wieder in ihm herauf dürfen. Denken Sie an die neurasthenischen Könige von jetzt, an ihre Rückfälle in blöde Tyrannei, an ihre Sucht, wehrloses Wild niederzuknallen, an ihre Gier nach dem kriegerischen Gepränge der Starken ... Kein Mensch kann verächtlicher sein als solch ein Schwacher, der den Geist und die Menschlichkeit, für die er ausgestattet und denen er verpflichtet wäre, verleugnet und sich zu den Starken und Rohen schlägt.«

»Sie sind Fanatiker.« – Und Lola war froh, daß sie lächeln durfte.

»Meinen Sie, daß Frau Gugigl glücklich ist?« fragte sie.

Er sah erstaunt auf.

»Wie wäre sie's nicht? Vor allem denkt sie niemals.«

»Das wohl.«

»Und dann tut sie mit ihrem Mann, was sie will.«

Lola lächelte nochmals.

»Mir scheint, vielmehr erreicht er mit ihr, was er will. Und das sehen auch andere.«

»Bin ich ein so schlechter Beobachter?«

Sie schwieg ein wenig. Dann:

»Von allen Frauen, die ich kenne, haben es die deutschen am schwersten. Frau Gugigls Übermut und Selbsttäuschung ändert nichts. Sie sind noch immer rechtlos und müssen dabei arbeiten. Verdient nicht meine Kusine für den Haushalt, den sie besorgt? Immer noch lieber in Brasilien verheiratet sein. Auch dort ist man Untertanin; aber man liegt in der Hängematte, wird vom Mann und Herrn bedient, und nach dem Gesetz gehört die Hälfte von allem, was er einnimmt, seiner Frau.«

»Wo ist das?« fragte Frau Gugigl und setzte sich zu ihnen. Als sie's erfahren hatte, fand sie die Brasilianerin riesig künstlerisch. Arnold, Hals über Kopf, als gälte es, nur etwas zu sagen:

»Vielleicht hört die Frau auf, Künstlerin zu sein, sobald sie eine Kunst ausübt.«

»Ich singe«, sagte Lola lächelnd. Frau Gugigl lachte wild.

»Er ist schon eine herrliche Einrichtung!«

»Verzeihung«, und seine nervige Haltung täuschte niemand über seine Befangenheit, »ich wollte sagen: die Frau verzichtet schwer auf das Leben – und das muß der Künstler.«

»Daher die Künstlerredouten«, schob Gwinner ein. Frau Gugigl stieß den Arm vor.

»Sehen Sie?«

Arnold schien mit der Schulter eine Fliege zu vertreiben.

»Muß in Abgeschiedenheit mit sich selbst zu Ende kommen, seine Gefühle auf Gipfel treiben und überblicken, seine Instinkte ausnützen: den Mut zu ihnen haben, grade zu den schlechtesten.«

»War net übel«, erklärte Gugigl. »Wir sind anständige Leut, möcht ich fein bitten.«

»Sie sind doch überhaupt nicht Künstler«, bemerkte seine Frau.

»Ziehen Sie sich keine Beleidigung von Seiten der Künstlergenossenschaft zu«, warnte Gwinner. »Sie ist eine Macht.«

»Hier kennen wir nur eine Macht: Ihren Witz«, sagte Lola und stand auf. »Besonders um halb zwölf, wenn wir müde sind.«

Gwinner spreizte, wie um Gnade, die Hände aus, indes sein Gesicht von demütiger Eitelkeit glänzte. Man trennte sich. Lola sagte zu Arnold:

»Wir sind abgelenkt, aber morgen möchte ich Sie noch etwas fragen.«

 

Als Mai endlich auf einem Bügeltisch ihre Nickelflaschen und das übrige für die Toilette hatte ausbreiten können, war es nach neun, und Lola ließ sie allein. Aus der Küche kam ungewohnt scharf Frau Gugigls Stimme. Dann zeigte sie selbst sich, ohne zu laufen, wie gestern, wo sie keinen langsamen Schritt getan hatte: ganz ohne Ausgelassenheit und Leichtigkeit, mit lockeren, etwas staubigen Haaren, in die Länge gezogenem Gesicht, spitzerer Nase und in einer alten Matrosenbluse, an der auch sie selbst kaum etwas Künstlerisches entdeckt hätte. Sie rief ein recht lautes »Grüß Gott!«, versuchte, indes sie Lola das Frühstück vorsetzte, hochgemut draufloszuschwatzen, von den andern, die alle schon draußen seien, bis auf Arnold natürlich – und zog sich, im Augenblick, wo sie den sorglosen Ton schlechterdings nicht mehr halten konnte, mit einem Gelächter über sich und ihre Pflichten, in die Küche zurück.

Kurz darauf trat Arnold durch die innere Tür. Lola konnte noch bemerken, daß er die trübe, aber gefestete Miene getragen hatte, unter der er wohl mit sich allein war. Sobald er jemand gewahrte, ward sie erschüttert. Man sah, er sei nicht mehr frei. Er streckte die Hand aus und zog sie fluchtartig wieder zurück; sprach vom Wetter, von den schlechten Bauernbetten; unterstützte, als Lola sie erwähnte, Mais Beschwerde über den Mangel an Bequemlichkeit; tat es mit unvermittelter Heftigkeit und vertrat Forderungen an das Landleben, die er sichtlich nur als Gesprächsstoff zusammensuchte. Wie Lola ihm nicht half, ging er peinvoll umher, blieb vor Bildern stehen, überflog verstohlen den Tisch.

»Ich werde meiner Kusine sagen, daß Sie frühstücken möchten.«

»Bitte, lassen Sie's. Ich verspäte mich zu häufig. Nein, bitte, das Brot und der Honig genügen mir. Ich bitte im Ernst; es würde mich in Verlegenheit setzen ...«

Es schien ihr, er habe vor allem die größte Abneigung gegen ein Zusammentreffen mit Frau Gugigl.

»Nicht wahr?« sagte sie lachend, »am Morgen nimmt man es einander manchmal gradezu übel, wenn man sich begegnet.«

»Gott sei Dank: Sie kennen es! Ich habe Sie also nur noch allein zu lassen.«

»Aber nicht um meinetwillen.«

»Auch meinetwegen nicht«, – dankbar und fast stürmisch.

»Nun, dann bleiben wir beide da ... Wenn Sie rauchen wollen –«

»Nein. Übrigens – nicht nur des Morgens fühle ich mich hier ungemütlich.«

»Dann rauche ich allein. Aber Sie sind schon eine Zeitlang hier?« – und sie belächelte seinen Ausbruch von Vertrauen.

»Ich will Ihnen sagen: es ist wohl gleich, wo man sich aufhält, wenn man doch immer dieselbe Rolle spielt ...«

Er lachte ihr kurz zu, als seien sie schon im Einverständnis.

»Sie haben's ja gestern gesehen ... Wollte man sich zurückziehen, würde man die andern im Bewußtsein ihrer Gutmütigkeit und Herzlichkeit empören und hätte dann auch ihnen die Gemütlichkeit verdorben, die man selbst nicht kennt. Das verdienen sie nicht.«

»Die Sonne kommt heraus; wollen wir in den Garten gehen?«

»Gut ... Gehen wir den Weg rechts?«

»Er ist im Schatten.«

»Aber links: sehen Sie, in der Eiche, auf dem Boden, den er hineingelegt hat, sitzt der alte Baron.«

»Ach! Ich sehe nur Rauch aus dem Laub steigen. Also, wenn Sie wollen, weichen wir aus – in den Schatten ... Was heißt das: Sie kennen keine Gemütlichkeit. Seit wann?«

»Seit zwanzig Jahren; seit ich mich beobachte. Verstehen Sie nicht? Man sieht sich ganz klar; wie einen das Leben auch anfasse, man kennt vorher den Platz, wo es schmerzen wird; wie andere Geister, andere Herzen uns prüfen mögen, man ist unterrichtet, das eine geht, das andere nicht. Die Figuren, die uns begegnen, erinnern uns an früher gekannte vom selben Typus, und man weiß, was sie in uns anregen werden. Man weiß, was man selbst vorbringen, womit man zurückhalten, welche Mienen man ringsum bewirken wird. Man empfindet sich nur noch als abgenutzte Gliederpuppe. Man erscheint sich als ein gealterter Weinreisender, der noch immer an allen Gasthoftischen dieselbe Anekdote zum besten gibt. Er kann's, trotz schlechtem Gewissen, nicht lassen.«

»Das ist schrecklich – wenn man es bedenkt.«

»Was zum Glück fast niemand tut. Sie kennen sich nicht, vergessen, was ihnen gestern geschah, und sind sich täglich neu. Sie kommen, so oft ihr Stichwort fällt, vergnügt mit all dem bißchen heraus, was sie sind. Sie werden nicht von der unablässigen Empfindung aufgerieben, daß jedes Wort, das sie sagen können, ihnen vorgeschrieben ist. Sie halten sich für frei und veränderlich, kennen weder den Zwang noch die Verantwortlichkeit des Eigenen und nehmen es darum nicht genau, mit sich nicht und mit den andern nicht. Das viele Unbewußte in ihnen, das viele Dumpfe hüllt sie alle in den Dunst des Gemüts und der Gemütlichkeit, in dem wir Klareren es nicht aushalten. Wir stehen allein und mit grellen Umrissen.«

Lola antwortete nicht. Sie streiften an die Wände eines nassen Laubganges; der Weg roch nach faulendem Laub – und Lola bedachte, solch einen Weg, dessen Herbstgeruch nie aufgetrocknet werde, gehe ihr Leben. Jeder Sommer enthalte den Sterbeduft des letzten; bei jeder neuen Liebe werde sie des Verlaufs der vorigen gedenken. Sie wisse die nächste voraus, kenne die Brauen, den Mund, das Blut, vor dem sie schwach sei, die Rache, die sie üben, und die Leiden, aus denen sie sich retten werde. Nun gehe sie hier umher und warte ...

›Aber könnte es nicht anders kommen? Wieviel hat eigentlich gefehlt, damit es das letztemal anders kam?‹

»Halten Sie mich für leidenschaftlich?« fragte sie plötzlich.

Er sah sie an. Sie hatten die Laube hinter sich und standen, drei Erdstufen höher, auf einer bäurischen Altane, beide aus fliehenden Wolken von zuckendem Licht ergriffen. Eben noch hatte es sie berührt, und schon hob es in ungewisser Ferne eine Schar von Schnittern aus dem Grau des Bodens. Da und dort entsprangen bunte Hügel dem Land und versanken, glänzte eine Sense auf und erlosch, rauschte über einen Wald das Licht hin und ließ ihn in stummem Schatten. Aber wie aus Sonne, Wind und Weite entrückt, sahen sie einander an. Lola empfand in Hast, daß sie noch auf keines Mannes Worte so gespannt gewesen sei. Er aber, viel zu erfüllt von sich selbst, um zu begreifen, daß eine Frau ihn frage:

»Leidenschaft? Sie ist der Wille zu uns selbst. Sie treibt uns, ein Etwas, das unsere Sache ist, aus unserem Blute kommt, gegen die Welt zu behaupten: eine Idee, ein Schicksal oder eine Kunst ...«

»Ach ja«, – mit einem spöttischen Seufzer; »ich singe. Ganz im Ernst. Oder habe doch gesungen. Jahrelang bin ich einer alten Italienerin nachgereist, die einzig noch die gute Schule hatte. Jetzt habe ich sie verloren und bin ratlos.«

»So fühlen Sie italienisch?«

»Nein. Warum? Es handelte sich um die Stimmbildung. Aber ich sang auch deutsch ... Ich kann nämlich, da ich beide Rassen in mir habe, die germanische und die lateinische, mit beiden fühlen – wenigstens ungefähr ... Nun ja, das Ungefähr muß genügen. Zwar – Sie sagten vorhin, Sie kennten keine rechte Gemütlichkeit? Das geht wohl auch mir so. Wo ich mich hin –«

Sie verschluckte das »hingeben«.

»Wo ich mich gehen lassen möchte, muß ich Kritik üben. Das Temperament meiner mütterlichen Rasse schätze ich, wenn ich in Deutschland bin. Bei jenen aber sehne ich mich oft nach der deutschen Tiefe.«

»Das heißt, daß Sie ein wenig allein sind?«

Er nickte, schmerzlich und befriedigt, wie jemand nickt, wenn sein Kerker sich öffnet und ein Leidensgefährte eintritt.

»Oh! Wenn ich erst singe, wird man mich verstehen, im Norden und im Süden.«

»Ich kann Ihnen mitteilen, daß Kunst sehr einsam macht.«

»Das hoffe ich nicht. Ich möchte eine Menge Anhänger und Verehrer haben.«

»Die nicht ahnen werden, wem sie anhängen und was sie verehren ... Waren Sie einmal dabei, wie auf einer Varietébühne eine Frau in der Tracht ihres weitentfernten Landes ihre heimischen Tänze tanzte, und mit fremdartigen Ausrufen sich selbst anfeuerte? Man klatscht, weil sie schön ist und ihre Röcke aufflattern läßt. Weiter versteht man nichts von ihr. Ihr Auftreten und ihre Bewegungen geschehen nach Antrieben und Regeln, die siebenhundert Meilen weit wegliegen; geschehen unerbittlich und in völliger Einsamkeit ... Ganz oben, werden Sie vielleicht erfahren, ergeht es dem Künstler wieder so, wie dort ganz unten. Ja, seine Heimat liegt noch viel weiter fort von den Hörern: in seinen Gesichten, seinen Klängen, in Ländern, denen nur innere Sonnen scheinen ...«

»Sehen Sie doch! Was macht denn der alte Baron? Jetzt legt er eine Leiter von seinem Baum auf den nächsten und rutscht hinüber ... Er steigt höher; sind denn überall Treppen zwischen den Ästen, und schiebt die Leiter einen weiter? Himmel! Fast wäre er gefallen: er hängt am Ast wie ein Affe ... Die Tini lacht ihn aus. Was will sie denn, ganz heißgelaufen? Ah, an den Briefkasten. Nichts drin: auch gut. Schon ist sie fort, und Baron Utting steckt wieder tief im Laub ...«

»Ich weiß nicht, ob ich bitten darf ... Man darf darum nicht leichthin bitten ... Möchten Sie nicht singen?«

»Mit Freuden! Hätten Sie mich nicht aufgefordert, würde ich's von selbst getan haben. Gehen wir? Wie jetzt der Garten voll Sonne ist!«

Sie streckte sich und tat ein paar tiefe Atemzüge aus der wilden, klingenden Luft, die über all dies Land und bis in ihre Brust stürmte, wie die Freiheit selbst. Sie würde der Freiheit froh werden, kraft ihres Gesanges; würde über allen Ärmlichkeiten schweben und singend selbst den Menschen die Lust der klingenden Weiten eingießen, wie ihr der Wind. Was vermochte alles andere? Was meinte dieser Traurige? Seine Enttäuschung war ihr ein Stachel mehr, – wie bei denen, die sich einer Menge vorführen, der Erfolg des einen erhöht wird durch des andern Unglück. Die Frau, von der er gesprochen hatte, die in klirrender Tracht über eine Bühne tollte! Jawohl, solch einen Rhythmus fühlte jetzt Lola in sich. Kunst und Leben, beides im Triumph! Kunst und Feste!

Sie kam ins Laufen, rief laufend ins Haus:

»Mai!«

Mai wagte sich nicht in den Wind hinaus. Sie hatte das Wettermännchen von der Wand gehoben und es kaputt gemacht, hatte immer noch einmal vom Honig geschleckt, am Fenster ein wenig geseufzt und von neuem mit der Schleppe ihres Morgenkleides den Staub aus den Ecken gefegt.

»Ja, ich werde dich begleiten; und Sie, mein Herr, werden sehen, was für eine Künstlerin sie ist!«

Sie kletterten über die Stiege. In dem niedrigen Saal fanden sie, von Büchergestellen umgeben, den alten braunen Stutzflügel; Lola lachte nur über sein Geklapper, das Mai entsetzte; und sie sang. Sie sang, als flöge sie einen Berg hinauf, so daß die Lungen frisch, die Füße munter und unbestaubt bleiben. Beim letzten Aufschrei ging sie ganz in einem Schauer unter und stand noch von Glück verwirrt da, indes Mai entzückt darauf losschwatzte. Alle diese Dissonanzen, und dies plötzliche Fallen: oh, das sei äußerst modern und komme aus Paris. Was der Herr nun sage! Was er nun sage! Mai begriff nicht, warum er nicht jubele ... Er war verlegen aus Furcht vor nichtssagenden Übertreibungen.

»Sehr gut – soviel ich verstehe. Und Ihr Alt: ich darf sagen, ich hörte nie dergleichen.«

Lola wandte sich erregt um.

»Ich wußte, daß ich heute etwas können würde! Wenn ich gut singen werde, weiß ich's schon früh beim Erwachen, ehe ich einen Ton von mir gegeben habe.«

Und mit Ungeduld:

»Jetzt, Mai, das von Gluck!«

Arnold wechselte den Platz, um diese tiefen, starken und weichen Klänge ihren Lippen entrollen zu sehen: er hätte es sonst nicht geglaubt. Das Rot dieser Lippen verschärfte sich in dem erblaßten Gesicht und beim fiebrigen Licht der Augen. Das Gesicht schien ein Lächeln der Pein zu tragen unter der Gewalt der heraufquellenden, mühsam gedämmten, mit Kunst entsandten Töne. Eine Hand fingerte angstvoll auf der Brust. Diese weiße kleine Gestalt, die im Rahmen des Fensters verschwamm, sich unter dem Geflimmer einer blonden Haarwolke in das Mittagslicht auflöste, sie dünkte ihm zu schwach für die Gewalten, denen sie sich zum Gefäß gab.

Da brach Lola ab.

»Nicht den Lauf! Mein Gott, was willst du immer mit dem Lauf? Fühlst du denn gar nicht, daß solche Kleinigkeiten in dieser Musik nicht Platz haben?«

»Ich will es nicht wieder tun«, bat Mai. »Sei gut, fang von vorn an. Es war so schön. Nicht wahr, mein Herr, es war schön?«

Arnold wagte nicht zu sprechen. Er sah die Sängerin in Verzweiflung einige Schritte tun, sich mühsam fassen ... Sie trat nochmals neben das Instrument, begann nochmals; wandte sich aber, wie Hilfe suchend, hin und her – und plötzlich warf sie die Noten durcheinander.

»Aus! Die Stimme zittert wieder. Da haben wir's.«

»Aber Kind! Nicht die Spur!«

»Du hörst es ganz gut! Von Anfang an hat sie gezittert: ich wollte es bloß nicht merken.«

»Es ging so gut« jammerte Mai; und zu Arnold, zornig, weil er ihr nicht half:

»Ging es etwa nicht gut?«

»Soviel ich hören konnte –«

»Es war schon fast Tremolieren! Die Branzilla hatte mich doch genug gehunzt, bis die Stimme wieder fest war. Und vorn im Munde muß sie liegen. Jetzt ist sie wieder in den Hals gerutscht, wie bei allen andern.«

»Sie ist nervös, mein Herr!« und Mai rang die Hände. »Das kommt immer ganz plötzlich; aber darum hat ihr doch der berühmte Lamare die größte Zukunft prophezeit.«

Sie schloß Lola in die Arme und flüsterte:

»Dieser steife Mensch geht dir auf die Nerven. Es ist unerträglich, einen Stock zum Zuhörer zu haben.«

Lola machte sich heftig los; sie ging zum Fenster. Arnold trat hinter sie; er schluckte hinunter und sagte:

»Ihre Stimme war so weich, daß ich's kaum begriff.«

»Warum sagen Sie nicht, daß sie hart war?« – und sie schüttelte die Schultern. »Nun sind es zwei Monate, daß ich keine Stunden mehr nehme, und schon ist alles dahin.«

Er erwiderte nichts. Sie starrte hinaus; sie sah den alten Baron aus dem letzten Baum der Allee eine Leiter hinabsteigen, sich von einer der Sprossen auf sein Pferd schwingen und auf das Haus zureiten.

»Was macht er nur?« fragte sie gereizt. Arnold murmelte:

»Er hat die Sucht, niemals den Erdboden zu berühren.«

Die hölzerne Brücke zu des Alten Schlafzimmer erdröhnte unter den Hufen. Lola fühlte sich unheimlich, wie ausgestoßen in eine harte Ausnahmewelt. Sie meinte, der Tag habe sich verdüstert. Tini stürzte schon wieder, rot, mit lockeren Gliedmaßen, zur Pforte herein und an den Briefkasten. Noch immer nichts: aber das tat nichts; schon war sie von dannen. ›Oh, all die unüberlegten Hoffnungen!‹ dachte Lola. ›Man kennt sie selbst nicht. Leuchtet man ihnen aber ins Gesicht, sind sie tot.‹ Hatte sie mit ihrem Gesang nicht Herzen werben wollen: ohne zu verstehen, was sie wollte? In Herzen Liebe entdecken und in einem Stück Erde eine Heimat; mit ihrer Stimme, wie mit einer Wünschelrute? ... Nun war die Rute zerbrochen. Und wäre sie's nicht gewesen, sie hätte doch niemals Zauber gewirkt.

»Man ist grauenhaft allein«, sagte sie vor sich hin.

Nach einer Weile setzte er hinzu:

»Und möchte doch mit keinem derer tauschen, die beisammen sind.«

Lola stutzte – und erstaunt bemerkte sie, daß sie nicht Tini hätte sein wollen. Sie suchte unter bekannten Menschen und fand, wie einen feierlichen Trost, daß sie um keines anderen Schicksals willen das ihre hätte abdanken wollen. Eine Erkenntnis kam ihr.

›Sie hatten recht, daß Leidenschaft und Schicksal zusammenhängen – oder was Sie da sagten: es war richtig.‹

 

Er verließ sie; sie sah ihn ins Feld hinausgehen. Sie blätterte in Büchern. Mai überlegte laut, und sank dabei von einem Sessel in den andern, wie viel amüsanter es jetzt bei der Grimani gewesen wäre.

Vor dem Mittagessen fand Lola in ihrem Zimmer einen Strauß Feldblumen. Sie vermutete, sie seien von Arnold; aber er ließ sich nichts merken. ›Das sieht ihm ähnlich‹, dachte sie. Dann zog er sich zurück, um zu lesen. Alle andern blieben bei Tisch, bis es Zeit war, einen Freund Gugigls von der Bahn zu holen, einen Fabrikanten, breit und gewöhnlich und für niemand von Wichtigkeit.

Tini hielt sich zu Lola. Sie zeigte ihr, den Arm um Lolas Schultern, ihre Ansichtskarten, stellte Fragen und begeisterte sich. Jedes dieser kleinen viereckigen Papierstücke trachtete Tini mit Hilfe derer, die alles schon kannte, zu einem Stück Welt umzuwandeln, die dargestellte Straße zu verlängern, die Menschen vor den Häusern in Bewegung zu setzen.

»Du mußt doch welche kennen von denen, die mit drauf sind!«

»Weißt du, daß man auf Reisen eigentlich wenige gut kennenlernt und die meisten wieder vergißt? Du hast sicher mehr Freunde als ich.«

»Nein, bloß eine Freundin.«

»Aber du siehst oft nach, ob Briefe da sind.«

»Ich?« – und Tini ward rot. »Nun ja, du darfst es gern wissen. Ich hoffe immer –. Es gibt doch Millionen Menschen. Wer weiß, wie mancher einen mal gesehen hat und denkt noch an einen. Es kann ja irgend etwas geschehen; so viele Dinge kommen vor; und zum letzten Neujahr habe ich eine Schachtel Konfekt bekommen und habe nie herausgekriegt, von wem. Ist dir das auch einmal passiert?«

»Nein.«

»Glaubst du nicht, daß man ein Glück haben kann, an das man gar nicht gedacht hat?«

Da Lola zögerte, antwortete Gwinner:

»Wer ein Los hat, sieht gewöhnlich in jeder Ziehungsliste nach.«

Überrascht sah Lola auf; aber sie stellte fest, es sei wieder nur ein Witz gewesen. Tini lachte dankbar; dann, ernst, mit Hingebung:

»Aber von dir, Lola, glaube ich sicher, daß du noch mal ein großes Glück haben wirst, und du weißt es gar nicht.«

 

Alle begleiteten den Baron Utting, als er am Abend aus dem Zimmer ritt. Arnold und Lola sahen erstaunt den Laubgang hinunter, an dessen Ende sie heute morgen im Winde gestanden hatten, auf weichem Boden, der faul duftete. Jetzt zogen sich über düstere Erzwände Rinnsale von Mondlicht und flossen auf dem Grunde zu weißen Lachen zusammen.

»Das ist ja riesig künstlerisch!« rief Frau Gugigl. »Wißt ihr was? Wir machen einen Mondscheinspaziergang. Holt eure Mäntel, gelt? ... Benno!«

Sie flüsterte ihrem Mann etwas zu, stürzte, die Augen aufgerissen von ihrem Geheimnis, hin und her:

»Kinder, es gibt eine Überraschung!«

Wie die Pforte aufs Feld hinaus aufging, standen alle still: so fremd und einschüchternd fanden sie das Land, das auf makellose Welten erhoben, in geschmolzenen Sternen gebadet schien. Von den Schattenhängen, glaubte man, waren die Geisterströme herabgerollt, um gegenüber dem Hügel hell emporzuschlagen, himmelan zu sprühen, sich auf entferntere Erdfalten niederzulassen, die letzten Berge in sich aufzulösen und unter bläulichen Schleiern voll namenloser Lockungen die Nacht der Unendlichkeit entgegenzuführen ...

Gwinner äußerte:

»Jetzt noch ein paar betrunkene Bauern.«

Man lachte erlöst und schritt aus: durch das schlafende Dorf, hinunter in die Talmulde. Der Weiher glänzte auf; Tini lief jubelnd hin, und angelangt, blieb sie stumm über ihn geneigt, bis die andern nachgekommen waren. Die Baronesse Thekla rundete die Hände vor dem Mund und stieß Juchzer hindurch. Lola wünschte sich einen Nachen, und Frau Gugigl verhieß, es komme noch viel schöner. Da bewegte drüben aus dem Busch hervor sich etwas Weißes: eine Gestalt in flimmerndem Mantel, den spitzen Bart kühn in der Luft und die Arme gekreuzt:

»Prost, Gugigl!« rief Gwinner. Aber seine Frau nahm es ernst.

»Er macht sich doch hoch künstlerisch! ... Geh mehr ans andere Ufer, daß du in den Schatten der Spiegelung kommst! ... Kann man jetzt nicht Furcht kriegen?«

Gugigl warf das Tuch ans Land. Mai schrie leise auf, aber dann kicherte sie, denn Gugigls Schenkel waren nach außen gekrümmt. Seine Frau bemerkte, was die Wirkung hintanhielt; sie kommandierte ihn ins tiefere Wasser. Er prustete ihr zu laut, er arbeitete sich zu sehr ab.

»Denk doch an deine Linie!« rief sie.

»Wird er jetzt nicht sagen: die Linie ist krumm?« flüsterte Lola, und Gwinner sagte es. Er forderte auch den beleibten Fabrikanten auf, seinem Freunde beizuspringen: ins Wasser zu gehen, damit es steige.

»Das wird es pflichtschuldigst tun! Wie die Papiere, wenn ich mich hineinlege!« – und der Fabrikant lachte dröhnend.

Die Baronesse Thekla saß und sah nach der Kirchturmspitze überm Hügel.

»Jetzt wenn die Bauern uns sehen täten, na war's g'fehlt«, sagte sie zu Lola.

»Warum?«

»Weil's uns derschlag'n möcht'n! Ausg'schamt muß ma sein, daß ma an Mannsbild im Bad zuschaut.«

»Ohnedies gilt Baden hier als Schande«, setzte Arnold hinzu, und Gwinner wußte von einem alten Bauern, der dem Arzt entrüstet geantwortet habe: nie sei auf seine Haut ein Tropfen Wasser gekommen.

Die Baronesse Thekla verteidigte ihre Landsleute.

»Ihr wißt wohl gar nicht, daß der Sepp beim Wurzererbauern eine ganze Masse französische Romane gelesen hat? Er kennt alles, mir war er zum Mann zu gebüldet.«

Tini, Gwinner und Frau Gugigl beschlossen, sich gleich morgen den Sepp anzusehen. Als Mai verständigt war, bekundete sie Neugier.

»Kommst du nicht auch, Lola?«

Lola öffnete den Mund, um zuzusagen; aber Arnold erklärte, er würde sich schämen, vor einen Menschen, der vielleicht kämpfe, vielleicht ein schweres Ausnahmeleben führe, hinzutreten wie vor eine Sehenswürdigkeit – und Lola sagte, verwirrt:

»Gehe, bitte, ohne mich, Mai!«

Gugigl kam heraus. Seine Frau prüfte ihn hinter ihrem erhobenen Daumen.

»Er hat doch einen großartigen Akt! Riesig künstlerisch!«

Gugigl schlug Falten mit seinem Badetuch, wie eine Schleiertänzerin, und reckte die Arme aus, wie ein Mondanbeter.

Als er fertig war, ging's weiter: an Gehöften vorbei, deren Dächer schimmerten, und Wäldern entgegen, die mitten im grellen Feld schwarz dalagen wie ein zusammengerolltes Tier, das atmete. Immer aufs neue versuchten einen blaue Pfade und machte die Leichtigkeit des Schattens, daß man durch ihn hin wie durch einen Traum ging. Tini lief zurück, wo Lola und Arnold noch verweilten, hängte sich an Lolas Arm und flüsterte ihr etwas Schwärmerisches zu. Dann sah sie, die Lippen ein wenig offen, in den großen Mond und ließ die Schritte schleppen.

Arnold sprach weiter. Wie der sich fühlen möge, für den in diesen Mondschleiern ein Geist zwischen Himmel und Erde hin und her gehe, der dies Licht als göttliche Liebe hingebreitet sehe: kurz, dem diese Nacht voller Täuschungen in Wahrheit beseelt sei. Warum, fragte Lola, solle sie täuschen. »Können wir uns von ihr nicht überreden lassen, an die Seele zu glauben? Sogleich wäre alles besser.«

Besser? Was? Wenn man endlich tot sei, nicht gründlich tot zu sein? Neue, fragwürdige Abenteuer gewärtigen zu müssen? »Der wäre mit seinem Ich verdammt zufrieden, der ihm Unsterblichkeit wünschte« ... Im Sprechen aber bemerkte er, daß er aus der Erinnerung spreche und, was er vorbringe, zu dieser Stunde nicht mehr ganz begreife. Er hörte auf, bevor er zu Ende war.

Lola dachte ihres einstigen Glaubens an die unendliche Höherentwickelung des Einzelwesens, sein Besserwerden von Stern zu Stern, – und zum erstenmal seit jenem erschütterten Lebensalter gab das Andenken an diesen Gedanken ihr mehr als mitleidige Sehnsucht: fragte sie wieder nach seiner Möglichkeit.

»Wenn wenigstens ein beseeltes All mich aufnähme! Nicht ich würde noch von mir wissen; aber vielleicht das All?«

Er hatte eine Entgegnung bereit; aber wie er den Mund öffnete, merkte er, daß sie ihn ekele: so verbraucht war sie in hundert Gesprächen, so plump blieb sie zurück hinter dem, was hier erlebt ward, von ihm und der Frau neben ihm. Er fürchtete sich, an ihren Geist zu rühren; er murmelte:

»Wir sind beschränkt; wir sehen nicht voraus, was uns bei der nächsten Wegbiegung erwartet; und doch ...«

Sie schwiegen. Dann sagten sie sich, es sei seltsam, diese Nacht klinge, während man plaudere, von Harmonien; und nun, da man anhalte und lausche, sammele sich alles zu dem einzigen Ton einer sehr sanften Flöte.

Aber auch die Gespräche hörten sie, die vor ihnen anschwollen. Der Fabrikant wendete sein weißes, dickes, plattnasiges Gesicht dem Monde zu; es war harmlos, und sein Schnurrbart bemühte sich zu drohen; und der Fabrikant verlangte den Krieg mit England. Gugigl hatte nichts dagegen, bezweifelte aber die Kriegslust der Massen. Darauf forderte der Fabrikant die Unterdrückung der Sozialdemokratie, also vor allem die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechtes und die Einführung des Klassenwahlsystems. Auch sei aus den Schulen das Lateinische und das Griechische zu entfernen, denn mit dem Humanismus werde man die falsche Humanität los sein und endlich zur zweifachen Justiz den Mut haben: einer für Weiße, einer für Schwarze, einer für die Herren, einer für die Umstürzler.

»Das ist aber abscheulich«, sagte Lola.

»Warum!« meinte Tini, aufgeweckt. »Ich finde es fein. Hast du nicht gehört, daß wir jenseits von Gut und Böse sind? Ich schwärme für Herrenmoral!«

Und sie eilte, voll Bildungstrieb, nach vorn.

»Was Liebe kann«, bemerkte Arnold und sah Gwinners Rücken an.

»Sagen Sie: was Eitelkeit kann. Sie liebt ihn kaum, sie wartet noch auf alles mögliche; aber er schmeichelt ihrem Kopf; und es scheint, hier lassen sich alle am liebsten auf diese Weise schmeicheln ... Übrigens hatte der Fabrikant einen Ton, als ob auch er sich auf seine Unmenschlichkeiten etwas Besonderes einbildete.«

»Er hält sie für klug. Er kennt nicht Rousseaus Rat: ›Menschen, seid menschlich! Welche Weisheit gibt's für euch außerhalb der Menschlichkeit.‹ Ein törichter Stolz auf eine von Träumereien unberührte Härte verführt die meisten von uns; eine dem wahren Zustande unserer Körper und unserer Geister ganz unangemessene Vorliebe für die nackte Macht. Die Frage ist, ob wir nicht in unserm richtigen Element wären, wenn wir ein wenig Güte übten und erwarteten: ob wir uns nicht wohler dabei fühlen und mehr damit erreichen würden.«

»Das Trumpfen auf Illusionslosigkeit ist natürlich geschmacklos; aber Güte erwarten? Mir scheint –«

Sie dachte an ihre Erfahrungen mit Menschen, mit Männern, an die Lehren ihrer zwei letzten Jahre, und sie lächelte bitter. Arnold entgegnete:

»Heute gilt eine hoffnungslose Auffassung der menschlichen Zukunft. Dennoch ist es klar, daß mit der Abnahme der rohen Kraft auch die Grausamkeit an Gebiet verloren hat. Was hindert mich zu glauben, daß der Geist, der die Folterkammern sprengte, daß der Geist auch die Waffenmagazine sprengen wird.«

»Es wäre wohl noch wenig getan ...«

»Ich weiß, ich weiß. Aber vermögen Sie einzusehen, warum man auf der Gewalt besteht und die Macht um keinen Preis abdanken möchte, nicht einmal um den Frieden der Seele? Auch ich gehöre zu den Besitzenden; aber wenn ich in eine wahre menschliche Gemeinschaft den Weg finden könnte vermöge einiger Stunden körperlicher Arbeit, die überdies ein mir nützliches Gegengewicht zu denen am Schreibtisch wären –«

Er belebte sich; seine Stimme ward erst jetzt freier und stärker.

»Ich wäre mit Freuden ein Bürger des neuen Staates! Welcher Genuß des Gewissens: nicht länger den Anteil derer mitzuessen, die vergeblich arbeiten! Und welcher Zuwachs an Würde im Menschengeschlecht, wenn es sich vor keinen schwindelhaften Größen mehr bücken wird, vor dem Zufall des Eigentums so wenig wie vor dem der Geburt! Viel verspreche ich mir von dem Sturz der Könige. Wären sie auch schon machtlos; ihr Dasein bleibt das am höchsten ragende Denkmal menschlicher Würdelosigkeit. Wie können Kulturmenschen, wie kann der Geist eine Macht ertragen, die nicht vom Geiste ist! ... Da die gleiche Verteilung der Leiden und Freuden des Körpers und des Geistes, da die Nivellierung der Menschheit unser aller heimliche Forderung ist, die wir nur mit Trug zum Schweigen bringen, von der wir nur mit Scham absehen: warum schrecken wir vor dem Wege zurück, der hinführt? Es wird keinen einsam leidenden Genius mehr geben und keine darbende Masse. Der Paria der Höhe wird verschwunden sein mit denen der Tiefe. Welche Erleichterung, welche neue Unschuld!«

Lola hörte mit Spannung und dunkler Sehnsucht seine erregten Worte zu Entzücken ansteigen und sah Schmerz herausblicken. Sie empfand, daß auf fester Erde sein Traum keine Stätte habe. ›Ist er denn so selten enttäuscht worden?‹ dachte sie, und sie fühlte sich alt.

»Sie sind vertrauensvoller als ich«, sagte sie und betrachtete ihn von der Seite. Er sah ihr in die Augen.

»Vorhin waren Sie die Gläubigere ... Erinnern Sie sich, daß es schon einmal genügt hat, an die irdische Vervollkommnung des Menschengeschlechtes zu glauben: und er machte einen stürmischen Schritt auf sie zu. Die glücklichen Menschen des achtzehnten Jahrhunderts glaubten. Das Jahr 1789 war ihr Lohn. Dies Jahr war da. Dies arkadische Verbrüderungsfest ist gefeiert worden. Sein Gedächtnis ist unser Trost. Seit diesem Ausbruch des Besseren im Menschen ist alles möglich ...«

Er schien stolz, daß nun auch er einen Glauben bekennen durfte. Ihr war's, als lauschte sie einer Werbung, der sie sich immer schwächer entgegenstemmte. Und ohne der Verwirklichung seines Glaubens nachzudenken, empfand sie bei seinen von innerer Kraft federnden Worten, daß es sich leichter und höher durch das Mondgespinst dieser Nacht gehe.

Da bemerkten sie, daß das Haus vor ihnen lag und daß sie allein waren.

»Die andern müssen nach dem Dorfe abgebogen sein, vielleicht um den Fabrikanten zur Bahn zu bringen.«

»Und was tun wir? Folgen wir ihnen?«

Aber sie blieben am Wege stehen, schauten in alle Richtungen, nannten einander die Ortschaften auf fernen Hügeln, horchten auf den Pfiff einer Lokomotive.

»Gehen wir ins Haus?«

Aber Lola bückte sich nach einer Blume; und nun pflückte er vom Feldrain eine Handvoll der Blumen, deren Rot und deren Blau blaß vom Mond war. Sie meinte, er werde sie ihr bringen; aber er ließ sie, als dächte er schon nicht mehr an sie, herabhängen. Stimmen kamen weither – und plötzlich setzten sie sich in Bewegung. Hinter dem schwarzen Laubgang, wie am Ende eines Schachtes, schien das still beglänzte Haus sein eigenes, verlassenes Leben zu führen. Die Tür zur Stube stand offen, auf der Diele drinnen lagen weiße Vierecke. An den hölzernen Pfeilern der Veranda unterschied man jede der kleinen Weinbeeren.

»Wie schön!« sagte Lola, indes sie in die Helle traten. »Man möchte in diesem Licht einen neuen Tag anfangen.«

»Werden wir im Laufe des morgigen wieder einer solchen Stunde begegnen?«

Überrascht sah sie sich nach dem Gesicht um, aus dem diese fassungslos klingende Frage kam, und fand Tränen darin. Ihr Blick verwirrte sich von Mitleid, und sie sagte rasch:

»Gegen Abend mache ich meinen Spaziergang.«

»Ich bin menschlicher Gemeinschaft etwas entwöhnt ...«

Wie er noch stammelte, schloß sie:

»Gehen wir also hinein?«

Bevor sie in ihr Zimmer trat, reichte sie ihm die Hand. Dann ging sie gradeswegs auf das Fenster zu, schaute nach der Landschaft dahinten aus, durch die sie erst eben mit Arnold geschritten war, und schüttelte den Kopf, als sei sie erstaunt, sie unverändert zu finden, in der gleichen bläulichen Verzauberung. Da fiel ihr die Nacht ein, in der sie über dem Hafen von Barcelona auf einer einsamen und dunkeln Terrasse gelehnt hatte, neben Da Silva. Der Mond, den sie mit einer seltsamen Inbrunst erwartet hatten, war nicht aufgegangen. Hier lag er; jeder von ihren und Arnolds Schritten hatte durch seinen Schein geführt. Sie fühlte sich umgeben und erfüllt von Bedeutungen; unruhvoll schlang sie die Finger ineinander, wendete sich ab und seufzte auf. Da war nun das kleine Zimmer, in das sie eingezogen war wie in ein gleichgültiges und unzulängliches Quartier. Jetzt hatte jedes Möbel Wichtigkeit: sie sah den Stuhl an, den Schrank ... Dann glitten ihre Blicke an den unsicheren Umrissen der Berge hin, an denen der Kirche dort hinten ... Nun hatte sie alles in ihrem Kopf, durfte ihn ans Fensterkreuz lehnen und die Augen schließen. Aber unter den Lidern drängten Tränen hervor – und wie Lola, trunken von einer unbekannten, lieben Müdigkeit, auf den Wangen ihr Rinnen spürte, meinte sie eine Weile, es seien dieselben, die sie vorhin in Arnolds Gesicht erblickt hatte.

 

Als sie vom Frühstück in ihr Zimmer zurückkehrte, standen Kornblumen und Mohn auf dem Tisch.

»Es sind dieselben, die er mir gestern nicht geben mochte.«

Sie ging rasch darauf zu – und sah sie dann mit unschlüssig ablehnendem Lächeln an ... Sie waren nicht mehr vom Monde blaß und absonderlich; sie hatten gewöhnliche, gesunde Tagesfarben. Lola blickte hinaus. Garten und Land trugen in der mäßigen Alltagssonne hoffnungslos nüchterne Mienen. Lola hob die Schultern.

Tini kam und warf auf die Blumen einen Blick, der Lola verwirrte. Tini erinnerte sie daran, daß sie ihr Zimmer hatte besichtigen wollen. An den Wänden war manches zu sehen. ›Ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen‹ stak, auf Stramin gestickt, in einem Rahmen, und daneben hing, als wenig bekleidete Salome, eine Schauspielerin, für die Tini schwärmte. Sie zeigte Lola ein Album mit Lesefrüchten und bemerkte bei jeder:

»Darüber möchte ich gerade deine Meinung hören.«

»Ich fand das vorige richtiger«, sagte Lola; und Tini, sofort:

»Dann mag ich es auch lieber.«

Nachdem sie hinausgehorcht hatte:

»Rauchst du vielleicht eine Zigarette? Aber du mußt es nicht meiner Schwester sagen.«

»Die Marie raucht doch selbst.«

»Aber von mir findet sie's unpassend. Weißt du, im Grunde, im Grunde findet sie eigentlich alles unpassend.«

Beide lachten.

»Blase den Rauch aus dem Fenster, bitte.«

»Ja, so machen wir's auch.«

»Im Ernst ist doch nichts dabei. Herr Gwinner sagt sogar, daß es mir steht.«

»Herr Gwinner ist wohl immer auf deiner Seite?«

»Nein, gar nicht immer. Aber das macht mir nichts ...«

Ein paar Sekunden hatte Tini die haltlos kreuzenden Augen eines wilden jungen Vogels. Dann, bevor Lola sich hatte wundern können:

»Ach, Lola, ich wollte, ich hätte eine Freundin. Die, die ich habe, hat keinen Zweck mehr. Ich kann dir sagen –«

Tini mußte hinunterschlucken.

»Du bist einfach mein Ideal.«

»Ja, warum denn, Tini?«

»Erstens bist du modern und doch schick: das hab ich noch nie zusammen gesehen. Dann bist du so gescheit, daß du über alles deine Meinung hast. Du brauchst nicht zu denken, daß ich es nicht sehe, wenn du dich mit dem Arnold über uns alle lustig machst.«

»Aber Tini! Du bist ja schrecklich.«

»Das nicht; aber ich bin nicht von gestern ... Den Arnold, sage ich dir offen, kann ich nicht ausstehen. Er ist mir gradezu widerwärtig – und auch unheimlich. Aber du wirst die Menschen wohl besser kennen. Du hast's gut: kannst hingehen, wohin du magst, kannst alles vergleichen und dir die Menschen aussuchen ... Ich möchte dich wohl etwas fragen, aber du darfst es nicht übelnehmen.«

»Sag's nur!«

Tini paffte und sah an Lola vorbei.

»An was erkennt man's eigentlich, wenn man sich verliebt hat?«

»Das ist aber wirklich eine Frage!«

»Siehst du, nun nimmst du's übel!«

»Durchaus nicht. Aber darüber ... denkt man wohl überhaupt nicht nach ... Ich sollte meinen, wenn man das Gefühl hat, daß man jemand nicht mehr entbehren kann.«

»Aber in Wirklichkeit kann man doch jeden entbehren!«

»Mag sein. Oder vielleicht doch nicht?«

»Ich habe keinen nötig, keiner braucht sich was einzubilden ... Warum sollte man überhaupt jemanden nicht entbehren können?«

»Was weiß ich. Wenn man einen höher achtet als die andern ... Wenn er einem Dinge sagt, die man selbst schon gefühlt hat ... Wenn uns in seiner Nähe ruhiger wird ...«

»Pah!« machte Tini.

»Marie? Was ist?« rief sie aus dem Fenster. Und zu Lola:

»Wir sollen vor dem Essen noch ausgehen. Ach tu mir den Gefallen, geh schon hinunter. Ich bürst mir nach dem Rauchen doch lieber erst die Zähne.«

Drunten fand Lola Frau Gugigl nicht mehr. Aber im Vorübergehen bemerkte sie durch einen Spalt in der Tür zur großen Stube, wie Arnold seinen Hut an den Nagel hängte und sich unschlüssig umsah. Ehe sie's wollte, war sie zurückgekehrt und stehengeblieben. ›Was er wohl für ein Gesicht macht‹, dachte sie, ›wenn er sich allein glaubt ... Jetzt wird er etwas tun, wobei er nicht an mich denkt, etwas, das nicht für mich bestimmt ist.‹

Er saß auf der Bank, den Arm am Fenster und sah hinaus. Allmählich wendete sein Kopf sich, die breiten Schläfen vorgeneigt, ins Zimmer, sank tiefer in die Hand, die ihn hielt. Die andere hing von der Bank. Der Körper erschlaffte zusehends. Der Blick schwamm am Boden.

›So ist er‹, dachte Lola, ›wenn er alle vergessen hat. Wenn er mich vergessen hat. Ganz zeigt er sich uns andern nie.‹ Denn dies schien, mit Ergebung in sich selbst, nur noch eine Seele. Sie war stark hinter ihren Siegeln. Lola konnte nicht an sie hinan – und sie fühlte sich, hier draußen, in beklemmender Einsamkeit. Ehrgeiz und Eifersucht zitterten herauf. ›Was will ich?‹ Und, ganz unvorhergesehen: ›will ich ihn heiraten?‹

Da polterte Tini über die Treppe; Frau Gugigl rief aus dem Garten, und Lola ging, sehr erstaunt.

 

Bei Tisch mußte sie ihn sich ansehen und denken: ›Da ißt er nun harmlos seine Suppe. Wenn er wüßte, was ich vorhin für einen Einfall gehabt habe!‹ Er würde sich bedanken, Mann einer Virtuosin zu werden, mit ihr herumzufahren und Impresario zu spielen. ›Lassen wir ihn nur in Frieden, diesen Menschen der Einsamkeit!‹ Und sie lächelte spöttisch vor sich hin. Frau Gugigl hatte etwas bemerkt und raunte:

»Hat er sich wieder eine Verrücktheit geleistet?«

»Wer denn? Aber nein!«

Und Lola bereute. »Ich habe ihn ausspioniert!«

Sie versprach ihm innerlich große Aufrichtigkeit und Güte. Als er eine Stunde später bei ihr anklopfte, war sie zum Ausgehen fertig.

»Sie sind sehr zuverlässig«, sagte sie.

Er war befangen. Wie sie das Haus hinter sich hatten, fing er an:

»Sie haben mir mein gestriges Benehmen hoffentlich verziehen. Ich darf versichern, daß ich es bedauere und nicht mehr ganz begreife. Die Stimmung der Nacht war schuld, meine Nerven, und das so ungewöhnliche Zusammensein, das sie als Vorwand für eine Entladung nahmen.«

»Ich bitte Sie: wem wäre es anders ergangen. Man müßte schon Nerven haben wie der Fabrikant. Sie mögen mir's glauben oder nicht, aber ich selbst habe noch eine Stunde lang am Fenster gestanden und den Mond angeschwärmt ... Übrigens, darf ich Ihnen einen Rat geben? Sie sollten nie um Entschuldigung bitten. Sie sind zu bescheiden. Sie müssen die Leute fühlen lassen, daß Sie Ihren Wert kennen, und daß, wer ihn bezweifelt, sich eine Blöße gibt. Je mehr man aus sich macht, desto mehr ist man.«

»Zweifellos ... Wenn nun aber das Urteil derer, denen ich erst imponieren müßte, mich gleichgültig läßt.«

»Dann – allerdings.«

Und sie wußte nicht, ob sie bewundern oder zweifeln sollte. Er hatte wohl mehr Mut, indem er die Meinungen verachtete, als wenn er sie zu erobern getrachtet hätte. Vielleicht aber machte er aus der Not eine Tugend? Bei ihm wußte man nie, was Stärke, was Schwäche war; und wenn er schwach schien, hatte sie schon erfahren, war er manchmal grade stark ...

»Sie sagten gestern, ich glaube, Sie seien menschlicher Gemeinschaft entwöhnt und das können Sie nicht leugnen, daß Sie schüchtern sind.«

»Ich bin schüchtern, war es immer. Heute aber bin ich auf eine merkwürdige Weise schüchtern. Nehmen Sie an, eine der ersten Persönlichkeiten eines Landes reise in der Fremde, während bei ihr zu Hause alles drunter und drüber geht. Nun ist plötzlich sein Geld wertlos, der Titel, den er sich gibt, lächerlich; mit Sprache und Geistesart dieser Menschen weiß er nichts anzufangen; in sein Gebiet ist der Weg abgeschnitten und er ist hier nichts und dort nichts. In dieser Lage, beiläufig, sehen Sie mich.«

»Der Heimweg abgeschnitten«, hörte Lola und fühlte sich mitgetroffen. Ihr war's, als ahnte sie alles voraus, was er sagen konnte; als hebe der Geist des Ortes, den sie betraten, eine Schwermut aus ihren Seelen, die bei ihr und bei ihm mit den gleichen Erinnerungen genährt sei.

Sie waren, lässig von der Wärme, den verwischten Wiesenweg zu Ende gegangen; und nun verfing sich und erstickte der Tag in diesem violetten Moor. Wald umkränzte es, lichtete sich, zog, Stamm für Stamm von dannen ... In dem Gewebe von Zweigen, abgehalten, besänftigt, schimmerte silberiger Himmel, und fern, ganz draußen, blauten Berge. Man stand, senkte die Hände und ließ sich betäuben vom Zirpen. Lola sah sich um, wo es gut zu ruhen sei.

»Erzählen Sie weiter?«

»Sobald ich frei war, schon mit zwanzig Jahren, zog ich mich in die Einsamkeit des Reiselebens zurück. Ich hatte genug von meiner Jugend, von ihrem Elend, ihrer Scham; hatte mich genug verstecken müssen, der falschen Gemeinschaft übergenug ertragen. War ich nicht über Versen gelegen, deren Entdeckung mich zum Selbstmord gezwungen hätte? Hatte ich nicht, auf Gängen über den Stadtwall, Visionen meiner künftigen Größe erlitten, die mir solche Wahnsinnsschwindel durch den Kopf jagten, daß meine Knie schwankten? Hatte ich nicht, um mehrerer Frauen willen, starr, wie mit heißem Sand gefüllt, die Nächte und die Tage vorübergeschickt, tränenlos vor Ohnmacht und mein Leben nur zurückgerungen, um es aufs neue der Fieberluft der Liebe aussetzen zu dürfen ... Das Beste, wenn ich meiner Kindheit und ihrer alten Stadt gedenke, war zwischen grauen leeren Häusern ein Garten: Neben meinem Buch standen Maiglöckchen, über ihm schaukelten Fliederdolden; und wenn ich die Stirn zurücklegte und die Lider schloß, brannte auf ihnen die Sonne. O wie tief, tief ging's da in Sonne und Duft! Und das Gemurmel der Quelle vorm Tor: ich blieb bei ihr zurück, wenn man über Land zog, und nasses Laub hing mir in die Schläfen: wie wunderbar öffnete sich mir das Gemurmel! Wie eine Muschel, in deren perlhelle Windungen ich hineinfand!«

»Ganz dasselbe!« sagte Lola, und ein Schauer überlief sie. In der Verbannung erwachsen und inmitten vieles Elends manchmal eine Stunde der einsamen, geheimnisvollen Süßigkeit: Das war sie selbst, und ihr graute vor solcher Beschwörung ihres Eigensten. Dort auf dem Moor, in dem dünnen Sonnenhusch tänzelten dort nicht einige kleine Mädchen – sie und wieder sie –? und verneigten sich vor ihr, gelenkt von den Fäden in der Hand des Fremden neben ihr, den sie nicht ansah? ... Sie hörte:

»Ich fand nach Italien – und da war mir's, als hätte ich nach Haus gefunden. Welch ein Jubel! Ich erkannte mich selbst in den Bildern, die alle auf Größe und Lust aus sind, in den Landschaften der Helden, worin keine Träne lange hängenbleibt, in dem ewig jünglinghaften Volk. Hier war eine heftigere Welt wie aus meinem Herzen ans Licht getreten. Die ersten vier Wochen in Rom ging ich umher im ununterbrochenen Zustand dessen, den der erste Liebesblick trifft: in seinem ungläubigen Entzücken. Ich ging planlos; die Erwartung einer Straßenbiegung machte mir Herzklopfen; ein Monument war ein Abenteuer. Durch die Campagna, unabsehbar, trugen mich grade Straßen und durchsonnter Wind; und mir war zumut wie in einer Verzauberung, worin ich ungemessene Kräfte hatte. Ich ward freigebig mit mir, froh der schwersten Hitze, trank ohne Vorsicht und liebte mit Leidenschaft. Dies alles in Untergangsmut und, wie vom Frühdämmern, manchmal von dem fahlen Erstaunen betroffen, daß es dauere.

Es dauerte bis zu einem nervösen Zusammenbruch; – und in dem Dunkel, in das ich mich nun zurückziehen mußte, sah ich plötzlich aus meinem Kopf ein grelles Licht fallen und darin umhertaumeln, was mir je begegnet, je mit mir geschehen war: aber in viel größeren Gesten, schneidenderen, weit bedeutsameren, von unverschämterem Schmutz, wilderer Groteske oder schmelzenderer Zärtlichkeit. Nicht rasch genug konnte ich alles in Sätze bringen. Ich war plötzlich vom Talent ergriffen. Es war ein Rausch, allein vergleichbar dem, als ich Rom entdeckte.

Ein Visionär, dem seine Höhle in Flammen steht, dem jedes Schneckenhaus zum Feenpalast aufschießt, hinter jedem Felsblock Satan hervorschnellt und lechzende schwarze Blicke aus allen Morgennebeln brechen: Das war ich sieben Jahre lang. Ich haftete nirgends, fing nur im unbemerkten Vorbeikommen Leben auf; und jedes der Zufallsquartiere, wo ich mich vor einen Haufen Papier setzte, war umtobt von einer Welt, die ich zu bändigen hatte. Ich lebte, erhielt mich nur, um zu schreiben; alle Sinne darbten; und über jedes Bild, das halbfertig auf einer Seite stand, erwartete ich, daß sich der schwarze Vorhang senke.«

Lola horchte, was ihr eigenes Leben zu ihr spreche: ihr Wanderleben mit seinen Lockungen, seinem Taumel und, mitten darin, dem entrückten, gefeiten Flecken, den das vertrackte Genie der Branzilla mit Zauber geschlagen hatte. Aber Lola war fortgerissen worden; etwas wie ein schwarzer Vorhang hatte sich gesenkt; und man wußte nicht mehr, was kam.

»Ich verstehe«, sagte sie, – indes er schloß:

»Und eines Tages war's aus. Mein Trieb, zu gestalten, ward lahm; das Chaos, dem ich hätte Formen entreißen sollen, hob sich dampfend, und tote Wände umstanden mich. Ich ging hinaus ... Wohin? Wo ist ein Elixier, stark genug zur Belebung eines so sehr Ernüchterten? Nicht mehr in dem Italien, das ich einst feierte. Ich gehe noch hin, weil ich Erinnerungen und Gewohnheiten habe; aber mir ist, als hätte ich im geheimen immer ein wenig Verachtung bewahrt für die schwungvolle Sinnlichkeit dort unten. Sehe ich jetzt Bilder der Venetianer wieder, befremden sie mich: in einigen Monaten haben sie mehr gealtert, als während der vierhundert Jahre seit ihrer Erschaffung. In ihnen ist niemand mit sich allein; kein Leiden geschieht darin ohne Zuschauer: was gehen sie einen an, der bei Festtafeln und geschmückten Freunden kein Genügen fände? Das kunstlose Träumen meiner Kindheit verlockt mich wieder. Die Sehnsucht nach innerer Gemeinschaft entfaltet sich wieder in mir. Ich suche Menschen auf, ohne Arg, nicht um sie zu belauschen, sondern weil ich mit ihnen leben möchte. Aber ich errege Verdacht. Man fühlt: hier ist ein abnormes Leben verbracht worden. Ich gebe der Neugier nach, berichte das einzige Interessante, das ich erlebt habe: mich selbst; – und nun ist der Waldmensch ausgefragt und ohne Reiz. Beginnt er noch von seiner Marotte, fährt man ihm über den Mund. Er ist durch langes Alleinsein allzu gutmütig gemacht, hat auf nichts eine rasche Antwort, und wenn alles vorüber ist, erbittert ihn seine Vernachlässigung und das Andenken seiner starken Vergangenheit. Er ist wahrhaftig die große Persönlichkeit, bei der zu Hause alles drunter und drüber ging, und die übel behandelt und voll ungültiger Ansprüche, in der Fremde fortlebt.«

Lola lächelte, weil er es tat; aber sie fühlte sich lahm und schmerzhaft, als habe er sie stundenlang schlimme, zerrissene Wege geführt. Das Gewebe der Zweige überzog jetzt einen schwach rosigen Himmel, und hier drinnen um das Moor dunkelte es dumpf. Lola erschauerte und stand auf.

Draußen war's weit, bewegt und goldig; und Lola sah ihren Begleiter aufatmend an, als seien sie zusammen entronnen. Ein wenig Stolz, ein leises Glück sogar spürte sie. weil sie ihn herausgeholt hatte und ihm all dies helle Land anbot.

»Ist das nicht eine Farbe, die man trinken möchte?« fragte er und zeigte nach dem Rotgelb von Ähren, worin durchsonnte Mohnfähnchen flatterten.

»Obenauf wenigstens«, sagte Lola, »ist die Welt schön.«

»Aber die blühende Scholle ist das Erzeugnis der lichtlosen Tiefe. Wo Schönheit ist, ist Tiefe.«

Sie begriff es. Sie legte den Kopf in den Nacken, sah Schwalben die von Gold flimmernde Luft durchstreichen und empfand, es sei eine Lust zu denken an solchem Tage. Er wies in die Weite, auf Schnitter, die hintereinander, Sensen und Rechen über den Schultern, in langsamen Bogen zwischen den Äckern hinzogen.

»Sie scheinen sich kaum zu bewegen, so groß ist die Erde um sie her: und doch, wo immer ein Mensch sichtbar wird, können wir schwer noch von ihm absehen. Er stört uns aus unserer Naturversunkenheit; wir merken: ihm entkommen wir nicht, und ihn vor allem brauchen wir.«

»Besonders Sie, der so große Hoffnungen auf die Menschheit setzt! Und dabei haben Sie den wichtigsten Teil Ihres Lebens dazu benutzt, sich in Ihrer Verschlossenheit von den Phantomen der Menschheit etwas vorspielen zu lassen: etwas Bösartiges, soviel ich verstehe ... Sie sind eigentlich sehr naiv.«

»Das sagt auch die hiesige Gesellschaft. Sie aber sagen es anders ... Sagen Sie übrigens ruhig kindisch. Ich muß Ihnen erzählen, wie sehr. Auf einem Wege, den ich täglich ging, ward ich eines Nachts angefallen und entkam durch einen Zufall. Die Aussicht auf eine zweite Begegnung mit meinen Mördern zwang mich, die Anschaffung einer Waffe zu erwägen. Es ist schwer zu sagen, mit welchem Widerwillen ich an dieses Handwerkszeug heranging. Ich hatte es so ganz andern Lebenskreisen zu entnehmen! Endlich trat ich dem Waffenschmied unter die Augen. Die Augen des Mannes waren finster, und ich höre noch sein ›Ach so‹, als ich nach umständlicher Prüfung des Revolvers die Frage gewagt hatte, wie man abschieße. Nun trug ich ihn über die Straße und kann versichern, daß ich hinkte: so sehr war ich darauf gefaßt, das Unding werde in meiner Tasche losgehen. Die Schießübungen zu Hause waren aufreibend. Nie hatte ich rasch genug die Sicherung heruntergedrückt und den Hahn gespannt. Die beiden Abenteurer zückten schon unter meiner Nase ihre Messer, wenn ich noch den Kolben aus den Taschenfalten zerrte. Ehe ich dann wirklich den Gang über die verhängnisvolle Wiese antrat, saß ich im Dunkeln und nahm mit einer Phantasie, die mich zehn Tode erleiden ließ, alle Einzelheiten der Begegnung vorweg. Sehr merkwürdig war's, welche Erleichterung ich spürte, als die Stunde zu handeln da war. Ich riß den Revolver aus der Schieblade und lief.«

Er lachte hell auf; dann:

»Jetzt lachen wir; aber Sie wissen noch nicht, welche beschämenden Neuigkeiten mich mein Revolver über unsere Seele lehrte. Ich erfuhr, daß ich ungerecht und hart sein könne; daß Mut und ritterliches Ehrgefühl vorwiegend in einem Stahlklotz stecken; und daß unschwer Gewaltmensch wird, wer das Mittel zur Gewalt in der Tasche fühlt. Nur mit Ekel an mir ging ich noch umher. Es war wirklich die einzige Zeit, wo ich mich lieber nicht mehr hätte leben gesehen. Wie ich eines Nachts mich dem einen meiner zerlumpten Angreifer gegenüberfand, hielt ich ihn an, schenkte ihm den Revolver und wartete. Er dankte aber und ging weiter ... Nun, ich war befreit ... Laufen wir diesen Hügel hinauf?«

Sie liefen – und von oben ließen sie sich, stärker atmend, von ihren Blicken über viele Wiesen und Felder tragen, durch tiefes Waldgrün zu blauem Wald, und jenseits des Luftblaus der ersten Alpen bis in Alpen, die am Abendrot zerflossen.

»Das Verwunderlichste war, daß ich in all meinem Überdruß kindisch blieb: mir in einem Theatersaal die Wirkung vorstellte, wenn plötzlich in meiner Tasche ein Knall geschähe, und am Teetisch die Damen darauf ansah, was sie für Gesichter machen würden, wenn ich ihnen die Tasse vom Munde wegschösse. Begreifen Sie das?«

»Sehr gut«, sagte Lola und lachte mit. »Wozu sind wir den Hügel heraufgelaufen, den wir gleich wieder hinunter müssen? Sehen Sie? Weil Sie eigentlich ein Junge sind.«

»Nehmen Sie einmal an, daß Herr Gwinner für jeden Witz, den er macht, eine Schrotladung bekäme!«

»Oder Frau Gugigl für jedes ›Künstlerisch‹!«

»Wenn man sich nicht mehr anders zu helfen weiß –«

Da waren sie drunten vor einer kleinen Eiche; der frische Wind, den ihr Lauf erregte, brach plötzlich ab. Hinter der Eiche lag über den von letzter Sonne buntem Rasen ein Weg geschlängelt, blaugrün, – und auf einmal verschlang ihn Walddunkel.

»Nur noch dies eine Gehölz, dann können wir das Haus sehen« – und zu ihren langsamen Schritten durch die Dämmerung mußte Lola denken: ›Eben noch haben wir gelaufen und gelacht. Wie kam das? Wie kommt es, daß er mir seine Geheimnisse sagt und daß ich sie hinnehme, als müßt es sein? Eigentlich haben wir doch nichts miteinander zu tun. Oder wie stehen wir?‹

Als das Gehölz zu Ende war, wollte sie etwas sagen, ließ es aber. ›Was habe ich denn? Warum nicht gleich den nächsten Spaziergang verabreden? Er ist so zerstreut und hat immer mit sich selbst zu tun. Ein rechter Egoist eigentlich. An die wirklichen Dinge muß ich selbst denken.‹ Aber kurz vor der Ankunft hörte sie ihn in Eile und Verwirrung mit der Bitte herauskommen, an deren Gewährung ihr gelegen war – und sie biß sich auf die Lippen. ›Bin ich vorschnell! Ich weiß doch, daß er bloß schüchtern ist!‹

 

Es war nie ganz sicher. Am Abend inmitten aller sah's aus, als drängte er neben sie: Frau Gugigl und Tini bestätigten es ihr durch Blicke. Dafür zog er sich manche Stunde, die er mit ihr hätte allein sein können, zurück, um zu lesen. Er kam ihr oft genug in den Weg, klopfte jeden Tag mehrmals an ihre Tür. Sie hatte auf dies Klopfen gewartet und war, zeigte sich nun sein Gesicht, beschämt, weil es nicht glücklicher war. Einmal rief sie ihm im Garten nach, und wie er sich umwandte, war kein Zweifel, daß er sich bezwang, um erfreut zu scheinen. Aber als sie ihn einen Nachmittag unbeachtet gelassen hatte, da war er arg verstört, kleinlaut wie ein schlecht behandelter Junge, und kam nicht darüber zur Ruhe, daß sie etwas gegen ihn haben müsse.

Wie sie das alles schon kannte! Wie sie seine Nervosität mitfühlte, die matte Geste zwischen seinen zusammengezogenen Brauen und dann, draußen in der Luft, sein allmähliches Durchdringen, bis er frei war und die Oberhand hatte! Voll Staunen bemerkte sie, daß sie ihn sich gar nicht wegdenken könne, auch aus ihrem früheren Leben nicht. Wie ein älterer Bruder war er, den die Schwester schon heulend und geprügelt gesehen hat: und doch bleibt er, mag sie's kaum wissen, der erste, und seine Liebesgeschichten machen ihr Eifersucht. Lola fragte sich oft: ›Hat er wirklich nie etwas gehabt? Alles hat er mir gesagt, nur davon kein Wort.‹ Aber sie fand und sagte ihm:

»Ich wüßte eigentlich keine Frau, mit der ich mir Sie denken könnte.«

Er überlegte.

»Und ich keinen Mann für Sie«, entschied er. Nach einer Weile begann er wieder:

»Was würden Sie denn besonders beanspruchen?«

»Von einem Mann? Zuverlässigkeit.«

Und sofort erschrak sie, weil ihr einfiel, daß sie ihm schon mehrmals bestätigt habe, er sei zuverlässig.

»Ich bin nämlich sehr mißtrauisch«, erklärte sie und fragte eilig:

»Und Sie? Was brauchen Sie?«

›Meinetwegen‹, dachte sie, ein wenig gekitzelt; ›spielen wir mit dem Feuer!‹

»Ich? Etwas Achtung natürlich vor dem, was ich bin. Aber noch so vieles andere. Das ist weitläufig und aussichtslos.«

Und während Lola schwankte, ob weiter zu fragen sei:

»In Deutschland traf ich am häufigsten die eben erst Emanzipierte. Ihr frisches Wissen und Können scheint mir noch gewaltsam; seine Äußerungen führt kein sicherer Geschmack. Fehlen ihr zu diesem nicht überhaupt und von Rasse wegen die Mittel? Die Deutschen bleiben, trotz allen heutigen Bemühungen um die Form, zur Überfütterung des Innenlebens verurteilt und auf Geringschätzung der Augenkultur angewiesen, die doch vornehm macht ... Italienerinnen haben mich versucht. Alles Glück, das einem die Städte, die Landschaften, die Bilder versprechen, sieht man erfüllt in diesen weißen, schwarzhaarigen Geschöpfen mit den knabenhaften schlanken Bewegungen. Wie schön sie sind, solange sie stumm bleiben! Den, der gleich im ersten halben Jahr eine von ihnen heiratet, begreife ich. Nachher hat man in ihren weiten, undurchsichtigen Augen wohl doch die Leere ermessen und sich besonnen. Eine auf immer unmündige Existenz neben der meinen? Eine, die mein deutsches Erbe, alle jene moralischen Verfeinerungen, die ihre Rasse niemals erreichen kann, mit animalischer Sicherheit verachten würde?«

»Sie verlangen eine Schöne, die auch noch Geist hat. Sie sind entsetzlich schwierig.«

»Sie haben recht, ich stelle die unverschämtesten Forderungen. Warum übrigens sollte ich sie zügeln, da ich von vornherein mit ihrer Unerfüllbarkeit rechne? Mehrmals näherte ich mich Frauen gemischten Blutes: sie waren mit einem verflachten Innenleben begabt und mit irgendwie verunglückten Körpern; oder sie hatten sich ganz zu der einen ihrer beiden Rassen geschlagen und verleugneten die andere. Wie nun, wenn das Gute von beiden in einem Wesen zusammenkäme? Ich setze den günstigsten Fall; und bei der Frau, die ich mir vorstelle, hat erstaunlicherweise der Körper eine ebenso alte, starke Kultur wie der Geist; sie ist der Bildung offen und elegant, hat Geschmack und Tiefe. Das scheint gegen die Natur; scheint über sie hinaus, und doch stelle ich mir's vor ...«

Nach einem Schweigen, währenddessen Lola aufhorchte, schloß er gepreßt:

»Nicht seit langem.«

Und Lola dachte:

›Ist es zu glauben? Alles kommt sehr um die Ecke. Aber meinen tut er doch wohl mich?‹

Sie hatte Lust, aufzulachen. So viele Gedanken, die sie zur Achtung nötigten: und das Ziel wirklich nur sie selbst? Sie empfand ein wenig Mitleid mit dem Armen, der sich nun bloßgestellt hatte. Sie sah auf ihn herab, wie er errötet, mit regungslosem Kopf vor sich hinging und vor ihr Furcht hatte ... Aber da errötete sie selbst; das überschwengliche Bild, das er von ihr im Kopf hatte, beschämte sie und machte ihr bange, wie ein Betrug. Sie dachte: ›Ich bin gar nicht schön und gar nicht gebildet. Ich habe auch gar nicht das Äußere von der einen Rasse und das Seelische von der andern. Meine Haare setzen durchaus nicht so untadelig an wie bei den romanischen Frauen; er sieht bloß nicht, wie ich meine kahlen Schläfen verstecke.‹

Er sagte in merkwürdig ungefälligem Ton, der zitterte:

»Ich denke sie mir in keinem der europäischen Vaterländer daheim; auch ich gehöre in keins. Sie kommt von weit her, aus einem Lande, das sie vergessen hat, und in das sie nicht wieder zurückkehren wird.«

›Auch das noch‹, dachte Lola.

»So ist sie mir ähnlicher. Denn auch mich haben, nicht meine Geburt, aber meine Schicksale zwischen die Rassen gestellt, und ich habe dort so viel erlitten, daß meine Gefährtin mir von keiner Not berichten könnte, um derentwillen sie nicht meine Gefährtin wäre. Ich habe sie mir verdient.«

Plötzlich war Lola erschüttert und stammelte mit feuchten Augen und ohne mehr daran zu denken, daß dies alles ihr selbst gelte:

»Ich hoffe, Sie werden noch einmal glücklich.«

Da erschrak sie und ging rascher dem Hause zu. Wie sie aber Tini herbeilaufen sah, lachte sie auf. Als ob er mit der Sprache herausgekommen wäre! Aber das nützte ihm jetzt nichts mehr. Sie wußte jetzt Bescheid, war ihre Unruhe los und hatte die Sache in der Hand. Er hatte geworben.

Und nun ordnete sie sich im Gespräch ihm nicht mehr regelmäßig unter.

Sie widersprach ihm sogar vor den andern, stimmte Gwinner bei. Später unter vier Augen zeigte sie sich weich und nachgiebig, und der gütige Spott ihres Blickes und ihrer Stimme gab ihm zu verstehen, er wisse wohl selbst, daß alles sich verändert habe; aber was sie tue, bedeute Gunst.

Das Bedürfnis war ihr gekommen, ihn anzuzweifeln und anzugreifen. Sie führte ihre Spazierwege möglichst dicht an Bauernhöfen vorbei.

»Da sind nun die hündischen Gendarmen, die Sie so hassen. Ja, der hat noch ein robustes Gewissen.«

Er mußte sie und sich, fortwährend mit Steinen werfend, aus der Nähe des schnappenden Bellers retten.

»Jetzt könnten wir Ihren Revolver brauchen, wenn Sie nicht selbst vor ihm Furcht gehabt hätten.«

Und auf sein niedergeschlagenes Lachen, plötzlich ganz ergriffen:

»Bitte, verzeihen Sie mir!«

Einmal ging er unentschlossen an einer alten Frau vorbei, die gebettelt hatte.

»Sind Sie geizig?«

Er antwortete:

»Ich schäme mich der Überlegenheit in der Gebärde des Almosengebens; schäme mich des kleinen Schauers von Selbstzufriedenheit und trügerischem Gütegefühl, der den Geber überrinnt.«

»Immer finden Sie schöne Worte. Vielleicht sind Sie doch geizig?«

»Wenn Sie mich nicht verstehen können –«

Ein unfreundliches Schweigen brach herein. Erst bei der Ankunft flüsterte Lola hastig:

»Ich habe Sie sehr gut verstanden und glaube Ihnen auch. Aber ich bin manchmal nervös.«

Er fiel ihr ins Wort, stürmisch vor Reue:

»Ich hätte geben sollen! Naiv oder mit Scham: ich hätte geben sollen!«

»Aber ich habe Sie verstanden«, wiederholte Lola.

Denn was er äußerte, fand sie, wenn ihr's auch bestimmt noch keiner gesagt hatte, alles ganz vertraut. Es waren Selbstverständlichkeiten, an die sie bisher nicht gedacht hatte. Er selbst – immer näher fühlte sie's, daß sie ihn schon gekannt habe: seine gewohnte Geste nach den Brauen hin, seinen Träumergang, den Fall seiner Stimme. Ein Weg, den sie durchschritten, konnte sie stutzig machen: ›Wann war ich hier?‹ Und einmal, wie die Sonne auf eine lange Hecke fiel, erinnerte sie sich plötzlich auf das dringlichste einer Landschaft, die sie irgendwann einmal im Traum gesehen haben mußte: darin war alles dämmerig und nur eine Reihe von Büschen grell beschienen gewesen, und es war genau diese gewesen.

Was zwischen ihnen vorgehe, quälte sie nicht mehr. Sie lächelte, als er sagte:

»Wenn irgend Aussicht gewesen wäre: in Sie hätte ich mich sehr verlieben können.«

Sie wußte, er verstecke sich. Aber das alles hatte Zeit ... Und inzwischen genossen sie ein pflichtenloses Gefühl der Zusammengehörigkeit inmitten Fremder. Ihre Geister rührten beieinander an alles; sie suchten in jeder Erde nach Edelsteinen und waren froh, wenn sie auf einen Kiesel stießen, an dessengleichen sie sich beide schon einmal verwundet hatten.


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