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IV

Da, eines Abends, hatte Lola gleich beim Betreten des Eßzimmers die Empfindung, am Tisch sitze einer mehr; – und noch bevor sie ihn herausgefunden hatte, schnellte jemand empor, und machte eine ausdrucksvollere Verbeugung, als sie seit Wochen zu sehen bekommen hatte. Sie erschrak.

»Conte Cesare Augusto Pardi aus Florenz, mein Vetter«, sagte die Baronesse Thekla. »Er hat uns überrascht.«

Lola faßte sich und lächelte ein wenig spöttisch. Sie dachte: ›Die Art ist also inzwischen noch nicht ausgestorben?‹ Dann wandte sie sich an Arnold. Aber es störte sie, daß niemand sprach als der Italiener und Mai. Glücklich zwitschernd flog Mais Stimme um den Tisch; endlich hatte sie wieder jemand, mit dem sie sich geläufig verständigen konnte. Alle sahen ihnen suchend auf die Münder: es ging viel zu rasch; und Lola mußte mitten aus ihren Worten an Arnold, die stockten, hinüberhorchen. Diese anbetende Stimme, die einen einwickelte! ›Merkwürdig, daß ich das vergessen hatte!‹ Ohne hinzusehen, wußte sie sein schmelzendes Lächeln. Brauen in einer graden Linie, Wimpern, die schwarz herausstachen aus dem lebendglühenden Marmorgesicht, und rot und dick darin aufbrechend die Lippen: Alles hatte sie vor sich, nun sie die Stimme hörte: War's etwa nicht so? ... Und kaum daß ihr Kopf eine Viertelwendung machte, griff der Italiener zu.

»Gnädiges Fräulein, Ihre Mama und ich entdecken eine Menge gemeinsamer Bekannten ...«

Lola erinnerte sich einiger, aber ohne Begeisterung; und mit Geringschätzung sah sie sich dazu das süße Spiel seiner Augen an. ›Mach nur deine Mätzchen!‹ Gugigl warf ironische Blicke dazwischen; plötzlich schnitt er ein Gesicht und fragte, ob die Rede von Zuckerwerk sei. Die Damen kicherten. Pardi hatte nicht verstanden. Er blies süß; und doch ging in seinem Lächeln jäh ein Hinterhalt auf, eine Drohung. Gugigl bekam eine treuherzige Miene. Darauf verbeugte Pardi sich ein wenig, als habe er Genugtuung erhalten – und wendete sich wieder Lola zu.

Sie sprachen weiter, indes alles schwieg, Tini den Mund offen behielt und Gwinner demütig herübergrinste. Pardi zog seine Kusine, Frau Gugigl und den Baron Utting herbei, aber alle blieben unterwegs liegen; und sein Gespräch mit Mai und Lola lief von selbst weiter. Es ärgerte Lola; ohne Umstände kehrte sie zu Arnold zurück. Er schrak von seinem Teller auf, und sie sah ihn in großer Unsicherheit. Er stotterte; sie zwang sich zur Geduld und gab ihren Worten einen Ton, als rede sie einem Kinde Mut ein. Dabei fing sie einen Blick auf, den er mit dem Italiener wechselte. Von drüben, aus Pardis gewölbten Augen, die alles sahen, kam ein abschätzender, schon spöttischer, und hüben wich er wehrlos aus. Lola sprach lauter: als wollte sie die Blicke überschreien. Plötzlich dachte sie: ›Es ist auch wirklich kein Staat mit ihm zu machen‹, und brach ab. Sofort setzte Pardi wieder ein.

Am Morgen darauf saßen um neun Uhr die Damen noch beim Frühstück. Pardi unterhielt sie von Afrika. Denn er hatte Adua mitgemacht, sich wie ein Löwe geschlagen, sagte er; war später, als Gefangener des Negus, der einzige gewesen, sagte er, der sich nie gebeugt, der Gewalt hartnäckig widerstanden hatte und ihr immer nur auf Zureden der mitgefangenen Offiziere gewichen war ... Die Baronesse Thekla, Frau Gugigl, Tini und Mai warfen einander Blicke zu, die erstaunt glänzten: wie die von Kindern, die nach der Bescherung erwacht sind. Jedes hält die eigenen Geschenke für die schönsten, und alle sind glücklich. Pardi hatte schon jede von ihnen zu überzeugen gewußt, daß besonders ihr sein Feuer gelte. Sie waren in Verzückung vor dem Schmelz seines Wesens und dachten nicht daran, es ihm anzurechnen, daß ihm alle hiesigen Begriffe fehlten. Er bewunderte seine Kusine in ihrer Bäuerinnentracht, wie einen verkleideten Backfisch. Tini brachte er, nur mit Augen und Händen dahin, daß sie über ihren Satz, der Mann habe nichts voraus, selbst von Herzen lachte. Er nannte Frau Gugigls Malerei eine reizende Unterhaltung, und anstatt wild aufzulachen, schnurrte sie. Dann führte er Mai die Leute vor, die sie beide kannten: ein paar Gesten, ein Fingerstrich über sein Gesicht, das sich darunter verwandelte, – und nicht Mai nur, auch die andern sahen die Figur. Lola beobachtete ihn mißtrauisch. Plötzlich mußte sie mitlachen, und da gab er ihr durch ganz leichtes Neigen der Stirn und kaum merkliches Achselzucken zu verstehen, daß er ihre Überlegenheit kenne und sie um Nachsicht bitte. Sofort hörte sie auf zu lachen. ›Buffone!‹ dachte sie; aber sie konnte nicht verhindern, daß es ihr schmeichelte.

Im selben Augenblick erschien Arnold in der Tür. Lola zuckte innerlich zurück. Aber sie bemerkte, daß er, in Verwirrung, noch keinen Überblick erlangt habe. ›Immer die Menschen, nicht?‹ – und sie sah weg. Wie er dann keinen Anschluß an die Unterhaltung fand, stand sie auf, setzte sich neben ihn, redete zu ihm ganz beiseite, als sollten alle wissen, wie vertraut sie standen. Sie bat, er möge sie gleich nachher hinausbegleiten. Dann ging sie auf ihr Zimmer und dachte: ›Nein! Ich kann ihn höchstens wie einen Bruder gern haben.‹

Unterwegs begann er von dem Italiener.

»Wie sich manchmal auf den ersten Blick eine Gegnerschaft erklärt! Da haben Sie meinen geborenen Widersacher, den reinen Tatmenschen. Er hat noch keinen Satz gedacht, dem nicht ein Schlag gefolgt wäre.«

»Woher wissen Sie das?« fragte Lola, die Brauen gefaltet; und doch war sie überzeugt, es sei so. Die Einschüchterung, erwiderte er, die solche Naturen bei ihm bewirkten, sei ihm der sicherste Beweis. Und er belächelte sich selbst. Lola ward gereizt durch seine Offenheit, die sie billig und würdelos fand. Sie erklärte, daß sie sich's schon denken könne. Er mußte genau gehört haben, wie höflich und ablehnend es klang; nur aus Mangel an Geistesgegenwart blieb er bei dem Gegenstand, sprach er noch weiter so, als wisse er sie auf seiner Seite. Da sei nun der Mann mit den sicheren fraglosen Instinkten, der Mann alten Stils ... und der äußerste Vertreter der Rasse.

»Keine Beziehungen sind möglich zwischen seinesgleichen und unsereinem: das fühlt man gleich, nicht wahr?«

Lola war voll Ungeduld, ihn aufzuhalten. Er kam wieder auf die Rassenliebe, an die Frage, welche Frau er zu lieben habe, was ihr selbst für ein Mann bestimmt sei. ›Was geht ihn das an!‹ Sie mußte zugestehen, daß manches frühere Gespräch ihm Rechte gebe. ›Eigentlich ist nichts geschehen seitdem. Was habe ich denn? ... Ach, er ist taktlos!‹ So redlich sie dagegen ankämpfte, die schwerste Übellaunigkeit senkte sich auf sie. Lola ging vor sich hin, den Blick am Boden, und wünschte sich mit krankhafter Dringlichkeit, dies nicht mehr zu hören, diesen los zu sein. Wenn sie sprechen wollte, schienen die Kiefern aus Blei. Endlich brachte sie hervor:

»Sie reden über alles sehr klug.«

Da stotterte er und brach ab. Sie gelangten nach Haus, zum erstenmal ohne den nächsten Spaziergang verabredet zu haben. Ein Stück hinter ihnen kehrten Mai und Pardi zurück. Lola blieb stehen; Arnold zögerte, dann verabschiedete er sich.

Mai strahlte und plapperte.

»Wir waren beim Wirtshaus und auf dem Friedhof. Zuerst haben die Bauern einen begraben. Wir waren dabei, es war sehr hübsch. Dann haben sie sich zum Trinken gesetzt und werden bis in die Nacht sitzenbleiben. Ich möchte wissen, wann diese Fremden arbeiten. Der Conte Pardi hat mit einem gewettet. Der Bauer will bis heute abend vierundzwanzig Liter trinken ...«

Pardi ließ Mai in die Veranda treten, zu der Gesellschaft.

»Ihre Mama liebt das Gehen nicht; Sie aber haben, sehe ich, bestaubte Schuhe.«

»Ich gehe gern nach dem Walde hinüber.«

»Der Wald! Seine Kühle! Das ist ein Ideal. Wissen Sie, daß Sie selbst Gedanken in mir erregen, die mit Waldesfrische verwandt sind?«

»Wie Sie mich kennen!«

Einen Augenblick stutzte er und verfinsterte sich; aber der Argwohn, man könnte ihn auslachen, ward gleich wieder von selbstgewisser Süßigkeit aus seiner Miene gelöscht.

»Oh! Sie müssen mir erlauben, Sie zu begleiten. Ich möchte dabeisein, wie Sie die Rehe streicheln. Ich kann mir nicht denken, daß Ihre kleinen Füße die Blumen niedertreten.«

Gegen Abend gingen sie und plauderten unausgesetzt, nur nicht von den Dingen, die Pardi in Aussicht gestellt hatte: Wald, Blumen und Rehen. Er trug eine Menge Klatsch vor, aus Viareggio, dem Bade, woher er kam und in das er zurückkehren wollte.

Dann kamen verachtungsvolle Klagen über Frauen; zornige Ausfälle und unbedenkliche Entkleidungen, und dazwischen immer:

»Sie sind anders. Oh, Sie können diese Abscheulichkeiten nicht einmal verstehen!«

Dagegen verstand Lola, daß er, der durch die Verleumdung aller übrigen ihre Gesinnung zu gewinnen hoffte, auch sie jeder anderen geopfert hätte.

Sie hörte zu und sprach unter fortwährendem Vorbehalt, mit innerem Hohn, als zu einem unzuverlässigen Partner, einem Feind; aber sie kam in Fluß, lachte erregt, bemerkte plötzlich selbst, daß ihr Plappern geradeso gedankenlos lebendig klang wie heute mittag das von Mai. Es befremdete sie kurz, dann fand sie sich ab. ›Immer alles abwägen, für alles ganz eintreten, wie mit Arnold, das ist auch nicht das Wahre, so bin ich auch nicht.‹ Sie war nun so, daß Pardis Wesen sie hinriß. Seine Art, das feste Handgelenk zu schütteln, daß die Goldkette daran klirrte, im Gehen mit geschmeidigem Raubtiergriff einen Zweig herunterzureißen, vermöge des gerundeten Armes, des zur Seite geneigten Kopfes ein Gefühl sichtbar zu machen gleich einer Gestalt; seine Art, angesichts der Menschen, bei denen sein Geist grade weilte, von ausgesuchter Höflichkeit jäh in ungehemmte Feindseligkeit umzuschlagen, die äußerste Spannkraft seiner Gefühle und seiner Mienen, die weiche Wildheit in ihm, das Süßliche und das Gefährliche: seine Art nahm Lola dahin, als triebe sie in blumenüberhäuftem Kahn auf einem Goldstrom, einem gedämpft reißenden, neben dem Paläste aufflammen und über dem ein starker Himmel flimmert. Keine Minute faßte sie, inmitten Gelächter und Lautenklang, Vertrauen. Der Kahn war wohl leck, die Paläste aus Pappe, und was den Fluß bunt sprenkelte, nur Schlamm – aber inzwischen floß sie dahin.

Zu Hause fand sie Mai in übelster Laune.

»Man muß sagen, du nimmst wenig Rücksicht auf deine Mutter! Drei Wochen schon langweile ich mich, dir zu gefallen, bei diesen schlecht Angezogenen. Endlich zeigt sich ein Herr aus unserer Welt, und da führst du ihn den ganzen Tag draußen im Schmutz herum. Aber du bist ein Charakter, der anderen wenig gönnt!«

»Eine Szene, Mai? Wenn ich gewußt hätte, daß du mitgehen wolltest –.«

»Verstelle dich nur! Habe ich dir nicht stets die größten Opfer gebracht? Noch in Barcelona hättest du heiraten können, wen immer du wolltest. Ich, deine Mutter, wäre zurückgetreten ...«

Mai schluchzte.

Beim Abendessen stellte sich heraus, daß nicht sie allein eifersüchtig war. Die Baronesse Thekla schlug einen derb strafenden Ton gegen ihren Vetter an. Frau Gugigl erinnerte ihn mit saurer Munterkeit daran, daß sie alle gemeinsam hätten nach der Römermauer gehen sollen. Lola beteuerte, daß sie die Verabredung überhört habe.

»Ja, ja, ich kann mir's denken!« – und Frau Gugigl versuchte, gutmütig zu lachen.

Gwinner und Gugigl riefen einander, ohne jemand anzusehen, aber mit Ironie, »Prost« zu.

Pardi führte einen geschmeidigen Kampf gegen die bittere Stimmung ringsum. Seine Liebenswürdigkeit breitete sich aus wie ein parfümierter Fächer. Nur der alte Baron Utting und Arnold kamen seinen Werbungen entgegen: Arnold, fand Lola, als ob er ihm dankbar dafür wäre. Mai blieb beleidigt. Und Tini, deren Augen noch nie so groß und schwarz, deren Gesicht noch nie so bleich und gestreckt gewesen war, vereinigte Lola und den Italiener in einem langen Blick, voll eines leidenschaftlichen Zweifels.

Gwinner antwortete sie gar nicht. Wie der alte Utting aus dem Zimmer ritt, verließ auch Tini es, kam aber nach kurzem zurück und begann Pardi wegen dessen anzugreifen, was er am Morgen zur Frauenfrage geäußert hatte. Und diesmal war sie nicht zu beschwichtigen, ließ sich durch keinen Scherz ablenken und stritt erbittert. Gugigl unterstützte sie. Dann fragte er seine Frau, ob sie sich gewogen habe. Endlich scheine die Milchkur anzuschlagen. Die Baronesse Thekla lachte; Gugigl habe sich verraten. Seine Frau verteidigte ihn.

Ein leidlicher Friede kam zustande. Der Ausflug nach der Römermauer ward für morgen neu angesetzt. Nur Mai blieb widerspenstig. Umsonst hielten alle ihr die Seltsamkeit der Ausgrabung vor. Sie zog, das Gesicht ganz dick vom Schmollen, ihr letztes Wort noch hin, im Innern glücklich, weil sie so viele um sich bemüht sah. Sie wisse schon, was dort ausgegraben werde.

»Auch in Brasilien haben wir viele Römersachen.«

Pardi mußte erst seine ganze Erobererkunst auf sie zusammenziehen – und plötzlich platzte sie aus, wie ein Kind, das lange Zeit alle zum besten gehalten hat.

Wie Lola in ihrem Zimmer war, zog sie die Tür hinter sich zu, lehnte sich dagegen und sah darein, wie zum Geflacker der Kerze die Schatten tanzten. Leer und ängstlich war ihr's; ihr Hals fühlte sich zugeschnürt an. Welch ein nichtiger, verstimmter Tag, mit zufälligen und unerquicklichen Menschen!

»Was sollen mir dieser Italiener und dieser Deutsche?«

Sie machten sich gegenseitig erstaunlich unwichtig, hoben einander auf. Man ward müde und verstand sich selbst nicht mehr. Warum mußten grade diese beiden kommen? Draußen in der Welt waren noch so viele, so überwältigend viele Gleichgültige ... Sie ging ans Fenster und sah trostlos ins Dunkle, Weite.

»Nur damit es kleinliche Aufregungen und Krisen gibt.«

Dann wandte man einander den Rücken, reiste weiter, alles entschwand, und mit Überdruß sah man sich in neue, nichtsnutzige Dinge geraten.

Da gedachte sie jener Mondnacht, in der sie hier gestanden hatte. Sie war mit Arnold durch das Land dort unten gewandert, das damals voll entzückenden Truges gewesen war. Umgeben und erfüllt von Bedeutungen hatte sie sich gefühlt ... Sie spähte hinaus, blickte ins Zimmer zurück ... wie alles unwichtig war! Frierend vor Einsamkeit, fiel sie mit geschlossenen, trockenen Augen gegen das Fensterkreuz.

 

Gleich beim Erwachen hatte sie das Gefühl des Erwartens. Sie erwartete, einer von ihnen werde sie holen, dem andern zuvorkommen, sie ihm entreißen. Vor sich selbst verborgen, wünschte sie, daß es Arnold sei. Sie war gespannt von Ehrgeiz für ihn. Er sollte nun zeigen, wie er sich behauptete, sollte ihr beweisen, daß sie den rechten Freund gewählt habe. Er sollte sich messen mit jenem.

Niemand kam. Gegen Mittag begegnete sie Pardi und wich ihm aus, obwohl er sie schon angerufen hatte. Dann war sie, bei Tisch, in Empörung gegen beide: gegen Arnold, der vor Pardi errötete, und gegen den Italiener in seiner banalen Sicherheit. Unversehens ging ihr auf, daß seine Geste aus lockerem Gelenk der des Spielers ähnelte, der mit Karten hantiert. Gleichzeitig sah sie Arnold seinen sorgenvollen, schwachen Griff zwischen die Brauen tun, und sie hatte die Empfindung, als führten zwei Masken, zwei Maschinen ihr ein vorausgesehenes, ärmliches Scheinleben vor.

Es blieb bei der Fahrt nach der Römermauer. Lola hielt es noch immer für unmöglich, daß Arnold sie gehen lasse. Jeden Augenblick mußte er den Mund öffnen und sie daran erinnern, daß es schade sei, ihren gewohnten Waldgang zu versäumen. Als man aufstand, ohne daß er gesprochen hatte, war ihr übel, wie bei einem Verrat. Sie erklärte, nicht mitgehen zu können.

»Du siehst wirklich nicht gut aus«, sagte Frau Gugigl, »Tini, bevor wir aufbrechen, bringst du Lola einen Tee.«

In ihrem Zimmer standen wieder seine Blumen! Welch Geständnis kraftlosen Verzichtes!

Tini trat zu ihr ein; sie hob die Augen fremd, feierlich und scheu vom Teebrett.

»Ich danke dir, Tini.«

Keine Antwort. Das Silberzeug klirrte in der Stille; Tini wandte sich ... Da war sie mit einem schlanken Wurf auf den Knien vor Lolas Füßen. Die Arme um Lolas Hüften, flüsterte sie mit geschlossenen Augen, wie aus einem leidenschaftlichen Traum:

»Weißt du noch, wie wir davon sprachen, daß es so viele Millionen Menschen gibt, und daß doch einmal etwas geschehen kann, und daß ich sicher glaubte, du würdest noch mal ein großes Glück haben? Siehst du, jetzt hast du's! Oh, ich sehe wohl, daß du es hast!«

Und fort war sie. Lola spürte noch ihre wilde Umarmung, wie es auf der Treppe schon wieder still war.

Als sie eine Stunde später hinab in die Stube ging, wartete auf der Schwelle Pardi. Er küßte ihr die Hand und sagte:

»Sie glaubten doch nicht, ich werde ohne Sie diesen Ausflug machen? Natürlich habe ich Briefe vorgeschützt, um Ihnen Gesellschaft leisten zu dürfen.«

Und da er ihre abweisende Miene bemerkte:

»Wie geht es Ihnen? Kann ich Ihnen in irgend etwas nützlich sein?«

»Sind alle fort? Auch meine Mutter?«

»Ihre Mama und – alle.«

»Ich möchte mich in den Garten setzen.«

»Ihre Blässe ist deliziös. Ich schwärme für die kleinen Krankheiten der Frau ...«

»Ich sehe scheußlich aus.«

»Lachen Sie nur! Ich schwöre Ihnen, daß ich weiß, was ich sage; daß ich auch weiß, was ich will.«

Das traf sie. Allerdings: dieser wußte, was er wollte. Und sie widersprach seinen Schmeicheleien nicht mehr. Was für eine Stimme er hatte: biegsam, zart, und doch aus gefährlichem Stoff – wie ein Galanteriedegen. Zu dieser Stunde, war sie versichert, sehnte Arnold, indes er Wohlgefallen an der Römermauer heuchelte, sich mutlos nach ihr, die seiner mit ganz ruhiger Geringschätzung gedachte.

Als er ihr wieder vor Augen kam, konnte sie nur erstaunen über das Maß von Geniertheit und Mangel an Geistesgegenwart in all seinem Gehaben. Sie sah Pardi an, ob nicht auch er erstaune. Den ganzen Nachmittag hatte sie Pardis Fechterkörper sich um sie her biegen gesehen, so leicht und selbstverständlich in seiner Schlagfertigkeit, daß nun Arnolds Ungeschicklichkeiten ihr wie Kunststücke vorkamen. Sie erinnerte sich, eine besondere Schönheit erfaßt zu haben in dem, der weltfremd und unterdrückt war und erst frei ward, wenn er träumte. Die Schönheit war fort; und Lola spürte Scham bei seiner Unschönheit, als sei sie daran mitschuldig.

Die folgenden Tage beobachtete sie Arnold neu, legte alles neu aus. Hatte er nicht, so oft er auf jemand losgehen, sich Blicken, Urteilen preisgeben mußte, Bewegungen, als hielte er sich mühsam vom Davonlaufen zurück? Er war feige. Er war unmännlich in seinem Zurücktreten vor Pardi, in seinem Erröten, seinem Eifer, wenn der Italiener sich einmal mit ihm abgab. Er war ein ängstlicher Egoist, immer in Sorge, sich mit jemand messen, seinen traurigen Frieden aufgeben zu müssen. Das machte ihn kleinlich und ungenerös: jenen Vorfall mit der Bettlerin, der er nichts gab, hätte Lola nur von seinen schönen Worten unbestochen beurteilen sollen. Jetzt bemerkte sie, wie er sich kleine Geldbeträge erstatten ließ, die er für die Gugigls ausgelegt hatte. Sie bekam einen Schreck, so oft sie derartiges wahrnahm. Alle, meinte sie, müßten darauf aufmerksam werden und sie höhnisch ansehen: sie, die solange mit ihm verbündet gewesen war. Fortan vermied sie es, sich neben ihm zu zeigen; sein Anblick erbitterte sie, weil er sie getäuscht hatte; und mehrmals war sie drauf und dran, sich seine Blumen zu verbitten.

Beständig war ihr's, als habe sie das alles schon einmal erlebt, und zwar einfacher und deutlicher; als gliche dieser Arnold einem andern und werde durch jenen erst ganz aufgeklärt werden. Wie sie ihn eines Tages mit einem faltigen Socken dasitzen sah, fiel's ihr ein: Herr Dietrich, ihr Geschichtslehrer! Herr Dietrich, der schüchtern und ironisch gewesen war und mit ihnen wie mit erwachsenen Damen gesprochen hatte. Der Mutter und Geschwister unterhielt und dessen Leben liebreich dahinfließen mußte, voll sanfter, gütiger, edler Gedanken. Dann aber war ihm ein gelber Strumpf über den schwarzen Schuh gerutscht; er hatte mit der dicken Jenny kokettiert und hatte Lola das Haar wieder weggenommen, das sie ihm aus dem Ärmel gezupft hatte. »So etwas tut man nicht!« und »gib's her!« hatte er gesagt ... Die Lust überkam sie, Arnold in das entlarvte Gesicht zu lachen. Ob er nicht der dicken Köchin im geheimen begehrliche Blicke nachwarf? Der Strumpf rutschte ihm nun auch. Und er vertrat keinen guten Geschmack, dieser Strumpf. Arnolds Anzug war manchmal schlechthin der des Herrn Dietrich. Andere Male war er zu sehr das Gegenteil. Er übertrieb und verweichlichte dann die Mode, in der Art italienischer Stutzer. Pardi war maßvoll dagegen; auch brachte er es nicht fertig, einen Lodenkragen dazu anzuziehen. Arnold kleidete sich ungleich, wie jemand, der nicht weiß, was er aus sich machen soll, in welcher Gestalt er sich zeigen und für wen er selbst sich halten soll. Lola erinnerte sich all der Widersprüche in seinen Gesprächen, und sie bemerkte, daß sie, mochte er ihr auch alles in sich enthüllt haben, doch kein fertiges Bild von ihm habe. Wenn er ihr das nächste eröffnet hatte, war ihr das vorige schon nicht mehr gegenwärtig, nicht mehr recht begreiflich, wie es mit unseren eigenen Erlebnissen geht. Sie dachte: ›In ihm fließt alles durcheinander, wie sonst nur in mir selbst. Von den anderen Menschen hat man doch immer einen kurzen, klaren Abriß.‹

Sie versuchte ihn abzutun: ›Er ist widerlich kompliziert. Er kennt keine unmittelbare Regung. Niemals könnte er lieben.‹

Bei Pardi wußte man wenigstens, was vorging: die einfachsten Triebe wirkten, das Leben war frischer, ursprünglicher. Man gab sich nicht von seinen Stimmungen Rechenschaft, und nicht von denen der Landschaft, durch die man ging: man bewunderte darauflos, man hörte mit grundlosem Lachen Komplimente an, die aufs Geratewohl gemacht wurden. Man trat in die Bauernhäuser, war mitteilsam, furchtlos und menschenfreundlich. Man grübelte nicht über Almosen. ›Wie sehr sehnte ich mich in meiner schlimmsten Verlassenheit, unlängst auf dem Meer, nach dem Gefühl menschlicher Gemeinschaft, nach einfacher Liebe zu Menschen!‹ Hier war das Wohlwollen, das aus Stärke hervorging; waren entschlossene männliche Meinungen, die aus der Frau keine große Frage und nicht viel Federlesen mit ihr machten. Manchmal ließ man sich das gern gefallen, auch wenn man widersprach. Man brauchte sich selbst nicht gar wichtig zu nehmen und hatte es leichter. Warum nicht in diesem warmen Lebensstrom dahintreiben?

Und doch störte es sie in Pardis Gesellschaft, daß sie einen Selteneren, Wertvolleren in der Nähe wußte. Sie wehrte sich. ›Ich bin doch jung.‹ Und sie empörte sich gegen Arnold, als hätte er sie an ihrer Jugend, an den Rechten ihrer zwanzig Jahre kürzen wollen.

 

Wenn sie jetzt sang, ward unterm Fenster schallend mitgepfiffen; dann erschien im hellen Rahmen Pardis Kopf; Pardi arbeitete sich herauf, schwang sich lautlos ins Zimmer, störte mit keiner Regung mehr die Sängerin, die, in Tönen befangen, das alles nur wie fernes Schattenspiel geahnt hatte. Und nun sie endete, brach er in stürmisch überzeugten Beifall aus. Seine Begeisterung hatte Herzensklang; naiv gab er sich der Lust hin, die ihr Gesang ihm erregte; und keinen Augenblick war er im Zweifel, daß aller Welt gefallen werde, was ihm gefiel.

»Sie werden Glück haben, ich fühle das!«

Aus der Fülle seines Glaubens an sich selbst gab er Lola ab. Ihre Zukunft zeigte sich auf einmal besonnt. ›Was will ich denn? Alles geht doch herrlich! Wie konnte ich mir neulich einbilden lassen, die Stimme sei in den Hals gerutscht und tremoliere?‹ Denn sie hatte das Gefühl, daß diese Ängste ihr nur von Arnold eingegeben seien. Auch Mai hatte es.

»Siehst du jetzt, daß du eine große Sängerin bist? Als jener Deutsche wie ein Stock dabeistand, mußte er dich natürlich entmutigen!«

Pardi schlug die Noten um; er flüsterte ihr, über sie gebeugt, in den Nacken; und Mai bekam, in seinen Atem gehüllt, starr lächelnde Augen. Auch in ihrem Zimmer sah Lola sie abwesend lächeln. Mai hatte etwas Erweichtes und Verwirrtes, seufzte oft und warf die Augen, wie zum Sprechen, auf Lola. Doch schwieg sie, unter Nöten.

»Ist das Fältchen am Auge jetzt wirklich fort?« fragte sie nach stundenlangen Bemühungen vor dem Spiegel. »Kann niemand sehen, daß es einmal da war?«

»Überhaupt bist du wieder in einer Zeit, Mai, wo du alle Tage jünger wirst.«

Ein neuer Anbeter: und Mai verjüngte sich. Wieder kam sie im Hemd, zum Gutenachtkuß, an Lolas Bett, Vertraulichkeiten auszutauschen, als ältere Schwester.

»Ich glaube, Pardi liebt mich. Hast du nicht auch den Eindruck? Gestern den ganzen Abend hat er sich mit mir unterhalten: die anderen barsten; und heute, wie er mich in der Hängematte schaukelte, hat er mir Dinge gesagt ...«

»Er sagt allen Dinge, Mai.«

»Mich aber liebt er: das ist ein Unterschied.«

»Wie so einer liebt! Du bist kindlich, Mai! Kannst du dir nicht denken, daß er im Dorf schon ein Verhältnis hat?«

»Wer sagt das?«

»Nein, erschrick nicht; ich weiß nichts. Das aber mußt wohl auch du sehen, daß er den anderen drei Frauen hier nicht weniger den Hof macht als dir.«

Mai stutzte und lächelte frohlockend:

»Ach so! Du bist eifersüchtig auf mich?«

Aber da sie Lola erröten sah, warf sie ihr die Arme um den Leib, und ihre Stimme feuchtete sich.

»Du liebst ihn! Ich will nicht deinem Glück im Wege sein! Ich opfere mich!«

Lola machte sich zornig los.

»Darum handelt sich's nicht, Mai. Hast du nicht bemerkt, daß er den ganzen Nachmittag mit seiner Kusine fort war? Sie sind bei der Heuernte gewesen; sie haben im Heu gesessen und, was weiß ich, Bier getrunken.«

»Das ist schrecklich!« – und Mai stampfte auf. »Er wird erfahren, daß man mich nicht zum besten hält!«

»Sei kein Kind, Mai! Die Baronesse Thekla ist vernünftig genug, und sie weiß, daß er der Marie halbnackt Modell steht und mit der kleinen Tini –«

»Halbnackt!«

Mais Aufschrei erbarmte Lola. Sie trocknete ihr die Tränen, herzte und tröstete sie.

»Den Eindruck habe ich zwar doch, daß du, Mai, ihm am meisten gefällst von uns allen. Ihr versteht euch am besten, weißt du.«

»Nicht wahr?« – und Mai ließ sich zu Bett bringen.

»Möchtest du denn Kontessa Pardi werden, Mai? Die Frau von Cesare Augusto Pardi? Welch stolzer Name!«

»Wer weiß ... Vielleicht. Aber nur, wenn du es nicht möchtest.«

»Ausgeschlossen, Mai. Ich könnte ihn niemals lieben.«

Warum lieben? Lola überlegte es oft: was gab es Persönliches an Pardi zu lieben? ›Mit diesem Typus bin ich doch wohl glücklich fertig. Alle waren so, Da Silva und die früheren. Und da ich jene losgeworden bin und auch Da Silva entbehren kann –.‹ In manchen Augenblicken und besonders einmal, als Pardi gelaufen kam: gierig wie ein Tier, ganz auf das Ziel zusammengezogen war er dahergelaufen: da hatte sie geglaubt, Da Silva zu sehen. Sie führte absichtlich dieselben Gespräche mit Pardi wie mit Da Silva, und wußte seine Antworten voraus. Daß er von ›Emanzipation‹ schon gehört hatte, wunderte sie ... Nur stand hier der Typus auf der Höhe des Lebens, war gereift und vollendet: aber nicht gesättigt. Immer noch waren seine Äußerungen auf eine Art, die Lola merkwürdig stark zum Kampf reizte, aus Abenteurerhaftem und Philisterei gemischt.

Gleichviel: Lola hätte es nicht rühmlich gefunden, in den sich zu verlieben, dem links und rechts die Frauen zufallen mußten, der über alle die gleiche, beschämend sinnliche Macht erlangte. Sie spürte eifersüchtiges Unbehagen, wenn sie eine der anderen bei Pardi glänzendere Augen und schmachtendes Wesen bekommen sah, und gleichzeitig schämte sie sich.

Der Italiener erhielt fortwährend alle in Bewegung. Während die eine noch mit verträumten Wangen umherging, triumphierte schon eine andere; und die dritte, die zurückkehrte, ward mit Unruhe gemustert. Mai schmollte halbe Tage, lachte dann wieder alle aus, und am Abend hatte sie eine Tränenkrise. Die Baronesse Thekla fluchte auf bayrisch und kam wenig mehr nach Haus. Frau Gugigl nötigte Tini, mit ihr, nach ihren Einfällen und von der Mode unabhängig, Hüte aufzuputzen. Sie trug den Zopf als Fladen an die linke Schläfe gedrückt und entlieh von den Bäuerinnen die dicken Goldlitzen aus dem großmütterlichen Hochzeitsstaat, um sich Pardi in künstlerischen Gewändern vorzuführen. Über Mais und Lolas Abhängigkeit von Paris gönnte sie sich jetzt spitze Bemerkungen. Saßen alle in der Stube, enthüllte sich hier und da, kurz und halblaut, eine Feindseligkeit. Mai wollte die Läden fast geschlossen, die Baronesse Thekla alles weit offen, und beide erbitterten sich gegen Tini, weil ihr jedes Licht recht war. Frau Gugigl verlangte ungewohnte Rücksichten von Lola, die nicht verheiratet sei. Männerschritte wurden hörbar: und sogleich lief ein künstlich angeregtes Lachen um. Dann waren's nur Gugigl und Gwinner, und sie wurden mit Geringschätzung empfangen.

Sie rächten sich, nun er nicht dabei war, an dem, der sie verdrängte und kleinlaut machte.

»Wo is denn der Katzlmacher?« fragte zuerst Gugigl, und bat mit gutmütigem Grinsen der Baronesse Thekla die Kränkung ihres Vetters ab. Sie hatte nichts dagegen, der anderen wegen, die es in ihren Gefühlen verletzte. Und jede lachte mit: weil sie den übrigen einen Stich gönnte, und auch, um sich gegen Pardi zu waffnen. Wie Gugigl doch komisch war! »Der galante Ratzifatzi«, verkündete er und krümmte sich wie eine betrunkene Schlange und das Gesicht von Süßigkeit ganz verrenkt, um die Damen her. Ja, so war Pardi eigentlich! Gwinner legte, den runden Kopf vorsichtig zwischen den hohen Schultern, Eier um sie her, die Witze waren. Er sagte:

»Alles gleicht sich aus. Wenn ich solchen übermenschlichen Schick sehe, denke ich immer an Löcher im Hemd.«

Er wiederholte dies häufig, gab Rätsel auf, deren Lösung ›ein Loch im Hemd Pardis‹ war, beteuerte jede seiner Behauptungen ›bei den Löchern im Hemd des Pardi‹. In Pardis Gegenwart umschrieb er: ›Bei den Löchern, Sie wissen schon in wessen Hemd.‹ Die Damen kicherten verlegen; Pardi, der umsonst aufhorchte, lachte mit, ein Lachen, das sie rührte, und bei dem sie ihm, wie um Verzeihung, zunickten. Er stutzte, ward plötzlich ernst. Das nächstemal, als er die rätselhaften Laute fallen und die Mienen wieder so verdächtig mitleidig sah, schlug sein bezauberndes Lächeln unvermittelt in eine breite, katzenhafte Drohung um. Die Damen erschraken, Gwinner machte eine kleine demütige Verbeugung. Aber Gugigl, der soeben seinen Maßkrug geleert hatte, richtete sich kühn auf, strich mit der Hand über den feuchten Bart und blickte gefaßt und kundig umher, als sei er bereit, Hand anzulegen, wo es fehlte: ein Faß Bier anzuzapfen oder einem Huhn den Kopf umzudrehen.

»Was is denn?« fragte er, inmitten der Stille, mit hoher Trompetenstimme. »Hier hat doch überhaupt gar niemand Löcher im Hemd.«

Pardi faßte jetzt ihn ins Auge. Gugigl schmetterte prahlerisch:

»Und Katzlmacher gibt's hier auch keinen!«

»Sie meinen?« fragte Pardi. »Was, bitte?«

Seine Kusine schlug auf den Tisch. Ihre nackten, gebräunten Arme lagen darauf; sie beugte sich weit darüber und sah aus, als erstickte sie: so voll zornigen Vergnügens war sie. Das war eine Hetz! Am End' ward noch gerauft!

»Dummer Bua, dich meint er!« schrie sie ihrem Vetter ins Gesicht.

Er verbeugte sich leicht vor ihr. Plötzlich trug er das liebenswürdigste Lächeln, wandte sich an Mai, an Arnold ... Gugigl, den er nicht mehr beachtete, nahm große Schlucke. In allzu geräuschvoller Heiterkeit endete das Mittagessen. Wie man aufgestanden war, wurden Gugigl und Pardi vermißt. Tini stürzte herein, die Augen erweitert von banger und wilder Feierlichkeit.

»Sie sind draußen. Sie wollen sich schlagen!«

»Wer? Bist du verrückt?«

»Pardi verlangt es!«

»Himmel!« machte Frau Gugigl, mit einer kleinen, irren Stimme, die Schultern hinaufgezogen und die geschlossene Hand am Mundwinkel. Die Baronesse Thekla warf barsch hin:

»Blöde Mannsbilder, blöde!«

Mai, die nicht begriff, lachte über sie. Aber Lola gewahrte Gwinner, der aus einem unbeteiligten Winkel herschielte. In einer Wallung von Haß, die sie selbst überraschte, und in dem jähen Drang, zu handeln, sich zu äußern, ging sie auf ihn los.

»Da haben Sie's? Sind Sie zufrieden? Das kommt von Ihren unanständigen Witzeleien! So unanständig wie billig! Jemand braucht nur elegant angezogen zu sein –«

Sie erschrak und brach ab. Gwinner hatte sie demütig, blaß feixend angehört; und von den anderen, die Lolas Ausbruch sicher verstanden hatten, legte niemand ihm Gewicht bei, so verstört waren alle. Lola selbst atmete rascher. Ihr fiel ein, daß Frau Gugigl und die Baronesse Thekla zu ihrem Mann und ihrem Vetter hinausmüßten. Und dann trat sie selbst in die Haustür und beobachtete, wie die beiden Frauen, an die Arme der Männer gehängt, auf sie einsprachen.

Da polterte es auf der Brücke zum Schlafzimmer des Barons Utting; der Pferdekopf erschien an der Hausecke; und neben dem Tier ging Arnold. Der Alte ritt hinüber, vor die Öffnung des Baumganges, beugte sich vom Pferd, legte die Hände auf die Schultern der beiden Gegner. Sein großer heller Bart stieg in der Sonne auf und nieder. Die Gesichter blinzelten, mit scharfen Schlagschatten, zu ihm hinauf. Frau Gugigl flatterte, unter den kleinen, bunten Flügelschlägen ihrer weiten Hängeärmel, um die eifrige Gruppe.

Nun schien es dem Alten gelungen, er wandte das Pferd. Lola kehrte ins Zimmer zurück. Gleich nach ihr kam Gugigl, hob die Arme, schnitt Fratzen und krähte darauf los:

»Mir war's g'nua! Eine Courasche wenn der Katzlmacher hat!«

Der Anblick seines Maßkruges gab ihm Festigkeit. Er ergriff ihn, stemmte sich auf gespreizte Beine und hob ihn nervig an die Lippen. Die beiden Frauen brachten Pardi herein; er mußte mit Gugigl trinken. Er tat es unter knirschendem Lächeln, richtete an die Damen einige galante Sätze und verschwand wieder. Man war besorgt und unzufrieden.

»Ah! der stört die Gemütlichkeit!« rief seine Kusine. »Da sieht mer's, was dees da drunt für Bazi sein!«

»Gehn's, machen's doch an Witz!« – und Gugigl sah aus geröteten Augen erbittert auf Gwinner.

»Wissen Sie, warum er sich mit Ihnen schießen möchte?« begann Gwinner pünktlich. »Damit auch Ihr Hemd Löcher kriegt!«

Nur Frau Gugigl lachte. Tini fragte tiefernst, mit etwas Starrem im Ton:

»Und Sie, Herr Gwinner? Würden Sie sich schlagen?«

»Ach ja, das ist interessant!« – und Frau Gugigl hüpfte empor. »Wie stehen wir eigentlich zu der Frage im allgemeinen?«

Gwinner erklärte, er würde solche Sache in zwei Minuten erledigt haben. Für ihn als modernen Menschen sei der Zweikampf ein einfacher Unfug und tief unter seiner Würde; – und er erklärte es in so herausfordernder Sprechweise, als hätte er jedes Wort sogleich mit der Waffe vertreten. Frau Gugigl stimmte begeistert zu. Tini stand ohne Regung; sie sagte langsam, und jede Silbe ward von einer rätselhaften Schwere erschüttert:

»Das hatte ich von Ihnen nicht anders erwartet.«

Lola wandte sich nach Arnold um.

»Wie denken Sie?«

»Über den Zweikampf? ... Ich habe vorhin eingegriffen, um einen zu verhindern ... Was mich betrifft: – aus eigenem Drang würde ich mich vielleicht schlagen, nie um der Welt willen. Es muß jemand dasein, der nicht mehr leben darf: dann ja ... Aber wer hat so starke Affekte? Vielleicht ... Ich weiß nicht, komme ich für das Duell in Betracht? Alles kann eintreten: auch daß ich einen Orden erhalte oder ins Zuchthaus komme. Nur kann ich mir's nicht vorstellen ...«

»Ist er nicht zu komisch?« fragte Frau Gugigl. Ihr Mann bemerkte:

»Ah! Freunderl! Sie san g'scheit.«

Und Lola schwieg, enttäuscht. Sie hatte sich gewünscht, auch ihn verachten zu dürfen. Nein: er behielt das Recht, ihr Blumen, als Mahnungen, ins Zimmer zu stellen ...

 

Plötzlich stieß Mai einen Schrei aus. Sie hatte begriffen, was vorgegangen war! Nachträglich kam alles in ihr in Wallung. Lola brachte sie hinauf. Wie Lola dann am Fenster stand, sah sie, unvorbereitet, Pardi aus den Büschen treten. Er stand grade unter ihr, ganz nahe: sie unterschied die gesträubten schwarzen Härchen auf der energischen Blässe seines Gesichts und erschauerte, als werde sie von seinen Wimpern gekitzelt. Flüsternd und eindringlich, mit einer Art herrischen Flehens, verlangte er, daß sie hinunterkomme. Sie sah sich um: Mai hatte nichts gehört; und sie ging, leicht betäubt.

Pardi erwartete sie am selben Fleck. Sie vermieden die Vorderseite des Hauses und erreichten durch eine vorsichtig geöffnete Seitenpforte den lautlosen Wiesenboden.

»Ich danke Ihnen!« sagte Pardi, leise und stürmisch. »Wie sehr habe ich es in diesem Augenblick nötig, zu jemand zu sprechen, der mich versteht! Ist es zu glauben, daß man hier die Dienstboten mit ›Sie‹ anredet und sogar den Kopf vor ihnen entblößt?«

Lola sah ihn rasch an – und dann konnte sie ihr Gelächter nicht mehr dämmen. Er war zornig erstaunt.

»Auch Sie? Lachen Sie doch nicht! Sie kennen diese Leute noch nicht. Alles Sozialisten und Schlechterzogene! Man braucht nur ihre Kleidung anzusehen. Die Schuhe und die Nase dieses Gugigl: beide krümmen sich nach oben. Verkommen sind alle, überzeugungslos und feige. Sind das noch Männer, die ihren Frauen diese Sitten gestatten und diesen Ton? Wer stopft hier die Socken? Mulier subiecta viro. Leugnen Sie es nicht! Ich weiß, welche Ideen Ihnen jener Hölzerne, Furchtsame, einzuimpfen trachtet. Aber sehen Sie nur seine Hände an, die immer weich werden und anschwellen ...«

Lolas Lachen brach ab.

»Sie sind zu klug: Sie lassen sich nicht unglücklich machen. Glauben Sie mir: die Frauen hier sind sämtlich unglücklich. Man hat ihnen die Zügel abgenommen, und allein wissen sie nicht wohin und wie sich wehren ... Sie aber, was tun Sie hier? Sie sind doch stärker als alle diese.«

Er ließ ihr den Vortritt auf das Brett über einer sumpfigen Stelle. Aber am Ende des Brettes trat sie in Wasser und wandte sich um. Auch er blieb stehen.

»Sie sind doch stärker!« wiederholte er und warf sich dabei selbst in die Brust; und durch seinen leichten, engen Leinenärmel hindurch sah sie, daß er die Muskeln anspannte. Feindselig, auf ihrer Hut, führte sie ihren Blick hinauf, bis in seine Augen, und in den sprachlosen Sekunden, die sie einander musterten, war es ihr auf einmal heftig erleuchtet, nicht mit den Hiesigen und nicht mit Arnold habe sie Zusammenhang ... Sie erschrak über den Leichtsinn, mit dem sie zu dieser Begegnung ausgegangen war, und darüber, daß sie noch soeben gelacht hatte.

»Also kehren wir um!«

»Haben Sie Furcht?«

»Wovor denn? Die Wiese ist ungangbar. Vor Ihnen doch nicht? Sie sind ja noch einer von den Rittern.«

»Ein Jäger, sagen Sie! Der Mann ist Jäger.«

Da sie schwieg:

»Ihre Mama spricht davon, nach Italien zu gehen. Sie werden mir hoffentlich bald nachkommen. Denn Sie begreifen, daß ich nach dem Vorgefallenen nur noch der Form wegen zwei Tage mit der Abreise warte. Wir müssen uns aber wiedersehen.«

»Es wird mich freuen, wenn es sich so macht.«

»Nein! Wir selbst müssen es machen! Ich gehe nach Viareggio; aber ein Telegramm, und ich fahre Ihnen entgegen, wie weit Sie wollen!«

»Ich begreife gar nicht ...«

»Sie begreifen vollkommen, daß Sie zu uns gehören. Warum? Warum? Erstens haben Sie eine gute Schneiderin.«

»Das allerdings.«

»Und dann viel Leidenschaft.«

»Das ist nicht wahr!«

»Das Temperament, womit Sie's leugnen! So viel bringt man hierzulande höchstens auf, wenn man getrunken hat.«

Er neigte den Kopf auf die Schulter.

»Sie sind anbetungswürdig.«

»Sagten Sie nicht, daß Sie Jäger seien? Wirklich, manchmal sind Sie wie ein Jäger, der sein Wild gerührt bewundert, bevor er es totschießt.«

Sie waren bei der Pforte. Lola dachte daran, wie sie ihn loswerde, bevor man sie sähe: da verabschiedete er sich; er gehe noch nach dem Walde.

Hinter einem Busch rief Tinis Stimme, und sie klang erstickt:

»Komm her, Lola, ich muß mit dir reden!«

»Was ist denn, Tini? Wie hast du dich komisch hingesetzt?«

Tini saß neben einer Bank, fast unter ihr; griff mit ihren langen Armen um das Sitzbrett herum und hielt den Mund in die Arme gepreßt.

»Lola, wie ist nun alles schrecklich!« jammerte sie und hob nur die Augen auf. »Warum mußten sie in Streit kommen! Jetzt hab ich gesehen, daß Gwinner ein Feigling ist.«

Lola ließ sich rasch neben Tini auf die Knie, zog Tini in ihre Arme, hielt ihr den Mund mit ihren Lippen zu.

»Er ist kein Feigling, arme Tini! Wie kannst du nur glauben! Er will keine Gewalttat begehen, weil er sie ungerecht und unschön findet.«

»Du willst mich trösten.« Aufschluchzend: »Du bist gut. Aber das ist doch klar, daß Pardi ein stärkerer Mann ist. Und dann kann mir die moderne Weltanschauung auch nichts nützen, wenn einer sich nicht schlägt. Denke dir, man wird beleidigt, und er schlägt sich nicht für mich. Schrecklich! Schrecklich!«

Der Schmerz schüttelte Tinis Kopf, und das Weinen verzerrte ihr Gesicht zu einer Kindergrimasse.

»Du hast ihn wohl sehr lieb gehabt, Tini?«

Tini schrak auf, – und plötzlich fiel sie in Zorn.

»Nicht die Spur! Nur mit Reden hat er mir imponiert, gerade wie – na, ich kann's wohl sagen: gerade wie der Arnold dir!«

Lola ließ Tini los; schnell, ehe sie die Kränkung, die sie fühlte, bedacht hatte:

»Der taugt doch wohl mehr, Tini.«

»Wieso?«

Beide senkten die Hände bis zur Erde, und, Tini sitzend, Lola auf den Knien, sahen sie einander ganz nahe in die Augen.

»Hat er vor Pardi nicht Reißaus genommen? Meinst du, ich merke nicht, was du durchmachst? ... Und ich mit Gwinner! Du weißt noch gar nicht: ich wollte Diakonissin werden, so fromm war ich. Immer hab ich mich geschämt, es dir zu sagen. Er aber hat mir Nietzsche zu lesen gegeben und mir so viel Sprüche gemacht, bis ich glücklich ein modernes Weib war. Da hab ich nicht mehr gewußt, bin ich in ihn verliebt? Ich fragte dich doch, an was man's kennt! Und wollte, daß er mich entführen sollte. Er sagte natürlich, es sei nicht modern. Das sagt er immer; damit redet er sich aus allem heraus: gerade wie dein Arnold. So sind sie jetzt. Ich aber bin anders!«

Und Lola sah wieder in die haltlos kreuzenden Augen eines wilden jungen Vogels. Sie wich ein wenig zurück.

»Da kam der Pardi«, sagte Tini und nickte heftig. »Das ist einer, der täte es. Aber meinst du, daß ich ihn mag? Er macht mir einen so gemeinen Eindruck, Lola! Ich kann dich nicht genug vor ihm warnen!«

»Du bist noch sehr jung, Tini.«

»Aber schon furchtbar verdorben!«

Mit einem großen Ruck:

»Ich muß knien, ich!«

»Du, verdorben?« – und Lola streckte wieder die Arme aus? »Durch was denn? Nichts ist geschehen, arme Tini. Mit dir nicht und mit mir nicht ...«

Ganz neues, durchdringendes Mitleid fiel Lola an, mit Tini, mit sich: als seien sie beide verschmäht worden, und sie fühlte sich demselben haltlosen Kinderweinen nahe, das vorhin Tini erschüttert hatte. Gern hätte sie Tini wieder an ihrer Brust gehabt; aber Tini machte sich steif, und sie war stärker.

»Was soll denn geschehen?« fragte sie mit ganz leerem Jungfrauengesicht. »Wir haben doch unsere Gedanken, nicht? Und die sind nun anders und kommen nicht mehr so wieder wie einst ... Ich wollte, ich könnte noch Diakonissin werden!«

Und bekennerhaft zurückgeworfen, mit leidenschaftlichem Atem:

»Es ist nicht wahr, daß ich Pardi nicht möchte. Ich hab dich gehaßt, und deine Mama auch, und die andern auch: weil ihr mir ihn wegnehmt!«

»Ich nehme ihn dir nicht weg, Tini!«

»Doch! Gerade du! Paß auf, du wirst ihm folgen, wenn er fortgeht!«

Wie Lola sie mit Grauen ansah, warf Tini sich über sie.

»Und ich –« krampfhaft, erstickt: »– werde dir dazu helfen. Du sollst sehen! Denn dich will ich nicht hassen, Lola. Du bist die einzige, die ich wirklich liebe, Lola: du bist mein Ideal ... Mit den Männern ist es nichts ...«

Durch Tränen befreit, begann sie ein Liebkosen.

»Warum liebst du mich nicht?«

»Ich habe dich so lieb wie meine liebste Schwester.«

»Wirklich? Ich dich aber viel mehr! Schwester: was heißt das? ... Und warum hast du mir nie ein Wort des Dankes für meine Blumen gesagt?«

»Deine Blumen?«

»Die ich dir fast jeden Tag hingestellt habe.«

»Du hast –. Das warst du?«

»Wer sonst? ... Ach! Arnold? Du dachtest? ... Oh! Mach nicht solch Gesicht! Das ist entsetzlich! Ich wollte, ich hätte nichts gesagt. Vielleicht hat auch er welche hingestellt ... Bist du mir nun böse?«

Lola faßte sich.

»Es macht gar nichts. Ich dachte wahrhaftig, er sei verliebt in mich, und wenn man dann merkt, er ist es nicht, ist man blamiert, weißt du.«

Tini hielt Lolas Gesicht zwischen den Handflächen fest und ging mit den Augen darauf los.

»Und du liebst ihn nicht?«

»Nein!«

»Das ist recht: du hast nicht gezuckt ... Hab ich dir nicht längst gesagt, daß er mir widerwärtig ist? Und auch unheimlich? Das ist nichts für dich, meine Lola. Ich habe jetzt meine Erfahrungen, und wenn du einen Mann willst, nimm schon lieber den Pardi!«

»Ich will mir's überlegen.«

Lola stand auf. Tini fiel vornüber auf die Hände.

»Au au! Hilf mir auf, Lola! Hast du dir nicht auch die Steine in die Knie gedrückt?«

Mit wehmütigem Rückblick auf die Stelle, wo sie gelegen hatten, und aufseufzend:

»Wenigstens hab ich Hunger gekriegt.«

 

Auf der Schwelle, wie sie schon wieder die gewohnten Menschen um denselben Tisch sitzen sah, merkte Lola, daß sie am liebsten umgekehrt wäre. Alle Anstrengungen, unbefangen zu scheinen, ermöglichten ihr kaum, höflich zu bleiben; und es wird ihr zur Qual, beim Sprechen den Leuten ins Gesicht zu sehen. Zum Glück war die Verstimmung allgemein. Jeder nahm sich sichtlich zusammen, um nicht auszubrechen gegen jeden. Mai sagte plötzlich etwas Unliebsames zu Arnold. Pardi legte sich geschmeidig ins Mittel: er war der einzige, der sich nichts anmerken ließ; und Lola war ihm dankbar dafür, daß er sich in der Gewalt hatte. Wenn er sie anredete, atmete sie auf.

Er unterhielt die Gesellschaft von Monte Carlo, erklärte ihnen sein System, glitt allmählich von den anderen ab und trachtete nur noch Lola zu überzeugen. Überrascht, da sie zurückblieb:

»Sie haben nie gespielt?«

»Ich traue mir kein Glück zu.«

»Das müssen Sie: sonst verlieren Sie.«

»Drum habe ich nie auch nur das einfachste Kartenspiel gelernt.«

»Ich zeige Ihnen eins. Wollen Sie? Sie werden gewinnen!«

Sie richteten sich im Winkel ein. Aber die Regeln des Whist machten Lola hoffnungslose Langeweile; sie mußte dazwischen nach Gwinner hinhören, der wieder einmal Schriftzüge und Handflächen deutete. Tini hielt ihm ihre hin und machte sich dabei, weit von ihm weggebeugt, ganz steif.

»Bei mir muß sich manches gründlich verändert haben«, sagte sie fast ausdruckslos, vielleicht mit leiser Trauer und entferntem Hohn.

Er stotterte, fand nichts zu sagen; und von der Hand aufzusehen, wagte er auch nicht.

»Doch, ich weiß eins«, entdeckte Lola plötzlich. »Ein sehr altes, ganz einfaches: als Kind lernte ich es von meiner Großmutter, drüben auf der Großen Insel. Lassen Sie mich's wiedersuchen!«

Sie warf die Karten durcheinander, teilte sie neu aus, probierte, dachte nach ... Ihr war, als zöge sie ein Stück Kindheit wieder an sich, abhanden gekommenes Glück und verlernte Zuversicht. Ein etwas mißgelauntes altes Gesicht unter einer Faltenhaube erschien ihr. Erregt lachte sie vor sich hin. »Damals gewann ich immer! Alle Orangen gewann ich Großmama ab. Oh, in diesem Spiel werde ich auch heute noch gewinnen!«

»So, also so: passen Sie auf! ... Sie haben begriffen? Einen Pfennig die Partie.«

Pardi lachte, erklärte das Spiel für sehr schwierig und verlor. Er verlor mehrmals.

»Ich bin unglücklich, solange das Glück keinen Gegenstand hat. Haben Sie etwas dagegen, daß wir diesem Pfennig den Wert einer Million beilegen?«

Lola erschrak. »Aber – das ist etwas ganz anderes. Und ich habe nicht so viel Geld.«

Pardi wollte sich ausschütten.

»Was denken Sie! Wenn das Spiel aus ist, wird der Pfennig wieder zum Pfennig und verpflichtet zu nichts.«

»Also gut.«

Sie schämte sich ihrer Furcht. Lachend verlor sie die erste Partie, lachend die zweite.

»Drei Millionen!« sagte Pardi nach der dritten und sah sie, beim Geben, von unten an. Sie stutzte. Seine Stimme klang ihr weicher und gefährlicher als sonst. Unter dem Überfall eines kindischen Entsetzens glaubte sie seinen Mund teuflisch verzogen zu sehen.

Sie verlor weiter. Betäubt ließ sie's geschehen und sah zu, wie seine allzu geschickten, weißen und starken Hände mit Karten hantierten, das Kettchen am Gelenk erklirren ließen, auf ein Papier ungeheure Zahlen setzten, die sie verloren hatte ...

»Sind wir nicht Kinder?«

»Ja – aber ich habe genug, ich bin müde.«

»Also sieben Millionen: merken Sie sich's. Vielleicht, daß ich später meine Forderung einziehe.«

Sie versuchte, noch im Weggehen, zu lachen. Aber in ihrem Zimmer schloß sie die Läden, kämmte sich langsam und mochte noch lange das Licht nicht löschen.

›Wenn es nicht das alte Kinderspiel gewesen wäre, in dem ich immer gewonnen hatte!‹

Aber erklärte dies wirklich ihr Grauen vor dem Scherz, der ihr eine Schuld an Pardi auferlegte: eine untilgbare, lebenslängliche?

 

Aus unruhigen Morgenträumen fuhr sie auf, unzufrieden, weil es schon so spät war. Vor Tag, erinnerte sie sich, war sie schon einmal aufgestanden, hatte das Fenster geöffnet und sich versprochen, in der stillsten Frühe in den Tau hinauszuwandern. Welche Erfrischung ihr das bringen sollte! Nun lasteten Sonne und Leben schon wieder schwer. Um nicht mit Pardi zusammenzutreffen, verzichtete sie auf das Frühstück, ging gleich ins Freie und war froh, den Gugigls mit Tini und Gwinner zu begegnen, sich in den Haufen bergen zu können. Auch Arnold war dabei, und wie die andern unter sich beschäftigt waren, begann er schon:

»Sie sind dieser Tage in Unruhe ...«

Und das klang, als ob er Aufklärung, Ordnung für alles wisse; und Lola hielt sich schon vor, mit welchem Recht sie ihn verachten wolle, ihn abgetan glaube. Die Blumen? Wann hatte er vorgegeben, ihr zu huldigen?

Da kam aber Frau Gugigl dazwischen. Etwas Wichtiges war im Gange. Gugigl keuchte unter einem Sack: darin waren leere Farbentuben, deren Blei er einschmelzen wollte. Den Kessel trug Gwinner. Er stellte ihn auf den Grashügel. Tini und Frau Gugigl liefen nach Reisig. Gugigl leerte, unter Kommandorufen an die Helfer, den Sack in den Kessel, beaufsichtigte, entschlossenen Blickes, den Vorgang des Schmelzens, rührte in dem Brei, entfaltete, indes ihm die Frauen achtungsvoll zusahen, eine ernste und gespannte Tätigkeit.

»Einen Klump gibt's, einen großartigen!« verhieß er, heimlich fiebernd.

Gwinner fragte ihn wohlwollend und nicht besonders sachlich, wie einen talentvollen Knaben:

»Und wozu brauchen Sie eigentlich den Klumpen?«

Gugigl wandte sich rasch und kühn nach ihm um.

»No – damit i halt an Klump hab!«

Der Kübel Wasser, den er verlangt hatte, ward von zwei Mägden herbeigeschleppt. Gugigl setzte ihn auf den Rand des Kessels. Alle reckten im Kreise die Hälse.

»Jetzt abkühlen!« – und er stülpte den Kübel um.

Im nächsten Augenblick taumelte Lola, die Augen zugedrückt, mit Tini zusammen. Es hatte furchtbar geknallt, und noch immer flogen Bleistücke umher. Mit Grauen kam man näher. Gugigl stand sprachlos da und zupfte sich das Metall aus den Kleidern. Sein erstes Wort war:

»O damisch!«

Und das Gwinners:

»Hat zufällig einer der Herrschaften noch seine beiden Augen?«

Dann brach große Heiterkeit an – und Lola war glücklich über alles: daß es Menschen gab, die solchen Unsinn betrieben; daß man lachen konnte, und daß man in Gefahr war; daß etwas geschah und nicht in ihrem Innern geschah ...

 

Gegen Abend wollte sie, um auszugehen, wie immer, durch die Stube. Noch rechtzeitig sah sie durch den Spalt und schrak zurück: da stand er. Wartete er? Langweilte er sich einfach? Er nahm eine Zeitung, warf sie wieder hin, ging zum Fenster und zurück, mit den Augen auf der Tür, hinter der Lola ihn belauschte. Einen Moment fürchtete sie, er bemerke sie: so wach war sein Blick. Er wendete sich, streckte elegant die Büste, tat keine Bewegung, der nicht eine Gesellschaft hätte zusehen dürfen. Lola dachte an Arnold, damals, wie sie ihn mit sich selbst belauscht hatte. Pardi – sie erkannte es mit einer Art Grauen – war nicht allein: war offenbar nie allein; war immer in Gegenwart seiner Menschen, seiner – Opfer, mußte sie denken; war immer sprungbereit. Keinen Augenblick vergaß er einen, und immer mußte man vor ihm auf der Hut sein ... Vorsichtig ging sie von außen um die Stube herum.

Von einem hohen Acker vor der Sonne, auf dem Heu gebunden ward, rief ihr jemand nach, und wie sie noch umsonst hinauf blinzelte, lief die Baronesse Thekla ihr entgegen. Droben kreischten die Dirnen; eine schrie hinter der Laufenden her:

»So eine reine Jungfrau als wie du!«

»Ich schwatze mit ihnen über ihre Liebesgeschichten und stelle mich naiv«, sagte die Baronesse Thekla zu Lola. »Dabei haben sie keine Ahnung, was ich durchgemacht habe.« Und sie begann von einem Leutnant ... Vielleicht hatten die Ereignisse, hatte die wühlerische Stimmung des Hauses sie in Fluß gebracht. Vielleicht trieb es sie, Lola vorzuführen, daß es ihr mit Pardi nicht Ernst sei und sein Verschwinden an ihr nichts ändern werde. Ausführlich klagte sie. Der Leutnant war zart und fein; auf einem Hof ball hatten sie sich kennengelernt. Er konnte Schnadahüpfln singen. Aber er hatte kein Geld, und um sie zu trennen, war er in die Provinz versetzt worden. Die Baronesse Thekla mochte keinen andern, sie haßte die Gesellschaft und wäre lieber eine Bauernmagd gewesen.

Lola hörte dem zu und verachtete es. Sie verachtete die Trägerin dieser landläufigen, billigen Schmerzen, und aus der Ferne beneidete sie sie auch. Lieben, nicht glücklich werden dürfen und sich trösten, wie es geht: damit war man in der Ordnung und hatte es leicht. Aber zu einem Manne hingezogen sein und ihn dabei höhnisch durchschauen! Aber seinem Gegner sich so nahe fühlen als ihm! Aber nie wissen, ob man für die Liebe gemacht ist, die doch bereit wäre, in einem aufzustehen! Sich selbst nicht trauen dürfen! Geteilt sein! Nirgends ganz zu Hause, seines Eigensten nicht habhaft, fragwürdig und der Antwort auf immer unmächtig!

 

So ward es Abend. ›Glücklich der letzte Abend, und morgen ist er fort, und ich werde aufatmen.‹ Lola war lauter als sonst, weil sie Befangenheit verbarg. Im Lauf des Pfänderspiels zog sie den Stuhl weg, auf den Gwinner sich eben setzte, hob Gwinner mit erschrecktem Gelächter vom Boden auf und lachte, indes er vor verwundeter Eitelkeit knirschte, haltlos weiter.

Dann sollte sie draußen ihre Aufgabe erwarten. Sie stand auf der Veranda, vor dem Dunkel, das sternenlos und schwül war – und wie drinnen die Beratung ein wenig lange währte, näherte sich ihr die Versuchung, da hinaus zu wandern, plötzlich alles abzuschütteln. Sie dachte daran nur wie an eine bezaubernde Unmöglichkeit, eine Entführung durch den Widderwagen, den, schlimmer Werbungen müde, Prinzessin Eselshaut besteigt. Nur im Spiel ging sie die Stufen hinunter, tastete einige Schritte durch den Garten ... Sie lauschte rückwärts: Stille – und lächelnd über ihre unsinnige Tat und immer noch als sei's nur Probe und ohne Belang, stieß sie die Pforte auf, machte ein Stück der Straße, die sie nicht sah ... Nochmals blieb sie stehen; ihr war's, sie werde gerufen. Und da lief sie geradeaus, stürzte sich in das Dunkel, das so unwiderstehlich lockte mit seiner großen Freiheit und Unempfindlichkeit. ›Sollen sie denken, was sie mögen! Für heute bin ich alles los!‹

Aber das Dunkel regte sich. Wie es zirpte und duftete! Welche lauen, schwarzen Wellen einen umspülten! ›Warum habe ich nicht alle vorigen Nächte solchen Spaziergang gemacht? Nie ist man wacher und nimmt freier auf als wenn man allein ist. Ich will keine Menschen ...‹ Sie hielt eine Weile an, um einen einzelnen Glockenschlag zu genießen. Langsam, berauschend erfüllte er ihr den Kopf. ›Wenn ich die ganze Nacht wandern würde, wo mich wohl die Sonne träfe? Seltsam, nichts erkenne ich wieder. Bin ich auf einen unbekannten Weg geraten?‹ Eine riesige Mannesgestalt stand vor ihr auf. Mit dem nächsten Blick und noch zitternd unterschied sie einen Heuhaufen. Häufiger blieb sie stehen und lauschte auf etwas Unbekanntes. Wenn nun Schritte kamen? Jemand konnte ihr nacheilen. Nur natürlich war's, wenn man sie suchte. ›Wer wird es sein?‹ Und plötzlich: ›Wer jetzt zu mir stößt, der ist es!‹

Vor einem Walde zögerte sie lange. Dort innen ward ihr armer Weg vollends erstickt. Jene regungslose Finsternis mußte einem den Atem nehmen! Man fand nicht mehr heraus! Aber der Wald war unerbittlich? er zog Lola an sich, legte Arme um sie ... Da, rasche Schritte: rasche und starke Schritte, quer übers Feld. Und einer kam auf sie zu, das Dunkel durchbrechend.

»Fräulein Lola?«

Pardi, selbstverständlich. ›Der andere wird sich doch nicht aufraffen. Ich konnte voraus wissen, wer von ihnen zu mir stoßen würde. Das bedeutet natürlich nichts. Was für eine dumme Wette das war!‹

Er war da.

»Fräulein Lola –«

Er gab ihr, hier zuerst, ihren Namen. Sie griff sofort ein.

»Sie haben es so eilig? Was gibt's denn?«

»Alle suchen Sie! Die anderen sind nach den übrigen Richtungen.«

»Suchen mich? Ich begreife nicht, was man will. Wie oft bin ich abends auf einige Minuten allein hinausgegangen.«

»Einige Minuten! Eine Stunde sind Sie fort, und niemand weiß, was Ihnen zugestoßen ist.«

»So hat mir's heute mehr Spaß gemacht als sonst. Und zustoßen? Was denn? Die Gegend ist sehr friedlich. Überdies kenne ich jedes Haus am Wege. Warten Sie: wenn wir durch den Wald sind, kommt links ein Holzhaufen und dann ein Weg und ein Kruzifix.«

Entschlossen betrat sie den Wald.

»Auf diesem Baumstumpf habe ich oft genug gesessen. Die Form dort hinter den Zweigen ist eine Holzfällerhütte. In dieser Zeit übernachtet meist jemand darin ...« Alles sehr sicher und umsichtig. Sie ging, die Arme auf den Rücken verschränkt, dahin, indes Pardi stolperte, sich nicht zurecht fand, auf nichts vorbereitet war. Und so oft er ihr mit einem Wort näherzukommen drohte:

»Achten Sie auf den Weg!«

Sie selbst war sich bewußt, einen höchst gewagten zu gehen, fast schon durch leere Luft; – und in Gegenwart der wirklichen Gefahr sah sie keine Phantome mehr, hatte den Traum abgeschüttelt, das Spiel weggeworfen und beaufsichtigte mit trockenem Mißtrauen, was geschah.

»Der Wald ist noch lang. Sie kennen ihn nicht, er ermüdet Sie. Ich habe die Absicht, bis ans nächste Dorf zu gehen: kehren Sie um, ich werde es nicht übelnehmen.«

In völliger Finsternis standen sie sich gegenüber; aber Lola klopfte das Herz vor bangem Stolz, weil sie ihn in dieser Minute so sehr unterlegen wußte, daß er zögerte und ihren Vorschlag vielleicht annahm ... Plötzlich sah sie sein Gesicht aufschimmern. Beide wandten sich: ein Licht schwankte um die Bäume, Stimmen und Schritte waren unvermittelt da, eine rote Lache lief über den Weg herbei, und große, dumpfe Schatten kamen mit.

»Hinter mich!« raunte Pardi und faßte Lolas Arm. Sie hatte Furcht; und ihre plötzliche Einschüchterung und ihr Schutzbedürfnis genoß sie lautlos, wie ein schimpfliches Glücksgefühl.

Die Kommenden wurden kenntlich. Ein Greis hielt einen Mann aufrecht, der ein blasses, wütendes Gesicht und Blut unter den Haaren und am Hemd hatte. Eine Frau trug die Laterne und zog ein Kind nach. Da, ehe der Alte zugriff, war der Mann gegen einen Baum getaumelt und stöhnte auf. Pardi trat an sie hinan. Lola ward sich bewußt, außer Gefahr und in Menschennähe zu sein; und sie zitterte ganz vom Nachlassen der Spannung, worin dieser Gang zu zweien und im Finstern sie erhalten hatte.

Sie mußte hin und die Erklärungen der Leute zu verstehen trachten. Der Bauer sollte mit seinen Messerstichen zum Arzt geschafft werden. Seine Betrunkenheit erschwerte das Vorwärtskommen nicht weniger als seine Verletzungen. Der Alte war erschöpft ... Pardi machte eine Handbewegung, zog das Jackett aus, warf es der Frau zu, – und mit einem Ruck hatte er den Mann auf den Schultern.

»Vorwärts!« Und munter, ohne Keuchen: »Gnädiges Fräulein, Sie können mir glauben, daß es mir lieber gewesen wäre, den Rückweg allein mit Ihnen zu machen – und im Dunkeln.«

»Wirklich? Aber Sie machen so eine viel bessere Figur!«

Sie fand es selbstverständlich, was er tat, mit solcher Leichtigkeit tat er's, – und doch sehr schön. Die schweißigen Ärmel des betrunkenen Raufboldes engten ihm den Hals ein, verdarben ihm die Weste; die großen schwarzen Hände fuhren ihm übers Gesicht; die steifen Knochen des Bauern rutschten, Pardi mußte sie überall anpacken, stützen, mußte machen, daß sie mit seinen geschmeidigen Bewegungen mitglitten. Lola lachte auf.

»Sie erinnern an einen Tiger, der den Bacchus trägt!«

Er antwortete fröhlich:

»Ich will die Frau Gugigl bitten, uns zu malen.«

Und sie bewunderte ihn vollends. Oh, er konnte auch Lachen vertragen: er fühlte sich viel zu sehr in Tätigkeit und Kraft. Menschliche Schmerzen, menschlicher Schmutz ekelten ihn nicht; er scheute nicht das feste Anpacken menschlicher Körper. Er war selbst ein ganzer Mensch. Der andere war keiner. Sie stellte sich vor, wie der sich hier benommen haben würde. ›Ja, den darf ich wirklich verachten!‹ Dieser aber war stark, eigentlich war nichts gegen ihn zu machen. Mit einer Art von Begeisterung erkannte sie es an. Sie sagte zu den Leuten, daß sie froh sein könnten, diesen Herrn getroffen zu haben.

»Wollen Sie denn nicht ausruhen?« fragte sie ihn. Er brachte ein Nein hervor, das sie wieder bewunderte. Dazwischen drang die Erkenntnis durch, wie gefährlich ihr zu Sinn sei. Sie wollte glauben: ›Er setzt sich in Szene.‹ Aber er führte nur vor, was ihm stand. Übrigens galt es gleich. Die dunkle Masse des Dorfes wuchs schon heran. Jetzt war noch das Wiedersehen mit den andern zu überstehen, die Erklärungen des Abenteuers, die öffentlichen Belobungen für Pardi, – und morgen, Gott sei Dank, war's ohnehin aus. ›Wenn ich aufwache, ist er fort.‹

Sie wachte auf, erinnerte sich und erschrak. Nun war er also fort. ›Während ich geschlafen habe.‹ Fast war's, als sei sie eingeschlafen, indes jemand starb, und nun war er tot. Er war fort und so gut wie tot. Und sie fühlte sich beklommen und unheimlich, wie nach einem Sterbefall, hatte keine Lust aufzustehen und die Zimmer und die Wege wiederzusehen, in denen es jetzt verlassen und gedrückt zugehen mußte.

Sie trat sogleich ins Freie, sie mochte niemand treffen, von niemand bestätigt hören, daß er fort sei. Vielleicht war er noch da? Es war schwer zu glauben, daß dies so rasch und glatt verlaufen sollte. ›Kaum, daß wir uns noch die Hand gedrückt haben. Oh, er war sehr aufrichtig, als er, erregt und halblaut, noch einmal in mich drang, ihm zu schreiben, sobald ich nach Italien käme. Ich bin überzeugt, er führe mir entgegen. Aber wird denn etwas aus solchen Vorsätzen? Immer kommt anderes dazwischen, gleitet einem auch wieder unter den Händen weg, und nichts bleibt übrig von all den unterbrochenen Freundschaften als Bitterkeit. Immer vergeblicher erscheint mir alles. Ist mir denn kein anderes Leben erreichbar als dieses Reiseleben?‹

Sie sann auch: ›Was wäre gestern daraus geworden, wenn nicht der verwundete Bauer dazwischengekommen wäre?‹ Aber sie brach ab. ›Da er dazwischenkam, mußte es wohl sein und ist es wohl besser.‹

Bei Tisch trank Gugigl ihr zu.

»Gelt? Jetzt sind wir wieder unter uns. Diese Welschen sind ganz ein hübscher Menschenschlag, aber trauen derf man keinem, und keine Gemütlichkeit ham's.«

Selbst der alte Utting gab zu, daß ihm bei Pardi niemals recht warm geworden sei. Alle verstanden sie sich! Ganz aufgeräumt waren sie jetzt! Lola trennte sich in ihrem Sinn von ihnen mit Heftigkeit, rechnete sich ganz dem Abwesenden zu, verachtete in seinem Namen diese alle. Wie er sich über die täppischen Bewegungen der Männer lustig gemacht haben mußte, er, der ein Fechter war! Und über die Frauen in ihrem selbst erdichteten Plunder! Lola verglich sich angstvoll mit ihnen: ob gar keine Ähnlichkeit da sei. Nein, dies war eine andere Rasse von Frauen, mit schmalen Schultern und breiten Hüften; und damit sie noch breiter würden, trugen sie riesige Gürtel. ›Doch! Den schlechten Haaransatz habe ich von ihnen.‹ Und sie beugte sich, unter der Scham, über ihren Teller.

»Künstlerisch«, hörte sie Frau Gugigl sagen; und dann war von dem Kitschgeschmack der Italiener die Rede. Lola fuhr auf. Ihr sei etwas eingefallen; und sie bat Gugigl, ihr ein Fenster der Münchner Frauenkirche genau aufzuzeichnen.

»So aus dem Kopf? Ja, das kann man doch nicht. Wie schauens denn aus, die Fenster?«

Seine Frau dachte nach, die andern dachten nach.

»Das kann überhaupt kein Mensch!«

Lola lächelte und sagte, es sei gut. Das konnte kein Mensch, aber Pardi, – wie einst Arnold den Florentinern vorgeworfen hatte, die Fassade ihres Domes weiche in manchem vom Vorbild des Glockenturmes ab: Pardi hatte in den Sand gezeichnet und gefunden:

»Es ist wahr, die Terrassen auf den Pfeilern des Turmes sind achteckig, und die der Fassade haben nur vier Seiten.«

Und Pardi war kein Künstler. Aber er hatte das Blut von Menschen, die mit einem Griff durch die Luft mehr Kunst machten als diese hier, wenn sie malten! Menschen mit einer Erziehung des Auges, aller Sinne, des ganzen Körpers, die weit zurückreichte. Sie stellte sich Pardis gewölbte Augen vor. Er sah, – sah so stark, daß er, ohne daran zu denken, zum Seelenleser ward ... Bei diesen hier war das Leibliche lange vernachlässigt, das Auge fast schon tot. Gewaltsam sollte es sich nun ermuntern, und über Nacht mußte alles »künstlerisch« werden ... Da begegnete sie Arnolds Blick und verstand: was sie dachte, kam von ihm. Er hatte erraten, weshalb sie nach den Fenstern der Frauenkirche gefragt hatte. Das Gefühl erbitterte sie, daß sie kaum noch ihre Gedanken vor ihm wahren könne. Hundert Gespräche mit ihm hatten sie ihm bloßgelegt, und sie hatte den Kopf, sie mußte es wohl gelten lassen, voll von Dingen, die ohne ihn nicht darin entstanden wären. Er durchschaute auch, was sie zu Pardi zog, was Pardi vor ihm selbst auszeichnete, Lolas Kämpfe, und daß sie in diesem Augenblick wieder vergebens danach lechzte, ihn verachten zu können, ihn in den Haufen der übrigen zurückstoßen zu können. Er wußte alles; und sein großes Wissen um sie gab ihm selbst das Recht, sie zu verachten: sie, die einem Geist wie ihm hätte auf seine Höhe folgen können, und die sich zu einem baren Sinnlichen hinabließ. Es war ihr, als lebte sie unter dem Auge eines Herrn. Sie liebte ihn nicht, gab ihm kein Recht auf sich: und doch – so groß war die Macht des Geistes – fühlte sie sich ohnmächtig vor ihn hingebreitet! ›Wäre ich ihm erst entronnen!‹ Der Trieb brannte sie, aufzuspringen und davonzulaufen.

Sie suchte sich ihn im Kampf mit Pardi vorzustellen und in der kläglichen Rolle, die ihm dabei bestimmt gewesen wäre. Und sie mußte sehen, daß Pardis Manneskraft sich an diesem brach, der kein tüchtiger Mann, aber vielleicht mehr als Mann war? Sie fühlte: Pardi und er konnten sich nicht nahekommen, auch nicht zum Kampf. Dieser bot einem Pardi keine Angriffsstelle, – so wenig wie er ihr gestattete, ihm seine Untüchtigkeit anzurechnen, die er im voraus gerechtfertigt, vermöge vieler Sophismen in Tugend umgewandelt hatte. Wenn er sich eine Blöße gegeben hätte! Wenn er mit den anderen auf den Abwesenden gescholten hätte! Nein: er hütete sich. Er war ja ein Mensch von Geschmack. Hatte er nicht die ganze Moral, wenn sie selbst erworben sei, für ein Ergebnis ästhetischen Sinnes erklärt? Ihm war nicht beizukommen, man mußte ihn laufen lassen.

Sie wich ihm nicht aus; eher erwartete sie ihn, erwartete, daß er sich um die freigewordene Stelle nun wieder bewerbe, ein wenig Würdelosigkeit zeige, – und litt, weil er's nicht tat. Es zog sie zu Tini, sie hätte sich mit ihr verbünden wollen; denn auch Tini fand Arnold unheimlich und haßte ihn. Aber Tini verhielt sich jetzt herbe und scheu. Launisch ging sie Lola aus dem Wege. Waren sie zusammen im Zimmer, fühlte Lola die großen Augen beunruhigend hart auf sich haften, – und wenn sie hinsah, waren sie schon gesenkt. ›Ist sie nachträglich wieder eifersüchtig? Sie könnte sich's sparen.‹ Wie unwichtig Lola diese Backfischnöte erschienen neben ihrer eigenen Qual!

Schlimmer war's, daß sie auch mit Mai nicht sprechen konnte. Den ersten Tag hatte Mai sich in der Gesellschaft so betragen, als sei durch Pardis Fortgang ihr ein besonderes Unrecht angetan, als habe man ihn vertrieben, um ihn ihr wegzunehmen. Bald hatte sie sich zurückgewinnen lassen: nur mit Lola schmollte sie noch, bot ihr keins von den mitgebrachten Handtüchern an und kam nicht zum Gutenachtkuß. Und wäre sie gekommen: an das Unausgesprochene hätte Lola sich nicht gewagt. Wie stand Mai mit Pardi? Sehnen mußte sie sich. Dann aber sann sie auf die Abreise nach Italien, – auf die auch Lola sann. Nur aus Befangenheit voreinander taten beide, als gäbe es nichts zu beschließen, und ließen dies Dasein fortdauern, das doch bloß noch Last war. Denn Lola ward gedemütigt von ihren herabsetzenden Entdeckungen an diesen Menschen, deren Gast sie war. Jeder Tag vermehrte ihren Widerwillen und ihre Scham.

 

Am dritten Morgen aber fand sie auf ihrem Tisch wieder Blumen; zwei Tage lang hatte Tini sie vernachlässigt; – und darin steckte ein Briefchen.

»Heute mittag«, schrieb Tini, »wirst du nämlich mit der Post einen Brief aus Mantua bekommen, von einer Pensionsfreundin. Sie hat zufällig erfahren, daß du hier bist, und möchte, daß du rasch hinkommst, denn lange bleibt sie nicht. In Wirklichkeit aber ist der Brief von mir. Ich habe es mir schon längst ausgedacht und habe mir dazu den Umschlag von einem Brief an Pardi aufgehoben, den er aus Mantua gekriegt hatte. Da mußte ich denn aus seinem Namen deinen machen, mir ganz genau dieselbe Schrift einüben und auch das Kuvert wieder heil machen. Das war eine ziemliche Geduldprobe, daher mußt du entschuldigen, daß ich mich die letzten Tage so wenig um dich bekümmern konnte. Du siehst nun doch, wie lieb ich dich habe, Lola, daß ich dies für dich getan habe! Jetzt ist der Brief mir sehr gelungen, du kannst ihn allen zeigen, sie werden es dir gewiß glauben: und dann kannst du hinreisen. Italien muß herrlich sein. Du wirst gewiß noch einmal sehr, sehr glücklich werden. Vergiß nicht deine Tini.«

›Welche heroische Kinderei!‹ dachte Lola und wollte die Achseln zucken. Aber ihr kamen Tränen. Sie ließ das Blatt sinken, verschloß die Tür und drängte sich in einen Winkel, um, vor sich selbst versteckt, diese Tränen zu weinen, ohne zu wissen wem? Sich? Tini? Den Dingen?

Bei Tisch blieb Tinis Stuhl frei, aber auf Lolas Platz lag der Brief. Frau Gugigl hatte schon gesehen, daß er aus Italien kam. Niemand nahm Anstoß an dem, was darin stand: auch Mai nicht. Wie sie von der Einladung hörte, erhob sie schon die Hände, um hineinzuklatschen, besann sich aber rechtzeitig und machte ein trauriges Gesicht.

»Wir sollen also fort? Oh!«

»Es wird nicht anders gehen«, erklärte Lola. »Meine Freundin erwartet uns übermorgen. Morgen müssen wir reisen, morgen mit dem ersten Zug.«

Gugigl wollte beweisen, es sei auch abends noch rechtzeitig. Ein Streit über das Kursbuch entstand.

»Und der Tini geht's wirklich nicht gut?« fragte Lola. »Kann ich sie nicht sehen?«

Frau Gugigl ging mit. Tini hatte Fieber: es komme bei ihr plötzlich und verschwinde wieder; sie sei noch wie ein Kind.

Als sie, mit aufwärts verdrehten Augen, Lola am Kopfende ihres Bettes sah, fuhr sie aus den Decken.

»Was hast du, Tini?« – und Lola warf sich auf die Knie und nahm Tini in die Arme.

»Mir hat geträumt, Lola, du gingst weg.«

»Nein! Wenn du lieber möchtest, daß ich dableibe, bleibe ich.«

Tini hielt sich ganz steif in Lolas Armen. Sie rückte mit dem Gesicht ein Stück fort; ihre dunklen Blicke erweiterten sich gespenstisch; und mit ihren blassen Lippen, tonlos bewegt, daß ihre Schwester hinter ihr nichts hören konnte, sagte sie:

»Geh nur hin!«

Lola mußte die Augen niederschlagen.

 

Sie packte, ohne zu wissen, was ihr bevorstehe, was sie wähle. Nur erst hier heraus, wo so viel Wirrnis erlitten war und alles verbrauchte, zwecklose Gesichter trug. ›Wenn ich ihn wiedersehe, soll mir's recht sein; wenn nicht, ist's auch gut‹, dachte sie im Einschlafen; und bei Tagesanbruch, unlustig und mit Gähnen, vor den fertigen Koffern: ›Wie unwahrscheinlich ist das Wiedersehen! Ich werde ihm doch nicht nachreisen. Und bis der Zufall es einrichtet, ist er vielleicht wieder in Afrika.‹

Der Wagen mit dem Gepäck stand auf der Landstraße. Mai hatte noch mit ihrem Schleier zu tun gehabt. Niemand war aufgestanden: Lola hatte es sich dringend verbeten. Fröstelnd durcheilte sie den grauen Garten. »Dieselbe unwirtliche Stunde, zu der vor drei Tagen er fortging.« Im Laubgang roch es nach Nebel. Der Sommer war fast zu Ende, merkte sie plötzlich. Sie blieb stehen: eine solche Trostlosigkeit durchdrang sie bei diesem Gedanken, daß ihr der Mut zum nächsten Schritt fehlte. Dahinten, über dem Lande, wallte es weißlich und ohne Grenze. So ging man denn wieder allein, allein dahinaus.

Wie sie die Hand auf die Pforte legte, tat von der andern Seite Arnold es.

»Sie – schon auf?« stammelte Lola.

»Ich konnte nicht schlafen«, erklärte er. Sie sah ihm ungläubig in die Augen und fand sie übernächtig.

»Dann bin ich froh, Ihnen nochmals Lebewohl wünschen zu können«, äußerte sie, unschlüssig. Er schien zu wissen, was er sagen wollte.

»Ich habe Ihnen für einige der besten Stunden zu danken, die Menschen mir gewähren konnten. Ich hatte so viel nicht erwartet« – ganz ohne Bitterkeit: was sie staunen machte. Er senkte kurz die Lider. Dann:

»Daß mehr Glück als dieses nicht an meinem Wege liege, daran habe ich keinen Tag gezweifelt. Aber auch in Ihr Schicksal glaube ich einen Blick getan zu haben und fürchte, daß Sie heute noch im Irrtum sind. Könnte ich Sie für eine Minute so sehen machen, wie Sie nach einiger Zeit sehen werden!«

»Sie geben mir ein Orakel mit auf den Weg?« – und Lola suchte hochmütig zu lächeln. »Ich kenne Sie auch: Ihnen verwickelt sich das Einfachste.«

Wie es schal und hassenswert war, dieses Zweifeln, dieses Zögern! Jetzt quälte ihn die verdiente Eifersucht auf den, der glücklicher war und sie glücklicher machen würde. Er hätte sie so ratlos und an allem unteilhaftig gewollt, wie er selbst war! ... Vor Zorn und Kummer war sie bleich. Er war bleich von den Worten, die er gesagt hatte.

Und er konnte recht haben! Jener andere lebte jetzt schon wieder darauflos, wie je. Was war sie ihm? Was änderte sie an ihm? ... Und an diesem hier? Nichts, als daß er nicht schlief. ›Und wenn er tiefer leiden kann: was habe ich davon!‹

Sie wandte sich ab. Sein Gesicht glitt langsam an ihrem vorüber. Nun sah sie es nicht mehr. Ein äußerster Zweifel schnürte ihr die Brust zu. Sie schluckte ihn hinunter. ›Wenn es bestimmt wäre, käme es.‹ Und mit Grausamkeit gegen ihn und gegen sich: ›Das Leben ist nicht anders.‹


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