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Zweites Kapitel.
Wer ruft?

Mangolf, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, war nachgeordnet einem Kanzler, den der Kaiser von vornherein gewarnt hatte: »Länger als drei Vierteljahre wird es mit Ihnen wohl auch nicht gehen.« Der Staatssekretär dachte: »Allerdings nicht, – wenn man Politik machen will gegen klarste Gegebenheiten. Tolleben läßt sich beraten von seiner Frau, die gegen Industrie und Krieg ist.«

Hier wichen die Gedanken Mangolfs ab, letzte Gründe von Frauen durfte er nicht zu entdecken hoffen. Der Grund konnte einfach Terra heißen, er wagte es nicht zu glauben. Ein Reichskanzler unter dem Einfluß Terras hielt sich voraussichtlich nicht einmal drei Viertel Jahr. Aber Tolleben blieb. Er durfte schaden. Er durfte den überaus schädlichen Knackprozeß zulassen, von dem gewisse Rüstungsgegner die Entlarvung eines internationalen Rüstungsringes erhofft hatten. Freilich, was brachte der Prozeß dann? Was konnte er bringen? Daß zwei Feldwebel bestochen und einige schlechte Schienen geliefert worden waren, Schluß.

Der Schwiegersohn des verstorbenen Chefs der Firma Knack bedurfte dieser Bestätigung nicht. Er wußte längst, wo der festere Wille war, bei geteilten, abhängigen Politikern oder im Schoß jener Industrie, die selbstherrlich ihre Welt auf den kommenden Krieg gründete. Er wußte, wer führte von den beiden, und wer notgedrungen mittat. Er selbst tat lieber überzeugt und glanzvoll mit.

Nur wer sich an die Spitze aller Forderungen der Industrie stellt, konnte sie verwirklichen – für den Staat. Auf einen siegreichen Krieg errichte die Weltmacht dieses. Deines Staates, keineswegs die der Industrie! Bediene Dich ihrer, halte sie nieder! Statt Geldinteressen ein Gedanke, der europäische Gesamtstaat am Ende des europäischen Krieges. Mangolf dachte: »Unerhörter Vorsprung, allen anderen Staaten allein und ungebunden gegenüberzustehen. Nur ein siegreicher Gegner wird sie einigen. Auch die Feinde werden im Grunde für die Einigung des Weltteils kämpfen. Wir wollen dasselbe hier wie dort, es ist der gleichzeitige, unaufhaltsame Zug. Wer kommt voran? Schon sind wir in den Ländern Mehrere, die wissen, um was es im kommenden Krieg geht. Hat einer meinen Ehrgeiz?« Beim künftigen Kriegsgegner arbeiteten Personen, die ihm ähnelten, für ihre eigene Zukunft, wenn sie für den Krieg arbeiteten. »Nur der Grad ist verschieden, in dem wir amtlich schon aufgerückt sind und offen vortreten dürfen. Ich Ärmster habe vor mir einen pazifistischen Kanzler.« Was ihn nicht hinderte, gegen Frankreich ein Schiff namens Panther loszulassen – zur Freude der ihm Gleichgesinnten in Frankreich, die aufrücken wollten ... Was ihn und sie auch nicht hinderte, die Balkankriege zu begünstigen, sie in feindlichen Gruppen diplomatisch mitzukämpfen, industriell zu erweitern ... Hier lag ein Rätsel.

Mangolf staunte hier. Die Welt war doch schon im Krieg. Selbst wenn sie es merkte, konnte sie nicht mehr ausweichen, – aber sie merkte es nicht. Im Krieg sein und es nicht merken! Sich einbilden, er bliebe an den Rändern des Erdteiles, getötet werde nur dort, ein Fürst falle nur dort, – man werde weiter Kultur schlecken und mäßige Geschäfte mit sozialen Bestrebungen verbinden. Bevor stand das ungeheuerste Weltgeschäft – und war nicht eben sozial gedacht. Sein Gegenwert war Blut. Es dampfte schon aus diesen Julitagen! »Seht ihr denn noch immer nichts?« fragte Mangolf, wenn er über Plätze, durch Volksmengen fuhr. Er meinte fest, plötzlich müßten alle im Lauf anhalten, müßten schaudernd die Arme erheben, die Füße tief im Blut. Der Platz voll Blut! Ihr Blut!

Aber sie sahen nicht, sie trieben es töricht fort. Nur Mangolf sah und schauderte. Er saß allein in seinem durch die Menge dahinrasenden Wagen, sein eingesunkenes Gesicht war leidend und verstockt. Amt und Sendung lasteten. Aber Schuld? Er kannte keine. Verantwortung? Er lehnte sie ab. Er handelte im Auftrag höherer Gewalten – höher nur, weil alle im Grunde an ihnen mitwirken. Alle, die auf dem Platz noch immer kein Blut sahen, waren doch innerlich ganz einverstanden, daß es fließe. Neu erkämpfte Tatkraft sollte sie reinigen von Entnervung und Unzucht der allzu langen Friedenszeit. Mangolf kannte sie: echte Söhne einer Zivilisation, die Mord am Schwächeren und gehobener Menschenfraß war. Sie wollten zu sich zurück, abgewirtschaftet die Lüge vom Menschen!

Wie hätten sie sonst täglich von Generalen und Admiralen öffentlich sich in den Krieg hineinreden lassen! Mangolf senkte die Mundwinkel. Was wußten jene Maulhelden selbst. Auch nur berauscht, auch nur gemeines Werkzeug. Das redete davon, mit England einen Kolonialstreit zu suchen, – dann Krieg, dann Frankreich niedertreten, Weltherrschaft, oder was sie so nannten und nicht kannten. Aber kam die Stunde, dann würden sie erbleichen in ihrem Nichts, würden ableugnen was sie getan hatten und haltet den Dieb schreien. Wissen? Einzig hier. Und Mangolf senkte seine gelbe Stirn.

Undenkbar weit zurück lag Lannas. Wirklich erst fünf Jahre? Juli 1914 und abgespielt erst seit fünf Jahren jene kindische Geschicklichkeit, den »Frieden zu erhalten«, den es schon damals nicht mehr gab? Selbst Lannas würde heute sehen müssen, daß es damit aus war. Was sah nun der arme Tolleben? Er hatte scheinbar lichte Augenblicke, in ihnen erklärte er die Abrüstungsfrage für unlösbar, solange Menschen Menschen und Staaten Staaten seien. Es geschah aber nur, weil Mangolf seine Alldeutschen gegen ihn aufgeboten hatte. Dann wieder zögerte dieser Tolleben, die Wehrvorlage bekanntzugeben. Der Kaiser mußte ihm erst drohen, es durch Kriegsminister und Oberadmiral zu tun. Mangolf bedachte das Verhältnis des Kaisers zu seinem Kanzler, das nur drei Vierteljahre hatte dauern sollen, noch immer dauerte, oft in halbe Ungnade fiel, aber unentbehrlich schien.

Der Kaiser fühlte mehr als der Durchschnitt voraus, dafür war er krank; und er hatte Furcht. Seine großen Worte, sein Rüstungsfieber, waren betäubte Furcht. Seine Anfälle waren offene Furcht. Mangolf, der einst in schlimmer Stunde vorgelassen worden war, dachte sich den Kaiser bei Dämmerlicht am ganzen Leibe zitternd wie ein ahnungsvolles Tier, wenn draußen nächtlich der Feind schleicht. Hatte Tolleben für ihn Trost? Er war fromm. Ins Gemüt des Kaisers hatte niemals der ungläubige Lannas gefunden, Tolleben bei aller Einfachheit kannte vielleicht den Zugang. Beteten sie? Der Kaiser hätte mit keinem bürgerlichen Minister gebetet, auch mit Geistlichen nicht. Aber preußischer Uradel, Bonner Borusse, Halberstädter Kürassier?

Mangolf hätte gewollt, der Kürassier wäre fromm geworden aus List. Er wäre ein würdigerer Gegner, seine Beseitigung wäre rühmlicher gewesen. Aber er war wohl in Einfalt fromm. Fragte sich nur, wer ihn dazu gemacht – den schlichten Draufgänger geduckt, den groben Ordnungsmann in dies verhaltene Gewissen verwandelt hatte. Terra? Immer Terra? Aber wie?

Mangolf dachte viel an Terra. Was er tat, war sein Leben lang bestimmt durch wechselnde Ursachen, aber immer auch durch das, was Terra tat. Mangolf ward es manchmal inne, dann handelte er noch mehr gegen Terra, – den er doch verachtete. Nie im Leben hatte er so unermeßliche Verachtung gefühlt für das elende Dasein des Erfolglosen, seine unergiebige Heuchelei – um Ziele, die von Dummköpfen edel genannt worden waren, hätte er sie wenigstens bekannt. Statt besten hatte Terra als Abgeordneter für Wehrvorlage und »Reichsopfer« gesprochen. Als Mitglied der Knackschen Leitung machte er noch Schlimmeres mit. So eilig hatten es diese Leute mit dem Krieg vielleicht erst, seit einer der ihren beim Kanzler dagegen trieb. Bei Tolleben steckte Terra hinter der Frau. Die Tochter Lannas' ging unbegreifliche Wege, noch eher begriff man Tolleben. Auch er hatte sich überrumpeln lassen von dem Blendwerk des Kohlenmonopols, jener scheinbaren Stärkung des Staates, den es in diesem Zeitpunkt doch nur zur Entgleisung gebracht hätte. Das Schlimmste war, daß Tolleben nicht scherzte wie Lannas. Sein frommer Ernst war zu fürchten, er hatte ihn schon in fühlbare Gegnerschaft zu den führenden Kräften gebracht.

Das Äußerste verhütete nur Mangolf. Er spielte dem geschäftigen Terra übertriebene Nachrichten zu, die unglaubwürdigsten heimlichen Kriegstreibereien. Der Reichskanzler erhielt von Terra die Nachrichten, von Mangolf alsbald den Beweis ihrer Falschheit. Noch besser, wenn der unbelehrbare Terra Zweifelhaftes in die Presse brachte. Mangolf konnte mehr oder weniger sichtbar eingreifen. Das deckte ihn bei den Leuten gegen den Verdacht, er sei der Böse.

Terra nützte im Grund Mangolf. Wie nützlich besonders, daß er einen solchen Sohn hatte! Das Früchtchen war, bevor es nach Afrika abging, eine Art Geschäftsfreund seiner eigenen Mutter gewesen. Selbst die nachgerade eingerissenen Sitten duldeten nicht ganz soviel, Skandal schien sicher. Der Einfluß Terras reichte nicht mehr aus, ihn niederzuschlagen; damals besuchte Terra seinen Freund noch einmal, um zu bitten. Mangolf half, der Sohn ward abgeschoben nach dunkleren Erdteilen zur zeitgemäßen Jagd auf Tiere und Menschen.

Jetzt war er wieder da und half hetzen – weniger dumm und gemein, als Generale und Admirale. Mangolf schätzte das junge Geschlecht. »Es kennt seinen Körper besser als wir«, daher sah es die Dinge der Welt körperlicher, niedriger, also richtiger. »Es hat leicht tapfer sein«, dachte Mangolf, die Mundwinkel gesenkt. »Ideale werden mit ihm nicht untergehen.« Das junge Geschlecht hatte sein Gutes, vor allem, daß es seine Väter haßte!

Mangolf selbst hatte das Unglück, von seiner Tochter nicht geliebt zu werden. Die heranwachsende Halbschwester Claudius Terras des Jüngeren hielt Tolleben für ihren Vater. Seit Mangolf versucht hatte, sie aufzuklären, war er ihr Feind. Er trug es, arm an Menschen zu sein. Mit Lea war es aus, ernstlich aus, kein Rückfall erlaubt. Auch Lea hatte das von den Sitten der Zeit gegebene, reichliche Maß bei weitem überschritten ... Dazu noch seine Entfremdung von Bella, dies langsame, offenbar unaufhaltsame Austrocknen seiner Ehe. »Da wächst kein Gras mehr«, fühlte Mangolf. Ein dürrer Atem traf ihn beim Betreten seines eigenen Hauses: seine eigene Luft, selbstgeschaffen um ihn her in langer Zeit.

Heute abend wie immer wollte er gleich in sein Zimmer, Bella selbst trat ihm entgegen. Ob er vergessen habe? Ihren Hochzeitstag? Sie lächelte angstvoll. Er empfand peinlich, daß sie kämpfte, noch immer um ihn kämpfte. »Ich bin es nicht wert«, hätte er gern gesagt, entschuldigte sich aber trocken. Er blieb trocken – und sah doch, daß sie alterte, daß sie unfroh war und ihn suchte. Sie ließ ihn ausreden, sie erwiderte ergeben: »Ich verstehe Deine Überbürdung – ja, auch das lange Aufsitzen gestern Nacht beim Liebesmahl der Offiziere, das Trinken, das Du nicht verträgst. Ja, es sind Deine Anhänger, Du brauchst sie für Deine Politik. Aber hast Du wenigstens heute ein wenig Zeit für Deine Frau?« fragte sie, erzwungen munter; sie unternahm es, die Tür seines Schlafzimmers zu öffnen. Er erwiderte förmlich, sie werde so lange nicht auf ihn warten wollen. Akten ausbreitend: »Das ist meine Nacht.«

Sie blieb stehen, stand weit hinter ihm, sie nahm keinen Stuhl. Sie erblickte an seinem noch immer voll und schwarz behaarten Schädel den weit ausladenden Stirnknochen, die eingefallene Wange. »Er wird bald aussehen wie der Tod«, fühlte sie, dachte aber darüber hin: »Eine solche Kraft, ein solcher Mann!« – und ihr Herz schlug auf wie je.

Wußte er nicht mehr, daß sie da war? Sie hatte den Zeitpunkt versäumt, sie wagte sich nicht mehr zu melden, stand lautlos und sann: »Ich war oft dumm und nie bedeutend, er ist ein großer Mann. Aber wir sind schon so lange beisammen. Was auch geschehen sein mag, jetzt bin ich verblüht. Die Jugend, die ich bei ihm gelassen habe, gibt er mir nicht wieder, so groß ist er nicht.« Noch länger, da warf sie ihm vor, er liebe sie nicht mehr. Wie sehr hatte sie gegen Lea Terra gekämpft! – überzeugt, im Weg sei nur Lea, nachher komme wieder sie daran, vergessen Eheirrungen und Überdruß – komme wieder sie daran und auf immer, bis zu Alter und Ende. Statt dessen? Er ging nicht mehr zu Lea, kam aber auch zu ihr nicht. Er liebte keine Dritte, Bella hatte ihn beobachten lassen. Was also?

Sie suchte mit dem Fuß nach einem Stuhl, fand keinen und blieb trotz großer Müdigkeit stehen, um nicht entdeckt zu werden. Erst ihr Schluchzen verriet sie. Mangolf brachte den Stuhl. »Verzeih! Verzeih bitte! Ich glaubte fest, Du seiest nicht mehr da.« – »Das glaubst Du immer fest. Du brauchst mich nicht mehr. Es ist besser, wir trennen uns.« Sie sprach zornig, das Gesicht im Taschentuch.

Er ließ sie ausweinen. »Sei kein Kind!« sagte er dann. »Wir sind keine Anfänger. Unsere gesellschaftliche Stellung –« Sie unterbrach: »Deine Karriere! Nur Deine Karriere! Von jeher nur Deine Karriere!« Sie nahm das Tuch fort, sie sah ihn groß an, wie etwas Neues. »Nicht einmal aus Angst, mich und meinen Einfluß zu verlieren, bringst Du es fertig, mir zu sagen, daß Du mich liebst.«

»Wir waren mehr als Verliebte: Verbündete«, – aber die Alternde hörte es nicht. Sie sah ihn groß an. »Warum hast Du Deine Geliebte verlassen? Mit ihr würdest Du nicht Reichskanzler. Mich willst Du behalten, damit Du Reichskanzler wirst. Du hast weder sie noch mich je geliebt. Du kannst nicht lieben.«

Er öffnete den Mund, verzichtete aber. Eine Frau in dem Zustand erinnerte man nicht an das Einfachste, das sie vergessen wollte. Vernunft, die einen Mann in die Ehe führte, konnte Freundschaft, Lebensgemeinschaft werden. Ja, – aber aus der jungen Frau, die er in Täuschungen hatte leben lassen, ward die Enttäuschte, die hier saß; dies war die viel stärkere Wahrheit. Mangolf erblickte, als zerrisse ein Schleier, die ganze Frau: das übermütige Kraushaar von einst, dann jene gezierte Ästhetin, endlich die Ruhelose der äußersten Stunde, die Frau mit umschatteten Augen, den Höhlungen des Gesichts, – aber alle Erscheinungen verschmolzen in die Eine, die sein hatte sein wollen. Er fühlte Reue kommen, Mitleid in ihm aufstehn. Zum Unglück sagte Bella noch gerade: »Ich gebe Dir die Hälfte der Anteile, die mein Vater mir hinterlassen hat. Läßt Du mich dann fort?«

Sofort ward er streng. »Reichskanzler, ja. Aber wie kommst Du zu der Annahme, ich wolle um jeden Preis Großaktionär werden? Deine Herkunft spricht aus Dir.« Worauf Bella sich in die Lippen biß.

Ihrer Rache wegen sagte sie: »Du bist wie Dein Freund Terra. Ihr seid beide zu sehr Kopf, mit Frauen habt ihr Unglück. Was hat Dein Freund aus meiner armen Alice gemacht!« Mangolf horchte auf, seine Gedanken schlugen sofort wieder den gewohnten Weg ein. Wie kam Terra zu der Macht über Tolleben? Wegwerfend äußerte er: »Es scheint allerdings, daß es nicht allzu glücklich macht, den armen Tolleben zu betrügen. Deine Freundin Alice sieht schlecht aus«, – betrachtete aber erwartungsvoll die Miene Bellas. Sie ward vielwissend und scharf.

Das eigene Unglück hatte Bella empfindlich gemacht für Ausströmungen fremden Schicksals. Sie glaubte nicht mehr, was Übereinkunft wohl glaubt. Aber auch ungewohnte Verschwiegenheit legte das geahnte Leiden ihr auf. »Jemand wie Du weiß von Frauen nichts«, sagte sie nur.

Er wollte mehr hören. Da nichts kam, sprach er selbst, ging im Zimmer umher und suchte ihren Widerspruch zu erregen. »Sieht sie wirklich schlecht aus? Eigenartig vielmehr. Eher vorteilhaft verändert, wie? ... Sie war nie schön, oder fandest Du? Ich habe keinen Sinn bei Frauen für geistreichen Ausdruck. Jetzt ist sie ernst. Ja, wenn ichs bedenke, woher der Ernst? Weißt Du es? ... Reife hat ein anderes Auge«, entdeckte er. »Ihr Gesicht hat ganz das lange Oval behalten, schminkt sie es weiß? Nein? Aber es wirkt jetzt – soll ich sagen nonnenhaft? Noch mehr ...«

Unter dem vielwissenden scharfen Schweigen: »Worauf man verfällt! Wenn sie stürbe, müßte sie aussehen wie ein Mönch – ein spanischer Mönch.«

Er hielt an, ihn hatte ein Schauder berührt. »Du meinst?« fragte er streng. Lange Erwartung, dann kam von Bella:

»Es endet schlimm.«

»Ach?« Mehr nicht. Er wollte plötzlich nichts mehr wissen, nichts über jene dorthinten, nichts über sich selbst.

Bella sagte dennoch: »Alles – alles endet schlimm.«

Worauf beide den Atem anhielten und in die Ferne lauschten.

 

Dahinten ging Terra zu Tolleben Mann und Frau. Gleich im Parterre ward ihm das Teezimmer geöffnet. Alice hatte die Prunksäle des oberen Stockwerkes verlassen. Sie sagte, hier in den Räumen Bismarcks fühle sie sich immer noch weniger zu Gast als droben. Warum? – da droben ihre eigene, einst mit Ehrgeiz und Liebe zusammengebrachte Entrichtung stand.

Hier unten waren freilich nur die Türen vergoldet. Zwischen Pfeilerspiegeln hatte ein Schreibtisch Bismarcks gestanden, er diente jetzt nebenan dem Kanzler Tolleben. Man hörte ihn hin und her gehen. »Er hat Generäle bei sich gehabt«, sagte Alice. »Er trägt Uniform. Sie finden ihn heute eher angriffslustig.«

»War Heckerott da?« fragte Terra, aber nur, um ihr ungestört ins Gesicht sehen zu können. Sie erwiderte: ja, der General habe laut gerufen: »Wenn der Kessel nur erst explodierte!« Er scheine dies für einen technischen Glücksfall zu halten ... Alice lächelte. Terra, der schwieg und sich nicht trennen wollte, sah in dem langen, vollkommen mattweißen Gesicht die schmalen Augen glänzen zwischen ihren scharfen dunklen Rändern. Sie glänzten wie je, aber von anderem Licht, aus unbekannter Quelle. War Alice nicht getrennt von uns? Sie hatte doch gelächelt, obwohl es jetzt nicht gewesen schien; banges Lächeln einer Frau auf hohem Drahtseil. Fester Boden und Lebenssicherheit fehlten. Um sie zu schonen, sprach Terra endlich.

Er sagte, der Empfang, den Tolleben ihm bereiten sollte, werde wesentlich bestimmt werden durch die Art seiner Nachrichten. Er bringe Nachrichten, die nahezu alles Dagewesene in den Schatten stellten ... Was Alice kühl ließ. Wie leidenschaftlich hätte sie sich ehemals darauf gestürzt! ... Doch. Ihr schmales Gesicht zeigte jetzt Leidenschaft. Nur diese eine noch, nur diese. Ihn selbst begann es zu schmerzen wie alte Narben. Warum, mein Gott, einander daran noch mahnen, das Leben sei versäumt. Er wagte einen Hauch gefühlvollen Trostes – tat als nähme er ihre Hand, als legte er sie auf sein Herz; alles nur angedeutet mit seiner eigenen. »Noch immer?« fragte er ihre gesenkten Augen, da gingen sie auf und sagten: Immer.

Begierig betrachtete er die Erscheinung. Hätte er jetzt sie nur Du genannt, sie wäre vielleicht geflohen. Unvergleichlich ferner war sie ihm körperlich, als selbst zu der Zeit, da sie beide in der rauhen Nacht Liebwaldes ihren Schmerz und ihren Wahnsinn vermischten. Jede Hoffnung auf Erfüllung längst abgetan, – aber ins Geistige erhoben und Gott geweiht, konnte unvergänglich in einer Frau die Leidenschaft währen, die sterblich unwürdigen Ursprungs war.

»Warum bin ich denn noch hier?« fragte sie. »Es kann nur sein, weil Sie mich halten. Sie kämpfen noch gegen die Katastrophe. Sie glauben an unsere Rettung noch.«

»Sie nicht mehr?« – Da starrte ihn wieder nur diese Leidenschaft an, ihm schon entrückt. »Wir haben nur, was wir empfinden. Die Macht? Ich weiß, was es um die Macht ist«, sagte Alice langsam. Terra verstand, sie meine den nie vergessenen Sturz ihres Vaters, – der ihn selbst so schwer denn doch nicht genommen hatte. Er lebte doch, nur seine Tochter hatte wahrhaft das Nichts erblickt und war nicht mehr davon genesen. »Aller Ehrgeiz dahin?« murmelte Terra. »Wie konnte ich diese Welt seiner wert finden!« sagte ihr Achselzucken.

Sie richtete sich aber auf, sie ward stolz anzusehen wie ein Erzengel. »Wenn die Zeit der großen Opfer kommt, will ich noch da sein.«

Ihr letzter Ehrgeiz! Terra erschauderte, aufgerichtet sah er den Engel des Untergangs. Das Lampenlicht um die Gestalt erblaßte, sie leuchtete selbst ... Schon suchte er zurück in die Wirklichkeit, fand aber nur das Einst. Aus dem großen, furchtbaren Engel ward ein ganz junges Mädchen; wunderbar leicht und in den halbgeschlossenen, blitzenden Augen Liebe genug für das ganze Leben, sprang sie zu ihm, auf sein Karussell.

Terra seufzte schwer, schnell fragte er, was Tolleben tue, er sei nicht mehr zu hören.

Er bete, – sagte Alice. Es sei spät; bevor er zum Tee komme, bete er. Vielleicht auch sei er eingeschlafen. Sie klopfte an die Tür, er schien wirklich zu schlafen. Sie öffnete, Terra sah ihr über die Schulter. So sahen sie den großen Kürassier seine fest gefalteten Hände bald aus dem offenen Fenster gegen die Nacht des Tiergartens strecken, bald sie zurücknehmen. Mondlicht traf seinen schwefelgelben Kragen. Er sprach zu Gott gedämpft, nur einige Sätze kamen lauter. »Vernichte unsere Feinde! Laß England in die Luft gehn! Sonst kommt Krieg. Lieber Gott, gib, daß der Kaiser morgen zuerst mich empfängt, nicht Fischer! Gib, daß Heckerott richtig Grippe kriegt! Laß meine große Zehe abschwellen! Laß Frankreich aussterben! Gib, daß Minnahütte morgen zweihundertzehn stehn! ... Lieber Gott, gib auch, daß ich über meine Frau richtig denke!«

Das vorquellende Auge erglänzte an dem täuschenden Profil Bismarcks ... Tolleben wendete sich zurück in das Zimmer des großen Vorgängers, er stützte die Fäuste auf den historischen Schreibtisch, über die grüne Lampe nach der Tür spähend. Terra allein trat ein.

»Eure Exzellenz wollen mein spätes Eindringen mit einem ganz erstaunlichen Anlaß entschuldigen.«

»Ihre Anlässe sind fast immer erstaunlich.«

»So nicht. In diesem Augenblick, da wir sprechen, versammeln sich zwanzig oder dreißig Industrielle in schönster Gemeinschaft mit höchsten Offizieren im Gebäude des Großen Generalstabs.«

»Was weiter.«

»Sie haben eine Besprechung.«

»Wahrscheinlich über Lieferungen. Sie sind gut, Terra.«

»Ein Gespräch über Lieferungen kann weit führen an solcher Stelle. Leute, die vor Wirtschaftskrisen stehen, wenn nicht bald gesiegt wird, sprechen mit anderen Leuten, deren Weltanschauung Siegen ist.«

Tolleben ward unruhig. »Verantwortliche Politik mache nur ich. Ich lasse die Versammlung aufheben.« Er langte nach dem Knopf. »Läuten Sie noch nicht!« bat Terra.

Er setzte sich sogar. »Es ist besser, wenn ich selbst hingehe aber erst im richtigen Zeitpunkt. Meine Kollegen mißtrauen mir langst, sie müßten sonst dumm sein. Sollte Krieg kommen, würde es mir persönlich zweifellos an den Kragen gehn.« Terra beugte vor; er wußte, nach der ersten Aufwallung Tollebens käme Mißtrauen. Wirklich sagte der Kanzler: »Was Sie mir berichten, wird nachher von meinem Staatssekretär widerlegt. Wie soll ich Ihnen glauben? Ihr eigener Sohn macht uns Schwierigkeiten. Mir wird gemeldet, er sei unter denen, die jenseits der französischen Grenze die letzte Wirtshausschlägerei verübt haben. Agent provocateur Ihrer politischen Gegner, Herr Abgeordneter Terra, das ist Ihr Sohn. Was sind Sie dann selbst?«

»Ich habe einen Bekannten in der Fremdenlegion«, erklärte Terra. »Er ist mir ergeben, ich kann ihn brauchen, wozu ich will. Er hat meinen Sohn mordsmäßig verprügelt. Betonen Eure Exzellenz gefälligst diesen Umstand, wenn ich es Eurer Exzellenz gehorsamst nahelegen darf, in Ihren schicksalsschweren Verhandlungen!«

Worauf Tolleben schwieg. Er fühlte, man machte sich lustig. Die wahre Sorge lag nicht hier ... Er setzte sich Terra gegenüber; bekümmert, wieder kleiner Beamter, trotz Uniform kein Bismarck mehr, begann er. »Ich habe Ihnen das Kohlenmonopol versprochen. Sie redeten so gewandt. Manches hat es auch für sich. Aber ich kann es nicht durchsetzen, mir sind die Hände gebunden. Geben Sie mir mein Wort zurück.«

»Nein«, sagte Terra.

Auffahren Tollebens. »Ich werde Ihnen etwas –« Blick aus dem Fenster, wohinaus er noch soeben zu Gott gesprochen hatte. »Pfeifen«, schloß er schwach; denn auch sein Wort war bei Gott.

Terra tröstete. »Der Vertrag mit England ist endlich zur Unterschrift reif. Heute in vier Wochen werden Eure Exzellenz der größte Mann der neueren Geschichte sein. Aber soll es dann noch immer eine Klasse Menschen geben, die Ihnen in den Rücken fällt? Gegner neu herausfordert? Ihre Politik mit aller Macht durchkreuzt?«

»Die bürgerlichen Elemente sind zu mächtig geworden«, – Tolleben grollte. »Das war in den guten Zeiten nicht, und es muß wieder aufhören.«

»Wer hat jenen anderen englischen Vorschlag vor zwei Jahren vereitelt? Ihr Freund Fischer und der Bürgermeister von Hamburg. Aber Kohlen und Erze der gesamten Weltwirtschaft zu erstreben –« Terra brauchte nicht nachzuhelfen, Tolleben schwoll rot an, er pfiff.

»Der Krieg darf nicht kommen. Denn nachher herrschen die Kohlenhändler.«

»Mehr ist nicht zu sagen«, schloß Terra. Aber Tolleben war im Gegenteil gewohnt, sich alles vielfach einzuprägen. »Kohlenhändler haben nicht zu herrschen, sie sind nicht das historische Preußen. Auch nicht die Leute, bei denen wir unsere Patronen kaufen, – sondern wir, die wir sie verschießen. Kohlenhändler –«

Terra überließ ihn der nützlichen Übung, er sah unbemerkt nach der Uhr. »Die Gesetzesvorlage über das staatliche Monopol für Kohlen und Erze kann nächsten Freitag auf der Tagesordnung des Reichstages stehen«, sagte er kalt und gemessen. Tolleben schwoll sofort ab. »Warten Sie noch!« bat er.

»Seien Sie ein Mann!«

»Was hätten Sie davon. Alle hätte ich gegen mich, sogar die Sozialdemokraten, sie haben den Wehrbeitrag bewilligt. Ich stürze. Der Krieg ist dann sicher.«

»Das hat schon Fürst Lannas geglaubt. Kämpfen Sie! Entlarven Sie die Schuldigen! Drohen Sie dem armen Kaiser mit Weltskandal, sofort tut er alles. Keine Rücksichten mehr! Lassen Sie den Kessel explodieren! Im gleichen Augenblick wird für Enthüllungen in anderen Ländern gesorgt; wir zwingen jede Regierung vorzugehen gegen ihre Kriegsinteressenten.« Aufgestanden, alle Kraft gerafft: »Handeln Sie! Der Augenblick ist einzig. Es könnte der letzte sein! Sein furchtbarer sittlicher Aufruhr gibt Ihnen die öffentliche Meinung in die Hand. Sie nehmen das Monopol im Sturm.«

Tolleben sah ergeben zu der Kraft auf. Was war zu machen, sie war in der Fahrt. Terra rief, die Hand gespreizt: »Angefangen! Es ist Zeit. Geben Sie mir Mannschaft mit, die im Generalstabsgebäude versammelte Gesellschaft wird verhaftet wegen Verdachts des Landesverrates!«

Wußte der wilde Mann vielleicht nichts von Abhängigkeiten, Gesetzmäßigkeiten? Trotz Ergebung zweifelte Tolleben. Schwaches Zwinkern, er sagte hoch und dünn: »Warum gerade Sie den Krieg nicht wollen? Sind doch Kohlenhändler. Weil viele kaputt gehen? Kann Sie so sehr nicht aufregen, sind nicht mehr jung genug.« Zwinkern. »Krieg soll nicht sein, damit Sie Recht behalten.«

Terra zuckte heftig zusammen. Das kam vom Einfältigen! Terra wich bis in den Schatten der Wand, hier erst erinnerte er sich, Wahrheit sei nicht so einfältig. »Was wissen Sie«, murmelte er. Tolleben, auch nur für sich: »Aber Alice? Warum Alice?« – und seine Miene war furchtsam in Geheimnisse verstrickt. – Pause.

»Sie ist eine Heilige«, sagte Terra.

»Heilige kennen wir nicht«, sagte der Protestant.

»Doch. Wer von Menschenfurcht nicht weiß. Wohl steht geschrieben: Widerstehe nicht dem Übel. Für Heilige aber gilt, daß sie ihm doch widerstehen.«

Verstrickt, geängstigt, – jetzt aber der seltsamste Ruck, als griffen formende Hände von oben ein, – und in der Miene Tollebens lag Stille. »Wir haben nicht gewählt, wir sind beordert worden«, sagte er. Denn er stand unter der Frau, die unkennbar, unter dem Amt, das unerfüllbar war, und harrte aus.

»Ich kann mit meiner Frau nicht viel sprechen. Das ist nun so«, sagte er gefaßt. »Aber melden Sie ihr nur, ich tue, was ich tun muß. Was? weiß sie besser.« Noch schlichter womöglich, aber stockend, wie schwer Gefundenes: »Soll ein Opfer gebracht werden –«

Terra sprach leise nach: »Soll ein Opfer gebracht werden –«

»Ich falle lieber für das Vaterland –«

»– lieber für das Vaterland –«

»Als daß ich es noch besser kennen lerne.«

Beide bewegten die Lippen noch, als sie schon nicht mehr sprachen; die Stille schien ihnen ungeheuer.

Dann gab Tolleben dem andern die Hand und ging, als sei er selbst der Fremde, – der Gottes Wege ging.

Terra sah ihm nach, wollte rufen: »Auf Freitag! Jetzt habe ich doppelt Ihr Wort!« – sah ihm aber nur nach.

Plötzlich eilte er.

 

Heißer Asphalt, Geruch verbrannten Staubes; nicht einmal auf seiner schnellen Fahrt nach dem Königsplatz verlor Terra den Brandgeruch. Beim Betreten des roten Gebäudes schlug sein Herz auf, er mußte anhalten, um zu atmen.

Weißer Saal, getünchte Wand, davor langhin tafelnd schwarze Gestalten, verrenkte, verdorbene Gestalten, ungeheuer massig oder ganz vertrocknet, immer ein grünes Gesicht zwischen zwei schlagflüssigen. Offiziere voll hochbeiniger Anmut klirrten vor dem Monstrum: »Herr Generaldirektor!« – ließen sich eckig und ironisch zu ihm nieder auf harten Stuhl. Er hatte für diesmal keinen Klubsessel bekommen! Gerade nicht! Militärische Kargheit, er war an die kahle Wand gesetzt, so machte er sich schöner!

»Herr Graf, Zigarre gefällig?« sagte der Industrielle mit verstellter Rauheit, befangen und falsch. Er sagte: »Geschenk meines Freundes Pumsty vom Stahltrust, Dollarmilliardär, Herr Graf! Haben heute zusammen gefrühstückt.«

»Gefrühstückt, sehr wohl«, wiederholte der Offizier, überzeugt, daß so was von Rechtswegen zu Mittag fresse und zwar Kartoffelsuppe. Umso stärker betonte er die eigene gute Erziehung. Der Generaldirektor ertrug sie schlechterdings nicht mehr. »Nach dem Krieg machen wir die Sache dann aber selbst, Herr Graf!« – »Sehr wohl, Herr Generaldirektor.« – »Fauler Betrieb bei euch!«

Graf Haunfest, ablenkend: »Kennen Sie nicht den schwarzen jungen Mann? Bei Herrn Präsidenten Plockwurst steht er.« – »Geduldig. Sein Sekretär. Was finden Sie an ihm?« Stieres Staunen des Familienvaters.

Der junge Geduldig bemerkte etwas und schickte Augen her, schmale, ironische Verlockung. Graf Haunfest ward davon so ungesund anzusehen, daß der Industrielle entsetzt beiseite rückte. Präsident Plockwurst drüben nahm Anstoß, er bekam rote Augen, er knuffte seinen Sekretär, dann erhob er die Stimme.

»Was ist der Hauptzweck?« brüllte er.

»Endlich mal losschlagen«, näselte ein Militärköpfchen hoch oben auf langer Gabel. »Kolonien nehmen!« ächzte ein Generaldirektor. »Falsch!« brüllte Plockwurst.

»Mein Freund Pizzter soll sich wundern«, erklärte der Oberadmiral in Person. Ein Totenkopf sagte: »Diktatur muß kommen.« – »Alles noch nicht das Wahre!« brüllte Plockwurst, indes sie durcheinander riefen. »Angriffsgeist!« rief Haunfest und bog eine Hüfte gegen den jungen Geduldig. »Keine Steuern zahlen!« hörte man von überall; und Quäckstimmen aus völlig kahlen, runden Wulstschädeln: »Kontrolle der gesamten Weltwirtschaft.«

Präsident Plockwurst klapperte mit einer heiseren Glocke. »Schnauze!« brüllte er – und als er zu verstehen war: »Alles gut, wenn es schief geht.« – »Verbitte mir Zweifel!« kam es scharf aus der Höhe eines Uniformkragens. »Schnauze«, wiederholte Plockwurst.

»Hauptzweck,« schnob er, »Arbeiter klein kriegen, Gewerkschaften zerschlagen!«

»Hab' ich doch gesagt!« riefen alle Industriellen. Es war jedem zu gegenwärtig gewesen, um es auszusprechen. Plockwurst schnob: »Noch zehn Jahre Gewerkschaften und sie werden uns über, wir sind fertig. Darum keine Zicken mehr, Krieg und dalli. Hungersnot ist traurig, auch Seuchen sind was Trauriges, – aber wir vertreten viel zu große Belange, Gefühlsduselei ist nicht.«

»Sehr wahr!« Entschlossenheit mit Trauerbegleitung.

»Richtig durchgreifen ist schließlich das Menschlichste«, bestätigte Plockwurst. »Nachher bauen wir auf, dann kommt erst unsere Blüte. Siegen oder nicht, läßt uns kalt. Der Feind ist das Arbeiterschwein.«

Hier ward allseits die Entschlossenheit freudig. Nur nicht die Militärs, nicht alle von ihnen, – ein besinnliches, weiches Gesicht begann: »Ich kenne außer Interessen auch noch Menschen, außer Ihnen, meine Herren, noch die Nation.«

»Wir sind national!« schrien sie. »Streng national!« brüllte Präsident Plockwurst. »Nationalhaß soll sein, woher sonst Geschäfte!«

Das weiche Gesicht entschloß sich zum stärksten Nachdruck, der ihm tunlich schien. »Geschäfte mit dem Leben Ihrer Landsleute? Pfui, meine Herren!« Stille. Murren.

Endlich Plockwurst. »Ich höre immer: pfui. Wenn ich nicht die größten Sterne ausgerechnet an dem Herrn hängen sähe, würde ich sagen: Exzellenz, davon verstehen Sie den Teufel. Das ist Ihre Branche nicht. Üben Sie Kommiß!«

Das weiche Gesicht wandte den Rücken. Andere Offiziere vermittelten, daß es blieb. Sie machten geltend, die Manieren dieser Leute seien ulkig, der Plockwurst ausgesprochenes Original. Die Stimmung hob sich zusehends, im ganzen Saal sprach jeder auf jemand ein. Das weiche Gesicht ließ es sich einfallen, an der unbedingten Überlegenheit der deutschen Artillerie zu zweifeln, da kam es schön an bei den Industriellen. Auf einmal sprachen sie nicht von ihren Lieferungen, sondern von der sittlichen Pflicht, degenerierte Rassen zu kastrieren – unbekannt, ob sie damit das weiche Gesicht meinten oder vielleicht jenen Feind, der modernere Geschütze hatte. »Meine Herren«, sagte nicht mehr das weiche Gesicht, das genug hatte, sondern nur noch sein Adjutant: »Sie sollten öfter zur Kirche gehen.« Gelächter. Abbruch, Betroffenheit – aber sogleich neuer Ausbruch, er ging so weit, daß zwei Generaldirektoren erstickten und befeuchtet werden mußten. Einer erbrach und ward hinausgebracht.

Von der Platze, Generaladjutant des Kaisers, erklärte inzwischen anderen Generaldirektoren, Rußland sei gegenwärtig außerstande, Krieg zu führen, Frankreich werde bremsen, es komme zu nichts, sie sollten sich keine Hoffnungen machen. Worauf sie mit Majestätsbeleidigungen erwiderten. Die Schlappheit würden sie nicht mehr lange mit ansehen! Einer von ihnen hatte in Afrika Neger gepeitscht, er hatte sogar Menschenfleisch probiert! Seine Nerven waren gut!

Der Totenkopf mit der Diktatur fand Zulauf. Auch er kannte keine Schrecken. Die internationalen Fragen seien nur durch Blut und Eisen zu lösen; einzig Geldsackidealisten seien gegen den Krieg, – sagte er den Idealisten ringsum, die in ihrer Begeisterung von keinem Sack mehr wußten. Der Totenkopf war ihr Mann, ein Intellektueller, aber vernünftig. Hatte die Sache weg, fing Massen ein, erfolgreicher noch als sein Vorgänger der selige Tasse.

Der Totenkopf siegte mühelos über die ganze gegen uns verbündete Welt, die Offiziere staunten. Aber auch die Niederlage hielt er für ein durchaus erträgliches Unglück. Innere Zerrissenheit, das Chaos selbst gebar dann endlich die Diktatur, die uns schon längst fehlte ... Was sich glänzend anhörte, nur leider roch es schlecht. Der selige Tasse hatte nur erst nach Jodoform gerochen, dieser lange Knochen strömte schon Verwesung aus. Er redete, der Haufen lichtete sich.

Macht der Stimmung, der so maßvolle, treugesinnte Schwertmeyer ward nahezu handgemein mit unserem allverehrten Oberadmiral. Der Abgeordnete war für Unterseeboote. Jeder wußte, daß er dafür bezahlt wurde, wenn er bei Ämtern vermittelte; er vertrat berechtigte Interessen. Da aber Fischer doch behauptete, unter dem Wasser könne man nicht sehen! Bedauerlicher Zusammenstoß zweier verdienter Kernnaturen, – und noch dazu fraßen gleich daneben die Herren Mörser und von Heckerott einander glatt auf. Heckerott knirschte verzweifelt, bevor ihm das Gebiß aufging, Mörser brachte überhaupt nichts vor außer Knurren und Fauchen.

Ihn hatte der Schlag getroffen. Kein Muskelkrampf mehr, keine verbotenen Triebe, keine Furcht vor dem Zuchthaus. Doktor Mörser ließ sich den Bart wachsen, ward Charakterkopf, genoß Seelenruhe. Noch mehr Schmarotzer kaufen, wozu? Sohn Heckerott zum Generaldirektor befördern, wieso? Jetzt kam der Krieg von selbst! ... Heckerott knirschte, sein Blutzudrang nach der Stirn erregte allgemein Besorgnis. Auch hier wieder zwei unserer Besten, die sich schadeten: Besonnene erkannten es besorgt. Einer warnte vor möglichen Indiskretionen, sofort prüfte jeder jeden auf Verrat.

»Es soll auch Leute geben, die mit allem, was sie hören, gleich zu dem faulen Pazifisten Tolleben laufen«, sagte einer, der auf das Gesicht Terras stieß. »Mir reichen Sie nicht bis ans Knie«, erwiderte der Abgeordnete. »Ich habe für die Wehrvorlage gesprochen.« – »Das ist es, Sie haben zwei Meinungen«, sagte jener – und fand Anklang. Das Wort »Monopol« fiel, ein Chor von Stimmen blökte es durcheinander. Plötzlich gellend: »Landesverrat!« – wer war das? Wahrhaftig, obwohl der Sprache beraubt, hatte Doktor Mörser geknurrt und gefaucht, bis gellend sein Schrei kam: »Landesverrat!« Ein Wunder, alle waren baff. Dann aber Präsident Plockwurst, Finger gereckt gegen Terra, allbeherrschendes Gebrüll: »Sie sind entlarvt!«

Aufheulen der Flut. Terra stand drin, es kam ungeahnt. Er fühlte sich weiß werden und grimassieren. »Ein falscher Schritt, der Abgrund öffnet sich. Dem Plockwurst an die Gurgel? Der Abgrund. Verschwinden? Der Abgrund.« Wild schwang er die Hand nach dem Eingang. Stimme, furchtbarer als Plockwurst: »Die Polizei!«

Verwandlung wie Donnerschlag. Plockwurst untergetaucht, kein Generaldirektor mehr auf dem Plan. Die Offiziere lachten. Als das Gelächter sie endlich aufklärte, kamen überall Generaldirektoren hervor. Sie waren wütend, wenn auch bis jetzt noch gebändigt; es hieß schnell abschließen. Terra, scharf: »Ein Scherz. Ich wollte Ihnen, meine Herren, damit zu verstehen geben, daß wir noch nicht so stark sind, wie wir vielleicht gedenken.« Wir war betont.

»Landesverräter sind Sie aber doch«, – Präsident Plockwurst, schwer verärgert, glotzte gelbäugig so lange auf den nächsten Offizier, bis sie nicht mehr lachten. Durch die Stille sprach Terra: »Meine Herren, wenn ich über uns – über uns, meine Herren, die Öffentlichkeit wirklich aufklären wollte. Sie wissen, daß dann nicht Krieg, sondern schlechte Geschäfte kämen.« – »Das muß verhindert werden!« Nur Raunen.

Präsident Plockwurst vereinte all das Raunen in seinem ungeheuren, rot zerrissenen Gesicht, er schob es gegen Terra vor wie eine Erdbebensonne, er raunte: »Ziehen Sie die Konsequenzen? Nein? ...« Fürchterlich leise, aber es drang zu allen: »Dann wird Ihnen geholfen werden.« Schweigen, aber etwas schnurrte ab in dem Schweigen, Terra hörte es. Die Zivilisation setzte aus.

Eine helle, nette Stimme sagte: »So wollen die Herren photographiert werden!« Geduldig, Sekretär Plockwursts, hatte die Lage erfaßt. Schon stellte er den Apparat auf, alles nahm Haltung. Kühn, brutal und hochgeschraubt, jeder einzelne auf gradem Wege, der Herr der Welt zu werden, aber die Mageren hatten Vorsprung. »Die mageren Herren nach vorn!« bat Geduldig. Breite Füße wurden vorgestellt wie auf Nacken von Besiegten. Im eigenen Nacken entstanden, dank gewalttätiger Kopfhaltung, Rillen, scharf wie von Messern gehackt. Geduldig bat um die Profile, so gewann er auch die Rillen. Blitzlicht puffte geisterweiß. Der junge Geduldig dankte. »Meine Herren, ich habe Ihr übersinnliches Gesicht.«

 

Terra war draußen. Vor der Haustür stieß Geduldig zu ihm. »Wohin geht man jetzt noch?« fragte er, als seien sie verabredet. – »Was halten Sie von der Vogue?« fragte Terra, als sei er dort Stammgast. Er erklärte, warten zu wollen, bis ein freies Auto käme.

»Sie scheinen nicht ganz wohl, Herr Geheimrat?« Der Junge zeigte Besorgnis und Sympathie. Terra sagte: »Der Schreck ist mir in alle Glieder gefahren, ich will es nicht leugnen. Wären Sie nicht gewesen –«. Geduldig schnitt ab. »Nichts zu danken. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.« Seine Kopfhaltung sagte, dort oben vollziehe sich weiter das Unheil. Bleich und feurig, im Auge aber sowohl Schmeicheln wie Lachen: »Was haben Sie jetzt von Ihrer persönlichen Politik? Sie sind entlarvt, sagt Plockwurst. Das konnten Sie billiger haben. Sie mußten nicht Ihr ganzes Leben lang Maske tragen ... Sie sehen, Exzellenz, ich habe mich eingehend mit Ihnen beschäftigt«, schloß die gewinnende Anmut.

»Überschätzen Sie mich nicht, ich bin wirklich ein gutes Stück Generaldirektor. Haben Sie davon gar nichts? Dann werden Sie sehen, wie weit Sie kommen.« Absprechender Ton dessen, der gelebt hat. Der bleiche Lebensgierige sagte: »Ich bin beliebt. Das waren Sie wohl nie.«

Wie viel Kraft in dieser Lässigkeit! Man hört spotten, ist bezaubert – fühlt dennoch die Kraft und daß der süße Unglaube zielbewußt ist. Welch ein Reiz auf die Bedrohten! »Nein, das war ich nie«, bestätigte Terra. – »Aber Sie sind es zu sehr.« Kurzweg und anzügliche Miene.

Geduldig verstand sofort. »Plockwurst ist verrückt nach mir«, sagte er grade heraus. »Plockwurst verkennt mich, aber ich sage es ihm auch. Er soll sich noch wundern, wie normal ich bin! Ich sage ihm alles offen ins Gesicht, die soziale Revolution und daß ich ihm Hörner aufsetze.«

Ein großes Privatauto bog ein, um vorzufahren. »Verzeihen Sie, Herr Geheimrat, wenn ich Sie für den Augenblick verlasse. Es regnet, mich friert an den Beinen. Ich muß mich erst an die kurzen Batistunterhosen gewöhnen, das verlangen die Damen.«

Das große Privatauto fuhr vor. Geduldig sprang beflissen zum Schlag. »Gnädige Frau! Herr Präsident hat oben noch dringende Konferenz.« Die reife Dame winkte entschlossen, der junge Geduldig stieg zu ihr ein. »Ich komme nach!« rief er noch im Abfahren. »Sagen Sie Herrn Plockwurst ruhig, was ich mache!«

Terra sah aber ein anderes großes Privatauto, das vorbeifahren wollte. Er rief, es hielt endlich, Erwin Lannas stieg aus. »Ich begleite die Damen, sie wissen nur nicht, wohin.« – »In die Vogue!« rief Terra dem Chauffeur zu. Er küßte die Hand der Frau von Blachfelder und seiner Schwester Lea. Beide, mehr als angeregt, riefen durcheinander: »Wir gehen groß aus!« – »Allein in der Jägerstraße hat sie sieben Schnäpse gehabt!« – »Die hat doch die Kokotte gesoffen!« – »Nein, Erwin hat sechs weggegossen!« – »Erwin ist unsere Schutzvorrichtung.« – »Erwin darf mich heiraten. Herr Mangolf hat es ihm erlaubt.« – »Aber ich nicht!« rief die Blachfelder, sie wollte kratzen, Terra hielt sie.

»Mein Kind,« sagte er zu Lea, »Deine gute Erziehung hatte das Schlimmste noch immer verhütet.« – »Ach laß doch«, – sie sank in die Ecke. »Das ist der Abschied, bald hört alles auf.«

Erwin mit seinem Ernst, seiner Zartheit sagte: »Die Südseeinsel, endlich sind wir beide für sie reif.«

»Kein Schnaps mehr? Keine Liebe?« fragte süß die Blachfelder. »Keine Männer, keine Weiber mehr«, entschied, tief müde, Lea Terra. »Aber auch kein Geld«, mahnte die Blachfelder.

»Also Amerika.« Die Schauspielerin blickte starr. »Du, Lieber, zeichnest für Modeblätter. Ich spiele Komödie, wie immer. Geht das?« Sie starrte. Niemand antwortete ihr. Alle fühlten, kalt berührt, es gehe nicht. Nichts gehe mehr, fühlten sie die Dauer eines Pulsschlages der Müden nach.

Da waren sie auf dem Potsdamer Platz. Nur noch zusammengefaßte Reste Lebens auf Trottoirrändern, aber im nächtlichen Himmel lebte ihr Feenleben die Lichtreklame noch; große Sterne gingen auf und unter, über Dächer liefen Feuergestalten. »Am Tage ist das grau und häßlich«, sagte Lea Terra. »Wir auch. Aber jetzt sind wir strahlend schön.« Wobei sie in die Straße lenkten und vorfuhren. Hinein in das vom Licht überrieselte Haus!

Es hatte unten nur Garderoben und Spiegel, Zauberwelten in Spiegeln, die Gesichter der eintreffenden Damen wurden sofort hineinversetzt und festlich verwandelt. Fleisch ward überfleischlich in einem Licht, das aus großer Höhe gelinde regnete. Gesichter schimmerten wie Seltenheiten, der genau umrissene Mund schien als künstliche Frucht darin erschlossen. Statt der Ärmel wehten, an den Handgelenken befestigt, offene Schleier um kostbare Arme, die silbern glänzten. Kleider hießen tangofarben, sie hatten den Ton der Flamme, die nur erst züngelt. Sie waren aus Tüll, noch eng, noch lang, aber seitwärts geschlitzt, das Bein kam auf.

Die Damen verglichen ihre Beine. Ein ganz erlesenes ward auf einen Schemel gestellt, der Herr bediente es. Die Dame trug blaugrünes Haar? Lili. Fürstin Lili mit Sohn. Begrüßung, Terra und sein Sohn vollzogen sie gemessen. Lili war betroffen, der Zustand der Schauspielerin wie der reichen Person schien vorgeschritten, aber sie fand sich damit ab, alle betraten den Lift. Keine Treppe sichtbar, hinauf ging nur der Lift.

Ganz oben führten samtene Wege zur breit geschwungenen Estrade, darunter badete in Musik, warmen Düften und in Licht aus verborgener Quelle der vergoldete Saal, wo soupiert ward. Rundum wie Logen öffneten sich Salons – immer mehrere nacheinander, im entlegeneren ward es still. »Die Vergnügungsstätten meiner Jugend machten weniger Umstände«, dachte Terra.

Tanzmusik gedämpft weither, gedämpfte seidene Zuflucht, sogar die Bilder gut, man war wie zu Gast bei Unbekannten, die sich nicht zeigten. Der livrierte Diener hatte Auftrag, den Gästen zu gehören. Erwin Lannas bat um starken Kaffee, er hoffte, damit ernüchtere er Lea, wenn nicht ihre Freundin. Die beiden tanzten sofort. Lili war sichtlich uneins mit dem jungen Claudius; Terra in seinem ruhevollen Sessel sah auch den Gegenstand ihres Streites, jenen jungen Gent im vorderen Zimmer. Jetzt kam er, der gelbblonde Lulatsch küßte gierig der Fürstin die Hand. Sofort erhob sich vorn die Stimme der enttäuschten Dame, die er anderen Gents überlassen hatte. »Die Frau ist das lebende Rätsel. Wie lange die Frau schon mitmacht, weiß kein Mensch mehr«, sagte scharf die Rivalin.

Die Fürstin Lili hörte es wohl nicht? Sie hatte ihr unnahbares Lächeln. Sie hatte auf der Höhe ihrer schlanken Fleischespracht die blaugrüne Frisur, sie hatte den fleckenlosen Hals, dessen Schimmer herausforderte zum Vergleich mit seinen großen milden Perlen. Ihr Bein bog und streckte sich schreitend im Schlitz des tangofarbenen Kleides, welche Spannkraft! O beherrschte Weichheit, o Wiegen, verheißungsvolles Gleiten! So nahte sie Terra; das mattweiße Gesicht, der dick aufgetragene Mund ließen sich vor ihm nieder, stolz wie je. Aber Terra sah schlecht. Er sah die ewigen Augensterne nicht mehr leuchten, sie erloschen. Zerstört war die unvergängliche Fleischespracht. Es war geschehn um die Fürstin Lili, wo blieben wir alle. Welcher Wind blies aus welcher Öde? Woher der Schauder des Nichts? »Wie kommst Du dazu, mich zu bedauern?« – »Was sagte ich denn?« – »Arme Lili! ... Und Du selbst machst heute ein Gesicht wie hundert Jahre.«

Er entschuldigte sich. Übrigens kam sie sofort zur Sache. Ihr Sohn Claudius war hinein zu dem Gent gegangen, dessen Schwester er heiraten wollte. Die Familie Plockwurst. »Und die Eltern sind einverstanden?« fragte Terra. »Vor allem bin ich es nicht«, sagte sie. »Versorgung, nun ja. Aber unser Kind ist zu jung, mache es ihm als Vater doch klar!« Terra glaubte nicht an die Genehmigung des Präsidenten Plockwurst, aber Lili fürchtete sie. Nichts auf der Welt schien sie mehr zu fürchten, als diese Heirat. Für sich? Für ihr Kind?

»Ich kann ihn doch noch nicht hergeben! ... Er ist ein einziger Junge. Sieh Dir an, wie er das Monokel trägt! Sieh die hohle Magenlinie! Er hat die Frechheit und den Scharm, das glaube ich, daß sie ihn haben möchten. Mein Junge ist noch nichts für Plockwursts. Die Tochter, das hagere Elend, hat nicht einmal den Muck, ihn sich zu wünschen. Ich traue es eher der Mutter zu. Ihre Einwilligung in die Heirat ist Falle, sie will etwas anderes.«

Dann könne sie sich beruhigen, meinte Terra, aber Lili blieb dabei, er müsse Claudius zur Vernunft bringen. Sonst wende sie selbst die schärfsten Mittel an, damit die Verlobung auseinandergehe. »Mittel habe ich, das wirst Du erleben. Und wenn es den Jungen seine Zukunft kostet!« Was als Ausdruck mütterlicher Sorge sonderbar klang. Sie dachte also an sich selbst, wie je. Ihr wohlgeratener Sohn gehörte nur ihr, sie gönnte ihn selbst dem Glück nicht. Todernste, fassungslose Leidenschaft des so vielerfahrenen Gesichtes, – in das niemand hier spähen konnte, als der alte Freund und Mitverschworene. Terra sagte gedämpft und stockend: »Meinetwegen. Du kannst ihn mir herschicken.«

Sie ging; aber es dauerte, bis ihr Claudius kam. Er tanzte sogar noch mit der Dame, die seine Mutter das lebende Rätsel genannt hatte. Sofort nahm Lili sich den jungen Plockwurst, der nach nichts anderem gedürstet hatte. Zwei schöne Paare; der Primgeiger dort vorn verließ die Seinen, spielte sich bis in das Zimmer, begleitete schrittweis die Tanzenden, ließ sein Instrument ihnen schmelzend am Ohre singen.

Aus der Nachbarschaft tanzten Fremde herein. Frau von Blachfelder ward, ihres Zustandes ungeachtet, von Erwin Lannas im Tangoschritt geführt, er hatte den einzigen Gedanken, sie von Lea zu trennen. Statt dessen saß Lea plötzlich umringt. Ein Herr, der ihren Bruder kannte, hatte die Erlaubnis erwirkt, ihr die Verehrung mehrerer Damen überbringen zu dürfen. Es waren Kokotten; eingeschüchtert, kindlich ernst sagten sie der Schauspielerin, sie hätten sie heute Abend bewundert ... Dann kam noch eine andere.

Dies war Familie und Provinz, zum erstenmal mitgenommen von dem Männchen, das drüben an der Wand in großer Erregung wartete. Die junge Frau brachte Blumen, strahlend weiße Blumen an langen Zweigen, sie hielt sie bittend hin, bog ein Knie, senkte den blonden Kopf. Lea aber lag im Sessel und blieb liegen. Die Brauen rückten ein wenig höher, die Lippe wölbte sich, Zähne wurden frei. Müde, satt, ungläubig glitten aus den sprechenden Lidern diese Blicke hinab und über das sanfte Geschöpf ... Dann schloß sich der Mund, die Nase zitterte leicht. Lea nahm die Blumen, drückte sie an ihren nackten Hals, stand auf und tanzte mit der jungen Frau.

Vom Tisch verschwanden alle Fremden, der junge Claudius traf ein. »Herr Terra!« begann er, ließ das Glas aus dem Auge fallen und machte sich einen harten Blick. Der Magen war tatsächlich so gut wie fort. Auch der Sohn kam sogleich zur Sache. »Ich muß in einer für mich wichtigen Angelegenheit auf Ihr Entgegenkommen rechnen.« Sie sei aussichtslos, sagte Terra. Er kenne den Präsidenten Plockwurst. »Dem Präsidenten liegt bestimmt nichts ferner, als meinem Sohn seine Tochter zu geben.« Das sei ihm klar, erwiderte Claudius. »Ihr Name, Herr Terra, wäre ein entscheidendes Hindernis. Daher habe ich mich natürlich gehütet, ihn auszusprechen. Meine Beziehungen zu Ihnen bestehen für Plockwursts nicht. Ich möchte Sie bitten, mich durchaus als Fremden zu behandeln.«

Und auf den Zweifel Terras, ob die Lage sich lange erhalten lassen werde: »Lassen Sie es meine Sorge sein! Schon seit ich mündig bin, betreibe ich mit aller Energie die förmliche Anerkennung durch meinen fürstlichen Vater.« Da Terra wieder zweifeln wollte: »Geboren bin ich zwar nach der Scheidung meiner Eltern, aber innerhalb einer glaubhaften Frist. Ich denke nicht daran, auf irgend einen meiner natürlichen Vorteile zu verzichten.«

»Es sieht danach aus. Jetzt sage mir nur noch eins, mein Junge. Hast Du den jungen Plockwurst schon geschäftlich engagiert?« – »Komische Frage«, sagte der Sohn. »Man engagiert geschäftlich wen man kann«. Terra, mit Schonung: »Somit ließe sich das Problem dahin umschreiben, ob Plockwursts dumm sind. Von einem künftigen Schwager und Schwiegersohn brauchten sie sich nicht mit Geld hineinlegen zu lassen. Ein anständiger Beitrag zur Lebenshaltung läge näher.« Worauf der Junge stutzte.

»Was wollen sie dann?« fragte er endlich. »Wenn sie keine Heirat wollen? Ich habe mich zu ihnen doch als Kavalier gestellt? Sie giepern doch nach einem Fürsten?« Die Fragen wurden immer angstvoller. Erbleicht, mit kalter Wut: »Gegen den Ruf meiner Mutter kommt kein Titel auf, wollen Sie sagen? Gerade darum liebe ich meine Mutter, daß Sie es wissen!« – mit Kraft. »Ich bin für den Fürstentitel und für das, was meine Mutter ist. So bin ich.«

Terra schenkte ihm ein. Der Junge zog aus dem Ärmel des Frackhemdes das Tüchlein, er tupfte sich die Stirn. Seine Mutter lag tanzend im Arm des Plockwurstschen Sohnes. Gerade verschwanden sie im Nebenzimmer. Auch das Männchen aus der Provinz hatte sich dorthin zurückgezogen – vor Bescheidenheit, vielleicht sogar geschmeichelt, denn seine junge Frau ging von Hand zu Hand. Wenn Frau von Blachfelder sie losließ, fiel sie Lea zu. Erwin Lannas tat was er konnte, um Lea anders zu beschäftigen. Er wandte sich sogar an das Männchen, das besser daran getan hätte, seiner jungen Frau neue Sehenswürdigkeiten zu zeigen; aber das Männchen verstand nicht. Während Erwin erhitzt, traurig und wie in die Fremde verschlagen, sich mit der Blachfelder drehte, fiel die junge Frau, schon halb beschwipst, Lea zu. Lea hielt in der schönen Hand die Zigarette, die andere schob verlockend das Glas hin. Der Kopf war auf die Schulter geneigt. Eine Wange beschattet, umso weißer, bebender lagen die anderen Flächen da, schon leicht gedunsen, schon unjung. Verschwimmende Augen, das eine kleiner und mit einem Zucken der Braue, vielsagend wie das Lächeln. Die junge Frau fiel mit dem Gesicht auf das Knie Leas, ob vom getrunkenen Champagner oder aus Widerstandslosigkeit gegen die verschwimmenden Augen, die zuckende Braue, – fiel und küßte das Knie.

Der junge Claudius hatte mehrmals schnell ausgetrunken, Angst und Zweifel waren betäubt, er ging zum Angriff vor. »Ein kluger Mensch wie Sie, Herr Terra – unbegreiflich, daß Sie auf die falsche Karte setzen konnten. Sehen Sie? Jetzt kommt Krieg, ich habe gewonnen. Wir Jungen haben gewonnen.« Er hatte gewonnen! Ward er nicht nochmals bleich – und diesmal endgültig? Verglasten die kühnen Augen nicht? Die hohle Magenlinie glitt doch zu Boden! Terra griff hin, aufzuhalten ... Erstaunt fragte der Junge: »Was haben Sie?«

Terra entschuldigte sich auch hier. »Ich traute der Welt Bestand zu, seitdem ich in ihr tätig mitwirke. Dies ist der Irrtum des reifen Alters«, gestand er. »In Deinem Alter dagegen erkannte ich auf das allerdeutlichste die Blutspur, die durch das gesamte Leben führt. Die Narrheit meiner Generation war, sie tilgen zu wollen.«

Der Junge verzog höhnisch das Gesicht über die Narrheit. Dann sprach er, die Seele gespannt, von dem bevorstehenden Erlebnis des Krieges. Es sollte viel mehr Menschen gebären als töten. Es sollte frei, schutzlos und entschlossen machen, uns entheben der niedrigen Angst um Ämter und um Geld, alle das große Entsetzen lehren, vielen das große Wagnis beibringen, manchem das große Leben schenken! ... Der Junge schwärmte. Trank und schwärmte. »Auch er«, sah sein Vater. »Der ewige Trug! Er ist mein Sohn, ob er seine Mutter verkuppelt oder in Wolken steigt«, – und vollzog ernst und mit ihm den Trinkakt.

Geduldig unterbrach sie, er fragte, ob er die Damen Plockwurst hierher bringen solle. Blick auf die vorgeschrittenen Tänzerinnen, Geduldig hatte Welt. Der junge Claudius erhob sich sofort, den Krieg stellte er zurück, er führte selbst, durch das Spalier verblüffter und neidischer Herren, die reichen Damen herbei. Er setzte sie in die vertraute Ecke, wo schon seine Mutter mit dem Sohn Plockwurst ruhte. Sie ließen sich nicht stören. Die reiche Frau Plockwurst breitete ihre feuerfarben umhüllten Formen hin, sie winkte neben sich den schönen jungen Mann. »Fürst Waldemar«, rief sie ihn, und feuerfarbene Flecke drangen auf ihrem weiten Gesicht durch den Puder.

Der schöne Junge stand, die Magenlinie hohler als je, vor der jungen Plockwurst, die den Bauch herausstreckte. Sie tat es aus Müdigkeit und weil sie nicht kokett war. Sie hatte auf ihrem langen Gerüst den kleinen duckmäusigen Kopf, in dessen umschatteten Augen er nun schon oft vergebens etwas anderes hatte aufregen wollen, als Heimlichkeit und Leere. Die Alte klopfte kräftig auf das Sofa, wohin er sich setzen sollte. Er setzte sich.

Terra war tief beunruhigt durch Geduldig, seine Ankunft nicht mit der Mutter allein, auch mit der Tochter. »Spazierfahrt im Tiergarten«, sagte Geduldig nur. Ob auch die Tochter schon im Auto gesessen hatte, als die Mutter ihn darin aufnahm? Geduldig begnügte sich mit den Winken, die seine Augen gaben. Er sagte allgemein: »Was man in Berlin jetzt erleben kann –. Ich selbst bin Berliner, aber das lebt nicht.« Er saß die Hände in den Hosentaschen, eingesunken aber unermüdlich im Sofa, Stirnlocke, zarte Haut mit Anflug lebensfrohen Errötens, Blick Luzifers. »Jetzt kommt Ihr Sohn dran, Herr Geheimrat.« Terra mit Strenge: »Unter diesen Umständen werde ich meinem Sohn von der Heirat abraten müssen«, – was aber Geduldig lächeln ließ. »Ihr Sohn sieht immer am Leben vorbei. Hat er das von Ihnen – Herr Präsident?« Er gab die Erklärung, die der Vater gefürchtet hatte. »Mir können solche Kapitalistenweiber nichts vormachen, ich amüsiere mich. Ihren armen Jungen machen sie verrückt.«

Terra sah nieder, er hielt sich steif, um nicht einzusinken wie Geduldig, er schämte sich. Der Mißbrauch seines Kindes beschämte ihn. Und die Enttäuschung, die dem Armen bevorstand! Arm und jung, wie auch wir einst waren. Hält sich für über die Maßen bedenkenlos, wird aber nur schuldig ohne Zweck, wird aber widerstandsloses Opfer derer, die bloß den Witz des Geldes haben. Das geht so fort vom Vater auf den Sohn. Das wird nie gerächt werden? ... Selbstvergessen saß Terra und schäumte.

Geduldig von seinem niedrigen Sofa her sah den Mund Terras bitter werden, sich abarbeiten, schäumen. »Das sind Sie!« sagte jemand. Terra sah auf: Geduldig, er hatte ihn vergessen. »Warum sind Sie gegen Krieg?« fragte Geduldig, zum erstenmal ernst. Wink nach Plockwursts: »Ich bin kein Pazifist, denn ich denke wirtschaftlich. Der Tod des Henkers erspart Opfer ... Lassen Sie die da nur anfangen, aus ihrem Krieg wird langsam unserer werden.«

»Wessen?« fragte Terra. Geduldig: »Wir kennen uns – in den Ländern, die reif sind.« Er brannte düster, mehr sagte er nicht. »Welche Länder sind reif?« fragte Terra. Geduldig schlug eine Lache an. »Ich gehe Ihnen nicht auf den Leim, Herr Geheimrat. Sagen wir Rußland! Ist Rußland reif?« fragte er höhnisch – schon im Aufstehn. Der Krach bei Plockwursts erregte seine Teilnahme.

Fürst Waldemar schützte seine Mutter, Bernt Plockwurst hatte sie geküßt. Er sah es den ganzen Abend, aber plötzlich regte es ihn auf. Er wurde krampfig in der Wut, Frau Plockwurst fand ihn nicht mehr reizvoll. Sie fürchtete für ihren Lulatsch, der Mensch konnte ihm sogleich an die Kehle springen. Sie gab sich Würde, sie rief die müde Tochter. »Greta! Wir gehen. Die gnädige Frau vergreift sich an jungen Leuten. Das ist keine Verwandtschaft für Dich.« Abgang, Greta hinterher. Der Lulatsch grüßte mannhaft seinen Feind mit den Augen, dann tapste auch er nach.

Stille. Das Zimmer plötzlich leer. Terra, aufgeschreckt aus seinen Gefühlen, besann sich, wer fehlte. Lea! Auch die Blachfelder – und auch jene junge Frau ... Erwin Lannas kehrte verstört wieder. »Wo ist Lea?« fragte er ins Leere. »Ich ließ mich ablenken durch den Streit, jetzt ist sie verschwunden. Herr Geduldig und ich haben überall gesucht.« Da erinnerte sich Terra, er habe sie gesehen. Er selbst war damals umnebelt vom Rauch seiner Gefühle.

Er sah es wieder, sie stand in jenem Vorhang, einen Fuß schon vorgeschoben zum Fortgehen; hielt mit der Hand das Kleid, aber ein verstohlener Finger wies lockend hinaus ins Dunkel. Die Nebenräume wurden verdunkelt ... Oh! jetzt erschrak der Bruder, er sah ihre Miene wieder, dies kranke Locken, die armselige Verführung, den Unglauben, den Verfall. Glaubte denn die fremde junge Frau ihr? Lea verfiel doch, vor aller Augen verfiel ihr erbarmungswürdiges Lächeln, sie schwand hin und verging in dem Vorhang, wie das Experiment eines Zauberkünstlers. Man konnte ihr nicht glauben! ... Doch, die fremde junge Frau war ihr gefolgt, sie waren fort.

»Das Haus muß abgesucht werden.« Erwin anpackend, erschrockenes Flüstern: »Kommen Sie! Sie waren nicht überall. Wo ist Geduldig?« – »Er ging nach Hause. Es sei seine Zeit.« Worüber Terra noch mehr erschrak. »Und der Gatte?« flüsterte er im Abgehn.

Fürstin Lili in ihrem verschwiegenen Winkel stand vom Sopha auf. Ihr Sohn drehte ihr noch immer den Rücken. »Komm endlich!« Er fuhr herum. »Mit Dir? Nachdem Du mir die Heirat versalzen hast? Es war Absicht!« – »Natürlich war es Absicht,« sagte sie ruhig.

Er sah sie an, schloß die Augen und stöhnte, die geballten Hände hebend, laut auf. »Damit Du siehst, was ich kann«, sagte sie. »Du bleibst mein.« Er ließ mit Kraft die Fäuste sinken, aber auch vor seinen aufgerissenen, harten Augen wich sie nicht. »Mein richtiger Junge«, sagte sie zärtlich und wachsam. Er beugte sich böse vor. »Das Geld?« zischte er. »Gibst Du mir das Geld für den Plockwurst?« – »Nein! Ich behalte es. Er schuldet es mir.« – »Dirne!« – und der Sohn fiel über sie her.

Sofort hatte sie den Arm wieder frei, sie trat seitwärts, er folgte, griff nochmals fehl ... das geschlitzte Kleid flog auf, das schöne Bein spreizte sich, glitt. Zurück, seitwärts, vor, ein Gleiten, ein Hüftschwenken entzog sie ihm noch immer. Er glich sich jedem ihrer Schritte an wie ein Tänzer. Durch leeren, vergessenen Raum furchtbar bewegt, hatten beide dasselbe Gesicht, selbstverlorene Augen voll letzter Entschlüsse, hatten Hände, die sich nicht mehr kannten, – und aus entblößten Zähnen ging leises Schnauben.

Eine Stimme sagte: »Gott behüte!« – da hielten sie an. Sekunde des Schwindels, des Erwachens, schon ließ der schlanke, hohe Kavalier die blaugrünhaarige, blendende Dame vorangehen, vorbei an dem livrierten Diener, der begeistert in zwei Hälften knickte. »Die Garderobe!« Der alte Mann riß sich zusammen wie ein Rekrut. Dann sah er dem Paar bewundernd nach.

Er wollte auch dieses Zimmer verdunkeln, nur unterbrach ihn ein aufgeregter Gast geringeren Grades. »Meine Frau!« keuchte er aus aufgeweichtem Hemdkragen. »Ich habe Ihre Frau Gemahlin nicht«, – der livrierte Diener antwortete bescheiden, aber nicht ohne Stirnrunzeln. »Drei Damen waren es!« rief der Unglückliche. »Drei Damen, die zusammen tanzten. Sie haben sie gesehen!« – Der livrierte Diener, immer deutlicher befremdet: »Suchen Sie nun drei, mein Herr, oder eine? Was, bitte, soll ich gesehen haben?«

Der arme Mensch, mit der Kraft der Verzweiflung: »Daß sie entführt worden ist. Betrunken gemacht, entführt, was weiß ich, ermordet!« Er brach in Weinen aus. Der livrierte Diener versuchte es mit Güte. »Mein Herr, Sie scheinen den letzten Drink nicht vertragen zu haben, nehmen Sie ihn nie wieder!« Jetzt ward der Gast aber ungebärdig; er faselte von Verschleppen, internationalem Mädchenhandel, anrüchigen Lokalen und von Polizei. Der livrierte Diener zeigte nur noch Kälte und Erhabenheit. »Wenn Sie mich nötigen, auf diesen Knopf zu drücken, wird der Portier Sie leider hinausgeleiten, mein Herr.« Worauf der Gast laut weinend machte, daß er fortkam.

 

Draußen im leuchtenden Julimorgen stieß er auf zwei andere Herren. »Gibt es das?« jammerte er. »Sagen Sie mir doch nur, meine werten Herren, ob es in Berlin das gibt, daß eine Dame einfach aus dem Lokal verschwindet?« – »Sie muß ich kennen«, sagte der eine der Herren. »Ach ja, Ihre drei Damen!« – »Nur die eine«, beteuerte der Arme. Der Herr erklärte, der Fall werde harmlos liegen. Er behauptete es fest. Seine Frau sei beschwipst gewesen; wahrscheinlich, um sich auszuschlafen, mitgenommen von den Damen, die nicht wußten, wem sie gehörte. Streng vornehme Damen, der Herr nannte einen Namen, er gab eine Adresse weit draußen an. »Nur keinen Lärm! Sie würden Ihrer Frau unermeßlich schaden. Fahren Sie jetzt in Ihr Hotel! Schlafen Sie gleichfalls aus! Wenn Sie aufwachen, steht Ihre Frau an Ihrem Bett.« Der Herr winkte selbst einem Auto.

Dann kehrte aber Terra zitternd und schweißbedeckt zu Erwin Lannas zurück. »Wenn er am Nachmittag aufwacht, fährt er an die falsche Adresse, die ich ihm nannte. Ich werde dafür sorgen, daß er dort an eine andere geschickt wird. Je länger ich ihn hinhalte, desto glücklicher wird er schließlich sein, seine Frau noch wiederzusehen, und wird sich über ihre Erlebnisse vielleicht ausschweigen.«

»Wenn aber nicht?« fragte Erwin. »Dann – fahr wohl«, sagte Terra. Sie gingen nebeneinander her, zuerst langsam, aber ihr Gang beschleunigte sich von selbst. Plötzlich standen sie gleichzeitig. »Wir haben keine Minute zu verlieren«, raunte Erwin. Terra, heiser: »Wollen Sie zu Lea gehen?« Erwin wandte die Augen weg. Sie gingen weiter – in der anderen Richtung.

Hinter den Augen Erwin Lannas', undurchsichtigen Halbedelsteinen, schien Angst wie Rauch aufzusteigen. Ein Abgrund meldete sich. Er wollte aufgehen, schon war der Blick Erwin Lannas' keine verschlossene Kostbarkeit mehr. »Ich folgte ihr in die Jägerstraße, sie war so glücklich. Ich folgte ihr in die Motzstraße, arme Lea.« Er allein kannte jede Stunde und was sie ihr gebracht hatte. »Sie ist im Herzen einfach, ich weiß es, ich bezeuge es. Kein Laster, das an sie herankäme. Sie geht hindurch, sie streift bloß an das Leben. Nie kann sie sich verlieren. Was ist ihr die Welt? Ein notgedrungener Spaziergang« ... Er sah sie in sich. Was er von allem besaß und kannte, schenkte er ihr.

»Nun ist sie fortgegangen, wohin mit mir!« Offenen Abgrund in den Augen. Er nahm den Hut ab, sein Kopf ergraute schon bis zum Scheitel. »Sie kommt nicht wieder. Diesmal nicht, ich fühle es. Ich bin ihr immer nur gefolgt, ich bin die Nebenfigur, die verehrt und mitgeht. Ich muß hin, wo sie ist. Wo immer sie ist!« Er hatte entgleiste Bewegungen. Terra vertrat ihm den Weg. »Der Skandal!« raunte er. »Vergessen Sie nicht den Skandal!« Sie sahen sich an; hinter den Augen Erwin Lannas' ging der Abgrund zu. »Ich bin sehr müde«, sagte er. »Ich will auf sie warten.« Terra ließ ihn stehen, er rannte plötzlich.

Die Straßen waren leer und noch still, ihn trieb der Wind der Katastrophen durch hellen, leeren Julimorgen. »Wie sieht sie jetzt aus?« dachte er immer wieder. »Anders, als der Träumer sie sieht! ... Das ist eine, die Schluß macht. Die fackelt nicht lange. Recht so, es ist genug geschwatzt. Der Tod des Henkers erspart Opfer, wo hörte ich das?« Er rief ein Auto an, wußte aber nicht wohin, und entließ es wieder.

»Wie sieht sie jetzt aus? ... Wir werden verschwinden müssen, wenn es Skandal gibt. Der Tod des Henkers erspart Opfer. Wir verschwinden, Geliebte! Die Katastrophe bricht an. Der Tod des Henkers –.« Er sah an einem Haus hinauf. Zopfstil, nüchtern geziert. Es lag ein wenig zurückgezogen aus der Häuserreihe, die Klinkersteine davor waren grün. Es hatte ein großes, herrschaftliches Einfahrtstor, die kleinere Tür daneben ward gerade geöffnet. Erst bei der Luft, die daraus hervorging, dachte Terra an Mangolf. Das Haus Mangolfs.

Sofort verließ er die Straßenseite. Auf der andern freilich kam er nicht vorwärts, stampfte mit dem Fuß, aber blieb. Rauchend hin und her, hin und her. Der Mund spie Rauch, das ganze Gesicht arbeitete im Drang der Wut. »Seinetwegen!« Seinetwegen war Lea dort, wo sie war. Seinetwegen dies geworden. Der Bruder sah sie in der Blüte von einst, den Kopf hoch, den Mut hoch, helles Kleid, prahlerisch jung jedes Glied, jeder Wink – und dies Lachen, das erhabene Verachtung des Lebens war ... Jetzt endlich erlag sie dem Leben. Klammerte sich würdelos noch an und erlag, denn jemand hatte sie entwaffnet, unaufhaltsam entwaffnet ... Terra warf die zehnte Zigarette fort, harten Schrittes betrat er das Haus. Die Diener im Vorsaal und auf der Treppe wagten kein Wort, geradeswegs ging er in das Zimmer des Herrn.

Mangolf stand eben auf. Er war im Pyjama und eingeseift. »Mein lieber Wolf!« begann Terra aufgepflanzt. »Dein Haus riecht nicht nach Liebe. Ich wollte es Dir schon längst sagen. Wenn ich Dir völlig klar machen könnte, welche Wirkungen auf Menschen Du hervorbringst, Du würdest Dir ganz ohne Zweifel auf der Stelle die Gurgel abschneiden, nur daß Du natürlich kein Messer, sondern einen Giletteapparat hast.«

»Bist Du wahnsinnig?« fragte Mangolf. Terra schüttelte die Fäuste, sein Gesicht war derart anzusehen, daß Mangolf vorerst aufgab, sich zu rasieren. »Was wünschest Du?« Aber Terra sprach lange nicht; dann trocknes Aufschluchzen, dann der Ausbruch. Mangolf verstand nur »Lea«, die Worte erstickten einander. Beunruhigt, wollte er mehr verstehen, – da aber Terra! »Du hast das Recht verwirkt, auch nur ihren Namen zu kennen. Auf Dir lastet beispiellos furchtbare Verantwortung. Du bist gerichtet, daß ich es Dir endlich, endlich sage, – gerichtet vor Deinem Gewissen wie vor der lebenden Welt. Denn durch Dich soll sie sterben. Dein Krieg kommt.« Woher er das wisse, sagte Mangolf; aber Terra ließ sich nicht aufhalten.

»Du bist durchschaut. Das laß Dir genügen – und sei gewarnt! Dies ist kein Spiel mehr. Du hast billigen Beifall genug geerntet in Deinem Leben, mache nicht noch Krieg! Du hast geschadet genug, Du warst von je die größte Gefahr. Dem Gemeinen hast Du zum Munde geredet, hast Dich ihm angeschmissen und bist nun selbst gemein. Das ist die zweite Naivität, Deine Erfindung.« Die schneidende Stimme! Der Klang von Wissen, von unwiderruflichem Beschluß! Mangolf mit seinem Gesicht voll dunkler Tiefe zweifelte auf einmal an sich, er fiel zitternd in den Stuhl. »Ich, der so leicht zweifle«, dachte er klagend.

Jetzt raunte Terra: »Wer sich um das Duell gedrückt hat, erklärt nicht Krieg. Du wirst die Mobilisierung verhindern.« Auf die mutlose Regung Mangolfs, näher bei ihm: »Verhindere sie! Sorge für schleunige Einbringung des Gesetzentwurfes über das Kohlenmonopol!«

»Er ist doch nur albern«, dachte Mangolf – fühlte sich aber gelähmt. Er mußte es stumm geschehen lassen, daß Terra nochmals laut ward, nochmals drohte, zuletzt aber stark abging.

Die Katastrophe, die Terra vorauslebte, zeigte ihr Gesicht noch am Morgen. Lea rief ihn, die fremde junge Frau war tot. Sie hatte nicht den Mut gehabt, ihrem fremden Männchen je wieder unter die Augen zu treten. Retten, was zu retten ist! Alles fiel auf Lea, die Blachfelder hatte das Sanatorium angerufen und sich abholen lassen. Der Bruder sollte retten. Er tat Wunder, der Skandal war erst am Nachmittag da, mehr konnten auch Wunder nicht. Die Abendblätter nannten noch keinen Namen, aber sogar die Polizei erklärte, daß sie es morgen früh nicht mehr werde verhindern können. Wie dann noch die Verhaftung vermeiden – bei aller gebotenen Rücksicht auf hochstehende Gönner der Schauspielerin ... Eine Nacht blieb.

Er ging zu Alice. Dieselbe späte Stunde wie gestern, dasselbe Zimmer, Alice in Schwarz. Ihm ward sofort beklommener in ihrer Luft, als draußen inmitten der Katastrophe. Er bat sie, Lea zu retten, seine Schwester zu retten, sie zu retten. Sie behielt das abweisende Gesicht des Erzengels, schmal und ganz weiß auf engem, schwarzem Kragen. Sie halte niemand mehr, der gehen solle, sagte sie endlich. Sie selbst ginge gern. Da schwieg er schaudernd. Sie war in Schwarz, – war sie es schon gestern gewesen? Er wußte es nicht; ihre Verwandlung kam unmerklich, aber sie kam gebieterisch, sie ergriff. Terra fühlte ihre verwandelte Schönheit als neue Macht, als den Ausdruck jener letztgeborenen Kraft, die verurteilt und beendet.

Er schüttelte den Schauder ab, er wollte streiten. Sie fragte nur ernst, ob er selbst seine Schwester, auch wenn es möglich wäre, noch einmal auf einer Bühne sehen wolle; da stockte ihm das Herz, er erkannte, es sei zu Ende mit Lea. Er stand auf. »Und ich habe sie geliebt«, sagte Alice. »Sie geht unter«, sagte der Bruder tonlos.

Er empörte sich. Was drinnen ihr Mann tue. Beten? Um Sieg? Um Massensterben? Da liege freilich nichts mehr an der Einen. In der frechen Luft des bevorstehenden Massentötens sei sie schuldig geworden, Opfer ihrer reizbareren Natur, früher verzweifelt als wir andern am Wert der Selbsterhaltung. »Verantwortlich auch für dieses Opfer ist, wer den Krieg will. Er wird fallen. Der Tod des Henkers erspart Opfer.« Es war mehr, als er sagen wollte, er stockte. »Verantwortlich? Wenigstens sichtbar ist Tolleben. Es ist genug, sichtbar zu sein.« – »Er wird fallen«, wiederholte aber Alice. »Wir sind einig – auch mit ihm.« Sie ging zur Tür und öffnete.

Tolleben stand wie gestern vor dem weitoffenen Fenster, nur daß kein Mondlicht ihn beglänzte. Beschattet und gesenkt blieben Stirn und gefaltete Hände. Die hohe Stimme sprach schwach, Seufzer durchwehten sie. »Lieber Gott, ich habe es nicht gewollt. Meine Dispositionen sind unverändert, ich bin verhandlungsbereit. Laß doch nicht meine ganze Politik zusammenbrechen wie ein Kartenhaus! Lieber Gott, verhüte das Äußerste noch! Ich allein kann es nicht mehr, ich lehne die Verantwortung ab. Aber kann Dein Knecht Dir noch etwas nützen? Brauchst Du ein Opfer?«

Schüchtern hoben sich Hände und Stirn. Tolleben lächelte schüchtern, – als könnte Gott ihm die ungewohnt großen Worte verübeln. Aber zum erstenmal mit Kraft: »Ich bin bereit.« Die gefalteten Hände schnellten Gott entgegen, das große Auge sah ihn an. Alice schloß die Tür.

Sie standen. Terra fand kein Wort. Er ging schon, warf sich aber herum. »Schrecklich«, rief er. »Was haben Sie aus ihm gemacht?« Da der bleiche Engel nur noch höher wuchs: »Jetzt wird er hervorkommen, der einstige Gewaltmensch zeigt Ihnen sogleich sein ergebenes Gesicht und fragt Sie, wann es sein soll. Schrecklich!« – »Ich gehe mit ihm«, sagte sie.

Darauf hörte Terra nicht mehr. »Fahrwohl, Alice Lannas«, fühlte er, und »meine Schwester retten!«

 

Er fand sie in der Maske ihrer Jungfer, so stieg sie zu ihm ins Auto. »Mein Kind, Du gibst Dir unnütze Mühe, der Polizei ist nichts erwünschter, als daß wir verschwinden.« – »Aber Mangolf?« Rätselhaftes Lächeln. »Er will nicht, daß ich verschwinde, dann ginge es mir zu gut. Ich soll weiter leiden.«

Sie selbst wollte unter alles den Strich gesetzt haben, nicht er. Der Bruder bedachte, wie wenig dringend Mangolf nach dem Schicksal Leas geforscht, wie leicht sich abgefunden habe. Entschuldigend dachte er, daß Gleichgültigkeit von Mensch zu Mensch jetzt unerhört und einzig werden müsse ... Aber er schwieg.

Sie saß im Schnellzug zur Grenze mit dem rätselhaften Lächeln. Blumen, die der Bruder ihr gereicht hatte, führte sie an ihr Gesicht dürftig und unaufmerksam, wie gestern Nacht die Blumen der jungen Frau. Kein Erinnern? Keine Reue? Sie sah ihn forschen, sie sagte: »Wie sehe ich aus mit der glatten Frisur, in den einfachen Sachen? Komisch, ich hatte kein einziges passendes Stück. Ich habe niemals arme Mädchen gespielt ... Warum rührt Dich das?« Denn er trat zum Fenster.

Dort stand er lange, von ihr kam kein Laut. Aus dem Winkel sah er: sie hatte starre Augen. Nicht mehr ins Kissen gelehnt, nicht müde noch durstig mehr, – starr aufrecht entdeckte sie alles, das Getane und was nun hinzunehmen war. Vorbei die Gefahr, die doch tätig und mutig erhält; statt ihrer aber Erkenntnis ... Mit der glatten Haartracht wirkte die Nase größer, gröber geschnitten. Keine Tönung und Glättung der Umrisse mehr, ungeschminkt und arm war dies Gesicht nur noch der hölzerne Überrest so vielen getanen Lebens.

Als sie bemerkt hatte, daß er sie prüfte, sagte er: »Mein Kind, Du siehst wundervoll aus.« Sie stutzte, dann entfernte sie die Handschuhe, die reichen, glänzend beseelten Hände erschienen. Sie studierte sie still – und schuf sie um. Die Knöchel herausgedrückt, die Fingerspitzen aufwärts gebogen, anschwellende Adern, sogar die Poren wurden gröber: Hand der abgenutzten Arbeiterin. »Bravo!« rief der Bruder. »Und kein Publikum hier!« Er setzte hinzu: »Dir eröffnen sich für Deine fernere Karriere ungeahnte Möglichkeiten.« – »Du glaubst?« fragte sie, so demütig wie ihre Hände.

Er sagte ihr, voraussichtlich werde es für jeden Einzelnen jetzt darauf ankommen, sein Leben umzuwandeln. »Es ging so nicht weiter, wir wurden zu Karikaturen unserer selbst. Zugegeben, daß jede Generation dies schließlich wird; uns aber drängt es zur knallartigen Neuschöpfung.« Katastrophe – ihr sei sie geworden, sie habe, wie noch immer, ihre Zeit vorweg begriffen ... Sie lauschte dem allen angstvoll, dennoch auch davon weg. »Das alles heißt nur: Übergang ins ältere Fach«, schloß sie bitter, wenn auch ungläubig.

Darauf blickte sie rückwärts. »Es waren schwere Jahre. Eigentlich so kurze, aber schwer. Ich war dafür nicht geboren.«

»Für Deinen Beruf? Du versündigst Dich.«

Vorher denkt man: »Sich ausleben, sich vorführen. Ach Gott, es heißt gehorchen. Wer warnte mich einmal? Du? Nichts ist unfrei wie die Kunst. Jede Modenverkäuferin darf nachher ihrer Wege gehen. Mein Sinnen und Trachten muß zu gefallen sein. Es treffen mit der Leistung, daß die Leute hineingehen, da bleibt die Leistung nicht mein, es wird ihre. Ich bringe, was sie nur nicht haben, ich werde, was sie nicht zu sein wagen. Einzigartig und dabei gemein, eine Art Menschenerschaffer, aber zugleich abhängig, immer willfährig, vor dem Nichts jeden Abend, dann wieder für vierundzwanzig Stunden begnadigt. Einst war ich voll Hochmut. Jetzt, nach allen meinen Erfolgen, hasse ich dieses Publikum, wie ein armer Angestellter seinen furchtbaren Chef.« Beim Haß erschien doch im Leiden das Raubtier. »Und sie verehren mich. Was können Menschen, deren einzige Ehre ihr Geld ist, mir von Verehrung geben, außer Demütigungen.«

»Sie haben durch Dich wahrhaftig oft genug erlebt, was sie nicht gern erlebten. Du hieltest sie verdammt in der Hand, sie hatten all ihr Geld vergessen.«

»Ich wollte es nicht«, sagte sie. »Es war der aufgezwungene Kampf. Ich wäre bester im Verborgenen eine Frau gewesen. Erduldet habe ich im Grunde lieber als gesiegt.« Er sah sie an Mangolf denken. Ihre Lippen glitten voneinander, als hörte sie ihn sprechen; selbstvergessen schwieg sie.

Am Tage bestiegen sie einen Südtiroler Lokalzug, sie verließen ihn angesichts eines hier sich öffnenden Tales. Terra kannte es, auch kleinste Wagen gelangten nicht ans Ende des Weges, der weit hinaufführte. Bevor Reitpferde beschafft waren, dunkelte es schon. Lea verlor den Mut. »Muß es denn sein? Hinauf in die Öde? Am Ende ein Gletscher? Laß uns doch nach Wien fahren, ich habe dorthin Anträge.« Sie könne sich den Vertrag jetzt sogar erhöhen lasten, bestätigte der Bruder. Die Heldin der neuesten Weltsensation sei beispiellosen Zulaufes sicher. Worauf sie schwieg und den Kopf zwischen beide Hände stützte – vergessene Haltung der Anfängerin, die einst ehrgeizig in die Zukunft träumte.

Aus schwüler Nacht dufteten große Äpfel, Wein hing schwer im Laub, der Mond verging wieder, ein burgartiges Bauernhaus bewachte hoch über der Wegbiegung, rund und weißlich, den Aufstieg. Schleife der Straße um jähe Wasserfälle, gleich hinter der Bergecke waren sie verhallt und nie gewesen. Betaute Kräuter erfrischten köstlich die Luft. Noch bewaldeten jeden Hang die Edelkastanien.

Als sie aufhörten, war es kalt, die Höfe wurden selten und arm, der Weg, eine schmale, verhärtete Rinne, zog neben Felsen, und unter ihm der Bach. Unsichtbar im Dunkeln rauschte er. »O duftende Nacht«, fühlten beide Geschwister. Sie ritten, die Schwester vorn, dann der Bruder. Das Gepäck mit dem Eigentümer der drei Pferde blieb hinter ihnen. »O duftende Nacht, erhabenes Rauschen, die Sehnsucht des Wetterleuchtens, was wir nur wünschen, Nirwana! Täuschest Du, Natur? Wir, Deine Geschöpfe, täuschen so sehr. Nein, wir danken ab, es werde wieder eingegangen in Dich, in die Wahrheit.« Da brach aber das lange verhaltene Gewitter los.

Sogleich hieß es wieder zu kämpfen, sich durchzusetzen hier wie immer, um das Leben. Sie hielten zu Pferd inmitten eines geisterhaften Getöses. Donnergebrüll im Dunkeln, sie glaubten zufahrende Rachen zu spüren, getroffen schrie der Bach auf ... Schwarze Minute der Spannung – plötzlich aus völligem Dunkel geschleudert eine Flammenwelt, sie sahen taghell. Blau und rot wie Blumen schlug es ihnen vor die Füße. Zwischen zwei Nächten erblickten sie einander selbst als Flammen.

Sie mußten absitzen, die Pferde bebten und stemmten sich an den wankenden Boden. Ihr Herr hatte mit dem dritten wohl eine Zuflucht aufgesucht, die sie kannten, sie kehrten um. Die Geschwister stiegen zu Fuß weiter. Es regnete. Der Donner rollte ab, Blitze wiesen nur noch selten die Richtung. Rasseln des Regens erfüllte das tiefe Dunkel, durch das sie strebten. Den Bach vermeiden, der heranschwoll! Nicht abstürzen, nicht vom Weg kommen, sehen lernen, tasten lernen, und in einem angestrengten, totfinsteren Alpdruck genug Kraft behalten bis an das Haus, bis zur Ruhe!

Sie standen manchmal und schöpften Atem. Da die Schwester häufiger anhielt, bot der Bruder ihr im Dunkeln den Arm. Obwohl er sie nicht berührt hatte, fühlte sie es im Dunkeln und lehnte sich an ihn. Sie lehnte so fest, daß er zweifelte, ob sie schlafe. Wohin mit der Erschöpften. Unbekannt, wie weit noch. Unbekannt, wie spät. Zeit verfloß, es regnete, ward kälter, er aber hielt sie aufrecht an seiner Brust, dem einzigen Platz in dieser Nacht, wo sie ruhen konnte.

»Wir müssen weiter«, sagte sie unvermutet, – ergebene Stimme, ein Kind das nicht klagt. Da setzte er die Hände von hinten auf ihre Hüften und schob sie. Er schob sie den Berg hinauf, steil ins Ungewisse. Sie lag rückwärts geneigt auf seinen beiden Händen, setzte die Füße und hielt die Augen geschlossen ... Endlich ein Licht, er sagte: »Wir sind da.« Sie öffnete dennoch die Augen nicht, sie ließ sich tragen bis ins Haus.

Ein Kind wars, dem es gehörte. Seine Eltern waren tot, es führte die Wirtschaft und pflegte die noch kleineren Geschwister. Das Mädchen brachte mit einer Kerze die Fremden in ein niedriges Zimmer aus Holz. Es stellte die Kerze hin, es sah die Frau auf das Bett sinken, zögerte, ob es helfen solle – aber wußte auch schon hinter seiner kleinen gewölbten Stirn, dies seien Fremde, verdächtig sogar im Unglück. Was taten sie im Wetter, wo hatten sie ihre Pferde ... Aus der Gaststube ward gerufen, das Kind ging.

Lichtschein aus der Gaststube drang herauf durch große Spalten im Fußboden. Bauernstimmen drunten schrieen in Lauten, die zu formen unbegreiflich mühevoll schien. Die beiden Fremden regten sich nicht. Die Schwester auf dem Bett ließ den Kopf über das Kissen hängen, sie hatte nicht Zeit gefunden, den zweiten Fuß vom Boden zu ziehen. Vor ihr der Bruder blickte auf diese geschlossenen Lider, die allen Krieg des Lebens trugen, – dabei aber unterschied er allmählich, was die Bauern drunten schrieen. Es galt ihnen beiden, es war Gelächter, Stallspaß mit der Liebe.

Er hob ihren Fuß auf, bettete ihn und entkleidete die beiden triefend nassen Füße. Ihre Arme hingen schlaff, er zog auch von ihnen den nassen Stoff, er trocknete Schultern und Hals. In geöffneten, verwirrten Haaren lag das feuchte, ganz entfärbte, entzauberte Gesicht, ob Tränen oder Regen abgewaschen hatten, was so viel geheißen hatte, Schönheit, Glanz und Höhe des Lebens. Der Bruder sah das noch unschöne Gesicht eines einst gekannten, unfertigen Kindes, blaß mit länglichen Zügen. Damals machte ihr Wesen sich ebenso gern kleinlich bemerkbar, wie später hochgesinnt. Die Verwandlung kam mit der körperlichen, – die der Bruder noch immer kaum erfaßt hatte. Dies waren berühmte Arme! Zu den Füßen, die todmüde vor ihm ruhten, hatten einige der ersten Zeitgenossen gelegen! Der Bruder fühlte dies übernahe Wesen ganz und auf einmal, wie es je gewesen war, wie es nun dalag. Gröhlen und Gelächter der Bauern unten erfüllten jetzt das Zimmer so laut, als ob sie schon hier wären. Der Bruder aber, die Stirn in der Hand, hielt unverwandt seinen zeitlosen Blick auf die Schwester gerichtet.

Er sann, sie seien hier beide gemeinsam in die Enge und auf den Gipfel ihres Leidens getrieben. Sie seien beisammen – und beisammen doch erst die Wesen, als die sie einst geboren waren. Irrtum, auseinander zu gehen, Irrtum die Scham. Seltsame Scham, die sie seit dem Heranwachsen so vorsichtig gemacht hatte, was war es mit ihr gewesen? Ach! dahin. Was Leben heißt, ist bald getan. In dem Lärm, der wie Prügel dreinfuhr, summte der Bruder: »Was Leben heißt, ist bald getan.« Er glaubte, sie schliefe. Selbst betäubt vom Lärm und von der tiefen, tiefen Stille unter dem Lärm, summte er gedankenlos wie die Amme: »Schlafe. Schlafe das Leben aus. Schlafen unter der feuchten Erde, Deine Füße endlich ausruhn und Dein Herz nicht mehr fühlen.«

Plötzlich schwieg alles. Die in ihm singende Stimme schwieg, weil der Lärm nicht mehr prasselte. Nur Regen und der Bach, die Bauern drunten flüsterten unförmlich, berstendes Lachen ward erstickt unter der Faust. Dann Schleichen, und die Tür knarrte. Das benagelte Schleichen verlor sich, bis wieder die Treppe von ihm ächzte. Es kam; erst vor dem Zimmer der Fremden hielt es an. Flüstern, langes, feiges Vorschieben jedes andern, zuletzt aber der Griff ... Terra hatte schon längst den Schlüssel umgedreht.

Neue Beratung, das Wagnis ward lauter, der Türgriff klapperte mehrmals, indes Flüche fielen. Betrunkene Stallspässe, Flüche, Tritte in die Tür. Terra, der umsah, fand Lea die Augen aufgerissen, den Kopf vom Kissen gehoben. »Auch das noch«, sagte sie erbittert. Er versicherte: »Wir werden mit ihnen fertig werden.« – »Du?« fragte sie, nicht ohne Geringschätzung. »Man kennt mich noch immer nicht«, erklärte er, ging und zog aus dem zweiten Bett das Leintuch. Er stellte die Kerze hinter den Ofen, es wurde dunkel bis auf die Lichtstreifen im Fußboden. Über die Lichtstreifen wie auf glühendem Rost schwebte im Dunkeln etwas Weißes. Gestalt ohne Gesicht, aber zwei Feuer brannten ihr statt der Augen, und sie stöhnte. Aufgeschleudert die Tür, – da stand die Gestalt, brannte, stöhnte, flatterte wie aufgebläht von heißer Luft.

Pause des Entsetzens, dann Wegstürzen, Körper, die sich hinwarfen, davonkrochen und dabei jammerten, was ihnen einfiel von Gebeten. Über die Treppe wühlte unter Fluchen die wilde Flucht, etwas Gebrochenes heulte laut. Ward aufgerafft, verzog sich hinkend nach jenen, die schon draußen durch die nasse Einöde jagten ... Nichts mehr, das Haus ganz leer, draußen Regen und der Bach. Terra holte die Kerze hinter dem Ofen hervor.

Lea sah ihn das Tuch ablegen. Die beiden Zigaretten, die er fortwarf, hatten Löcher hineingebrannt. »Gut«, sagte sie sachlich und ließ sich zurück auf das Kissen fallen. Auch der Bruder verlor kein Wort über die Störung, ernst setzte er sich wieder zu der Schwester, die sann und ihn ansah. »Ich habe dich gehört«, sagte sie leise und klar. Er erinnerte sich, er erschrak.

Sie zeigte ihm das niedrige Zimmer aus Holz. »Dies ist schon der Sarg. Nie mehr komme ich heraus. Auch du wirst mich hier oben verlassen.« – »Verhüte es Gott«, sagte der Bruder. – »Weiter ging es nicht«, sagte sie, und mit Anflug von Singsang, wie vorhin her: »Was Leben heißt, ist bald getan.« Er gab sich Nachdruck. »Segnen wir doch diese Zuflucht! Draußen bricht Krieg aus.« – »War immer schon«, sagte sie.

Er wollte hinreden über die Angst seiner Brust, er sprach vom Krieg – nicht zu ihr, nicht zu sich; sprach vom Letzten, das noch entgegenstände, der Gewißheit, die unausweichlich ward. »Ich wußte längst, wie es kommen würde. Ich wußte es mein Leben lang. Man sieht nur ab zeitweilig von der Wahrheit, das heißt leben. Man kann wissen, ohne zu glauben, die Katastrophe wachsen sehen und doch nicht an sie glauben. Den Zustand habe ich erfahren. In ihm verharre ich sogar noch jetzt ...« – »Nie mehr von hier fortgehn«, sagte die Schwester. »Endlich ausruhn. Feuchte Erde. Kein Herz mehr.« Sie sprach kaum hörbar, sie hielt die Augen geschlossen.

Den Bruder ergriff so furchtbare Angst, daß sein Stuhl mit ihm hin und her flog. Gefühle überstürzten sich, er lallte, er sah, daß er faselte. »Warum gingen wir einst fort vom Elternhaus? Ich will es zurückkaufen. Es steht doch noch? Es soll noch stehen. Wir beide wollen zusammen darin wohnen, alles soll vergessen sein. Hörst Du? Vergessen. Was taten wir schließlich, das nicht jedes entlaufene Kind hätte begehen können. Gäbe es Gott, er verziehe uns.« – »Ich verzeihe mir selbst nicht«, sagte sie. »Mißerfolg war unerlaubt. Das Unglück ekelt mich.« Sie legte sich zum Schlafen.

Er nahm aber ihre Hand, er streichelte, küßte, liebkoste. »Ich glaube an Dich und an Dein Glück. Geliebte Lea! Das einzige wirkliche Unglück ist, daß wir uns voreinander schämten. Andere Frauen waren dazu berufen, mir die Welt zu eröffnen, oder meine Sinne, oder meinen Geist. Aber mein Herz? Aber mein Herz!« Tränen vergießend auf diese Hand, – die nun seine nahm. Ja, die Schwester nahm die Hand des Bruders und legte sie sich auf das Herz. »Schlafen«, hauchte sie, der Körper streckte sich, letzte Beglückung, und blieb liegen verstummt. Schnelles Aufglänzen verschlossener Lider, gleich war es aus und versunken.

Terra ward plötzlich müde, wie nach verantwortungsvollsten Kämpfen. Kopf und Brust sanken vor, die Stirn berührte das Bett. Er hörte Rauschen. Der Bach drunten rauschte auf, schwoll heran, drang ein. Gleich riß er sie fort alle beide, – o seliges Warten auf Entführung, auf Hingabe.

Klopfen, Terra stand auf. Es war heller Tag. So laut ward nur im Traum geklopft, es hatte geklungen wie Donnerschlag. Er wartete, da geschah es wirklich, aber wie bescheiden, kein Kind klopfte leiser. Er öffnete, es war ein Mönch.

Die schwarze Kutte grüßte linkisch. Terra suchte nach Geld für den Tölpel. Jener ließ es ihn aber nicht erst hervorziehen, er fragte: »Mein Herr, Sie waren gestern Nacht der Geist?« In der Überraschung leugnete Terra. Der Geistliche überhörte es. »Die Bauern waren betrunken; ich dachte gleich, der fremde Herr habe sie genarrt.« Terra, herausfordernd: »Sie glauben doch an Geister?« – »Ich fühle aber auch, wo keiner ist«, sagte der Mönch.

Da sah Terra erst, daß es ein Herr war. Grobe Schuhe, der Rock verschlissen, kein Hut, aber der leichte Bart bebte mit dem schmalen, hell gebräunten Gesicht, und hier kam ein feiner, heiter zuredender Blick. »Verzeihen Sie«, bat Terra, »und treten Sie ein.« Er erklärte: »Wir sind vom Unwetter verschlagen, dort schläft meine Schwester.«

Der Geistliche sah hin. Er hatte etwas einwenden wollen, verschwieg es aber. Er stand noch und sah hin. »Sie ist interessant,« dachte der Bruder, »sie interessiert sogar die Kirche.« Nur daß aus dem Blick des Geistlichen alle Heiterkeit verschwand. Er ward tief, das fremde Gesicht verlor das Harmlose. »Hier ist nicht gut weilen«, fühlte Terra. Da sah er den Mönch die Hände zusammenführen und sie falten ... Falten vor Lea? Der Bruder trat zu ihr, sie atmete still.

Terra wandte sich um. »Was wollen Sie?« – »Ihnen helfen«, sagte jener, wieder freundlich, wieder ungewandt. »Ich kann Sie über den Verbleib Ihres Gepäcks beruhigen und Sie hinführen. Sie finden dort bequemere Unterkunft.« – »Gehen wir!« sagte Terra; er wollte dem Wesen nicht ausweichen.

»Sie sind hier zu Hause?« fragte er. Der Mönch antwortete: »Ich habe kein Zuhause. Ich bin ein Sendling. Mein Orden ist neu. Er kämpft noch um die Anerkennung der Kirche.« – »Es gibt noch Ordensgründer?«

»Sogar wundertätige«, sagte der Mönch mit lachenden Augen. »Unser Gründer weiß voraus, was Menschen tun werden. Ist es da kein Wunder, daß er ins Kloster gegangen ist, anstatt sich in die Geschäfte der Welt zu stürzen?«

»Was sagten Sie, daß er weiß?«

»Uns Brüdern sagt er unsere Sünden voraus. Einen von uns, der eifriger als wir alle war, hat er fortgeschickt, weil er schon den Verbrecher in ihm sah, der jener werden sollte.«

»Erstens würde ich ihn dann nicht fortgeschickt haben, sondern behandelt.«

»Das Fortschicken war die Behandlung. Unser Oberer achtet die Absichten Gottes. Die ihm von Gott verliehene Gabe, Menschen zu durchschauen, ist seine harte Prüfung. Es ist ihm leicht gemacht, durch Stolz zu Fall zu kommen.«

»Ferner läge für dies alles der wissenschaftliche Name ganz nahe.«

»Zum Wissen werden wir Brüder nicht gelangen.« Er sah Terra in die Augen. »Wir alle sind verstreute Sendlinge. Das Mutterhaus ist weit, Jerusalem noch weiter, – aber dorthin zu gelangen, hoffen wir.«

»Nach Jerusalem?«

»Es ist unser Ziel. Aber auf dem Wege liegt viel Arbeit, viel Aufenthalt; der Tod kommt vielleicht noch vor der Stadt. So viele sind zu erinnern an den vergessenen Geist in ihnen, an den Geist Gottes.« Er bemühte sich, leicht, ja einschmeichelnd zu sein, dennoch drangen auch rauhe Laute des Gebirges hervor. Terra betrachtete, wie er sprach, das mühsam beherrschte Gesicht der alten Rasse; er bedachte: auch so hätte es kommen können. Er sah den Bach, der über Felsen schnellte, sah Fichten, Himmel und besonnten, engen Weg. Plötzlich sagte er: »Mein ehrwürdiger Vater.«

»Mein ehrwürdiger Vater,« sagte er, »ich beteuere, daß ich mein Leben lang nach bestem Wissen und Gewissen dem Geist Gottes im Menschen gedient habe.«

»Glauben Sie an Gott?« – »Nein«, sagte Terra, und senkte den Kopf.

Er erhob ihn. »Zu dieser Stunde wundert es mich. Denn ich bemerke, daß ich statt an Gott an die Menschheit geglaubt habe, und das war schwerer, war aussichtsloser. Ohne Übertreibung darf ich sagen, daß ich im Menschen das gröbste, gefräßigste und boshafteste, allem Höheren abgeneigteste Geschöpf des Ewigen erlebt habe. Wenn ich ihm bei all dem eine Zukunft der Einsicht, des guten Willens, der Annäherung an die Reinheit zutrauen möchte, so frage ich mich, ob mein Glaube im Grunde nur Stolz ist.« – »Er ist Stolz.«

»Gut, er sei Stolz. Dann aber, mein ehrwürdiger Vater, geht er bis zu der festen, unerschütterlichen Überzeugung, daß wir Menschen die Schöpfer Gottes sind. Wir haben ihn gemacht – nicht im Gedanken nur, wie es heißt, auch im Raum.« – »Sie lassen sich fortreißen.«

»Wie könnte sonst ein Gedanke dem andern antworten, die nächste Tatsache der vorigen. Woher Logik, wieso Vergeltung. Wir sträuben uns doch gegen beide. Warum müssen wir sterben an der Würdelosigkeit unserer Herzen? Erklären Sie mir, mein ehrwürdiger Vater, den Krieg! Wir haben uns selbst den Richter gegeben. Unfähig, Gerechtigkeit lange zu wollen, haben wir unsern Willen ein für alle Male verkörpert in Gott, der menschlich – außermenschlich nun fortlebt. Der Geistliche, mitleidig: »Ist es so schwer, sich zu beugen? Er reicht von Ewigkeit zu Ewigkeit.«

»Sehen Sie sich vor, mein ehrwürdiger Vater! Dann wäre die Menschheit nur ein Zwischenfall. Aber gerade Ihre Kirche will, daß sie Mittelpunkt sei. Ich bin rechtgläubiger als Sie.«

»Es kommt auf Taten an. Welche Tat beschäftigt Ihren Geist?« Worauf Terra erschrak und verstummte. Sie gingen schweigend und eiliger. Mit Seitenblick sah Terra, der Geistliche habe das Gesicht, das er am Bett Leas hatte ... Unvermutet kam aber eine schlichte, schüchterne Stimme. »Versuchen Sie, zu glauben! Wer glaubt ohne Hochmut und Sophistik, überwindet sogar, was Ihnen droht.« – »Wer sind Sie?« murmelte Terra.

Als immer noch die Antwort ausblieb, sprach er selbst, damit nur Worte fielen. Er verehre die Kirche, sie sei die einzige Gestalt, in der das Abendland den Geist habe erfolgreich gesehen gegen die Mächte des Ungeistes. Jede Philosophie sei unfehlbar vor ihnen zusammengebrochen. Die Kirche sei einfach selbst Macht geworden, »das war der Geniestreich.« Wobei er, in unerklärlicher Angst, fast schon lief. Aber der Geistliche blieb, ohne ein Wort, ihm auf der Ferse, Terra mußte weiter sich mit Sprechen betäuben. Das Überwältigendste sei die geschichtliche Vorsicht der Heiligen Kirche. Immer die bestehende Macht zu ihren eigenen Gunsten nach Kräften geschwächt, sie aber gegen neu heraufkommende, lebhaftere Mächte unentwegt verteidigt, »so dient man Gott, der unser eigenes Beste will.« Schweigen und Laufen.

»Die Heilige Kirche erlaubt uns Christen, untereinander Kriege zu führen, hat aber Naturvölker, die wir ausrotteten, manchmal gegen uns geschützt. Wie tief!« Da stand er, ein Ruck. Auch der Geistliche stand. »Sie haben gehört?« fragte er leise. Terra, ohne Ton: »Wer ruft mich?«

Er hatte seinen Namen gehört »Claudius!« Stimme von oben, fern, aber dringend; gleich darauf bezweifelte er sie. Er sah den Mönch an, mit Schrecken sah er: der Mönch hatte wieder die Hände gefaltet. Der Mönch sagte: »Es war der Augenblick, als sie starb.«

Der Bruder griff sich an die Stirn. Noch, als er es erfaßt hatte, schrie er »nein!« – noch als er den Körper kommen sah.

Der Körper schnellte mit dem Bach über Felsen – jetzt kopfüber, jetzt aber stand er steil auf, wie um hinauszuschreiten. Zuletzt hing er, arme, weiche Masse, drüben im Gestrüpp, das Wasser schwenkte ihn. Besonnter Goldreif, kreiste das offene Haar um dies blicklos blutende Gesicht.

Diesseits irrte der Bruder, er suchte verzweifelt nach Steinen, hinüberzukommen. Er rief hinüber: »Ich komme!« Er wollte, daß es noch seine Schwester sei; sie sollte ihn noch hören ... Schließlich blickte er nach Hilfe um, da kniete der Mönch und betete. Terra fuhr hin, er knirschte. »Sie wundertätiger Ordensgründer haben es voraus gewußt. Aber wer fallen soll, den lassen Sie allein und tun, als wäre es Weisheit. Sie können nichts! Sie können nichts!« – »Ich werde für Sie beten.«

Terra stand und höhnte. »Was tue ich morgen? Sie wissen es doch. Ich habe es vor. Sie wissen es, und tun nichts weiter, als beten.« – »Es ist Ihr Weg. Sie sind bestimmt, zu glauben.«

Da ließ Terra ihn knien und beten für die Leiche, die drüben geschwenkt ward. Atemlos langte grade das Kind an, die Besitzerin des Gasthauses zur Alpenrose. Sie hatte drunten beim Fenster des Gastzimmers gestanden, als an ihr vorüber das Fräulein in den Bach sprang. Sie war sofort dem Fräulein nachgerannt, weil infolge dieser schnellen Abreise nichts bezahlt und Gepäck nicht vorhanden war; aber mit dem Bach, in dem das Fräulein reiste, hatte sie nicht Schritt halten können. Terra bezahlte das Kind. Für eine Mehrleistung fand er es sogar bereit, andere hilfreiche Menschen zu holen.

 

Er reiste sofort, die Überreste der Schwester blieben in den Händen Fremder. Ihm schien, daß keine Erde, sich damit zu bedecken, ihr verwandter oder fremder sei, als diese zufällige Erde. Jeder Klumpen Ton wurde von Menschen Heimat genannt, dafür waren sie jetzt überall im Begriff, sich gegenseitig Eisenstücke hineinzujagen in den Klumpen oder ihn in die Luft zu sprengen. Nachricht, die Kriegserklärung sei sicher, traf ihn unterwegs.

Dies erfaßte er noch kaum. Es erbitterte ihn nur ungeheurer gegen den Tod der Einen. Sie begann das Sterben; ihr erst sollten alle nach. In Massen, in Massen, – aber jeder starb doch nur sich. Und alles begleitet von Worten. Wie ihn seine eigenen quälten, die hohen Reden mit dem Mönch, genau in ihrer Sterbestunde! »Man überhebt sich in Worten, und die Leiche ist schon unterwegs. O elende Täuschung unseres ganzen Lebens, großsprecherische Worte zu so armen Geschicken!«

Viel weitere Zusammenhänge hatte er zu denken vorgegeben, als Seinesgleichen konnte. Hatte sich mit Weltanschauung gebrüstet; sein Geschlecht aber schaute die Welt nicht an, es legte sie in Trümmer.

»Und ich habe es daran hindern wollen, das war mein Leben. Immer dasselbe, ob ich Reklamechef, Armenanwalt oder Schwerindustrieller und Freund des jeweiligen Reichskanzlers war. Ich habe gelogen und betrogen, um die Menschheit vor sich selbst zu retten; ich will nicht auch noch morden. Endlich habe ich es satt, mögen sie einander umbringen, wenn es denn ihr Glück ist, – wenn sie zu ihrem Glück Katastrophen brauchen und die kurzen erträglichen Augenblicke ihrer Geschichte nicht anders erleben und bezahlen können, als um den Preis vertierter Zeiten. Du sollst nicht töten!« Da merkte er, aus ihm spreche der Mönch, der dort hinten für ihn betete, damit er nicht töte.

Er mußte aber töten. Beschlossen war, daß Einer falle – statt vieler falle. Tolleben mußte fort, noch vor Ausbruch der Mordpest. Es konnte sie aufhalten. Das Zeichen aufrichten! Die den Krieg wollten, hatten das ihre schon errichtet, in Paris war jener gefallen, »der eine Nacht lang mein Bruder war.« Unschuldig, Tolleben? Niemand war unschuldig, jeder weit Sichtbare mußte gewärtig sein, zu büßen. Tolleben war gewärtig, zu büßen für alle seine Vorgänger, alle Handelnden, alle Lebenden, für die Mitwelt und ihr Werk. Er war reif und war bereit.

»Der Tod des Henkers erspart Opfer.« Vor der Einfahrt in Berlin ging im Kopf Terras nur noch der Satz um. Der Mönch dahinten betete wohl nicht mehr. »Der Tod des Henkers –.« Der Zug lief ein, gehorsam dem Ruf standen Kurschmied und Erwin Lannas da.

Angstvoll leise fragte Erwin: »Und Lea?« – »Läßt grüßen«, sagte Terra – erschrocken, weil sie keinen Gedanken, in allen ihren letzten Nöten für diesen Liebenden keinen Gedanken gehabt hatte. »Was wir besprechen werden, denken Sie sich schon, Graf Erwin.« Er sprach warm wie zum lebenden Menschen mit dem Armen, dessen ganze Liebe nicht mehr vermocht hatte, als ein Schatten. »Ihre Schwester, Graf Erwin, hat vor Ihnen kein Geheimnis. Was sie noch nicht ausspricht, fühlen Sie. Wir haben uns, meine Herren, einzig und allein über das Technische unseres Vorhabens klar zu werden.«

Sie fuhren zu Dreien solange im Auto durch die leeren Straßen der Morgenfrühe, bis alles feststand. Dann Terra: »Ich hoffe, meine Herren, daß Sie alle Beide mit dem Leben davonkommen. Da Sie den Verlauf der Dinge genau voraus wissen, werden Sie sich schützen können. Lebensgefahr bleibt bestehen; daher frage ich mich, wenn auch spät, wie ich dazu komme, Sie in Anspruch zu nehmen.« Hier ergriff Kurschmied das Wort; bis jetzt hatte er nur beantwortet, was gefragt ward.

»Denken Sie nicht an mich, Herr Terra!« sagte Kurschmied. »Sie dürfen von mir jede Leistung verlangen, Zweifel entstehen nicht. Nennen Sie mich ruhig Werkzeug. Ich diene. Aber das kommt nicht davon, daß ich Ihr Mann bin. Sie sind meiner ... Ja, Sie sind meiner, ich habe Sie einst erkoren, Sie konnten es nicht verhindern, ich war sogar aufdringlich.« – »Sie sind die Treue selbst.«

»Nein, Herr Terra, ich bin schwach und abenteuerlich. Ich würde im Leben so wenig Erfolg gehabt haben, wie beim Theater. Jetzt, da es voraussichtlich aus ist, darf ich wohl sprechen, auch wenn es nach Theater klingt. Das Leben ist rätselhaft und irreführend. Es ist erstaunlich, daß ich noch da bin. Nie habe ich so oft wie in der Einsamkeit der Fremdenlegion an Sie gedacht als an die Kraft, auf die ich mich verlassen kann. Sie sind die Sicherheit. Der Kopf sind Sie.« Kurschmied schwieg, aber er bebte von dem Gesprochenen, helle Kreise umzogen seine kühnen Augen.

Die beiden Begleiter stiegen aus. Als Erwin ihm die Hand zum Abschied gab, befiel Terra der Gedanke an Lea so heftig, daß er aufschluchzte. Erwin aber, tödlich erblaßt, schnell, gedämpft, dringlich: »Nichts, sagen Sie mir nichts! Ich will sterben und noch immer hoffen, daß sie lebt.«

Terra fuhr nach Haus, um seine Angelegenheiten zu ordnen. Am Ende war er nicht sicherer als die Begleiter, noch weiterzuleben. Im Schreiben und Bedenken sah er dennoch Bilder dessen, was jetzt geschah. Sie stiegen vom Papier auf, entstanden aus Zahlen, aus Rauchfäden. Erwin saß bei Alice; in aller Welt hätte er – vorher – noch Zuflucht gefunden, als bei ihr. Er nahm ihre Hand, die Morgensonne fiel auf Beide. Sie wollten sprechen, erließen es aber jeder dem andern. Dies war zu schwierig, obwohl ihnen beiden so klar. So schwiegen sie, – aber auf die Tür blickend wußten sie, der Mann dahinter sei bedauernswerter als sie. Er komme von noch weiter her zu Verzicht und Ende ... So schwiegen die beiden traurigen Kinder des heiteren Vaters.

Sie standen auf, Erwin ging, jetzt begann es! Terra lauschte atemlos, – da läutete neben ihm das Telephon. Er griff so schnell hin, als könnte schon das Ende sich melden. Wahrhaftig, er hörte »Hilfe!« und einen Schrei. Schrill, entsetzensvoll, unkenntlich, Schrei einer Frau in letzter Not. Noch einmal »Hilfe!« und »Er sticht!« Da war es Lili, die Fürstin Lili, sie schrie »Nicht stechen! Herz, geliebtes Herz!« unter der Hand, die ihr den Mund verschloß. Sie schrie im Ringen, Taumeln, und wie er sie fortzerrte. Die andere Stimme zischte »Schweig!« Die andere Stimme ward hell vor Zorn: »Du bist mein Unglück. Du hast meine Heirat hintertrieben. Du wirst mich immer in den Sumpf ziehn!« ... Entfernter alles, der besinnungslose Zorn, der Kampf um das Leben, – endlich aber nochmals der Schrei, furchtbarer als je, und schon der Fall.

Terra hatte dazwischen gerufen. Er hatte in den Kampf hineingebrüllt, besinnungslos wie die Kämpfenden. Jetzt war er still wie sie. Nach langer Pause, langem Lauschen, stark und einmalig: »Mörder!« Da antwortete ein Schluchzen.

Der Vater sah. Er sah den Sohn dahingestreckt vor seiner Tat, niedergesunken vor der Mutter, die auf ihrem Bett noch röchelte. Sie wandte zum letzten Mal das Gesicht her, es sagte stumm und grauenvoll: »Hier sterben – auf dem Bett, meinem nie bezahlten Bett, worauf ich lieber in alle Ewigkeit nur geliebt hätte!« Aber das Gesicht war nun alt, plötzlich dennoch gealtert: das konnte nur der Tod. Die vielgeliebten Glieder lagen nackt, eine Hand zog Decken darüber. Nie wieder, Fürstin Lili? Nie wieder, Frau von drüben? Terra weinte laut auf. Dort hinten antwortete das andere Weinen ... Eine Tür schlug zu. Er hängte ein.

Den Kopf in den Händen, tief über sich selbst gebeugt: »Ihre Stunde um zu sterben!« Die Stunde, in der ihm selbst die Welt starb. Jene Frau war ihm erstes Abbild der Welt gewesen, seine Weltliebe, sein Sündenfall. Tot – tot sogar die große Fürstin, welche Mahnung! Laß endlich ab, zu wollen, zu tun. Denke doch noch daran, den Rest Deiner selbst aus der Zange zu ziehen. Dein Sohn hat getötet! Töte nicht!

Er sprang auf, er lief aus dem Haus. Erst Straßen weiter bemerkte er, daß er ohne Ziel ging. Aufhalten, was schon heranzog? Wie denn? Wo zugreifen? Drängende Minute, und der Zweifel, was recht sei. »Der Tod des Henkers erspart Opfer« – falsch! Gegen alle Erfahrung und Voraussicht! Krieg war schon, es blieb Krieg. Dennoch, auch die unwirksame Tat wird unabänderlich und unverlierbar sein ... Er ließ leere Wagen vorbei, er ging zu Fuß, um sicherer nirgend hinzukommen. »Wohin mit mir, wenn nicht zu dieser Tat. Ich habe abgebrochen, ich bin nichts mehr. Ich bin entlarvt, ich kann niemanden mehr täuschen. Ich muß töten.«

»Wäre es früher geschehen – einst, als er mein Feind war! Wir haben uns gehaßt mit den Mordgefühlen der ersten Feinde aus menschlichem Geschlecht. Wie sehr ist es anders geworden, – und jetzt töte ich den, der fast schon mein Bruder ist! Kein ungestümer Drang mehr, daß er sterbe; aber ein Gedanke ist gewachsen – zuerst in mir? Zuerst in mir, und durch mich in Alice. Aber endlich auch in ihm! – und dann erst in mir unbezwinglich. Alles ist Gedanke; ich kann mich nicht hindern, zu töten, denn ich denke.«

Er fürchtete den Verstand zu verlieren, er nahm ein Auto, um zu fliehen. Aber er sah Zusammenrottungen, – ein Extrablatt ward ausgerufen: Ermordung des Reichskanzlers; da stieg er wieder aus ... Nichts von Ermordung; auch die Ansammlungen galten, wie gewöhnlich, anderen Schicksalsschlägen der Geschichte. Nicht dennoch dem seinen? Schon hörte er wieder aus einem andern Menschenhaufen seine Tat verkünden, Gesichter erspähten ihn feindlich. Blutgeruch stieg auf; er wollte sich umsehen, war er so nahe dem Schauplatz? Da ward es um ihn dunkel.

Auf einer Bank kam er zu sich. Die Zeit verpaßt, jetzt war es geschehen! In diesem Augenblick, zu spät, fiel ihm ein, wie es zu machen gewesen wäre, daß er selbst neben Tolleben gesessen hätte auf der Todesfahrt. Mitsterben! Er wäre mit gestorben, alle Qualen aufgelöst, kein Kopf mehr, der sie erfand. Statt dessen kam nun Buße, ein ganzer Staffelweg der Buße. »Mich anzeigen, erste Staffel.« Aber hörte jemand ihn an? Übernahm irgend jemand den Skandal? Man schickte ihn fort, man erklärte den Reichskanzler für verunglückt, ihn selbst für verrückt ... Einen freilich gab es, der ihn sorgfältig anhören, ihm alles glauben würde, Mangolf. »Wer wird mich am tiefsten verstehen? Er. Wen demütige ich mit mir? Wer haßt mich, mit mir?«

Nicht dies! Nicht beichten, die Verantwortung seiner selbst nicht fortgeben, nicht Menschen zur Last fallen. Schweigen. Allein weiterkämpfen ... Er straffte sich – und fand auf einmal, noch könne alles widerrufen werden. Das Unheil sei gewiß noch nicht vollendet; er werde es hindern. Entschlossen fuhr er hin.

 

Reichskanzler von Tolleben bestieg im Hof der Reichskanzlei das Automobil, das ihn zum Reichstag bringen sollte. Die Stunde war da, dem Reichstag zu sagen, es sei Krieg. Seine Frau und ihr Bruder waren mit ihm. Die hinter dem Gitter draußen Wartenden erblickten den Kanzler so tiefernst, wie die Ereignisse es wollten, aber auch so erfüllt von Zuversicht. Er trug Kürassieruniform. Als ob er fühlte, die Reihen, durch die er fuhr, seien ratlos, sie schwankten zwischen Übermut und Angst, lächelte er – merkwürdig rein. Gedämpfte Zurufe stiegen auf und begleiteten ihn.

In dem Wagen verstummten alle. Die Frau und ihr Bruder sahen jeder zur Seite, Tolleben gerade vor sich hin. Wieviel vom Bevorstehenden wußte er? Woran dachte er auf dieser Fahrt? Nicht an den Tod. Alice erkannte: an die Pflicht. Pflicht freilich war der Tod. Die Menschen waren seit heute Sterbende, ein Tolleben drückte sich vom Sterben nicht. Nur beschäftigte ihn nicht mehr das schon gebrachte Opfer, ihm ging es um seine Verantwortung. Sehr viele ihrer sollten sterben, dies hatte er ihnen zu sagen im Reichstag, nur dies noch, dann begann großes Schweigen.

Er wollte es aber vorher Gott sagen. Sein Herz verlangte einzig noch auf Erden nach einigen stillen Worten an Gott, ob denn die Dinge stimmten, ob Verzeihung wirklich zu hoffen sei für ihn, der Zahllose in den Tod schickte – und dafür nichts anzubieten hatte, als seinen eigenen ... Beim Brandenburger Tor ertrug Tolleben nicht länger sein Verlangen, nicht länger Lärm und Gewühl, die ihn zu Gott nicht kommen ließen. Er befahl: nach dem Dom.

Der Wagen wendete, er fuhr die Linden zurück und gleitend beim Dom vor. Er schien nicht halten zu können, der Chauffeur machte vergebliche Anstrengungen. Der Jäger war vom Sitz gesprungen, er öffnete, er half Frau von Tolleben aus dem noch gleitenden Auto. Der Reichskanzler wollte ihr folgen, von innen aber zog jemand den Schlag zu. Schon beschleunigte sich wieder die Fahrt – dies Gleiten über den glatten Asphalt, der frisch gesprengt und glänzend naß war. Das Automobil begann sich zu drehen, – jetzt wurden die Drehungen rasend schnell, es rutschte zur Seite. Immer sich drehend rutschte es und prallte mit aller Kraft gegen jenen Kandelaber.

Die Frau am Rande des Fahrdammes schrie auf. Der Jäger griff zu, damit sie nicht fiel. Zugleich war Terra da, er stammelte außer sich: »Alice! Was ist geschehen!« Schon stand sie wieder. Sie sagte dem Jäger: »Fragen Sie!« – mit Bewegung nach der Stelle des Unglücks. Das verunglückte Automobil war nicht mehr sichtbar, so viele Wagen waren inzwischen durcheinander gefahren und stockten nun. Im weiten Umkreis drängten sich Leute. Polizei verhinderte die Eifrigsten, zwischen die Wagen zu kriechen. Niemand wußte sicher, was geschehen sei, umso größer Schieben und Geschrei.

Alice sah Terra verstört bis zum Furchtbaren. Sie hätte nicht geglaubt, er könnte diese zerrissene Stirn haben, so verwilderte Augen. Sein Anblick hatte sie wachgerufen. Sie hätte sich sonst der Katastrophe hingegeben und das Bewußtsein verloren. Sie erschrak heftig, weil sie noch lebte. Am lebenden Körper alles erfahren bis zum Ende! ... Der Jäger kehrte zurück, er meldete: der Reichskanzler tot. Durch den Anprall vielleicht schon getötet, war er fortgeschleudert worden und von einem schweren Fuhrwerk ganz zermalmt. Graf Erwin Lannas war tot. Der Chauffeur lebte noch, aber er würde sterben. Er war erst heute eingestellt worden statt des plötzlich erkrankten, der ihn dringend empfohlen hatte.

Umher verstummte gradweise der Lärm. Was geschehen war, ging um; wo es ankam, schuf es Stille. Alice fuhr zusammen, sie hatte jäh bemerkt, daß es still war, das traf sie schrecklicher als alles. »Fort!« Leute erkannten sie und flüsterten es weiter, Hüte wurden abgenommen. Gestützt auf den Begleiter, ohne Tränen, aber schon ganz in schwarz und mit Augen wie ein Geist, irrte die Witwe des Reichskanzlers durch Reihen, die schwer wie zäher Schmerz auseinander wichen. Auf sie herab blickten Dom, Denkmal Friedrichs und Fahnen, die feierlich den angebrochenen Krieg begingen.

In der Seitenstraße hielt sie an, nur aus großer Schwäche, sonst wäre sie gern immer weitergegangen. Hinter ihr wartete aber schon der Wagen, den der Jäger besorgt hatte. Wohin? »Nach Liebwalde«, sagte Alice, die Augen geschlossen.

Terra gab den Auftrag, er sah: im Augenblick versagte sie. Zuviel des Schreckens, des Wagnisses, der Überwindung, – der rettende Instinkt griff zum Trugbild. Liebwalde, versäumtes Glück, jetzt auferstand es. Sie waren wieder jung, sie waren wieder frei, Sommer war endlich, und mutiger Morgen war ... Ach! wenn nun Alice die Augen öffnete – gleich, gleich, die Sekunde! Terra zitterte davor mehr, als er vor dem Tode glaubte zittern zu können. Er mußte denken: »Das hat Tolleben nicht gekannt.«

Sie lehnte aber, ohne die Augen zu öffnen, den Kopf zurück. Er faßte den Mut, in dies Gesicht zu blicken, das noch mehr als jenes von einem schweren Fuhrwerk zermalmte sein Opfer war. Da erkannte er das Gesicht Leas, die Nacht bevor sie starb. Ermattet, irrsüß und verklärt, dem Tode oder der Liebe nahe, fanden beide, Alice und Lea, ihre erste Ähnlichkeit wieder. Am Anfang auf einer nächtlichen Wiese, wo zwei Ringer sich umbrachten, indes die junge Alice sich von ihm küssen ließ, – und jetzt, da alles vollbracht war: sein Grauen und Entzücken glichen sich, denn beidemale sah er auch Lea.

Noch einmal sah er Lea ihm sterben – und bedachte, auch Lili, die Frau von drüben, sei wohl gestorben in dieser Gestalt. Auch sie konnte aussehn wie Lea. Er träumte, ihm habe eine einzige Geliebte gelebt statt der drei. Hatte er nicht auch schwesterlich Alice gefühlt, und manchmal seine Schwester mit Sinnen, wie sonst die Frau von drüben? Darum starben sie alle fast am selben Tag. Seine geliebten Frauen waren einig, sich zu gleichen und gemeinsam zu sterben. Dahin nun alles, dahin die verschiedenen Formen, in denen das Leben ihn beglückt hatte, die Augen, mit deren Zauber es ihn gefangen hielt, dahin sein süßer Hauch ... Bevor auch der letzte ausgeatmet war, küßte er den noch blühenden Mund.

Alice hielt still, wie damals am Anfang. Er ließ sie von selbst los, es war aus. Sie saß aufrecht, sah ihn an und sagte: »Nie wieder. Ich werde für Sie tot sein.« – »Sie sind schuldlos!« rief er. »Alles fällt auf mich. Verwerfen Sie mich, aber leben Sie!« Sie sagte: »Ich werde in Liebwalde leben.«

»Nie wieder?« klagte er gegen alles Wissen. »Ich soll Sie nie mehr sehen? Selbst wenn ich gebüßt hätte, wenn es möglich wäre, soviel abzubüßen, – ich käme nach Liebwalde, vor die Pforte, die immer offen war, uns immer hätte fliehen lassen, jetzt aber wäre sie verschlossen, und meine Alice begraben drinnen? Ich müßte umkehren, Sie würden nicht einmal wissen, daß ich da war?« Sie sagte: »Lassen Sie halten!« Sie gab ihm noch die Hand, als er schon draußen auf der Straße stand, – aber sie hatte das Gesicht des Erzengels, schmal, ganz weiß, abweisend für immer – endgültiger, als da er sie vergebens gebeten hatte, Lea zu retten. Er öffnete seine Hand, die ihre zog sich zurück, der Vorhang schnellte über das Fenster.

 

Terra erwartete zu Hause sein Schicksal. Was immer die Untersuchung ergab, seine Verhaftung schien ihm unwahrscheinlich. Anderes zeichnete sich ab. Die Firma Knack benachrichtigte ihn, daß sie ihre Verbindung mit ihm sofort zu lösen wünsche. Wirkung des Kriegsausbruches, er machte seinen Standesgenossen Mut, scharf vorzugehen gegen den Entlarvten. Wegen Weiterzahlung seiner Bezüge entstanden Schwierigkeiten. Er hatte sein Vermögen erschöpft im Kampf für das Monopol und um der Kriegshetze zu begegnen. Er verkaufte was er hatte und fand es milde, nur arm zu werden. Die Nachricht kam, sein Sohn sei tot, sei rühmlich gefallen beim ersten Zusammenstoß mit dem Feind. Der Tod für das Vaterland sühnte selbst Muttermord. Hinaus und sterben? ... Da ließ ihn Mangolf rufen.

Es geschah telephonisch durch einen Angestellten und in Formen, die sich durch nichts vom amtlichen Befehl unterschieden. Terra sagte gelassen zu. Merkwürdig, er sollte, trotz Amtlichkeit, ins Möllendorfsche Palais kommen, früh morgens – so früh wie erst einmal.

Wie das erstemal gelangte er geradeswegs ins Zimmer des Hausherrn, wieder war Mangolf im Pyjama und eingeseift. Er sagte, gegen den Spiegel gewendet: »Da bist Du.« Heute aber rasierte er sich fertig, es brauchte Zeit. Dennoch blieb Terra geduldig stehen. Mangolf schnell vor, abgebrochen die Komödie: »So mußte es kommen!« Er hatte die volle Schwermut und seine gesamte Verachtung, Terra fuhr zusammen. Mangolf weiter: »Du wirst Dir wohl niemals recht bewußt werden, wie falsch Du gelebt hast, wie schmachvoll Du nun endest. Ich wette, du fühlst Dich als tragische Figur.« – »Nicht doch«, murmelte Terra. »Und könntest versucht sein –« Mangolf ward scharf, »es die Mitwelt wissen zu lassen. Das geht nicht, es wird verhindert werden. Durch Ausplaudern dessen, was nicht geschehen sein darf, würdest Du mich zwingen, rücksichtslos gegen Dich einzuschreiten.« – »Du bist der Polizeipräsident?« fragte Terra scheu.

»Unglücksmensch«, – Mangolf verschränkte die Arme und senkte die Stirn. »Sieh ein einziges Mal das Leben, wie es ist!« – »Der Tod wie er ist, wäre passender in meiner Lage«, gestand Terra. Hierüber erschrak nun wieder Mangolf. »Nein. Auch das ist nicht Dein Recht. Jemand wie Du rückt nicht mit unseren Jungen ins Feld.« – »Unsere? Meiner«, murmelte Terra. Mangolf verlor infolgedessen das Maß. »Halte Dich ruhig, sage ich! Du bist gewarnt. Ich werde Dich vernichten, unternimmst Du das Geringste gegen meinen Krieg. Erbarmungslos werde ich Dich zerschmettern. Die alte Sache zwischen uns ist aus und begraben.«

Terra hörte nichts als »mein Krieg.« Er wiederholte staunend und ergriffen: »Dein Krieg.« Mangolf entspannte sich daher, er wollte sogar erklären. »Tolleben, mußt Du wissen, hatte mir geschrieben, um mich einzuweihen in das Unglück, das er vorausfühlte. Auch wollte er mir sagen, für seine Nachfolge empfehle er dem Kaiser mich.«

Terra dachte: »Wie viel hat er selbst vorhergewußt? Wie weit ist er mein Mitschuldiger?« Da errötete Mangolf. Vielleicht stellte auch er sich die Frage jetzt zuerst?

»Ich soll Reichskanzler werden«, sagte er schnell. »Heißen Glückwunsch, mein lieber Wolf«, murmelte Terra. »Niemand empfängt verdienteren Lohn.« Er wartete, ob er entlassen sei, und ging ab – aus Ehrfurcht rückwärts. Mangolf blieb verwundert allein.

Was war hier geschehen? Er hatte seine Vergeltung, er war auf der Höhe, jener aber ganz unten; und dennoch Zweifel? Erster Zweifel im Triumphieren selbst, – sein Zweifel und schlechtes Gewissen sollte bis zum Tode Terra heißen?

Er fuhr ins Amt, Endkampf der Spannung, noch immer vom Kaiser kein Bote, kein Wort. Als Mangolf es schon aufgab, kam er selbst, voll Macht und Gnade. Im Garten der Reichskanzlei erging er sich mit Doktor Wolf Mangolf, wie so oft einst mit dem Fürsten Lannas, seinem Leopold. Ernst und knapp fragte er, ob Mangolf in dieser schweren Zeit ihm helfen wolle, die Verantwortung für sein Volk zu tragen – vor den Menschen, denn vor Gott trage der Kaiser sie allein.

Mangolf antwortete, keine Aufgabe schrecke ihn heute, auch nicht die politische Führung im Kriege, den er für unvermeidlich gehalten, daher in seine Pläne längst eingestellt habe. Er schritt ritterlich zur Seite seines Herrn, erlaubte ihm aber keine damenhaften Herausforderungen, wie einst Lannas; langweilte ihn wohl auch nicht, wie Tolleben, wenn nicht gerade gebetet ward; aber Mangolf befremdete den Kaiser. Der Kaiser war, als er fortging, geradezu eingeschüchtert, er nahm sich vor, mit dem Kerl lieber nicht oft zu tun zu haben.

Mangolf kehrte, noch immer geschmeidig und jung unter den vielen Blicken, die ihn zweifellos erspähten, in das Haus zurück. Er nahm die Glückwünsche seiner nächsten Untergebenen entgegen, ließ sich gleich die übrigen vorstellen, gab, alle Räume durcheilend, erste Weisungen, – man kam ihm kaum nach. Die alten Beamten überlief bei seiner entschlossenen Miene das Gruseln. Sie fanden ihn weit stolzer als Herrn von Tolleben, der doch von Adel gewesen war. Daß Mangolf unbeliebt sein werde, stand fest, bevor er sein Arbeitszimmer erreicht hatte.

Er befahl Söchting, niemand einzulassen. Allein geblieben, wollte er feststellen, was künftig zu machen sei aus dem Raum, der von dem scheidenden Lannas seines Prunkes fast ganz entleert, von Tolleben nicht wieder ausgestattet war. Er verwarf jeden Gedanken an den Schreibtisch Bismarcks. Eigene, schmale, unverzierte Werkzeuge seiner Arbeit, seines Geistes! Des Geistes, der, wie keiner, gegenwärtig, beauftragt und im Recht war! Auf einmal schlug ihm das Herz wie einem Kind ... Sein Geist war der des Landes! Er hatte den Geist des Landes in sich erschaffen, bevor er dem Lande bewußt ward. Heute vertrat er ihn an der Spitze mit Recht. Dennoch aber Herzklopfen, wie ein beschenktes Kind. Herauf stiegen Bilder der Kindheit; nur schwer erwehrte er sich des Träumens.

»An unserer Tür stand: Mangolf, Agent. Ich bin Reichskanzler, dies ist das Zimmer des Fürsten Lannas. Zwanzig Jahre Arbeit? Weiß nicht mehr. Zwanzig Jahre Auf und Ab von leiden und siegen, heucheln, wühlen, lügen und sich behaupten? Weiß nicht mehr. Ich bin ans Meer gegangen, der verzauberte Fisch hat gefragt, was ich wollte. Ich habe gesagt: Reichskanzler werden. Da bin ich.«

Ob Stolz, ob Scham, er schwur: »Die Vergangenheit ist ausgelöscht. Erinnere mich niemand!« Leiserer Gedanke: »Nur gut, daß mein Vater tot ist! Was würde er sagen? Er machte sich lustig über Kaufleute, die sich wichtig nahmen.«

Plötzlich zog Mangolf seinen Taschenspiegel hervor. Er besah sich darin, schöpfte tief Atem – und brach in Lachen aus.

 

Mangolf, erster bürgerlicher Reichskanzler, des Gebotes, sich auszuzeichnen, voll bewußt, trat vor den Reichstag. Schon hatte er Fehler auszugleichen, die nicht seine waren. Der Kaiser hatte beim Zaren um Frieden gebettelt noch nach der Kriegserklärung; an Mangolf war es, fest und eindeutig zu rechtfertigen, was unser Wille so gut wie unser Schicksal war; er sprach für das Schwert. Nur das Schwert sei auf Erden im Recht – aufgehalten höchstens, so sage man, durch Liebe. Uns aber habe man nicht geliebt. »Wir sind in ein neutrales Land gebrochen? Niemand hatte es anders von uns erwartet. Wir stehen zu unseren Taten.« Was Beifall fand, wenn auch erschreckten. Das Nackte erschreckte. Sogar in ihrer nationalen Übersteigerung verlangte es die Versammlung nach sittlichen Schleiern. »In sechs Monaten aber würden sie es mich büßen lassen, hätte ich heute auch nur den Schatten eines Vorwurfes zugelassen. Nationen dürfen nie Unrecht haben.«

Der Name des Reichskanzlers war nach dieser Rede einige Tage fast volkstümlich. Ihm sagten es die Gesichter, jedes auf seine Art gab zu: »Zwischen mir und Dir greift eine höhere Macht ein und trennt uns – der Ruhm!« Aber die öffentliche Meinung verbreitet nur verflachten Ruhm, sie tötet die Phantasie. Mangolf sah es. »Im Augenblick meines ungeschminkten Bekenntnisses umwob mich etwas von jenem Grauen, das unerläßliche Bedingung für Volkstümlichkeit höchster Art ist. Aber sich zu verdichten, ward dem Grauen von der Presse nicht Zeit gelassen. Heute wird alles zweimal täglich totberichtet.«

Da hatten die Feldherren es leichter. Was sie taten, geschah weit fort, war bildhaft, Blut floß dabei, und man berichtete, was geschehen sein sollte, selbst. Der Reichskanzler dachte bei sich: »Gut, daß so ein Haudegen da ist. Ein Feind tapst heran, man lockt ihn in den Sumpf. Recht brav, ein Sioux könnte keinen besseren Einfall haben. Das Volk begeistert sich, denn es begreift. Kein in dem Vorgang wirksamer Gedanke, der ihm unzugänglich wäre. Aber ist dies Vorbereitung auf die Zukunft von Selbstzucht, Strenge, weltumfriedender Größe, die ich ihm vorbehalte?«

Der zur Macht drängende Mangolf hatte den Krieg gewollt – zuerst und vor allem, weil er die Macht wollte. Krieg ward gerechtfertigt, wenn der zur Macht kam, der das Zeitgewollte erschaffen konnte. Die Einigung Europas durch Krieg war heute kein Traum eines einsamen Genies mehr, wie noch im Fall Napoleons. Jede aufgeklärte Willenskraft wurde heute von selbst dorthin gelenkt. »Ich werde den Eindruck des Schöpfers machen, aber nur der rechtzeitige Nutznießer des Gedankens sein«, sagte Mangolf im voraus, um sich nicht zu überheben. »So sehen alle Schöpfungen aus.« ... Dennoch blieb der Gedanke ehrgeizig. Blieb Qual und Besessenheit, solange er stumm sein mußte. Blieb Abenteuer und Hirngespinst, solange nicht andere gesiegt hatten für Mangolf. Er hing von den Siegen der Feldherren ab.

Aber schon die ersten Siege zeigten ihm, politische Führung werde sinnlos in einem Volk, das, selbst nur noch ein einziger Wille, für sein Leben kämpfte. Wer verbürgt ihm sein Leben? Doch nicht der Staatsmann, der entfernten Plänen nachhing. Sie kannten ihn nicht, er mußte schweigen. Sie kannten die Feldherren, die siegten, unterwarfen und nicht mehr als das Volk davon ahnten, daß Unterwerfung und Sieg noch nie und nirgend gedauert haben. Gewalt zeugte ewig nur Gewalt. Der Krieg war zwecklos. Mangolf sah dies fast in demselben Augenblick, da Krieg war. Vorher hatte er es nicht sehen können, erst die Gegenwart des Krieges zog den Vorhang weg. Das Unheimlichste war diese Entdeckung, nichts vorhergesehen zu haben. Der Gedanke, unerfahren wie ein Kind, die Wirklichkeit älter und stärker als er, sobald sie zur Welt kommt.

Solche Erfahrung im Herzen tat Mangolf Dienst am Krieg. Er pries in den Parlamenten die Namen der Siege und der Sieger. Vor ihm hatten Offiziere sie in Automobilen durch die Straßen getragen, Stimmen der Straße brüllten sie vor ihm. Der Reichskanzler gab den großen Namen die letzte Weihe, dann schwieg er wieder – im Herzen die Leidenschaft des Gedankens, von dem die Wirklichkeit sich täglich weiter trennte. Wirklichkeit und künftige Welt schuf selbsttätig der Krieg. Der Kanzler hatte ihn zu preisen. Er hatte den Dank des Vaterlandes Rettern darzubringen, zu denen er nicht zählte.

Wo es anging, sagte er: »Die einzigen großen Männer sind jetzt im Schützengraben«, – was nicht nur Selbstbescheidung war. Es verriet auch den militärischen Führern hinter der Front, wofür er sie schließlich halte. Er glaubte nicht an »planmäßiges« Siegen, an das durch gar nichts abgelenkte Vorgehen nach Berechnungen eines längst verstorbenen Chefs des Generalstabes. Die Nation hing an ihrem Aberglauben, der Reichskanzler kannte die Militärs. Sein Zweifel am Sinn des Krieges machte ihn mißtrauisch auch gegen das Können Derer, die ihn führten. Sie rechneten nicht damit, daß der Gegner ein Gehirn hatte, denn mit Gehirnen rechneten sie nie. Die Niederlage an der Marne bestätigte ihn unerwartet schnell und furchtbar.

Mangolf ahnte das Unglück früher, als die Militärs es ihm zugaben. Sie hatten es vor dem Reichskanzler so geheimhalten wollen wie vor der Nation, aber er zwang sie, zu gestehn. Er ward bleich, er griff sich, zurückfahrend, ans Herz, die Herren bekamen den Eindruck, der Zivilist verliere die Nerven. Sie erklärten ihm, eine Schlacht entscheide nichts, den Endsieg verzögere sie höchstens. Er ließ sie gehen, er wußte, daß es aus sei.

Diese Klasse hatte zuviel versprochen, schon der erste Verlust war unwiederbringlich. Niemand seit der Kirche früherer Zeiten hatte dem Volk seine Unbedingtheit auferlegt, wie diese Klasse. Der erste Zweifel entschied über sie. Mangolf, was er auch tat, schrak immer wieder daraus auf; »sie werden verlieren«; – und jedesmal stockte ihm wieder das Herz. Er wußte nun schon, was dies Stocken und tiefe Erschrecken bedeutete. Nicht, was die Herren gemeint hatten. Es war Tollheit, Gemeine hätten es Freude genannt. Grauen vor Ungeheuerem, noch Unaussprechlichem – und mitten hinein der belebende Andrang. Es kam dahin, daß der Reichskanzler sich fragen mußte: »Habe ich die Niederlage gewünscht?«

Überanstrengung! Geistige, seelische. »Mein Krieg!« – und im Grunde, trotz täglicher Vielgeschäftigkeit, nur warten und zusehn dürfen. Mißerfolge und Beschönigungen der Militärs öffentlich vertreten und zu den seinen machen. Immer nur für andere arbeiten mit Unterdrückung des eigenen Wissens. Wahrscheinlich zermürbte dies annähernd wie Trommelfeuer und Gasangriffe, – nur daß man weiterlebte. Monate und Jahre der Ergebnislosigkeit folgten der verlorenen Schlacht. Monate und Jahre lang ward jede außenpolitische Handlung des Reichskanzlers ausgespäht von den Alldeutschen, die notwendigste Erhaltung der Vorgänge zur Welt draußen so gut wie vereitelt. »Und ich habe die Alldeutschen groß gemacht!« Er bat sie schriftlich, seiner Politik nicht die Fensterscheiben einzuschlagen; unverschämte Antwort ihres Vorsitzenden: es gäbe keine mehr einzuschlagen; – und die Briefe gingen von Hand zu Hand. Der Ruf des Schwächlings ward dem Reichskanzler bereitet. Vom Schwächling zum Verräter aus Schwäche war heute nicht weit. Die Alldeutschen waren die einzigen gewesen, die es sich hatten erlauben können, den Ausbruch des von ihnen ersehnten Krieges ganz laut zu bejubeln. Mangolf durfte nur still »mein Krieg« sagen. Sie hatten es leicht, ihn zu überbieten, – und sie lebten vom Überbieten. Er ward nach hinten abgedrängt, nicht durch die draußen Handelnden nur, auch von denen, die im Lande lärmten.

Schon waren Hauptquartier und Alldeutsche stärker als er, auch der Reichstag ging daran, es zu werden. Er fußte auf den Opfern der Nation; sie empfing von den Regierenden nichts mehr, sie gab nur. Die große Gefahr machte sie auf einmal selbständig, alle Erfolge der Friedenszeiten hatten sie nur untertäniger gemacht. Die Nation fühlte amtliche Macht nicht mehr: einzig ihre eigene, ausgedrückt in ihren blutenden Söhnen. Wer sie führte, hatte die Nation und ihr Herz. Der Reichstag stand hinter den Feldherren, sie verkehrten mit ihm unmittelbar. Was blieb dem Reichskanzler? Einfluß auf den Kaiser? Die Feldherren drohten zu gehn – mitten in der Schlacht. Da deckte kein Kaiser ihn mehr. Er durfte raten ohne Stimme. Der Reichstag beschloß mit dem Hauptquartier. Mangolf, erster bürgerlicher Reichskanzler, hatte sich die Einführung des Reichstages unter die regierenden Parlamente der Welt ganz anders gedacht. Die Macht des Kaisers, Hemmnis schöpferisch nationalen Denkens, sollte begrenzt werden vermittels des Reichstages. Unversehens aber gab es keine Kaisermacht mehr.

Der Kaiser kam manchmal zu seinem Kanzler, er fragte nach Auskünften, die sie beide nicht hatten. Mangolf sah: der Kaiser liebte ihn nicht, aber es zog ihn zu dem Schicksalsgefährten. Beide bewegten sich schwierig im Halbdunkel. »Ich spiele nicht mehr mit«, sagte der Kaiser. »Ich habe Halsweh, ich gehe zu Bett. Was haben die Kerls im Hauptquartier jetzt wieder mit ihren Annexionen? Sie reiten mich noch schön hinein. Eine gewisse Fresse kann ich nicht mehr sehn.« Worauf sein Kanzler ihm erklärte, daß die Fresse etwas zu weit hinter der Front sitze; in das sicher gelegene Hauptquartier getrauten sich sogar Schwerindustrielle, und zwar oft. Die Forderungen der sogenannten Industrie, einiger unverantwortlicher Personen, bestimmten unsere Kriegsziele. Diese Leute brachten es fertig, hinter unwissende Militärs verschanzt, für ihren privaten Nutzen die maßlos überanstrengte Nation weiterkämpfen zu lassen – wer weiß, bis wohin. »Sonst könnten wir Frieden haben?« fragte der Kaiser. Der Reichskanzler sagte: »Sonst hätten wir Frieden.«

Der Kaiser sagte noch: »Schön, daß Sie es einsehn. Sie waren doch wohl auch so ein Moderner, wollten gegen mich mit der Schwatzbude regieren. Nun haben Sie Ihren Parlamentarismus, so sieht er aus. Genießen Sie ihn! Ich gehe zu Bett.« Der Reichskanzler geleitete ihn die Treppe hinab, barhäuptig bis zum Auto; dann kehrte er zurück mit der Gewißheit, öffentlich werde der Kaiser vorsichtigerweise nur wieder äußern, daß Politik im Kriege den Mund zu halten habe, bis Strategie ihr das Reden wieder gestatte. Mangolf war allein – wie jemand, den alle überholt haben. Er hatte sich niemals träumen lassen, es gäbe noch etwas außer Beamtenstaat und Volksstaat. Wer hatte es geahnt? Ein kaiserlicher Minister großen Formates konnte den Beamtenstaat aufrecht erhalten, wenn sein Genie schon dem Volksstaat genügte und ihn ersetzte. Was zeichnete sich ab statt dessen? Etwas drittes, Interessenherrschaft – unter Ausschluß des überlegenen politischen Denkens. Ein kaiserlicher Minister großen Formates konnte den Volksstaat heraufführen, wenn er selbst ihn trug. Diktatur. Dies Volk für sich allein brachte nichts fertig. Was denn auch die andern? Für Mangolf stand und fiel jede Zukunft von Stolz und Wert, ja, die Einigung des ganzen Erdteiles, mit der Diktatur – seiner eigenen Diktatur; diese aber mit dem deutschen Sieg ... Statt dessen nun Interessenherrschaft, als Ausdruck der sicheren Niederlage. »Das Genie der Nation ist zeitgemäßer als meines, es findet unbewußt seinen Weg sogar durch Niederlagen, ich bin allein gelassen.« Mangolf sah: »Tragik des Denkenden! Auf der Höhe angelangt, hat er schon das unbefangen nachgerückte Leben im Nacken, im selben Augenblick ist er um ein Geschlecht gealtert. Ich war endlich dort angelangt, wo ich hätte zeigen sollen, wer ich bin; da kann ich nichts mehr.«

Er hätte in alter Geschicklichkeit sich selbst verleugnen können, er wäre den Tatsachen einfach gefolgt. Nein! Vormals verleugnete er sich wohl, nicht aber, um den Tatsachen zu folgen, er war ihnen voran. Er hatte einer erwählten Idee, ob richtig oder falsch, vorangekämpft. Er hatte sich erzogen zum Glauben an die Nation und ihre Weltsendung. Die Herrschaft der größten Interessenten, die ohnedies gewiß war, mit heraufzuführen, schien ihm verächtlich. Mangolf war auf die Kämpfe seines Lebens denn doch zu stolz; Siege der Art waren, sie zu beenden, zu schlecht. Der Schwiegersohn Knacks bemerkte spät, daß die Klasse, deren er sich zu bedienen geglaubt und die ihn nur benutzt hatte, sein ärgster Feind war, Feind des Gedankens, auch des nationalen, Feind jedes geistbewegten Menschen, sein Feind. Er war ihr auf der Spur, er kannte sie; seine alte Erfahrung, sein neuer Haß ergaben den Scharfblick, der alle Schliche bloßlegte. Heimlich wie sie. öffentlich herrschte ungebrochener Burgfriede, glänzendste Einmütigkeit, Begeisterung und kein Ende.

Es gelang Mangolf, den Oberadmiral von Fischer bloßzustellen in seiner beruflichen Unfähigkeit, verbunden mit politischer Anmaßung. Er baute noch immer keine Unterseeboote, entwendete aber Akten. Der Kaiser zeigte einen Augenblick Kraft, Fischer mußte gehen. Seine Bande war seitdem im Reinen über Mangolf. Er, der ohne sie nicht Reichskanzler geworden wäre! Sie haßten ihn fortan noch mehr, weil vertrauter, als andere. Er war gezwungen, Stützen zu suchen, er fand sie im Reichstag, – wo der Burgfriede merklich unbeliebter ward. Abgeordnete, die von den großen Interessen noch nicht gekauft waren, ja, den Kauf vielleicht abgelehnt hätten, kamen zum Reichskanzler. Sie schützten nationalen Eifer vor, wollten aber wissen, wann endlich Friede werde. Auch er machte Umwege. Sie wüßten, daß Politik vorerst zu schweigen habe. Sie kennten, wie er, die wirklichen Mächte. Nicht einmal Besteuerung der Kriegsgewinne sei erreichbar, solange die Überzeugung dauere, der Feind werde zahlen. – Das glaubten in Wahrheit nur noch Wenige, sagte der Abgeordnete. Mangolf darauf: »Aber Ihr Kollege Schwertmeyer, der Lieferanten in die Ministerien einführt, wird es noch lange glauben.« – »Bis er sich gesund gemacht hat«, sagte der Abgeordnete.

Nachdem sie gelächelt hatten, ward Mangolf tiefernst, »Wir haben ein ehrliches, treues Volk; es stirbt, es hungert, wie nur eins. Wie konnte es dahin kommen, daß die einen mit gutem Gewissen Übergewinne machen, dafür daß die andern sterben! Es scheint jetzt überall so zuzugehen, aber wir hielten uns für besser, woher sonst unser Recht auf diesen Krieg.« – »1914 waren wir in der Abwehr, nur daher die Begeisterung«, behauptete der Abgeordnete. Mangolf, mit Strenge: »Wir müssen uns ausdehnen, vergessen Sie es nicht! Die Industrie braucht neue Kohlengruben.«

Verzog der Abgeordnete kritisch das Gesicht, so konnte Mangolf, wenn auch scheinbar widerstrebend, den sträflichen Eigennutz der Industrie immerhin zugeben. Das Ausfuhrverbot für Stahl, das England schon seit 1915 hatte, war von den deutschen Interessenten bis jetzt noch hintertrieben worden, sie lieferten des höheren Nutzens wegen wie toll an das neutrale Ausland, von wo der Stahl an den Feind ging. Wir aber bezahlten mit ungeheuren Menschenverlusten das Befestigungsmaterial, das sie uns vorenthielten. »Wenn nicht einmal die ersten Männer an der Spitze der deutschen Wirtschaft so viel nationales Verantwortungsgefühl haben –« – »Sind wir verloren«, ergänzte der Abgeordnete, und er ging erschüttert. Ein mit der Schwerindustrie verschwägerter Reichskanzler hatte ihm dies gestanden!

Der nächste Abgeordnete gehörte geistigen Berufen an. Der Reichskanzler lobte die Einheitsfront der Geistigen, den opferwilligen Verzicht auf die eigene, so hoch ausgebildete Urteilskraft, die Stupidität des Bürgertums einfach hinzunehmen, könne nicht immer leicht sein. Für Geschäftsleute freilich gehe alles gut, solange sie gut verdienten. Aber geistige Menschen hätten doch wohl kühnere Zwecke mit diesem Krieg verbunden, sie hätten eher noch ein Kriegsziel wie die Vereinigten Staaten Europas – sagte Mangolf, die Augen gesenkt – für möglich gehalten als solchen engen Eigennutz. Wer litte nicht unter dem stillen Hunger der Armen, dem Übermut der Verdiener, der Hyänensprache ihrer Zeitungen. Selbst in das Heer drang soziale Unmoral, die Soldaten lebten schlecht, indes höhere Offiziere Geschäfte machten. Umso nationaler handelten unsere Sozialisten, die trotz allem nur Frieden mit militärischen Sicherungen wünschten. – Davon komme man ab, getraute sich der Sozialist, – wofür der Reichskanzler ihn tadelte, wenn auch mit Nachsicht. Er mußte zugeben, daß die militärische Leitung zu weit gehe im Sinne der Industrie – weit hinaus über die Absichten der Reichsleitung. »Die belgischen Deportationen haben wir nicht gewollt ... Wir sind es auch nicht, die heute noch von Annexionen sprechen. Ich selbst«, sagte Mangolf, »sprach einst in meiner Jugend davon, aber ich bin belehrt. Ich habe nur einen kurzen Krieg gewünscht.« – »Wenn er nach Maß geliefert würde!« meinte der andere, aber Mangels ertrug sogar Ironie. Dafür hörte er den Abgeordneten endlich bekennen. »Wir wollen Frieden – jeden Frieden, der uns mehr läßt, als die Augen zum Weinen. Schaffen Sie ihn uns, Herr Reichskanzler!« – »Helft mir!«

Sie halfen ihm aus Ratlosigkeit, aus Not. Gutwillig und unbelehrt suchten die Redlicheren bis jetzt vergeblich zu entkommen aus dem Netz der tausendfachen Lüge. Tag für Tag seit Jahren belogen, in falsche Sicherheit gewiegt, gegängelt und entnervt, ahnten sie in bösen Träumen, es werde schlimm enden. Mehrere begriffen, daß die Lüge, die im Lande so erfolgreich herrschte, schon zurückgegriffen habe auf ihre Urheber. Die Feldherren selbst wurden ihre Opfer. Sie unterschieden das Mögliche nicht mehr. Geistig Arme, die sich rühmten, seit ihrer Kadettenzeit kein Buch gelesen zu haben, verloren sie Urteil und Halt; sie ließen sich schlagen, weil sie zu viel geprahlt hatten ... Die meisten Abgeordneten gestanden es sich später als ihre hunderttausend Wähler. Denn sie saßen der lähmenden Propaganda näher; auch wagten sie mehr mit der Wahrheit. Bei ihnen konnte Mangolf erst durchdringen, wenn sie ganz reif waren. Seine Kunst galt der Erfassung des einzigen Augenblickes. Im Reichstag, bei den Reifgewordenen, arbeitete er auf eine Friedensresolution hin. Gleichzeitig fühlte er nach Frieden aus dort drüben, hinter den verbotenen Stacheldrähten, beim Feind.

Ganz heimlich. Völlig allein. Seine Sendlinge waren unbeglaubigt, ihren wahren Auftrag kannte höchstens das Gerede, er verschwand im Wust unterdrückter Nachrichten, die heimlich umgingen. Sie hatten für ihre Auslandsreisen finanzielle Gründe; wurden politische genannt, so hießen sie Stärkung schwankender Bundesgenossen.

Mangolf hielt mehrere seiner Agenten für Geschäftemacher, die auf die Karte des Friedens setzten, andere für Politiker ohne volles nationales Pflichtgefühl. Seine ehrgeizige Selbsterziehung, durch so viele Jahre befestigt, blieb unerschüttert, als er die Front wechselte. National wie je, wollte er nur nicht mehr die Weltherrschaft der Nation, er wollte sie einfach retten, ihre Entsittlichung aufhalten, ihr hundert Jahre Knechtschaft ersparen, sie retten. Aber er mißtraute denen, die die Weltherrschaft nie gewollt hatten. Grade auf sie war er angewiesen, welche Lehre! Die Mißachtung, die sie ihm einflößten, traf auch ihn selbst. Mangolf tat, was sein Gewissen ihm eingab, gedemütigt durch seine Helfer; dies verdächtigte ihm sogar sein Gewissen.

Er suchte nach sittlicher Bestätigung – und konnte sich doch niemandem entdecken. Vielleicht einem Kinde? Dem Kinde, das nun seine ganze Lebenswärme, sein einziger menschlicher Zusammenhang war; denn Bellona lebte mit ihm nicht mehr, schon seit Alice Lannas sich nach Liebwalde zurückgezogen hatte. Bellona war in ihrem Haus geblieben, sie besuchte Gesellschaften oder was es derart noch gab, ihn sah sie nicht. »Du bist am Ziel, mich brauchst Du nicht mehr.« Übrigens hätten sie die Lannas'schen Prunkräume jetzt nicht eröffnen können; auch diesen Glanz hatte sein Amt verloren. Mangolf wohnte als Junggeselle in dem Flügel des Reichskanzlerpalais zwischen Hof und Wilhelmstraße, dort wohnte mit ihm das Kind. Es war die Tochter der Fürstin Lili, sein Kind. Nach dem Tode der Mutter hatte er es zu sich genommen.

In einsamen und fragwürdigen Stunden ließ er es hinüber in sein Arbeitszimmer kommen, das Fürst Lannas nicht wiedererkannt hätte, es war nüchtern wie ein Bureau. Das herangewachsene Mädchen saß abseits mit einem Buch vor den bebrillten Augen, indes ihr Vater schrieb. Hielt sie ihn für vertieft genug, sah sie hin. Sein eingefallener, gelber und ergrauter Kopf hing schief über dem Papier, die Neigung entsprach genau der Haltung jenes Christus, der hinter Mangolf auf dem alten Bild an der Wand, dem einzigen hier, seinen Schmerzensweg ging. Er war im Fallen, schon glitt das Kreuz von seiner Schulter, der einzige Hilfreiche hielt es auf, – indes die Marien klagten und ein langer Zug Militärs unbekümmert hügelan trat.

»Woran denkst Du, mein Kind?« fragte der Vater; mehr als je ersehnte er heute Abend einen hilfreichen Sinn. Das junge Mädchen aber, tritt dem Blick auf Abwegen ertappt, senkte ihn. »Du siehst den Christus an? Er fällt. Er wird sogar gekreuzigt. Aber das hat den guten Grund, daß alle die anderen Personen des Bildes – nicht sterben sollen«, schloß er mutlos, denn Vergleiche schienen ihm abgeschmackt. Die Tochter las weiter. Er fragte: »Was liest Du?« – »Strategie.« – »Willst Du es mir zeigen?« – Schnell schob sie das Buch in einen Haufen, stand auf und stierte durch das Glas wie ein übellauniges Schulmädchen. Sie hatte die stolze Figur der Mutter, bewegte sie aber linkisch. Das Gesicht war zu klein, verkleinerter, anmutsloser Mangolf. Gesenkter Mund, schroffer Nasenwinkel und hinter der großen Brille fremde, spitze Augen, die umhersuchten. »Armes Geschöpf!« dachte der Vater. »Mit mir allein – und haßt mich!«

Denn sie war in ihrem Gefühl die Tochter Tollebens, von ihrer Mutter dazu bestimmt, von Tolleben dafür gehalten. Natur verschlug dagegen nichts; ihr wirklicher Vater wäre der Tote gewesen. Ob durch Natur oder nicht, er hatte sie früher geliebt, als dieser kalte und eigennützige Mann, dem sie mißtraute. Wie kam er auf den Platz ihres Vaters Tolleben? Hatte ihr Vater sterben müssen für diesen? Was stak dahinter? Wozu war dieser noch fähig?

Mangolf, ihrer stummen Fragen wohl bewußt, forschte dennoch: »Du wünschest doch auch, daß der Krieg einmal aufhört?« – »Erst muß er sich gelohnt haben«, sagte die Tochter. Mangolf redete ihr zu. »Was kann sich noch lohnen, wenn alle schon tot sind. Das dürfen wir nicht fordern.« Das Mädchen erklärte aber: »Mein Vater Tolleben hätte es ruhig gefordert, denn er hatte selbst keine Furcht zu sterben.« Begeistert nach oben. Mangolf beugte zurückgeschlagen den graugelben Kopf über sein Papier. Die Tochter zog unter dem Haufen das Buch wieder empor, das keine Strategie, sondern ein englischer Roman von den Abenteuern des kommenden U-Bootskrieges war. Sie schlich damit in einen anderen Winkel, von dort sah sie dem Vater besser auf den Schreibtisch. Was schrieb er? Was schob er? Welche Geheimnisse bargen die halb offenstehenden Fächer, die nachher so peinlich geschlossen waren? Ihre Augen suchten umher. Mangolf fühlte seinen Nacken brennen von ihren Augen.

»Sie hat mir Feigheit vorgeworfen. Auch ihr Vater Tolleben hatte dafür seine Gründe. Ich werde den Vorwurf entkräften müssen, ich muß weiter gehen, als ich bis jetzt wagte! Eines Tages wird es offenbar werden, daß ein Einzelner den Sturz des Landes noch aufhielt und dabei umkam. Es wird kein sogenannter Heldentod sein – vielleicht nur das nationale Schandmal, wie Verräter es tragen. Ich muß bis zum Verrat gehn. Keine Selbsttäuschung! Was ich anbahne, heißt vorerst noch Verrat.«

Wenn er handelte, war er kühl, ging den Weg zum Feind, stellte fest, daß höchstens noch der Stand von vorher Deutschland erreichbar bleibe, ja lebte schon mehr in genauen Aufgaben von morgen, als im heutigen Unfug des entgleisten Treibens. Zugleich vollführte er kalt den täglichen Betrug, die großartigen und verstockten Krieg- und Siegreden an die Nation, die sie hören wollte. Aber auch Nächte kamen, in ihnen wankte sein Wille. Er erwachte schweißbedeckt, die Seele kehrte erfahren, uralt zurück aus Zeiten, die nur ihr schon bekannt waren, aus den Zeiten nachher, wenn er das Seine vollendet hatte und gerichtet war. Im Augenblick des Erwachens glaubte er noch in das unfaßbar schreckliche Gesicht geblickt zu haben, sein Gesicht nach der Tat. Er sagte wohl: wo denn die Tat beginne. Er sei schon mitten drin, der Verlauf der Tage ergäbe sie, im Grunde forderten alle sie von dem Reichskanzler, sogar die Wütendsten; nur der Mut, sie fest anzusehn, fehlte den Feiglingen. Gleichviel, ihm sträubten sich die Haare.

In solchen Nächten ward er emporgetrieben, unhörbar suchte er am Schlafzimmer seiner Tochter vorbeizugelangen, tappte ohne Licht bis in sein Arbeitszimmer. Das alte Bild des Leidensweges lag nebelhaft im blassesten Schimmer, erst nach langer Weile unterschied Mangolf Gestalt und Bewegung. Sie bewegten sich! Der Zug des Militärs ward hügelan bewegt, er sah ihn steigen, sich verschieben, jetzt verdeckte ihn das große Pferd des Hauptmannes, das sich bäumte. Die Mutier des Verurteilten erwachte aus ihrer Ohnmacht, – bald rührte gewiß er selbst sich! Mangolf wartete manche Nacht, daß Christus sich aufrichte unter seinem Kreuz, den vorgezeichneten Weg vollende und droben seinen Tod erleide. Nie tat es Christus; aber Mangolf war zuletzt erschöpft, als hätte er selbst es getan.

Einmal störte ihn ein Rascheln. Als er den Fuß ansetzte, entfernte es sich fliehend. Hinterdrein, – aber im Dunkeln hatte er es gleich verloren. Als er im Zimmer dann Licht machte, fand er den Schreibtisch offen. Er hatte seit einer Stunde davor gestanden, der Spion war die ganze Zeit mit ihm im Zimmer gewesen. Gefunden hatte er nichts; Mangolf hütete sich, Gefährliches aufzubewahren, er wußte sich beobachtet. Kriegseiferer, Kriegsverdiener trafen Maßregeln gegen den Verräter, so fingen sie an, ihn unter sich zu nennen. Das Hauptquartier ertrug ihn gerade noch. Einzig der Kaiser hielt ihn bis jetzt, aus Abneigung gegen die Tyrannei der Feldherren. Aber wen hielt der Kaiser sehr lange, wenn dazu Widerstand gehörte, wenn die Feldherren ihn haßten, die Nation ihn ausstieß? »Ich bin ausgestoßen. Sie schicken mich in die Wüste. Meine Gehilfen sind nicht meine Freunde, dem Reichstag bin ich fremd, kein Volksmann, ein Beamter auf Abwegen. Seine Friedensresolution wird er gegen mich machen, den Verfasser so vieler Kriegsreden. Mein Sturz ist gewiß. Meine sogenannten Freunde haben mich längst ausgeliefert an das Hauptquartier; der Spion, der meinen Schreibtisch durchwühlt hat, kommt aus dem Hauptquartier ... Ich möchte wissen, wozu ich mich quäle.«

Wenn alle im Grunde einig waren, lieber unterzugehn als gerettet zu werden? Ein Schritt weiter, er zweifelte am Volk selbst. Hier stand Mangolf, er hielt dies Volk der Rettung nicht mehr wert. Denn es wollte vollauf, was ihm bevorstand, Zusammenbruch, Chaos, – unbarmherzig sich selbst, Wachs für fremde Sieger und die eigenen gierigen Verdiener. Es haßte Vernunft; wer es rettete, verriet es – und konnte es darum nur verraten, nicht retten ... Mangolf sah sein Denken sich auflösen, ungeheure Zwecklosigkeit eröffnete sich schaudernd. »Ich, der positivste Geist!« Da erinnerte er sich seiner ungefesselten und bitteren Jugend, der unruhigen, stachlichen Geister, die sie gewesen waren, Mangolf und Terra. Er dachte an Terra.

Wo war Terra? Verschollen, untergegangen auch dem, der ihm heimlich die erste Zeit noch gefolgt war auf seinem schnellen Abstieg. Ihm war wohl, er hatte es hinter sich! War dem Kampf entronnen, zur Besinnung gelangt, vielleicht zurückverfallen an die erste unbeteiligte Verachtung des Lebens, wie Gutbegabte sie haben, bevor es recht beginnt. Niemals verschmerzte Geistesreinheit der noch unbefangenen Jünglinge, wer Dich wiedergesehen hätte von diesseits der Erfahrungen! Was der tätige Mann dem Leben eingeräumt hatte, verlor er an sich. Ehrgeiz! Damit einst gelehrt ward: »Reichskanzler Mangolf beging Verrat, dahin brachte ihn sein Ehrgeiz.« Ach, nicht einmal das, – denn alles strebte einem Ausgang der Dinge zu, nach dem nicht einmal Gedächtnis blieb. Sterben, ganz sterben, sogar das Andenken!

War Terra tot? Er kehrte dem Übriggelassenen wieder, hartnäckig wie ein Gewesener und in der frühen Form. Ja, auch der junge Mangolf stieg aus dem Vergessenen auf, seine Schwermut, die noch nicht gewählt hatte, noch nicht unwiderruflich das Leben, und noch Fühlung hatte mit dem Tod. Er war dem jungen Mangolf vertraut erschienen, seitdem aber fremd und grauenvoll geworden. Jetzt kam Wiedererkennen mit ihm, kam tiefe, heimliche Freude. Das ist unverloren! Eine letzte Verzauberung wartet, eine Zuflucht bleibt noch, ihr entgegen träume! ... Von Sorgen genährt, mit Qualen getränkt, hatte der zu Ende gehende Mangolf Nächte so glücklich wie ein Kind.

 

Hier ward verlangt, er solle den uneingeschränkten U-Boot-Krieg – nicht mitbeschließen, nur mitvertreten. Er hatte nicht anders gerechnet, als daß auch dies noch käme. Seine geheimen Friedensunterhandlungen waren fast eingeschlafen, die Fehler mußten zuerst alle begangen sein. Dieser freilich erlaubte, wenn es geschah, auch keine Unterhandlungen mehr, weder geheime noch offene. Gleichviel, er mußte begangen werden. Der Reichskanzler ließ, nur damit sein Amt noch bemerkt werde, im Hauptquartier seinen Besuch melden. »Was hat er für Schmerzen?« fragte der Generalfeldmarschall seinen Gehilfen.

»Keine«, sagte der eintretende Zivilist. »Autorität und hohes Pflichtgefühl Euerer Exzellenzen werden mir es hoffentlich leicht machen, auf meine Fragen die Antworten entgegenzunehmen, die Volk und Reichstag durch mich zu erhalten wünschen.« Der Gehilfe bekam für alle Fälle einen roten Kopf. »Wenn das auf mich geht, verbitte ich es mir!« Sein greiser Chef beruhigte ihn. Verstanden hatte auch er den Reichskanzler nicht, war aber stumpfer. Der Gehilfe zog gereizt den Hals ein, die Backentaschen hingen über den Uniformkragen. Der Reichskanzler erklärte den beiden Abgöttern der Nation, er sei nicht in der Lage, ihnen zu widersprechen. Immerhin stehe ein ernster Entschluß bevor. Solle er von einer letzten Karte sprechen? – Davon könne nicht im Traum die Rede sein, kollerte der Gehilfe. »Vielleicht könnte durch diesen Schritt der Krieg verlängert werden?« fragte der Reichskanzler. »Nein, wird abgekürzt. Todsicherer Erfolg.«

Der Generalfeldmarschall bestätigte immer nur seinen Gehilfen. Man hatte übrigens sooft er sich bewegte, genug an der Sorge, sein ungeheurer Rumpf könnte das Gleichgewicht verlieren auf dem Stühlchen, das unter ihm einschrumpfte. Dies war die strotzende Körperlichkeit, die ganze Volksmengen begeisterte, wenn der Feldmarschall an der Spitze von Truppen, breiter und größer als alle zusammen, vorbeimarschierte – im Film. Er glaubte an die Filmabenteuer der U-Boote. Auch seine Offiziere, wenn nicht er selbst, hatten den englischen Roman gelesen. »Amerika wird glatt besiegt«, sprach er seinem Gehilfen nach. Der Reichskanzler: »Und wenn die Franzosen durch die Schweiz kämen?« – »Wäre militärisch günstig.«

»Das wollte ich hören. Es genügt mir, ich bin aufgeklärt«; – und Mangolf verließ die Abgötter schnell, er hätte ihnen zwecklos gesagt, wer sie seien. Sie hatten ihn empört und aus seiner Ergebung gerüttelt. Nein! Einsicht und Gewissen durften, auch wenn ein ganzes Volk sich aufgab, nicht schweigen vor diesem Äußersten an stumpfer Barbarei. Noch am gleichen Tage setzte Mangolf das verfallene Einverständnis mit dem Feind wieder in Kraft. Blieb ihm Zeit? Das Schicksal hing an Tagen. Die im Hauptquartier benutzten sie, ihn aber zwang ihr Argwohn zu den umständlichsten Schlichen. Wie offen ihr Argwohn schon auftrat! Diese Behandlung! – und bei seiner Rückkehr fand Mangolf schon wieder seinen Schreibtisch durchsucht.

Diesmal ließ er seine Tochter kommen, er fragte schroff, was sie wisse. Keine Antwort, nur kalte Neugier vor seiner Wut. Sie vergaß, die unruhigen Augen zu verstecken und sich linkisch zu stellen. Plötzlich fiel es ihr ein. Er sah sie heucheln; sie fragte unbefangen kindlich, was er jetzt noch geheim halte, jetzt sei doch beschlossen, daß endlich ganz richtiger Krieg komme. Täuschend, sie war seine begabte Tochter! Dies aber sah er nur wie im Blitzschein – und gleich wieder das Hauptquartier. Ihn verfolgte das Hauptquartier, kein kleines Mädchen. Auch noch der stürzende Mangolf wollte ernst genommen sein.

Der Feind ließ unter den erschwerten Umständen seine früheren Zugeständnisse nicht mehr gelten. Sein Sieg schien ihm näher gerückt, er wollte siegen, nur gründlichste Unterwerfung konnte ihn aufhalten. Mangolf besuchte einen der früheren Botschafter; das Land, das sie verlassen mußten, hatte die feindliche Partei gewählt, sie aber waren vom Kaiser nicht empfangen worden, weil sie vergebens gewarnt hatten. »Wir gingen«, erinnerte der Reichskanzler, »im vorigen Jahr einmal hier den Kanal entlang. Sie sagten: wenn wir Elsaß-Lothringen und die Abdankung des Kaisers anböten, kämen wir um das Schlimmste noch herum. Würden Sie dasselbe noch heute sagen?« – »Nein«, sagte der Botschafter. Mangolf hatte dies Nein abgewartet, wie den allerletzten Wink; jetzt ging er vor. Verrat, – was er bisher gewagt hatte? Dies schüchterne Abtasten der Gelegenheiten? Er wollte sie erzwingen sturmartig, der Feind sollte von diesem Volk, damit es sich noch rette, Umsturz fordern. Aus eigenem kam hier kein rechtzeitiger Umsturz, nur Zusammenbruch kam, wenn alles verspielt und vertan war. Hatte dies Land keine Empörer? Doch. Einen. Mangolf handelte als Empörer, im Haß auf Alles, auf Alle.

An diesem seinem entscheidenden Tage kam noch einmal unangemeldet der Kaiser, Mangolf behielt kaum Zeit, ihm über die Treppe entgegenzueilen. Der Kaiser sagte: »Sie machen schöne Geschichten, das Hauptquartier nennt Sie Hochverräter.« Der Reichskanzler, sofort sehr stark: »Majestät, Hochverräter wäre, wer den Krieg nur fortführte, um sich selbst an der Macht zu erhalten – noch bis zum Zusammenbruch.« Der Kaiser, sofort eingeschüchtert: »Ich sage ja nichts. Ich habe Sie gehalten.« – »Jetzt kann auch ich Euerer Majestät nichts mehr nützen.« Ernst und dunkel.

Der Kaiser stand und sah die Wand hinan, dort sank in rotem Kleid der Christus hin wie ein Reh. Pause, – darauf der Kaiser, unsicher: »Ich habe den Kerls genau das gesagt, was Sie sagen. Der Krieg ist verloren, wenn die Fäden nach England nicht zur Brücke werden. Aber machen Sie mal aus Fäden 'ne Brücke!« Der Reichskanzler schwieg. Dies alles war überholt, der Mann, der es noch aussprach, schon geopfert. Mangolf hätte ihm sagen wollen: »Gehen Sie wenigstens mutig ab!« Der Kaiser dachte: »Jetzt laß' ich den Kerl aber fallen und schleunigst.«

Da sie einander nicht ansehen konnten, blieben sie vor dem Bild stehen. Der Reichskanzler wies auf die Komposition des Bildes hin, das liegende Kreuz teilte es in Dreiecke, im ersten stand ein Kopf mit gelbem Turban, im zweiten der des hilfreichen Mannes, im dritten der Christuskopf, seine braunen Augen, die die Welt zum Zeugen nahmen. »Na ja,« sagte der Kaiser. »In den Dreiecken sieht es verschieden aus. Der eine hat den gelben Turban, der andere kommt ans Kreuz.« Worauf es auch Mangolf klar ward, daß eigentlich niemand viel teilnahm am Jammer des Fallenden. Der hilfreiche Joseph griff nicht recht zu, der Hauptmann auf stolzem Roß wollte Eindruck machen. Die Marien stützten die ohnmächtige unter ihnen, Veronika war auf das Bildnis im Schweißtuch bedacht. Einzig der kahle Bettler vorn meinte mit seinen Geberden den Erlöser selbst, – denn er beschimpfte ihn. »Na ja, wer für die Bande stirbt, ist schön dumm«, sagte der Kaiser. Er ging; der Reichskanzler geleitete ihn barhäuptig.

Es war später Abend, dennoch ließ Mangolf sofort das Bild in sein Schlafzimmer bringen. Aus ihm sprach zu viel, es konnte ihn verraten, es sollte nicht mehr gesehen werden. Bald darauf wollte er sich zurückziehen. Im Schlafzimmer war Licht – aber nur die Bettlampe? Darunter, sorgfältig im Licht, lag ein Revolver. Mangolf nahm ihn in die Hand, kleiner Browning, geladen und entsichert. Er legte ihn hin, seiner war's nicht, er hatte hier keinen, für wen denn. Oder konnte er in die Lage kommen, sich Nachts zu verteidigen? Dann aber nur gegen Leute, die seine Waffe nicht fürchteten. Viel eher hätten sie selbst ihm eine geschickt, damit er sich erschieße.

Seine Feinde! Der Revolver kam von ihnen! Sie legten ihn neben das Bett des Hochverräters, er sollte sich selbst richten. Sie hatten die Frechheit, zu erwarten, er werde den Kampf mit ihnen aufgeben vor der Entscheidung. Der Schrecken sollte machen, daß er die Waffe, die sie hinlegten, gegen sich abdrückte ... Er schleuderte sie aber zu Boden. Sie ging nicht los, er hatte sie gesichert.

Darauf beschimpfte er die, die er haßte. Er bewegte sich ungleichen Schrittes über den Teppich, wie hinter den Gehaßten, die davonliefen, und beschimpfte sie unflätig. Neue, verzerrte Worte kamen ihm, er stieß sie aus mit erregt schwingender Schauspielerstimme, er fuhr sich ins Haar, leicht schwankend. Plötzlich stand er, er merkte, daß er den Kopf verlor. Was war geschehen? Jemand hatte sich eingeschlichen – wann? Als das Bild gehängt wurde, hatte der Revolver noch nicht dagelegen, der Diener hätte ihn fortgenommen. »Wenige Minuten darauf kam ich selbst. Der Mensch hat nur wenige Minuten gehabt, er hat nicht mehr entkommen können, er ist noch hier!« Sofort durchsuchte Mangolf das Zimmer. Nichts. Schnell weiter, er öffnete die Tür in das Zimmer seiner Tochter. Sie lag und schlief. Er schloß die Tür.

Keine Zeit verlieren! Er läutete. Der Diener, – aber er befahl, alle Andern herbei. Als alle da waren, verteilte er sie in der Wohnung – ob etwas hervorkäme. Nichts. »Das Haus absuchen!« Die ganze Reichskanzlei, jede offene Tür. Dann auch die verschlossenen, dann auch den dunklen Garten. Zuletzt kehrten abgehetzt alle zurück; beim Portal, bevor sie es schlossen, berieten sie noch. Mangolf war schon wieder droben. Im Augenblick, da er sein Zimmer betrat, hatte er den Eindruck, an der Tür nach dem Zimmer seiner Tochter bewege sich der Griff. Täuschung? Er sah nochmals nach. Sie schlief, sie atmete hörbar.

Erschöpft und entmutigt fiel er in den tiefen Sessel beim Bett. Auch noch Rätsel! Der Feind konnte sich unsichtbar machen. Er war überall. Mangolf mußte zugeben, der Feind sei furchtbar. Fast schon am Ende seines verlorenen Glücksspiels, aber drohend bis zuletzt – bis an den Zusammenbruch. Der kam, der rächte alles. »Ich aber kann es nicht«, sagte Mangolf auf einmal laut. »Ich kann Revolution nicht machen, ohne daß dennoch Zusammenbruch daraus wird. Alle Macht erfassen in meiner Hand, Diktator, den Feind in revolutionärem Aufschwung noch von den Grenzen halten, drinnen aufräumen: – zuviel auf einmal und über jede Kraft. Über die Kraft des Volkes. Über meine«, sagte er und schrak auf. Er horchte. Alle Türen, außer einer, standen offen. Die nächsten Zimmer waren dunkel, er sah undeutlich ein umgeworfenes Möbelstück. Ein herabgerissener Vorhang lag darauf gewälzt wie ein Toter. Mangolf ging neugierig näher. Auf halbem Wege machte er kehrt; festen Schrittes dorthin, wo er den Revolver geschleudert hatte. – Fort. Wo war der Revolver? Dies war doch die Stelle? Mangolf bückte sich; die Leute mußten beim Suchen die kleine Waffe fortgestoßen haben. Er kniete hin, er tastete unter die Möbel, – nichts. Er war mit dem Kopf unter dem Bett, da hörte er jemand ins Zimmer treten.

Terra. Er stand noch halb im Dunkel; im Zimmer sah er niemand. Mangolf zeigte kniend hinter dem Bett sein erstarrtes Gesicht. »Was tust Du dort, mein lieber Wolf?« fragte Terra. Mangolf antwortete: »Sage lieber, was Du selbst hier tust.« – »Ich will Dich sehen, bevor ich sterbe«, sagte Terra.

Und er vertiefte sich stumm in die Maske Mangolfs, die eingesunkenen Schläfen, darüber hinausstarrend dunkle Brauen, das Haar aber grau um den schmerzlich gehaltenen Kopf. Ungleiche Gesichtshälften der zerrissenen Seele, wie leidend, wie böse! Plötzlich eine Zuckung, daß die Zähne klafften. So furchtbar hatte irgend ein von dummen Lastern Zerstörter einst gezuckt. So ward ein Geist? Ein reiner Geist?

Mangolf sah um den Freund verbrauchte Kleider schlottern. Grau und so abgezehrt das Gesicht, daß Züge hindurch wie eiserne Rippen liefen; aber wuchtige Haltung bei aller Gewichtsabnahme, und noch immer die überdeutlichen Blicke. Sie sagten: »Sollte es mit Dir ähnlich stehen?« Mangolf sagte einfach: »Ich hatte soeben dieselbe Absicht.«

»Auch Du? Fertig? Daß meine Ahnung mich gerade heute hertreibt! Ich sehe Licht bei Dir, das Haustor ist unverschlossen, mir begegnet keine Seele in allen weit offenen Zimmern Deines nächtlichen Palastes, da bin ich.« – »Woher kommst Du?«

»Ich dachte, Du wüßtest es. Wenigstens habe ich verdammt Deine mächtige Hand gespürt in meinen letzten Unternehmungen. Meine gerechten Ansprüche an die Firma Knack wurden zurückgewiesen im Namen aller staatlichen Gewalten. Für jeden Versuch, sie durchzusetzen, wurde mir mit eurer wohlbewährten Schutzhaft gedroht. Aber auch, als ich den Tod für das Vaterland vorzog, versagte man mir jede Gelegenheit schroff. Daran erkenne ich Dich besonders, mein lieber Wolf«, sagte Terra ironisch und zärtlich. – »Was triebst Du aber seither?« fragte Mangolf.

»Ich lebte«, sagte Terra. »Das müßte auch Dir vollauf genügen. Meine Taten sind gerächt, ich suche den Tod wie die rosigste Freudengabe, die das Leben für mich noch hat.«

»Du hast gehungert?« fragte Mangolf begierig. »Du hast gebettelt?« – »Wie Du gleich vorgehst!« sagte Terra. »Ich bekleidete zeitweilig sogar einen Posten als Schreiber beim Kriegsgericht. Hunderte armer Teufel, die sich auf ungesetzliche Art vom Sterben gedrückt hatten, wurden durch mich trotzdem am Leben erhalten, – bis man mich fortjagte. Ich ward Armenanwalt, da war ich wieder, wo ich angefangen hatte. Ja, auch im Zirkus versah ich ein wenig geachtetes Amt ... Wozu aber triste Belanglosigkeiten. Verbringen wir zusammen, wenn für uns denn alles aus sein soll, noch einmal nach gutem alten Brauch eine trauliche Stunde!«

»Ich habe es mir gewünscht. Wie sollte ich sonst wissen, was ich noch wert bin. An wem mich messen.«

»Sofern ich Deine neueste Entwicklung in meiner schuldbeladenen Dunkelheit mir richtig zusammenreimte, können wir uns, wie Gott sei Dank noch jedesmal, die Hände reichen. Ich bin vom Verräter zum Mörder geworden. Du, mein lieber Wolf, verfuhrest umgekehrt.«

»Du sprichst von mir in Ausdrücken, die ohne Einblick sind«, – wegwerfend und unberührt. Terra sah den Mangolf jener Dachstube im Haus des Agenten. »Ich bin als Verräter, wie Du mich nennst, erst frei geworden. Ich wäre für Taten erst reif. Hätte ich mich nur nicht so schwer hinaufarbeiten müssen! Ist es dann Zeit, versagt man. Nur darum versagen auch alle Andern. Deutschland wäre anders, wenn ich ihm gewachsen wäre!« sagte Mangolf mit Größe. Handbewegung abwärts: »Nun aber lassen Alle mich allein.«

»Das war vor zwanzig Jahren zu bedenken«, sagte Terra.

»Weißt Du etwa, warum wir gescheitert sind?«

»Ich bin länger als Du aus den Geschäften heraus«, sagte Terra. »Ich hatte genügend Zeit, es mir klar zu machen. Wir sind vor allem gescheitert, weil nicht einzusehen ist, warum irgend jemand, der Talent hat und es der menschlichen Gesellschaft vorsetzt, nicht scheitern sollte. Sie will Talente nicht, – und ausschließlich Zufälle, die ihr selbst am peinlichsten sind, bewegen sie manchmal, eins durchzulassen. Wir im Besonderen sind noch daran gescheitert, daß wir von unseresgleichen zuviel verlangt haben.«

»Du wohl. Du hast sie bessern gewollt.«

»Du, mein lieber Wolf, hast von ihnen in der Richtung des Schlechtseins eine geradezu übermenschliche Opferfreudigkeit verlangt. Du warst ein noch größerer Idealist als ich.«

»Behauptest Du wie alle Welt, wir Idealisten verständen von Geschäften nichts?«

»Noch schlimmer, wenn wir sie verstehen. Ich faßte den Entschluß, meine Geschäfte mit der bestehenden Gesellschaftsordnung zu machen. Das Schlimmste, was geschehen konnte, ist eingetreten: ich habe sie gemacht.«

»Ich fühlte schon immer,« sagte Mangolf, »wenn ich nicht von Adel war, hätte ich wenigstens mittelmäßig sein müssen.«

»Alle wirklichen Lenker der Menschheitsgeschicke waren im Geistigen mittelmäßig. Gegenbeispiele gibt es nicht. Und das ist gut. Denn die Mittelmäßigen«, sagte Terra, »handeln menschlicher als wir.«

»Was haben sie schon verhindert?« fragte Mangolf wegwerfend. »Nichts«, sagte Terra. »Die Erlebnisse der Menschen sind immer dasselbe gedankenlose Elend, nur erträglich, weil gedankenlos. Mittelmäßige aber werden nicht die abstoßenden und erbärmlichen Geschicke der Menschen auf die Spitze treiben; denn sie werden weder versuchen, sie in freundliche und edle zu verwandeln, noch werden sie Katastrophen, die einfach im Wesen des Menschen liegen, zur Höhe des Gedankens erheben wollen. Daher können sie selbst auch nicht zu Verbrechern herabsinken, wenn beides natürlich fehlschlägt, wie unter Menschen jede geistige Absicht immer fehlschlägt. Mit Mittelmäßigen als Führern haben die Menschen einige Aussicht, dem Schlimmsten zuletzt noch zu entgehen. Vor allem bleiben die Mittelmäßigen als Führer unentwegt am Leben; ihre geistige Unehrenhaftigkeiterlaubt es ihnen. Nun ist aber Sterben das einzige Unverzeihliche, – wie die lebenstüchtigste Person, die wir kannten, mir einstmals einprägte.«

»Und wir sterben!« Mangolf empörte sich. »Wir sterben, weil wir geistig ehrenhaft sind!«

»Nein«, sagte Terra. »Sondern weil wir nicht auch Gegengifte in uns tragen für unseren anspruchsvollen Geist.«

»Welche Gegengifte?«

»Verachtung und Güte. Du hattest nur die Verachtung.«

»Du nur die Güte.«

»Ich danke Dir, mein lieber Wolf. In diesem Augenblick hast Du mehr davon, als ich. Wahrscheinlich war ich niemals gut. Meinem Wunsch, den Menschen zu helfen, entsprach gerade so viel geistiger Stolz, wie Deinem Bestreben, sie für Deine Zwecke zu gewinnen. Wir haben beide durch Stolz gesündigt.«

»Das ist theologisch gedacht.« Mangolf zeigte Strenge. »Ich hoffe, daß Du Dich so weit denn doch nicht vergessen hast.« Terra, wegblickend: »Man überlegt, wie es wäre, wenn es wieder anfangen könnte.« – »Genau so«, sagte Mangolf. »Lieber, als einfach nur lügen und erwerben, will ich nochmals fallen und zugrunde gehen.«

Terra dagegen: »Es fragt sich, ob wir das nächstemal nicht bester täten, alles unbesehen mitzumachen, sämtliche Infamien, die nötig sind, damit ein Mensch in aller Unschuld sein täglich Brot ißt. Nach meiner Kenntnis der Dinge wäre dies sogar Gott wohlgefälliger.«

Mangolf aber: »Bleibe ernst! Seine Stunde ist da.«

Sie hingen aneinander, ihre gealterten Gesichter erwarteten inständig jedes vom anderen den Aufschluß über sich selbst. Sie hofften wie je, sich wieder zu finden im tiefsten Bekenntnis des Andern. Um einander ohne Rest zu ergründen, drängten sie aus dem Licht. Unbewußt suchten sie den Schatten, suchten Atemnähe im Winkel eines unbeleuchteten Zimmers – murmelten eifrig und geheim.

»Ich habe unerklärliche Vorgänge erlebt«, murmelte Mangolf. »Die Kraft eines Bildes, mich zu rufen und in sich aufzunehmen. Ich weiß, daß ich jenen Hügel besteigen und erst droben sterben werde. Dann fällt auch der kahle Bettler um, der mich beschimpft und als Einziger geliebt hat.«

»Ich verstehe Dich«, murmelte Terra. »Auch ich habe deutlich, wie durch Offenbarung erfahren, daß es völlig vergeblich wäre, mich erschießen zu wollen, wenn nicht auch Du Dich erschießt. Gott nimmt uns grundsätzlich nur gemeinsam auf.«

»Glaubst Du an ihn?« – »Ja«, murmelte Terra. »Es war schwer, denn ich will mich niemandem aufdrängen.«

»Kennst Du ein Mittel, ihn zu fragen, ob wir wirklich sterben müssen?«

»Was dies betrifft, verlasse ich mich einzig auf unseren gesunden Instinkt. Wären wir Beide nicht fertig bis auf den letzten Faden, wie käme uns auch nur die entfernteste Lust, zu sterben, an? Wir saßen doch, weiß Gott, mit Nägeln und Zähnen im Leben fest.«

»Es ist furchtbar.« – Der dumpfe Laut griff dem Freunde ans Herz, Terra sagte eifrig: »Gott will ganz gewiß von jedem nur das, was er leisten kann, von uns den Stolz.« Da richtete Mangolf sich auf. »Die Waffe! Der Revolver ist fort. Hier lag er.«

Terra war ihm gefolgt. »Er liegt noch dort«, – er zeigte hin. Der Revolver lag unter der Bettlampe. Mangolf nahm ihn auf: derselbe kleine Browning. »Das ist unverständlich«, sagte er. Terra fragte: »Was ist es damit?« Und Mangolf: »Sie hatten ihn neben das Bett gelegt, damit ich mich selbst erledige. Ich hatte ihn zu Boden geschleudert, das Zimmer war voll von Menschen, er war verschwunden. Jetzt liegt er wieder da.« Terra behauptete: »Dann ist der Betreffende noch immer hier.« Mangolf widersprach, sie stritten, sahen hinter die Möbel, – und erst, als hinter einem Möbel ihre Köpfe zusammenstießen, erinnerten sie sich. »Nichts ist gleichgültiger für uns, als die Erklärung, warum der Revolver wieder daliegt.« – »Andererseits gibt es nichts mehr, was interessanter wäre.« Sie lachten stumm.

Da es aber Morgen zu werden versprach auch nach dieser Nacht, sahen sie keinen Grund, die Ausführung ihres Entschlusses zu überstürzen. Er stand fest genug, sie konnten, meinte Terra, in aller Ruhe eine Flasche Wein darauf trinken. Er vollzog feierlich mit dem Freunde den Trinkakt. »Auf Deine Gesundheit, mein lieber Wolf«, sagte er; dann bemerkte auch er die ungelegene Formel. »Das war nun das Leben«, sprach er zu seinem Glas, »das war es nun.«

»Merkwürdig«, sagte Mangolf zu dem seinen, »wie viel man sich doch versprach – trotz äußerstem Mißtrauen. Es ist weit weniger geworden, – und dabei sind wir an die Spitze gelangt; wer noch zeitlich dächte, würde sagen: wir sind nicht fortzudenken.«

»Kein Sandkorn ist fortzudenken«, sagte Terra. »Aber warum es gerade zu dieser Sekunde und an dieser Stelle im fließenden Sand seine kleine, so große und wichtige Reibung ausübt, weiß allein Gott.«

Sie schwiegen; denn sie bemerkten: was sie sagen konnten, war immer gleich an demselben Ziel.

Es dämmerte, Marschmusik kam schwach fern her aus der Stille. »Da haben einige den gleichen Weg wie wir. Prost, mein lieber Wolf.« Diesmal tranken sie schon im Stehen.

»Aber sie begreifen nichts«, sagte Mangolf. »Das ist ihr großes Glück.«

»Es gibt in keiner Minute unseres Lebens etwas Wichtigeres, als unsere Schuld zu adeln, indem wir sie begreifen«, sagte Terra und förderte aus der Tasche seinen Revolver. Mangolf ergriff den seinen. Die Marschmusik näherte sich. »Die Armen!« rief Mangolf. »Sie – wofür sterben sie? Noch hundert Jahre werden sie jedem glauben, der ihnen von ihrer Pflicht und Größe spricht und nur ihr Geld will.«

»Viel länger noch. Denn sie haben die unvergängliche Leidenschaft, sich zu opfern«, sagte Terra. »Man muß wohl dabei auf seine Kosten kommen. Ich bin im ganzen Leben niemandem begegnet, der seinen Vorteil nicht gekannt hätte.« Hierbei hielten sie schon die Arme verschlungen, wie um Bruderschaft zu trinken – in der Hand die Revolver. »Wohin?« rief Mangolf, beschwingt vom Fieber der Erwartung. »In den Kopf!«

»In den Kopf«, sagte Terra.

Sie zielten, sie drückten ab. Mangolf hatte als Letztes das unbezweifelbare Gefühl, er ersteige, in Gestalt jenes Christus, leicht und glücklich jenen Hügel. Er hätte sich gesehen, – nur daß seine Augen schon brachen. Das ganze Innere Terras war inständig darauf aus, seinen Namen rufen zu hören von jener Stimme, die ihn als Letztes vormals gerufen hatte. Aber bevor seine Schwester ihn rufen konnte, fiel er schon. Sie fielen kreuzweise übereinander.

Die Militärmusik schmetterte draußen, Marschtritt und schwere Räder erschütterten das Zimmer. Mangolf und Terra erkannten von allem, was vorbeizog, weder den Stolz noch das Elend, kein wildes Gesicht mehr, kein angstvolles, keins, das noch kämpfte. Terra und Mangolf ruhten und formten ihr Kreuz.

Eine Tür ging auf, eine Gestalt, die keine Brille mehr trug, kam hervor. Sie bewegte sich geschmeidig und hielt sich kühn. Ihre bloßen Füße vermieden voll Widerwillen die Berührung mit den beiden Toten. Ohne Aufenthalt schritt sie zum Fenster, öffnete es stark und rief gellend hinaus in den blitzenden Kriegstag: »Hurra!«

 

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