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Fünftes Kapitel.
Liebwalde

Dies alles aber machte, daß Terra es vor Sehnsucht nach Lea nicht aushielt. Schwester! nur Du kannst fühlen, was ich fühle. Die, die ich liebe, ist eine fremde Frau; nur soweit sie Dir nahekommt, können wir uns begegnen. Du gleichest allem, was mich ergreift. Die Augen, in die ich, länger als in alle anderen, zu blicken bestimmt bin, werden von anderer Farbe, anderer Art als Deine, und doch Deine sein. Ich werde mit der Frau, die ich liebe, um mein Dasein kämpfen, wie Du mit dem Mann, der Dich verrät. Wir werden uns noch oft die Hände reichen. Wo bist Du, komm doch!

Er telegraphierte ihr nach Frankfurt und erfuhr erst auf diesem Wege, daß sie schon in Berlin sei. Was ging denn vor, daß sie sich nicht meldete? Auf dem Gang in ihr Hotel vergaß er die Besorgnisse und brannte einzig, von sich zu ihr zu sprechen. Im Hotel verboten es die ortsüblichen guten Sitten, daß er ihr Zimmer betrete. Sie ward geholt, und drunten, zwischen Portier und Hausdienern sagte sie nur, zerstreut und unruhig, daß sie ins Theater müsse. – Ob es eilig sei, fragte er. »O! ich werde hier viel Zeit haben.«

»Eine solche Rolle!«

»Ich wollte Dir etwas sagen.«

»Ich habe Dir sogar viel zu sagen« – und keiner sah, wie sehr der andere mit sich allein beschäftigt war. Als Terra sich darauf besann, wer neben ihm gehe, sagte er, erschrocken stehen bleibend: »Ich bin unbedingt zu Deiner Verfügung.«

Sie lächelte mit Wehmut und leiser Bitterkeit. Dies hieß »ganz Dein« – und war eine der scheuen und nur darum theatralischen Wallungen ihres Bruders, die doch nie zu etwas geführt hatten. Flüchtig dachte sie: »Wenn er, wie ich, Komödie spielte, vielleicht würde er im Leben sich ernster nehmen!« Er fühlte im selben Augenblick, wie Schwester und Geliebte ineinander übergingen, als das gleiche, seine ganze Hingebung heischende Wesen. Hätte er zu ihr sprechen dürfen, wie er fühlte!

Sie betraten eine leere Konditorei, Lea sagte: »Weißt Du nicht, daß das Stück verboten ist?« Da verfärbte er sich; er wollte nicht erraten, wer hinter dem Verbot stand. »Kein Wort weiß ich. Was erfährt man von dem Nomaden Hummel. Unbegreiflich, ein harmloses Stück im Grunde!« – sehr erregt.

»Es muß nicht dem Stück gelten«, sagte sie gleichgültig. Er vermutete eifrig: »Vielleicht ist der Verein Weltwende verdächtig, der Direktor des Theaters unbeliebt? Es gibt persönliche Gründe ...«

»Die gibt es wohl.« Einen Augenblick schien sie mehr sagen zu wollen. Die Bedienerin, die zuhörte, verhinderte es. Er zahlte schnell, sie fuhren in das Theater. »Heute soll ich erfahren, ob es endgültig ist.« Er sagte zuversichtlich: »Im Verein Weltwende sitzen einflußreiche Leute. Man verbietet nicht ohne weiteres ...« Sie schwieg, bis er verstummte.

Im Bureau des Theaters, wo an dem Verbot kein Zweifel mehr bestand, vertrat Terra mit Nachdruck die vertraglichen Rechte seiner Schwester. Als außer Reisegeld nichts bewilligt wurde, schlug er Lärm, worauf man kühl bedauerte. »Die Herren unserer Damen haben keine kontraktlichen Befugnisse. Ihr Fräulein – Schwester wird selbst am besten wissen, woran sie ist.« Plötzlich beruhigt, sagte er: »Sie haben ganz recht. Es ist ein unglücklicher Zufall, nichts weiter«, und er folgte ihr. Sie führte ihn in ihre Garderobe. »Ich sage Dir alles.« Strahlend elegant stand sie in dem trüben Hofzimmerchen mit den herabgerissenen Tapeten, zerbrochenen Spiegeln, den Resten von Schminken, dem Blechkübel voll Spülwasser. Das Licht, von einer gelben Mauer zurückgeworfen, machte ihre helle Hautfarbe fahl und künstlich, es vergröberte die Nachhilfe an Lippen und Lidern. So jung der Fluß der Arme und Hüften, so für den Erfolg geboren, – und doch gemahnte sie ihn jetzt und hier an eine andere. Gesehen in der zweideutigen Werkstatt solcher Schönheit und die schöne Maske schon durchbrochen von der bitteren Enttäuschung, die das Herz füllte, ward sie zur Frau von drüben, ein Bild mit jener, ein Schicksal. Er zitterte um sie bis in das Herz – und merkte, er zittere nicht nur um sie, auch für die andere, die er liebte. Alice, Lea! Geliebte, Schwester, und die Dirne, welche Einheit schloß sich und ergriff ihn!

Jäh beugte er sich auf ihre Hand – die Hand, die schon das Mädchenhafte aufgab und erhabenes Fleisch ward. »Ich sage Dir alles«, wiederholte sie, in sich verloren; und er, sehr zart: »Ich sag' es statt Deiner. Er hat das Stück verbieten lassen, damit Du in Berlin nicht auftreten könnest, oder nicht so auffallend auftreten.«

»Du weißt es schon?«

»Wenn nicht ich selbst in meiner gewissenlosen Unbedachtheit ihn auf Dein Gastspiel hingewiesen hätte: wer kommt denn, außer ihm, so leicht dafür in Frage, ein Stück verbieten zu lassen, aus Eifersucht auf eine Schauspielerin.«

»Eifersucht? Du verstehst doch nicht. Er schämt sich meiner. Er hat gesagt –«

»Dir ins Gesicht?«

»Er hat mir gesagt, er sei schon belastet genug in seiner Stellung, neue Gefahren ertrage er nicht.« Kleine, leidende Stimme, seltsam heiße Augen. Der Bruder lachte auf, wie toll. »Das kenne ich, aber er wird sie wohl oder übel ertragen müssen. Sollte es ihn den Kragen kosten, so werde ich ihm jedenfalls die furchtbare Reue erspart haben, die unausbleiblich ist, wenn er Dich noch weiter auf langsamem Feuer zu Tode brät.«

»Sprich einmal nicht, tu' es!« – fordernd aufgereckt. Er ging, Rauch ausstoßend, zwischen den Schminktischen umher, jedesmal fünf Schritte vom Fenster zur Tür. Mit einem Ruck hielt er an.

»Ich entführe nächstens die Tochter seines Chefs. Ich gehe mit ihr durch, er als mein Freund kommt in den Verdacht der Beihilfe und ist erledigt. Du bist gerächt, wie selten eine Frau.«

Sie stutzte. Noch zögernd fragte sie: »Liebst Du die Komtesse Lannas?«

»Ich denke nicht daran«, rief er mit der prahlenden Stimme, die seiner Schwester bekannt war.

»Jetzt weiß ich Bescheid. Was wolltest Du mir gestehen?« Da schloß er die Augen – öffnete sie und sah hilfesuchend auf seine Schwester. »Ich weiß es nicht. Sie gefällt mir kaum wie eine Frau, und läßt mich doch nicht los. Sie ist ein unausgewachsenes Kind, und überdies geistreich wie ein Mann, was tue ich mit ihr. Aber wenn ich denke, daß ich sie nicht mehr da wissen, sie niemals zu mir her zwingen und mein machen sollte, tut sich das Grab auf.«

Die Schwester umfaßte seinen Arm; erfahren und sachlich: »Geh nicht zu weit! Unsereins ist nie sicher, wie es endet ... Liebt sie Dich?«

»Liebe denn ich sie? So unaufgeklärt wie mit mir, dürfte es mit ihr stehen.«

»Ihr seid Kinder! Du wirst sie nicht entführen. Du liebst sie zu sehr, um ihr zu schaden. So sind wir nicht«, sagte sie tröstend – und auch bittend. In einem Aufschluchzen: »Wir leiden lieber selbst.«

»So steht es also; und soll immer und ewig so stehen? Wie er Dich wirft, so fällst Du?«

»Tu' nichts gegen Mangolf!«

Der Name entrang sich ihrer höchsten Not; ihm blieb nur übrig, den Kopf zu senken. Sie flüsterte: »Auch er muß Enttäuschungen erleben, so viele, so viele, bis ich seine Zuflucht bin. Ich warte.«

»Vor einer Weile würde ich über dies Wort getobt haben«, schloß er, und sie wandten einander den Rücken, um jeder für sich zu weinen.

 

Beim Wiederherstellen ihres Gesichtes sagte sie: »Ich habe nämlich eine Rache vor, die er mehr spüren soll als Deine, Lieber.«

Er fuhr herum, er hörte die grelle, voraussetzungslose Stimme der Frau von drüben.

»Hier ist ein Herr von Tolleben ...« Sie puderte sich die Nase, blies die Staubwolke fort; dann: »Durchaus Kavalier. Soll sogar sein Kollege sein, das könnte ich brauchen.«

»Er ist sein Kollege.«

»Nun gut, dann geh' ich mit ihm auf eine kleine Reise, gleich nach Weihnacht.«

»Das wird nicht tunlich sein, mein Kind. Er heiratet.«

»Ist es wahr?« Sie legte alles fort, was sie in der Hand hielt. »Dann lohnt es sich erst. Ein Kavalier geht seiner frischgebackenen Ehefrau mit einer Künstlerin durch, kommt das in die Zeitung?«

»Man kann dafür sorgen.«

»Ich lege den größten Wert darauf. Mein Name darf ausgeschrieben werden.«

»Ich danke Dir, es ist auch meiner.«

»Wer bist Du? Wer sind wir? ... Aber der richtige Privatsekretär eines richtigen Ministers wird sich blind daran lesen. Lieber würde er seinen eigenen Namen in der Gerichtschronik sehen. Meinst Du denn, er liebt mich nicht?«

»Auf seine Art.«

»Seine Art braucht Prügel, die kann er haben.« Sie lachte, es sollte gemein sein und klang überreizt. »Von ihm wird in der ganzen Geschichte nicht die Rede sein, aber er wird niemandem ins Gesicht sehen können, – und wenn er zum Kaiser befohlen wird, er schließt sich ein und denkt an mich. Der denkt an mich.«

»Prachtvoll!« entschied er und bewunderte sie von oben bis unten. »Aber bringst Du es fertig?«

Als Antwort stieß sie die Tür auf. Im Gang stand Tolleben. Sein Schreckensgesicht erfuhr beim Anblick Leas eine Verklärung, die niemand für möglich gehalten hätte; fast rührte es Terra. Als er endlich auch Terra gewahrte, ging sein Ausdruck in ein wahres Entsetzen über. »Schon wieder Sie?« murrte der fassungslose Bismarck. »Ich kann nichts dafür«, beteuerte Terra. »Mein Bruder«, stellte Lea vor. Da reichte Tolleben ihm die starke Rechte, wenn auch zögernd und betreten. »Ich führe nichts Böses im Schilde«, beteuerte Terra. »Wir haben die gleichen Damenbekanntschaften, nehmen wir es als Schicksal hin.«

Dieser philosophische Standpunkt des vorgeblichen Bruders gab dem Mann der Ehre und Tat seine volle Überlegenheit zurück. Nachlässig erklärte er: »Denken Sie – und ich kam ursprünglich wegen der anderen Dame her, die wir beide kennen. Sie soll in einem Ausstattungsstück auftreten.« Dann bemächtigte er sich der Begleitung der Schauspielerin durch die engen Gänge des Theaters und ließ den Bruder hinterher gehen. Beim Ausgang entschied sie sich dafür, sogleich in ihr Hotel zu fahren. »Mein Bruder wird mir packen helfen.« – »Auf alle Fälle werden wir frühstücken müssen«, sagte Tolleben und sah nebenbei den Bruder an. Terra dankte, worauf sofort auch Lea dankte. Sie winkte schon einem Wagen, der aber nicht anhielt. So ging sie an der Seite Tollebens weiter. Terra ließ sich durch Entgegenkommende von ihnen trennen, er hörte aus ihrem Gespräch:

»Sie spielen mit mir.« – »Ich habe hier tatsächlich nichts mehr zu suchen.«

»Sie wissen nicht, wen Sie vor sich haben. Ich bin der Mann der rücksichtslosen Leidenschaft.« – »Haben Sie nicht einen Kollegen, der nächster Tage heiratet?«

»Ich bin und bleibe ein freier Mann. Geld kauft höchstens sozial. Die Rechte meines Herzens behalte ich mir vor.« – »Haben Sie zehn Pfennige bei sich, für den Leierkasten?«

»Für Ihren Besitz ist mir nichts zu verrückt.« – »Dann reden wir vernünftig!«

Worauf die Stimmen sich senkten, jetzt kam der Fluchtplan. Terra, in einigem Abstand, überlegte: »Der Gedanke könnte von mir sein. Sie ist meine Schwester, sie lernt vom Leben. Ich dürfte ihn nicht gehabt haben, wie würde man das nennen! Da aber sie selbst den Gedanken gehabt hat, läßt es sich am Ende verstehen, wenn ich ihn ausbauen helfe ...«

Am Droschkenstand reichte sie beiden Männern die Hand. Sie sahen ihr nach; als Terra den Hut zog, um zu gehen, sagte Tolleben, mit tückischem Auge: »Die sogenannte Fürstin hat ihre besten Tage schon gesehen, sie läßt nach, grüßen Sie sie.« Terra zog nochmals den Hut, indes Tolleben ihn nur berührte.

Der Bruder begegnete, zwei Tage später, der Schwester noch einmal. »Was gibt es Neues?« fragte sie ihn.

»Ich hatte eine Unterredung mit Kurschmied.«

»Er ist hier?«

»Schon wieder abgereist. Deine eigene Reise fällt also auf den Sylvesterabend, so passend wie möglich.«

»Ich werde Paris sehen, mein Lieber.«

»Die Neuvermählten hatten dieses Ziel. Ich würde es pietätlos finden, wenn Du dasselbe wähltest. Du wirst, bitte, den Kavalier bestimmen. Dir Mailand zu zeigen.«

»Was führst Du nur im Schilde?«

»Sei ohne Sorge – besonders im Falle, daß Du dort auf Kurschmied stößt ... Und nun laß mich Dir beichten, daß ich zum erstenmal im Leben ein glücklicher Mensch bin. Ich stehe im Begriff, nach Liebwalde zu fahren. Sie hat mir geschrieben.«

»Wie das schön klingt, Liebwalde.«

»Spotte nicht!« Dieser Ton, dieser Blick sagten ihr, was alles er fühlte. »Geliebt!« fühlte er. »Auch ich! Endlich! Nach so vielen Demütigungen und bitterstem Versagen nun dennoch die Erfüllung, was wäre also unmöglich. Ich werde die Hindernisse des Lebens überfliegen, anstatt sie niederzukämpfen. Erfolge gehören dem Glücklichen. Zuerst glücklich sein!«

Sie sah ihn an, mit etwas Neugier, etwas Mitleid. »Laß Dich nicht zu tief ein!« wiederholte sie. Er fragte: »Und Du selbst?«

»O! ich ...«

Hieß es: »Ich bin gefeit« oder »Ich bin verloren«?

 

Er hatte nicht gewußt, wie tief sie in ihm festsaß, Alice Lannas, ein Mädchen aus anderen Welten, »von drüben« wie nur eine und schon in ihn verwachsen, schon halb sein Leben. Bevor ihr Brief kam, wußte er es nicht. Er ging noch umher, fast wie ein freier Mann, tat seine Arbeit, hing Plänen nach, ergab sich Leidenschaften, die nicht ihr galten. Sie schrieb; alles andere war aus, lag unausdenkbar weit zurück; wirklich blieb nur sie, nur sie. In dem Nahzug, der ihn zu ihr trug, klopfte das Herz ihm, bereit zu entfliegen, vor ihm her nach dem Glück. Er staunte vor der Klarheit des Mysteriums, das Leben hieß; im Hämmern der Räder, Klirren des Windes und in den eigenen Pulsen ihren Namen hören, hieß alles verstehen, über alles Herr sein. Er handelte, da er zu ihr fuhr. Um zu handeln, war er ihr nach Berlin gefolgt.

Erst bei der Ankunft – ein Wagen stand da und neben ihm nur Mangolf, Terra stieg langsamer aus als er noch soeben gedacht hätte, jetzt erst bemerkte er, daß er, anstatt zu handeln, fühlte, und nur noch strebte zu fühlen. »Was will ich hier. Was könnte ich denn wollen.« Sein Kommen war ein Rückfall in das Zwecklose, er verzieh ihn sich nicht. Noch immer Narr Deiner Träume, noch immer nicht Mann, – und dastehen im wässerigen Schneefall, mit dieser Episode von Liebe, zu spät für den Jüngling, zu früh für den Mann.

Betäubt von dem jähen Umschlag seiner Lage, ging er Mangolf entgegen. »Da bist Du wirklich.« Mangolf schien die Lage noch fragwürdiger zu finden als er selbst; dies gab Terra seine Fassung wieder. »Wollen wir uns noch lange wundern, daß wir beide in dieser Privatequipage sitzen?« – und er schlug den Freund auf das Knie.

»Die Komtesse Lannas hast Du wohl nicht darin erwartet?« fragte jener.

»Warum so schicksalsträchtig? Ich komme, mich als junger Mann zu unterhalten. Mir kann nichts von Belang hier zustoßen.«

»Das denkt jeder am Anfang. Aber dann verlierst Du die innere Freiheit, um noch loszukommen. Deine Zwecke sind vor Gegenwirkungen nicht sicherer als die meinen.«

»Du läßt mich erlittene Fehlschläge ahnen.«

»Heute Nacht fährt Tolleben in das Industriegebiet und morgen weiter, mit seiner Frau.«

»Noch dürfen wir auf unvorhergesehene Zwischenfälle rechnen«, sagte Terra. »Ist Dir an Tolleben nichts aufgefallen? Ich halte ihn für eine Verbrechernatur, die über Leichen geht.«

»Man hat dazu nicht immer Gelegenheit.«

»Er haßt Knack, der ihn durch die Heirat vollends in die Hand bekommt, er verachtet die Heirat. Ein ehrenhaftes Auskunftsmittel wird sich finden, um die Frau wieder loszuwerden und die Mitgift zu behalten. Würdest Du eine Unzukömmlichkeit darin erblicken, dem Fräulein Knack Deinen Namen zu geben, wenn sie Frau von Tolleben heißt?«

»Wie soll ich es wissen, es hängt von den Umständen ab.«

Terra, der diese Umstände im Voraus beeinflußt hatte, empfand das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen. »Ich habe Abschied von Lea genommen«, äußerte er mit Bedeutung; und auf das Schweigen Mangolfs: »Bewundern wir die Landschaft!« Worauf beide sich stumm damit beschäftigten, hinter dem Vorhang wässerigen Schneefalles dem Treiben grauen Eises zu folgen auf dem Fluß, an dem sie entlang fuhren.

Es dunkelte stärker, ein Hund schlug an. »Wir sind im Park«, verkündete Mangolf, und Terra bemerkte, daß sie jetzt, statt durch Kiefern, zwischen Buchen fuhren. Eine Allee voll welken Laubes endete dahinten unter einer weithin sichtbaren Terrasse. Terra hatte den Eindruck der Großartigkeit: bleicher Stein, herschimmernd aus den dunkelnden Tiefen des Gefühles für Abstand. Der Wagen bog aber ein und hielt seitwärts vom Haus, da erschien es sehr einfach, weißer Bewurf, oben Holz, ein Schindeldach, und Dielen und Treppen eingetreten, wie in einem alten Landwirtshaus. Das Obergeschoß, ein viereckiger Vorplatz, drei Türen, und zwischen ihnen, im Schein der aufgehängten Petroleumlämpchen, gutbürgerliche alte Familienbilder. »Gegenüber wohnt Tolleben, ich links. Du rechts«, sagte Mangolf und öffnete dem Ankömmling sein Zimmer.

Er fand darin abgelegte Möbelstücke aus einem veralteten Heim, aber im Bett Spitzenwäsche und eine seidene Steppdecke, – was alles er sich ins Gedächtnis prägte, es waren Dinge aus ihrer Nähe, dies war sein eroberter Winkel unter ihrem Dach. Er stellte sich vor das kleine, dem First schräg eingefügte Fenster, zog die rote Gardine fort und sah in die Nacht, um ganz zu fühlen, wo er sei. Unvermutet traf ihn ein süßer Duft, eine Hyazinthe stand auf dem Fensterbrett. Er erschrak, dann schoß ihm das Blut nach der Stirn: sie war hier gewesen! Ihre Hand hatte den Topf mit dieser Blume getragen, und ihn, ihn empfing sie damit. Kein anderes als nur sein Zimmer enthielt von ihr dies Zeichen, sein innerstes Herz erriet: dies Versprechen.

Er schrak auf, ein Hausmädchen meldete, daß in einer halben Stunde zu Abend gegessen werde. Eilends angekleidet, ging er hinunter, öffnete auf gut Glück eine Tür und war in einem Wohnzimmer, wo eine einsame Wanduhr ihren Perpendikel schwang. Sonst kein Laut. Saß jemand hinter dem Schreibtisch? Für alle Fälle verbeugte er sich, aber es war nur ein Schatten, die Lampe hatte man sparsam heruntergeschraubt. Wie er stand und abwartete, schien dennoch ein Flüstern da zu sein – nicht vor dem Fenster. Die Stimme, die er kannte, flüsterte so nahe wie eine Beichte in sein Ohr, er mußte sie hören! Das Fenster ging auf, wie er es nur berührte; um das Haus her, von der Terrasse wohl, kam die Stimme. »Wie bei denen alles stimmt! Man möchte weinen, daß das Leben so leicht sein kann.« Eine andere: »Ich glaube nicht, daß es gut ausgeht, wenn so schnell alles stimmt. Man muß lange dem Zufall gehorchen, glaube ich, bis er uns endlich führt, wohin wir sollen.«

Ein Seufzer. »Du, Erwin, begleitest die andern. Wohin Du sollst, ist Dir gleich. Wie Bella Knack, wirst auch Du Dich mit dem meisten auf der Welt abfinden.«

»Nicht, wenn Du unglücklich wärest!«

»Wie wir doch verwandt sind, Erwin! Wir haben gleich viel Unruhe in uns; nur daß Du Dich treiben läßt, und ich dränge.«

»Kleine Alice, wer quält Dich, daß Du weinst?«

»Niemand. Werde nicht wild, an Niemand hast Du Deine Schwester zu rächen. Es ist kein Einzelner, es ist das Leben, wie ich es sehe – meistens nur zum Durchschautwerden gut, heute Abend zufällig auch zum Beweinen.«

Pause. Zärtlich zitternde Bruderstimme: »Bei alldem hast Du schwerlich das Talent, Dich in die passende Partie zu verlieben.«

»Du kannst auch die Augen aufmachen? Wenn es dunkel und Niemand dabei ist?«

»Alice, ein Wort. Die Gräfin Altgott hat mich vor Herrn Terra gewarnt. Herr Terra sei nicht, der er scheint. Er sei ein Intrigant.«

»Ich wollte, es läge so einfach«, – konnte Terra noch hören, dann drückte er das Fenster zu, die Tür hinter ihm ward geöffnet.

»Ah! da sind Sie, – wie ich dachte«, sagte die Gräfin Altgott. Pause. Lorgnon. »Sie gelangen geräuschlos in die Häuser, man trifft Sie plötzlich in einem dunklen Zimmer.«

»Ihre Erfolge, Gräfin, hat immer gleich ein ganzes Orchester begleitet.«

»Jeder hat sein Verfahren.«

»Und der Zufall ist das beste.«

»Sie wollen nur durch Zufall hier sein? Ich beglückwünsche Sie, nicht einmal beim Theater bin ich einer solchen Zielbewußtheit begegnet.«

»Gräfin überschätzen mich. Dieser jähe Angriff! – als lebte meine Wenigkeit hier auf dem gleichen Fuß mit Ihnen«, worauf die Altgott sich abwendete und die Lampe hinauf schraubte. Veränderten Tones:

»Sie haben Recht. Ich bin länger hier als Sie, ich kann Ihnen raten. Die Komtesse Alice ist nicht, die sie scheint.«

»Ach! auch sie nicht? Wie ich, also.«

»Ihnen zeigt sie sich natürlich vor Allem vorurteilsfrei.«

»Sie zeigt sich mir freimütig, klug, ihrer selbst ganz sicher.«

»Das leugne ich nicht« – schnell einfallend. »Aber läßt erst die Welt sie fühlen, das alles genüge nicht, dann verdenkt sie Ihnen auf einmal ein Wort hinter dem Fächer, wo sie Ihnen früher erlaubte, zwischen vier offenen Türen mit ihr zu flirten, und Ihre Tage hier sind gezählt.«

Er sah, ein Entschluß drängte. »Ich kann Ihnen mein heiligstes Ehrenwort geben, daß ich in keinem Augenblick meiner Bekanntschaft mit ihr, die Komtesse Lannas für etwas anderes gehalten habe, als eine Komtesse Lannas.« Mit dem feurigen Schmerz seiner Augen: »Hinter ihr wetterleuchtet keine Magie von sechs- bis achthundert Wagneraufführungen, keine blutschänderischen Heldinnen wecken durch ein solches Medium das Herzklopfen wieder auf, das den Jüngling mit den Chrysanthemen vor Ihrer Garderobe, Gräfin, einst befiel.«

»Sie sagten: Orchideen« – wie geistesabwesend. Er sah, sein Entschluß war richtig. Die Augenlider der vergehenden Schönheit wurden schwer, ihre grobknochigen Glieder weich; er hielt halb die Arme hin, falls sie fiele. Sie hatte sich aber zurück. »Ich spreche nur als Ihre Freundin – Ihre ältere Freundin. Unsere Stellung hier hat vielleicht einige Verwandtschaft. Mein Titel ist in diesen Kreisen nur eine schwache Entschuldigung für meine Vergangenheit.«

»Ihre große Vergangenheit.«

»Ich habe mein Eindringen, ganz wie Sie, zu rechtfertigen durch ungewöhnliche Zurückhaltung.« Er brachte ihr die Arme noch näher. »Ich entbehre viel«, gestand sie, sich sinken lassend. Er setzte sie aber sogleich in einen Sessel ab, den er von dem Licht wegdrehte. Nur auf ihrem Haar funkelte es rötlich. »Wie viel Zartgefühl«, sagte sie bewundernd.

Er nahm seinen Platz nahe an ihren Knien, er erklärte rund und sachlich: »Wir wären schön dumm, wenn wir uns genierten.«

Hierüber erschrak sie, in einer Regung von Heuchelei entfuhr ihr die Wahrheit. »Man legte mir nahe, ein gutes Werk zu tun, indem ich die arme kleine Alice von ihrer Versuchung befreite.«

»Ah! Sie nehmen das Kreuz auf sich, – und wer hat es Ihnen nahe gelegt?« Er dachte: Derselbe, der Sie vorschob, um den jungen Erwin vor mir als Intriganten zu warnen.

»Ich habe sogleich gesehen, daß wir zusammen gehören«, sagte sie, abermals erschrocken; und er: »Alles spricht dafür«, – wobei er die Hände von seinen Knien auf die ihren schob. »Wir haben einander nichts vorzuwerfen und Niemandem Rechenschaft abzulegen, der nichts merkt.«

Aus nächster Nähe kam eine Weisung, die Lannas gab. Die Altgott erhob sich fluchtartig. »Gehen Sie hinaus! Betreten Sie vom Gang her das Nebenzimmer!« – Er tat es und fand die Hausgenossen schon bei Tisch, Lannas, seine Kinder, Mangolf und Tolleben, nur leise redend. Mangolf musterte mißtrauisch den Sicheinstehlenden. Aber Lannas reichte ihm beide Hände, er atmete laut auf, mit ah und oh, – als hätte er Bedrückung erlitten. Das Willkommen der jungen Gräfin war großäugig, ernst, noch geweiht von der Lebenswehmut, die aus dunkler Nacht, aufgefangener Hauch, seine irrende Seele berührt hatte. »Wo war ich seitdem, was ist soeben geschehen!« – und er schlug den Blick vor ihr nieder. Sogleich aber ward er sich bewußt, daß er schlechthin alles geschehen lassen werde, was ihn davor bewahren könne, nicht mehr unter diesen Augen zu leben.

Der junge Erwin verband mit seinem zerstreuten Lächeln einen Händedruck, gegenwärtig und bedeutungsvoll. »Wir verstehen uns«, sagte der Druck. »Gegen die gute Meinung, die meine Schwester von Ihnen hat, kommt keine Warnung auf.« Wohingegen Tolleben den Kopf kaum rührte, als Terra ihn grüßte. In umso ausgewählteren Floskeln stattete Terra ihm seinen Glückwunsch zu der bevorstehenden Vermählung ab. Der Junker zog nur die Lippen von den Zähnen, die geschlossen blieben. Da Stille eintrat, äußerte Lannas: »Hier unter dem Christbaum haben sie sich verlobt, man konnte es nicht rechtzeitig verhindern.« Aber auch dies fand kein Echo, zum Glück erschien gerade die Altgott. Sie war vergebens in ihrem Zimmer gesucht worden. »Ich schrieb nebenan einen Brief. Man hörte euch nicht.« Ein Blick, den sie mit Mangolf tauschte, nahm Terra jeden Zweifel.

Die sorgenvolle Stirn des Staatssekretärs, das Schweigen, das er verbreitete, seine Art, an Tolleben vorbeizusehen, alles bekundete, daß ihm etwas in die Quere kam. War es nicht diese Heirat? Das Bündnis seines Mitarbeiters mit Knack, das beide gegen ihn stärkte? Er konnte Drohungen fühlen für seine Unabhängigkeit, seine Zukunft. Lannas verstand es, sich dem Kaiser angenehm zu machen, während er ihn dämpfte, und dem Reichstag in beinahe gefälliger Form den Maulkorb anzulegen. Er war bisher auch mit dem Militär im Reinen, sie hielten ihn für ihren Vertrauensmann. Hier erhob sich die erste weittragende Gefahr gegen den glücklich Geborenen. In demselben Augenblick aber war er glücklich genug, die Hand auf einen jungen Mann zu legen, der nach menschlichem Ermessen niemals in seinen Kreis hätte Eingang finden können, und eben dieser, zufällig mit Tolleben verfeindet, brach der Gefahr den Hals. Terra sah: »Ich will Tolleben stürzen, weil ich Familiensinn habe – aber nur deshalb? Würde ich so von Grund aus gegen ihn vorgehen, wenn ich ihn nicht auch auf Schleichwegen gegen seinen Chef ertappt hätte?« Er fragte weiter: »Und wie komme ich dazu, für diesen behäbigen Egoisten den Finger zu rühren? Er ist ihr Vater.«

Es wollte ihn beklommen machen. Er war hier, ging Verbindungen ein und handelte unvorhergesehen, weil er ihr gefolgt war. Sie sprach zu ihm; er antwortete ruhig, und unterhalb der ruhigen Stimmen verständigten sich ihr und sein Herzschlag. Er sprach nicht anders als nach links, zur Altgott, und nahm dabei noch den Raum in sich auf, das weite und niedrige alte Landzimmer, in dessen bequemster Ecke der runde Tisch den Schimmer der Wachskerzen sammelte. Eine Lampe mit tiefem Schirm beleuchtete in der Ferne eine plumpe Empirekonsole aus der schlechten Zeit. Von hier bis dorthin glänzten an den verstreuten Möbelstücken nur die bronzenen Beschläge in dem Halbdunkel. »Dies ist der Raum, durch den mein Schicksal schwebt. An mir ist es, zuzugreifen.«

Seine innere Gespanntheit verriet sich wohl dennoch, Graf Lannas unterbrach das erste Mal sein Schneiden und Kauen, um ihm zuzunicken. »Ich vergesse Sie nicht, mein junger Gast. Später, wenn es im Hause ruhiger geworden ist, erwarte ich Sie bei mir zu einer kleinen Aussprache.« Wobei er nach der Tür links wies. »Wo soll ein Staatsmann, der für die Nachwelt wirkt, irgend eine Bestätigung suchen, wenn nicht bei der geistig gerichteten Jugend.« Mit einem nicht ganz eindeutigen Lächeln ging er wieder an seinen Teller. Tolleben sagte ohne Umschweife:

»Wenn Sie mich fragen, sooft ich von der geistig gerichteten Jugend höre, bin ich für Unteroffizier Piefke.«

Pause. Mangolf und Terra sahen einander fremd an. Dann äußerte die Tochter des Hauses: »Und wenn Niemand Sie fragt?« – Aber Terra, der ihr hätte danken sollen, fühlte vielmehr Erbitterung, weil sie ihn in Schutz nahm. »Ich, abhängig von ihr, – die nicht standhalten wird.« Was die Altgott ihm über sie eingeträufelt hatte, wirkte plötzlich. Verletzt im Innersten, bäumte er sich auf, ballte seine Serviette zusammen und war im Begriff, sie seinem Feind an den Kopf zu werfen. Tolleben wartete es ab, unter seinen gesträubten Augenbrauen. Mangolf und Erwin sahen nichts oder stellten sich so, Graf Lannas aß mit einer Hast weiter, als sollte er selbst auf Reisen gehen. Terra fühlte aber, von links und von rechts, seine Handgelenke umklammert.

Endlich bat Tolleben, sich zurückziehen zu dürfen, die Stunde dränge. »Sieht man Sie nicht mehr?« fragte die Komtesse Alice über die Schulter und ging, ohne auf Antwort zu warten, in das Nebenzimmer, die Altgott hinterdrein. So verschwand Tolleben vorläufig. Terra sah ihm wie verwaist nach, als Mangolf zu ihm trat. »Der Direktor hat Angst vor seinem Mohrchen«, sagte Mangolf. »Dem Schwiegersohne Mohrchens schwillt der Kamm.«

»Gott wird richten zwischen mir und ihm«, beteuerte Terra wild und war draußen.

Mangolf sah sein berechtigtes Interesse darin, festzustellen, was die Damen einander zu sagen hatten. Er überfiel den jungen Erwin mit einer ästhetischen Frage und drängte ihn, eifrig redend, in den kleinen Salon. So laut er war, verlor er doch keines der Worte, die drüben bei der Lampe fielen. Die Damen senkten zuerst noch die Stimme.

»Auch Sie sind gastlich, liebe Altgott. Ich habe mich des Gastes angenommen, als er beleidigt werden sollte. Sie haben ihn die ganze Zeit nur gefüttert, ich dachte, sie würden ihn streicheln.«

»Ich wäre bereit, es zu tun, mein Kind, damit nicht Sie es tun. Ihr Vater versteht mich.«

»Die Behauptung ist kühn. Papa hat Sie neben mich gesetzt, weil eine sogenannte freie Frau mehr sieht.« Bleich und mit unbeherrschter Stimme. Die Altgott berührte besänftigend den Arm ihres Schützlings.

»Ich nehme meine Sendung ernst. Nichts anderes brauche ich so sehr zum Leben wie meinen Ruf. Aber was ich jetzt sehe, Kind, nötigt mich zu einem Opfer.«

»Ich zittere geradezu für Sie.«

»Der Himmel verhüte, daß ich für Sie je zittern muß«, sagte die Altgott mit Würde, aber gleichfalls nicht mehr ruhig. Sie entfernte sich um einige Schritte, Bruder Erwin fand sich bei seiner Schwester ein. Mangolf begegnete wie zufällig der Altgott; sie zischte: »Durch Sie komme ich in das Unglück.« Er erwiderte: »Der Zeitpunkt kann nicht ausbleiben, da die Kleine Ihnen auf den Knien Ihre Treue dankt.«

Terra kam auf der oberen Treppe an, als Tolleben seine Tür zuschlug. Er wartete auf ihn, am Fuß der Treppe. Dann ging er vor das Haus und überzeugte sich, daß der Wagen bereitstehe, der Kutscher schon dasitze. Terra warf Blicke in den Wagen, er war versucht, einzusteigen, dort drinnen seinen Feind zu empfangen, zu der Auseinandersetzung in Atem- und Brustnähe, nach der er lechzte. Da er heftig paffend und mit vorgestrecktem Hals immer wieder vorüberging, ward der Kutscher besorgt, verließ seinen Sitz und paßte auf ihn auf, Terra mußte den Platz räumen. Ihm ward plötzlich die Gewißheit, daß Tolleben in den großen Salon zurückgerufen werde, er betrat von außen die Terrasse und drückte das Gesicht an die Scheiben. Drinnen leuchtete nur noch die Lampe auf der fernen Konsole. Sicher erschien sogleich der Feind, dann trat Terra die Tür ein und stand, der Nacht entwachsen, vor ihm. Da traf ihn ein Geräusch, als zögen schon die Pferde an. Er sprang im Schwung in den Garten, rannte um die Ecke, – und in der Tür traf er Tolleben.

»Ein Wort!«

»Ich habe keine Zeit zu verlieren.«

»Ein Wort!« – drohend und mit Verachtung drohend.

Jenem blieb nichts übrig als unter der brennenden Peitsche dieses Blickes mit halbgewendetem Kopf vor Terra herzugehen, wohin er ihn trieb. Im großen Salon angelangt, beschrieb Terra um den anderen einen Halbkreis, bevor er sich aufstellte. Noch nicht beginnen, zuerst sich weiden an dem Feind, der, abgefangen und eingeliefert, sein Schicksal erwartete. Da ist er, der Feind! Von fremder Sprache, anderen Körper- und Geistesformen, aus widerlichem Fleisch und einem Blut, das meinem Gift ist, – mordäugiges Tier der Urnacht, dem ich im ganzen Leben nur das eine Wort zu sagen haben werde: Stirb!

»Nun?« fragte der Feind und warf sich in die Brust.

»Sie wissen es.«

»Haben Sie einen Auftrag für mich, von der Dame, die zwischen uns die einzige Beziehung herstellt?«

»Wenn es wahr wäre, daß ich meine Schwester verkupple, bliebe immer noch die Frage, ob zu meinem Vorteil, oder zu Ihrem bittersten Leidwesen.«

»Haha –« aber sogleich brach das Lachen ab. In der Mitte des weiten Halbdunkels belauerten sie einander, jeder im Nacken ein leises Rieseln und die Glieder gespannt zum Sprung.

»Kommt dies auf eine Erpressung heraus?« – »Ich will Sie zwingen, menschenwürdig mit mir umzugehen.« Beides verhalten, Stirn gegen Stirn geneigt in der tiefen Vertraulichkeit des Hasses.

»Mein Umgang erstreckt sich nicht auf die Brüder.«

»Genug. Was wissen Sie von mir. Wissen gegen Wissen, wer einen Rest behält, behauptet das Feld.«

»Ich weiß, daß Sie der Bruder sind.«

»Was noch?« Mit innerem Zittern, ob das Wort fiel: »Ihr Geld! Woher Ihr Geld!« Aufstampfend: »Was noch?«

»Ihre anderen Eigenschaften kann ich mir hinzudenken.«

»Da steh' ich auf festerem Boden« – stark und frei, nach überwundener Gefahr. »Ich kenne Ihre faulen Affären, nicht nur die eine. Sie waren durch die Fürstin in Schwindelgeschäfte verwickelt.«

»Herr!«

»Sie haben sich für die Schwindelagentur eingesetzt wegen einer kaiserlichen Oper, die auch nur ein Schwindel war. Wie wollen Sie beweisen, daß Sie nicht Ihren Vorteil dabei fanden? Jemand, der mit Knack lichtscheue Abkommen schließt und dafür die Mitgift nimmt!«

»Was ahnen Sie vom Ehrenpunkt.«

»Nur die Mitgift, nicht auch die Frau! Soll ich die Tür dort öffnen und Ihrem Chef im voraus Ihre Hochzeitsreise schildern?«

Da wankte der Feind. In der Wunde graben!

»Dann wären Sie erledigt. Nach vollbrachter Reise könnten Sie sich durch Frechheit herausreißen, vorher wären Sie viel schlimmer als verbrecherisch. Sie wären blamiert.«

Was gab es da noch. Den Kopf senken. »Seien wir vernünftig«, murmelte der Feind, wehe Mordgier im Blick.

Sogleich fiel in Terra ein Erzturm ein. In dem Besiegten sah er wieder den Menschen, fühlte sein Betteln mit, schämte sich für ihn und für sich.

»Gut. Seien wir vernünftig. Sie hassen Knack, das haben wir gemein. Sie rächen sich und gehen seiner Tochter durch, die Sie reich machen würde. Ich bin Ihr Freund nicht, aber in Ihrer Art sind Sie stark.«

»Sie sind im Irrtum«, erwiderte Tolleben und seine hohe Stimme drückte schon wieder den gelassensten Dünkel aus. »Mich holt man nachher erst recht.«

Er spekulierte bloß! Er verließ sich auf die soziale Rangleiter. Baronin Tolleben war selbst nach tiefster Demütigung mehr wert als Erbin Knack. Ein Industrieller mochte die Macht beeinflussen wie sonst niemand; er konnte es nur dank dem Adeligen, der sie in Pacht hatte. Dieser Tatsachen froh, erlaubte der Beamte Tolleben sich ein Privatvergnügen.

Terra verschränkte die Arme; der Art von Feind hatte er nichts mehr zu sagen. Jener äußerte umso höher zu Roß: »Mit einem Wort, Sie verzichten auf Ihre Tätigkeit soweit sie meine Person betrifft – Herr Propagandachef?«

Terra sah ihn sich nur an und bedachte, dies da habe er vor die Damen hinzerren und abbitten lassen wollen. Da bemerkte er reichlich spät, daß das kleine Zimmer offenstand und dunkel war.

»Gute Reise«, warf er hin – worauf jener mit Feixen und Achselzucken abging. – So sahen Siege aus.

 

Terra suchte, um hiermit allein zu sein, den finstersten Winkel. Plötzlich stand er beleuchtet; die Tür links war geöffnet worden, Lannas trat darunter. »Sie sind pünktlich wie zu einer Verschwörung«, sagte er und ließ den Besucher, Auszeichnung in jeder Handbewegung, eintreten. Sein Zimmer hatte überall Vorhänge und Kissen; die Sessel, in die sie, den plüschbedeckten Tisch zwischen sich, einsanken, bestanden nur aus Kissen. Terra hatte die Aussicht auf einen Damenschreibtisch, der erhöht stand. Daneben erhob sich die Büste Goethes, und Terra dachte sich gerade die gepolsterten Körperformen des Staatssekretärs gekrönt von diesem Kopf, da sagte Lannas auch schon: »Ich habe im Goethe gelesen«, – wobei er den Finger aus einem Band nahm, den er fortlegte. Tiefer Blick. »Und ich habe dabei an Sie gedacht.« Auf das in alles ergebene Schweigen seines Gastes: »Zu entschiedenen Gesetzen berechtigt uns am Meisten, daß gerade das angeborene Talent sie am ersten begreift.« Langsam und eindringlich: »Nur das Halbvermögen möchte seine beschränkte Besonderheit an die Stelle des unbedingten Ganzen setzen und seine falschen Griffe – nebenbei, welche Sprache – unter Vorwand einer unbezwinglichen Originalität und Selbständigkeit beschönigen.«

Terra, nicht weniger ausdrucksvoll: »Eure Exzellenz sind viel zu gütig, wenn Sie meiner Wenigkeit ein angeborenes Talent zusprechen.«

»Ich wäre zu hart, wenn ich Sie für ein originalitätssüchtiges Halbvermögen hielte. Man ist auch als Talent nicht immer bescheiden.«

»Und als Halbvermögen nicht immer fleißig genug, um sich selbständig zu machen.«

Nach dieser Antwort des Gastes stutzte der Hausherr. Terra vermied es, den Blick mit ihm zu messen, dennoch gab Lannas plötzlich alles Lehrhafte auf. Von gleich zu gleich sagte er: »Ich genieße den Vorzug, Ihnen gegenüberzusitzen, weil Sie mir – selbständig – etwas zu sagen haben.« Da verbeugte Terra sich tief. »Ich bescheinige Eurer Exzellenz, wenn es dessen noch bedürfte, die weitherzigste Humanität. Aber vernünftiger Weise kann kein Zweifel darüber bestehen, daß heute Abend, von einigen Stichworten abgesehen, immer nur Eure Exzellenz das Wort haben wird.«

»Sie sind noch nicht fertig?«

Terra verstand: mit dem Studium. Er stotterte etwas von Familiengeschicken. Lannas lächelte leichthin. »Geben Sie sich keine Mühe. Ich habe viel im Ausland gelebt, ich kenne den Typ des intellektuellen Lebenskämpfers, der durch alle erfindlichen wilden Berufe und Erfahrungen hindurch, endlich wie durch Fügung doch in eine regelmäßige Laufbahn gelangt – oder auch nichts und der für das Wesen der Demokratien bezeichnend ist. Ich hatte selbst etwas davon. Ihr Freund Mangolf hat davon nichts.«

Spähend sah er herüber; von dem Verhältnis, das zwischen den Freunden bestand, hing der Gehalt des Gespräches ab. Terra legte daher Fremdheit in seinen Ton. »Ich weiß nichts ob mein Schulkamerad es seinerseits als ein Glück ansieht, daß er mit dem Leben, oder das Leben mit ihm, bisher so korrekt und programmgemäß verfahren ist ...« Erleichtert fiel Lannas ein. »Genau dies ist mein Ausgangspunkt. Herr Mangolf leistet mir vermutlich nützlichere Dienste als etwa Sie es könnten. Ich habe ihn als Beweis vor Augen, daß in unserem Staatssystem doch jeder Taugliche an seine Stelle gelangt, sogar ohne Familie und Empfehlung. Aber –« Lannas warf sich in die Kissen zurück und blickte zur Decke hinan. »Wenn es zuletzt nur darauf hinausläuft, daß das neue Element aufgesogen wird und wieder alles beim Alten bleibt?«

»Halt«, sah Terra. »Hier droht jemandem ein Unglück.« Er äußerte: »Eure Exzellenz dürften gerade mir Glauben schenken, wenn ich Sie versichere, daß Ihnen der Himmel in Ihrem Privatsekretär eine weit problematischere Natur beschieden hat als meinesgleichen je bieten könnte.«

»Einverstanden, er widerspricht mir, er zeigt Ansichten von der Gegenseite. Bevor ich mir aber die Augen gerieben habe, macht er eine Drehung, und wir stehen, wo wir standen. Seine mühevollen Umwege führen doch nur zum Jasagen. Er ist normal – um die Ecke.«

»Verdammt«, sah Terra. »Der Feind ist im Lager.«

»Nein!« behauptete Lannas und kehrte von der Decke zurück. »Habe den Mut zu Dir selbst!« Scharf faßte er seinen Partner ins Auge. »Sie waren Zeuge, wie ich den Staatsstreich ablehnte.«

Feierliche Verbeugung Terras.

»Denn ich bin Zivilist und gehe von bürgerlichen Auffassungen aus, nicht von militärischen. Mögen die Schwierigkeiten, mit denen wir uns herumschlagen, beinahe lebensgefährlich sein, ich bin als Beauftragter des Volksganzen verpflichtet, zu glauben, daß sie es nicht ganz sind.« Er klopfte sich auf die zur Verfettung geneigte Brust, – indes Terra, in einer Haltung, die schrankenlose Aufmerksamkeit ausdrückte, der Frage nachhing, wo und wann das Volksganze diesen Herrn mit irgend etwas beauftragt habe ...« »Darum,« entschied Lannas, »mich wird man nicht bereit finden, zu handeln wie irgend ein ephemerer Wagehals von General. Nichts gegen die Armee! Sie hat Preußen-Deutschland geschaffen, ich bin stolz, ihr anzugehören, ein Minister setzt ohne den bunten Rock nicht die Hälfte durch. Aber wie dieser Einsicht Bismarcks, darf ich mich auch seiner Zivilcourage rühmen. Gegen das Gewissen des großen Kanzlers kamen Generalslaunen nicht auf.« Die Stimme des Staatsmannes klang immer gereizter, er warf auf den Plüschdeckel mit dem Band Goethe umher, – während Terra bedachte, ob nicht jener Bismarck nur darum mit den Generalen so gut ausgekommen sei, weil zwischen ihren und seinen Neigungen nicht genug Raum für Konflikte blieb? Lannas rief aber, heiser drohend, und stand plötzlich da wie ein Monument: »Ich abhängig, von Kriegsindustriellen und Offizieren, die miteinander Verträge schließen, unter Beeinflussung meiner nächsten Umgebung? Man überschätzt meine Geduld!« Dumpfer Schlag des Goethe.

Terra sah zweierlei: wo der Freisinn des Ministers die Quellen seiner Kraft hatte – und daß Lannas nicht so sehr der Betrogene war wie die Betrüger glaubten. Auch er stand auf, er wartete ehrerbietig. Was geschah nun seitens dieses selbstbewußten Zivilisten behufs Zurückweisung der militärischen Vordringlichkeit? Lannas verlängerte die Spannung, er erstieg die Stufe, die zum Damenschreibtisch und der Goethebüste hinanführte, stellte sich zwischen beide und ergriff seinen riesenhaften Bleistift, vom selben Umfang wie die Bleistifte Bismarcks. Aufklopfen auf den Damenschreibtisch, wie für ein Orchester, und der Staatsmann stimmte an.

»Ich werde als leitender Staatsmann die Flotte bauen.« Taktschläge in die Luft; das ausgesprochene Wort zitterte nach. »Niemand soll sagen können, ich hätte kein Empfinden für die Vormachtstellung des Reiches zu Wasser wie zu Lande. Ich übertrumpfe die Militärs.« Großer Schwung des Riesenbleistiftes um das Haupt Goethes. Langsamer, inhaltschwerer: »Das hieße noch nichts, wenn es nicht Politik in einem tieferen Sinne wäre.«

Er verließ den erhöhten Standpunkt, wälzte sich entschlossen in seine Polster und winkte: »Kommen Sie!« Der Wink drückte Gunst und Befehl aus, war schmeichlerisch sowohl wie großartig und hatte die Gabe, Terra einzuschüchtern. Wer so winken konnte, verdiente am Ende wirklich seine Macht über Menschen? ... Mit einer Miene, die das Ehrenvolle seines Vertrauens deutlich zu verstehen gab, sagte Lannas: »Überlegen Sie mit mir, lieber Freund, was dies heißt: eine Flotte, erdacht und ausgeführt von bürgerlichen Ingenieuren, befehligt von bürgerlichen Offizieren und vergrößert immer im Hinblick auf die größte bürgerliche Macht der Welt, auf England. Es heißt, daß wir einen mächtigen Schritt zur Demokratisierung tun, und niemand weiß es. Man braucht es nicht zu wissen«, sagte er leicht und fein, mit Grübchen und Blinzeln.

Er wendete sich nach der Tür um, bevor er aussprach: »Der Kaiser und ich stehen sehr weit links.« Terra auf seinem Stuhlrand sah ohne weiteres, dies solle verbreitet werden, nicht durch die Presse, sondern unter der Hand, daher der »liebe Freund«, der ihm noch in den Gliedern saß. Bewundernswerte Fertigkeit, Menschen abzuschätzen! Soweit sein Interesse reichte, war dieser Praktiker tief und seelenkundig. »Ich bin ein Idealist, der gern den Leuten seltene Wahrheiten ins Gesicht sagt. Er hat mich auf meine Vorzüge und Gefahren hin erwogen, wie seine Mitbewerber um den Kanzlerposten: sogar mich in meinem Staub.« Lannas durchschaute wohl auch noch diese Überlegung, er sagte:

»Sie wundern sich über meine Offenheit, aber ich wage damit nichts. Denn wer versteht mich? Doch nicht Herr Knack, – wenn er uns einmal das Bürgertum vertreten soll. Herr Knack gründet den Alldeutschen Verband. Daß mit solcher Waffe in der Hand ein halbwegs instinktsicheres Bürgertum die Demokratie erzwingen würde, noch bevor sie von selbst kommt, ahnt er nicht. Sein ganzes Streben ist, ein Kriegsmann in Zivil und so furchteinflößend wie ein Junker zu sein.« Zwinkern, Achselzucken. »Unser Bürgertum ist noch jung. Überdies fürchtet Herr Knack seine Arbeiter.« Dann ernst und fest: »Ein kaiserlicher Minister rechnet mit solchen Gegebenheiten, als mit aktiven Posten. Er hat also die Hände im Auswärtigen frei.«

»Soweit seine auswärtige Politik gegen England gerichtet ist, – wenn meine Wenigkeit sich erlauben darf, daran zu erinnern. Denn dies wünscht Herr Knack.«

»Ganz recht, wir bauen die Flotte. Das heißt nicht, daß wir Krieg mit England wollen, das Kaiserreich ist der Friede.«

»Dann,« sagte Terra und zog die Brauen hinauf, »revidieren Sie den Frankfurter Vertrag?«

Der Staatssekretär stutzte, eine Falte erschien. Er faßte es doch lieber wohlwollend auf. »Ich verstehe, wir sprechen voraussetzungslos. Aber Elsaß-Lothringen bleibt deutsch.«

»Und Frankreich unser Feind.«

Achselzucken. Der Staatssekretär zögerte, dann schnalzte er mit den Fingern. »Und dazu haben wir auch noch einen Geheimvertrag, der uns russische Hilfe sicherte, gekündigt. Es war nach Bismarck, aber er hat es in Erfahrung gebracht, und er sagt es jedem. Sie lesen es bald überall.«

Der Hörer beugte sich erschrocken vor, der Sprecher im Gegenteil überließ sich zuversichtlich seinen Kissen. »England ist es gelungen, uns aus dem russischen Vertrag zu locken. Jetzt spürt es die Folgen, wir bauen die Flotte nun grade.«

»Nun grade?« fragte Terra, schonend, wie zu einem Irrsinnigen.

»Es ist das Lebenswerk des Kaisers«, erklärte Lannas.

»Und Knacks«, schloß Terra.

»Wir helfen uns von Fall zu Fall«, begann Lannas wieder mit zunehmender guter Laune. »Das erhält uns frisch. Heute mit dem gegen jenen, morgen gegen beide, übermorgen mit ihnen gegen einen dritten. Es wird gut gehen, der geborene Staatsmann hat es in den Fingerspitzen.«

Terra verstand: »Es wird gut gehen, weil meine Natur es so will, mein leichtes Herz, meine glückliche Geburt – und auch die Nation hinter mir, die keine Zweifel kennt und sich bereichern will.« Er betrachtete die Erscheinung mit arbeitendem Munde und nicht ohne sie zu bewundern.

Lannas schlug unversehens ins Getragene um. »Wir dürfen beruhigt in die Zukunft blicken, denn die Deutschen haben drei Eigenschaften, die uns in dieser Stärke keiner nachmacht, Arbeitskraft, Organisation, Methode. Mit ihrer Hilfe begegnen wir den schwersten Konflikten.«

Pause der Ergriffenheit. Terra war nahe daran, einen Hinweis zu wagen auf die Gefahren einer Politik, die sich so sehr auf die Nation entlastete ... Lannas kam ihm zuvor: »Fassen wir zusammen!« Ganz erfüllt von seinem Gedanken: »Ich spreche. Sie schreiben.«

Terra folgte dem Wink; Papier lag auf dem Damenschreibtisch, zwei Kerzen brannten, er setzte die Feder an, Lannas sprach schon. Er wiederholte seine Ablehnung des Staatsstreiches und seine Beweise für die demokratische Richtung des Kaisers – gab aber auch der Nation recht, dem politisch reifen Bürgertum, das gelernt hatte aus den Fehlern der anderen Völker. Der Parlamentarismus hatte trotz allem seine großen Vorzüge, uns fehlten nur seine natürlichen Voraussetzungen. Das deutsche Volk, völlig anders geartet und entwickelt als alle anderen Völker, trug irrationale Elemente in sich, die es zu einem unberechenbaren Faktor im Weltgefüge machten. Lannas wechselte den Platz, ließ seinen vom Geist bewegten Körper in einen zweiten, einen dritten Sessel fallen und sprach weiter, zwanzig Minuten lang ununterbrochen. Terra fühlte seine Hand erlahmen. Als die Huldigungen an das deutsche Volk sich in die Länge zogen, dachte er: »Also doch ein Zeitungsartikel.« Dann ging es aber aus wie ein Aide-mémoire für den Staatsmann selbst: hinausschauen wie Bismarck, in Welt und Geschichte, hineinblicken wie er, in die Seele des deutschen Volkes.

»Beides«, sagte Terra klangvoll, »können Eure Exzellenz sich selbst in hohem Maße zuerkennen.« Hiermit wollte er die Bekenntnisse des Staatssekretärs auf dem Sockel Goethes niederlegen, aber Lannas erhob sich, um sein Werk zu betrachten. Er sah erschöpft, aber beglückt aus, wie junge Mütter. Eigenhändig zog er aus dem Schrank ein großes Album und ordnete die Niederschrift unter andere ihresgleichen. Dabei ließ er seinen Gast bemerken, was das Album sonst noch enthielt: eingeklebte Zeitungsausschnitte, alle Lannas betreffend, von seiner Ernennung und Biographie bis zu den Kritiken seiner letzten Reichstagsrede – und dazwischen seine Bildnisse aus den illustrierten Blättern der vergangenen drei Monate, bald ermutigend heiter, bald mit allen Zeichen der schwersten Verantwortung, je nach der schnell wechselnden Stunde, die Deutschland durchmachte.

Der Staatssekretär wog zögernd seine Diktate in der Hand; endlich äußerte er, merkwürdig schüchtern: »Meinen Sie, daß ich Talent gehabt hätte?« Da Terra nicht sogleich verstand: »Es gab in meinem Leben einen Augenblick, als junger Attaché, der nicht schnell genug vorwärts kam, da ging ich ernsthaft mit dem Plan um, Journalist zu werden.«

Terra wehrte ab. »Um Gotteswillen! Und das deutsche Volk? Es ist nicht auszudenken, was alles hätte anders kommen können.«

Er erschrak über seine Worte, aber Lannas faßte sie richtig auf. »Mag sein, daß es so besser für die anderen ist. Aber für mich? Das Wahre wollte ich doch vielleicht damals.« Verlorener Blick, – aber die Wehmut ward unterbrochen durch den Tee, der gebracht ward.

Terra folgte der Einladung an den Teetisch in Gedanken versunken, er überhörte das Lob der Kuchen, die Lannas ihm anbot. Er fühlte die Last einer Gewissenspflicht. »Es muß gesagt sein, ob zwecklos oder selbst schädlich.« Die Stutzuhr zeigte zehn Uhr zehn. »Es muß gesagt sein.« Seine Stimme war verschleiert. »Eure Exzellenz mögen mir einen aus tiefster Bescheidenheit stammenden Hinweis vergönnen.« Er wartete, bis Lannas den Bissen verschluckt und seine Bitte genehmigt hatte. Terra hielt dringlich seinen Blick fest. »In Ihrer Nähe hat man mir versichert, daß wir auf einen Krieg lossteuern.« Da Lannas entrüstet zurückfuhr: »Nicht Sie, Graf Lannas! Ihre Menschlichkeit treibt Wurzeln sogar bis in das Unbewußte, Ihr Beruf als Staatsmann der Zivilisation drückt sich in all' Ihrer Person aus.«

»Sie gehen zu weit«, murmelte Lannas geschmeichelt. »Und dann bin ich nicht allein auf der Welt.«

»Das ist es, was mich zu sprechen verpflichtet. Andere als Sie drängen zu Handlungen und Grundsätzen, die, ob kriegerisch gemeint oder nicht, in sich den ungeheuersten Konflikt tragen. Leisten Sie Widerstand, Graf Lannas!«

Da legte der Minister alles nieder; mit Genugtuung trug er vor, was längst unter seinen Leitsätzen stand. »Die Völker haben ihre Leidenschaften, und es ist sogar Pflicht öffentlicher Persönlichkeiten, gelegentlich Gefühle zu adoptieren, mit denen sie nicht übereinstimmen.« Seine Miene forderte Beifall.

Terra verschränkte und löste seine plumpen Finger, aber sein Gesicht war wie von Opfermut verklärt, dem Minister fiel es auf. »Fahren Sie trotzdem fort«, sagte er entgegenkommend. Die Stimme Terras befreite sich. »Leidenschaften der Völker, Graf Lannas, kennen nur wenige Auswege, und der ihnen geläufigste ist der Krieg. Eure Exzellenz vertraut, um ihn zu bestehen, auf die unnachahmlichen Eigenschaften der Deutschen. Wissen Sie aber, daß es zuletzt gleich ist, welche Eigenschaften der gehabt hat, der in seinem Blut liegt? Haben Sie schon bedacht, nein, erschaut, daß am Ende der Politik wirkliches Blut fließt?«

Starke Sprache, furchtbares Geflüster, – und als nun alles still war, erschauderte Lannas. Es war ihm anzusehen; er bekam starre Augen und erbleichte ... Ein leiser Ruck, er lächelte wieder, wenn auch befangen: »Was wollen Sie gegen den Lauf der Welt?« sagte er matt. Er war in diesem Augenblick von sich so wenig überzeugt, daß er kritiklos zusah, wie sein Gegenüber seinen Platz verließ, Abstand nahm und die Arme verschränkte. »Schaffen Sie die Todesstrafe ab!« rief Terra, und unter den Armen, die sie preßten, hob sich ihm die Brust, als wollte sie aufspringen. Sein Herz stand auf, wie um laut zu zeugen, sein Leben und was er war drängte in diese Minute, wuchs an, war überwach und zeugte.

Von seinem Sessel hing tot der Direktor. Erschlagen umarmten einander die Ringer. Mordrufe heulten aus Gassen, und eine Straße mit den unauslöschlichen Spuren vergossenen Blutes führte rückwärts an den Rand eines Schlachtfeldes, wo einer seiner eigenen Väter Mörder oder Opfer des Freundes ward, führte vorwärts bis wohin? Zu neuen Schlachten, neuen Brudermorden? Er fühlte sich kämpfen mit Mangolf, wollte aufschreien und stöhnte nur: »Schaffen Sie die Todesstrafe ab!«

Der Minister – hatte er ihn verstanden? – sagte matt und mit zuckender Stirn: »Ich bin nicht Gott. Sie lehnen sich gegen Gott auf.«

»Nie war ich ihm gehorsamer«, sagte Terra fest. »Ich will ihm die Entscheidungen zurückgeben, die wir vorwegnehmen, wenn wir töten. Wir schneiden ihm das Wort ab, wenn wir töten. Was hatte er vor, mit dem Blut, das wir vergießen?«

Lannas glättete sich mit der Hand die Stirn. Dies war ein Schwärmer, die Art Mensch, die nicht von Tatsachen, nur von Ideen ausgeht. Entschlossen griff Lannas nach der Kuchenschüssel.

»Manche bringen sich selbst um«, sagte Terra, die Stirn gesenkt wie zum Sturm. »Andere wählen ein Opfer, aber beides ist der gleiche Wahnsinn, der wahnsinnige Gipfel jener Verachtung, die wir Menschen für uns und unser Blut haben. Ich weiß, was ich sage, ich habe sie bis zur Neige geschmeckt.«

Bei diesem Wort ließ Lannas einen halben Mohrenkopf an der Gabel stecken, er merkte es sich für die Behandlung solcher Art Mensch.

»Wer wird zuhöchst geehrt? Der euch am geringsten achtet. Welcher Stand geht allen anderen vor? Der euch töten darf. Dem Staatsmann empfiehlt es sich, Kriege anzufangen, nur so ist er sicher, in die Geschichte zu gelangen.«

»Nur zu wahr«, murmelte Lannas und betrachtete unentschlossen die zweite Hälfte des Mohrenkopfes. Auf einmal begriff er die ganze Undankbarkeit der ihm gestellten Aufgabe, den Frieden zu erhalten – immer wachsam, immer auf dem Posten gegen Benachteiligungen, empfindlich wie ein Duellant, raffig wie ein Spieler, in der Maske des für alles Gerüsteten, allen Folgen Gewachsenen, und dabei fühlt man genau, daß der Kaiser persönlich auf den Frieden angewiesen ist, sogar auf Frieden um jeden Preis, als der Genießer und glänzende Erbe, der er ist, der Regisseur seiner Macht, weltenweit entfernt, sie im Ernst zu gebrauchen ... »Ich selbst aber, der ihm den Frieden erhält, komme in dem Schaustück seines Reiches beiweitem nicht so sehr zur Geltung, wie irgend ein kommandierender General. Der Kanzler sogar kann eine erste Rolle nur behaupten als Nachfolger des erfolgreichsten Militärkanzlers. Drei Kriege meisterhaft vorbereitet! Käme ich auch in die Lage, Deutschland vor der größten Katastrophe seiner Geschichte zu bewahren, dahinan würd' ich nicht reichen.« Und Lannas seufzte schwer. »Die Art Mensch dort hat ihre Sorgen, was ahnt sie aber von meinen«, – und er hörte artig auf Terra, er aß dazwischen nur wie aus Zerstreutheit.

Terra spreizte die Finger, als griffe er nach Erscheinungen. Was er sprach, erschien ihm. Er schlug sich durch Gesichte hindurch, die Gedanken trafen ihn wie geisterhafte Keulenschläge. Das Gesicht von tierischem Grauen zuckend, sagte er: »Ihr wollt töten! Die Strafe für einen Mord war niemals Strafe, sie war die heiß ersehnte Gelegenheit für den intellektuellen Blutdurst der führenden Stände. Auf den einen Auswürfling, der aus Trieb oder Not tötet, kommen die Hunderte der Gerichte, Polizei und Presse, die tausende der Öffentlichkeit, die, abscheulicher als der Auswürfling, zum Töten eine Ideologie brauchen. Dieselbe sublimierte Blutgeilheit bietet Staatsgewalt und Vaterland auf, damit Krieg wird. Im Volk wollen den Krieg nicht einmal die Mörder, – Sie aber, Graf Lannas?«

Lannas verneinte höflich. Er vermißte die Cremetörtchen mit Kirschen, die er besonders liebte. Die Frage unterbrach ihn in der Überlegung, wie sie ohne Verletzung des dem Gesprächsgegenstande geschuldeten Zartgefühles zu beschaffen seien.

»Dann verzichten Sie auf die Todesstrafe!« keuchte der Störenfried, als säße ihm selbst das Messer an der Gurgel. Lannas opferte innerlich seine Cremetörtchen. »Wäre ich Justizminister,« sagte er, »ich würde Ihnen vielleicht antworten, daß ich ohne die Todesstrafe entwaffnet dastände.«

»Sie nicht, Graf Lannas! Sie würden es nicht antworten, denn Ihnen ist bewußt, wer Blut fordert, will nicht Gerechtigkeit, sondern Macht, die Juristen wie die Militärs. Ohne Blut keine Macht, das zwinkern sie einander zu. Warum sind immer und überall die Gegenrevolutionen grausamer als die Revolutionen? Die Revolutionäre erstreben vor allem das allgemeine Glück, die Gegenrevolutionäre nur ihre verlorene Macht, die erwiesenermaßen außer ihnen niemanden beglückt hat. Zwingt den nicht,« keuchte Terra, »der nur zu denken und zu wissen da ist, vorzutreten, um euch unschädlich zu machen!« Wobei die geballten Fäuste ihm zitterten. Feurig rollende Blicke, das Gebiß war entblößt und knirschte. Lannas neigte sich zollweise seitwärts, um unauffällig nach der Klingel zu tasten – das Auge scharf auf dem Wildling. »Meine Menschenkenntnis wäre blamiert, wenn er ernst machte«, – der Einfall gab ihm allen Mut zurück. Er richtete den Rumpf auf und sagte stark:

»Was Sie sagen, ist falsch, und wäre zwecklos, wenn es richtig wäre.«

Dies versetzte dem Wildling einen Stoß, er entleerte sich sichtlich von seiner aufgerafften Kraft, ward schmaler, viel bescheidener und erklärte ohne Keuchen, aber mit Stottern, diesen einzigen Glücksfall habe er geglaubt, nicht versäumen zu dürfen. »Eure Exzellenz wird im Verlauf Ihres hoffentlich langen und glücklichen Wirkens für das Vaterland vielleicht Gelegenheit bekommen, sich der demütigen Worte eines Niedriggeborenen, Unberufenen zu erinnern. Solange im Frieden auf gesetzliche Weise Blut fließt, können Kriege keine Verbrechen sein. Aber Menschen werden die Tötung unschuldiger Soldaten schwerer hinnehmen, wenn nicht einmal mehr Mörder so sterben müssen. Selbst die führenden Stände, die dann die Todesstrafe verurteilen gelernt haben, weil sie nicht mehr besteht, werden den noch drohenden Krieg zu begünstigen sich endlich schämen lernen. Den höheren Funktionen der Blutmacht ist erst beizukommen, wenn ihre ersten, untersten gestört sind«, schloß Terra, Ehrfurcht in Ton und Miene, und zog sich unter tiefen Verbeugungen, die Fingerspitzen auf dem Hemdausschnitt, gegen die Tür zurück. »Eure Exzellenz«, sagte er mit einem letzten, unterwürfigsten Bückling, »die, wie jeder völlig Zivilisierte, ein Stück Anarchismus in sich birgt, wird die ganze Tragweite dieser Zusammenhänge unschwer bei sich ermessen.«

Womit er plötzlich hinaus war. Lannas in aller seiner Nüchternheit hatte dennoch den Eindruck, als sei der Teufel abgefahren. Seine erste Regung: »Nie wieder!« und »Wie schaff' ich ihn mir gleich morgen vom Hals.« Dann zuckte er die Achseln, protestierte gegen jeden Aberglauben, ja, überließ sich einer verbotenen Genugtuung über die normwidrige Ausschweifung, die hinter ihm lag, und der Neugier auf die nächste.

Terra hielt sich draußen am Türpfosten. Er war in Schweiß gebadet. Beim Abgehen hatte er nochmals auf die Uhr geblickt und hatte diesmal, obwohl sie zwischen den brennenden Kerzen stand, die Stunde nicht ablesen können, sein Blick war verschleiert. Die Länge des soeben vergangenen Zeitraumes war ihm unbekannt, aber er meinte tief in der Nacht zu sein, der schwersten, in die er geraten war. Ohne an ihr Ende zu glauben, durchmaß er unablässig sein kleines Zimmer, der Rauch der Zigaretten erfüllte es immer dichter, und er wiederholte zum hundertsten Male murmelnd wie Gebete, was er dort unten gesprochen hatte; fragte sich immer aufs Neue, ob er es zurücknehmen oder fallen lassen dürfe, prüfte es mit allen seinen Sinnen, haßte, verwarf es, und kam nicht los davon: denn, furchtbar zu sagen, er hatte keine Macht darüber. Nicht sein waren jene Sätze: viel eher er der ihre. Er, sie erfunden? Viel eher war er da, weil eine Wahrheit ihn sich erschaffen hatte. Tu', was Dir mitgegeben! Deine Zeit ist gemessen, Deine Kraft Dir nur geliehen. Wenn ein neuer Tag aufgeht, Dir gehört er nicht, denn Dein ist nicht mehr Dein. Beuge Dich! Verschmilz mit einem Gedanken!

Als er aber Trotz, Müdigkeit und stolze Demut durchgefühlt hatte bis zum Ekel, ging wirklich der Tag auf – und erwies sich heller, frischer, müheloser als die schwere Nacht hatte ahnen können. Es schien ein Reisemorgen, klingend blau, der Wind über Goldgrund streichend, ein Morgen wie ein Aufbruch. Wohin? Wir wissen nur, ins Weite und – mit ihr. Groß auf das Fenster! Die Reise geht nach dem Land der Geistestaten und zu den Ufern des Glückes. Deine Gefährtin betritt mit Dir Deine Eroberungen, Du folgst ihr in ihr Gebiet. »Geliebt!« fühlte er. »Ihr Herz, das meinem vorauseilt, weiß unser Geschick wohl schon längst. Wir werden fliehen, den Kampf bestehen, der uns rechtfertigt, den Sieg davontragen, der sogar hier wieder einzuziehen berechtigt.« Seine Gedanken machten angstvoll halt. Er erkannte, diese hier steige nicht anders in das Leben hinab als mit der Bürgschaft des Sieges. »Und welche geb' ich ihr?« Er antwortete eilig dem Zimmer entfliehend: »Geliebt! Da überfliegt man die Hindernisse des Lebens, anstatt sie niederzukämpfen.«

Im Salon waren noch die Fenster verhängt, dennoch stand jemand auf, als Terra eintrat. »Ja, ich erwarte Dich schon.« Mangolf kam auf ihn zu. »Ich will wissen, was Du gegen mich planst.«

»Auch ich habe schlecht geschlafen«, sagte Terra nur. Mangolf führte seinen düster leidenden Blick hin und her über das Gesicht des andern. Er hörte ihn noch immer sein gestriges Wort sprechen: »Ich habe Abschied von Lea genommen.« Was verbarg sich dahinter, welche Bekenntnisse der Schwester, welche Rache des Bruders? »Du hast mir gedroht«, sagte Mangolf, er hielt seinen Blick auf den Brauen Terras an. Terra sagte höflich: »Ich hatte gestern Abend die gern benützte Gelegenheit, bei Deinem hohen Chef ein Wort für Dich einzulegen.« – »Auch das noch«, stieß Mangolf hervor.

Nach einer Pause berichtigte Terra: »Gerade das. – Du gibst Dich hoffentlich keiner Selbsttäuschung hin über den wahren Grunds weshalb Du in grauer Frühe und bevor ein Ofenheizer den Fuß aus dem Bett setzt, hier auf mich gewartet hast? Meine Unterredung unter vier Augen mit dem Herrn des Hauses macht Dir unnütze Sorge, es war ein Gespräch ganz allgemeinen Charakters. Wenn ein Geheimrat horchen dürfte würdest Du gehört haben, daß nur er sprach.«

»Das weiß ich zu gut.« Mangolf lächelte verächtlich. »Du warst allenfalls sein Geburtshelfer. Hat er Dir keinen Artikel diktiert?« Terra bestätigte eifrig. »Das war in der Tat alles, ich beuge mich vor Deiner Einsicht. Du hast mich tatsächlich nur in der Angelegenheit meiner Schwester hier erwartet.« – »Du hast mir gedroht«, wiederholte Mangolf, schnell und heftig. »Was geht vor!« – Terra, von unten und umso gemessener: »Wer kann es sagen, außer ihr selbst? Vielleicht Tolleben.«

Da griff Mangolf sich an die Stirn. »Tolleben? Mein Gott, und er ist schon fort!« Er kreiste um das Zimmer wie gejagt. Als er zurückkam, war sein Ton nur noch beschwörend. »Sie rächt sich? Weil mein Ehrgeiz ihr im Wege ist? Sage mir, ob ich bedroht bin!« – »Als Geheimrat?« – »Du mußt mich wohl sehr verachten«, murmelte Mangolf, in sich verkrampft, gerötet auf den Backenknochen.

»Ich sagte Dir schon, daß ich so rasch nicht bei der Hand bin mit meiner Verachtung. Ich hasse Dich manchmal – unpersönlich. Wenn ich Dich liebe, ist es persönlich.«

»Dann bemitleidest Du mich!« – Da Terra zu dieser Folgerung schwieg: »Das ertrag' ich nicht!«

»Ich«, sagte Terra, »muß wohl ertragen, daß Du mich beneidest, der Geheimrat den alten Studenten.«

Mangolf stand in sich verkrampft. »Es könnte sein ... Aber über mich ist vieles zu sagen.« Die ständige Neugier seines Lebens schwelte in seinen Augen: Was ist es mit mir, mit mir. »Gehen wir ins Freie!« verlangte er.

Draußen bemerkte Terra: »Wie diese Terrasse sich verändert hat seit gestern Nacht. Sie schimmerte wie Marmor, jetzt ist es gestrichenes Holz.«

»Hier verliert man alle Tage seine Illusionen, aber am Abend sind sie wieder da. Man würde gut tun, vorher abzureisen«, – womit Mangolf den Freund durch die Buchenallee zum Fluß führte. Sie gingen ihn entlang bis an eine Brücke. Mangolf, hinübergelehnt, sah das Wasser gurgeln und blinken zwischen den Eisschollen. »Ich bin sofort hypnotisiert«, sagte er neugierig. »Ich kann keine unreine Natur sein, da ich so sehr zum Verzicht und Schlaf neige.« Auch Terra versuchte sich betäuben zu lassen. Es ging nicht; er hörte die Worte des andern fallen. »Wenn ich nicht den Schlaf hätte – und die Gewißheit, daß dies trübe Leben nur eine Wartestunde in der Nacht ist ...«

»O! O!« machte Terra, begütigend. Aber Mangolf sagte ungehemmt in die Tiefe: »Ich habe unlängst erfahren, daß ich unsterblich bin ...«

Terra fühlte: »Schämt er sich nicht? Oder hat die Komödie wirklich nur den Zweck, mich zur schleunigen Abreise zu bewegen?« Er lachte frech: »Steht es so, dann kann Dir freilich die Welt im Ernst nichts anhaben, beschämen kann Dich einmal Niemand.«

Da wandte Mangolf sich her. »Ich bin demütig«, sagte er. »Wäre ich sonst ehrgeizig?«

Und Terra senkte den Blick; wer hatte sich zu schämen? Es drängte ihn, ebenso hüllenlos dazustehen. »Ich kann mich nicht beugen«, brachte er hervor, »wie soll ich um Ehren werben. Asketische Tugend, also keine Tugend.«

»Aber Du kennst Demütigungen?«

»Was kenne ich sonst«, sagte Terra.

»Du bist mehr als andere?«

»Ich kann nicht wissen, was die anderen sind.«

»O!« machte Mangolf, ganz Verachtung. Terra wartete, den Mund offen, auf die Enthüllung jenes brüderlichen Weltbildes, wie Mangolf darauf brannte, es zu enthüllen. Unversehens hatten beide so viel Geschmack an einander wiedergefunden wie je, das unruhige Interesse am Geist des andern, das jedem von ihnen anhing.

»Ich bin, seit ich mich kenne, meiner Selbstachtung wert«, erklärte Mangolf, ausgerichtet mitten auf der Brücke. Der blaßblaue Himmel wand einen Schein um seinen unbedeckten Kopf. »Auch ihr würdet gut daran tun, mich zu achten!« schloß er drohend.

Plötzlich verließ er die Brücke. Erst am anderen Ufer, als die Büsche ihn deckten, sprach er wieder.

»Furchtbar!« – mit Aufstöhnen. »Furchtbar, sich großer Bestimmung bewußt, mehr als gemeinen Willens, der Kraft, die Menschen unterwirft, sich verzehrend bewußt zu sein – und am Anfang zu stehen, keinem bekannt, mir selbst im Wege! Sie widmen mir Nichtachtung und gleichwohl Mißtrauen, hörst Du?«

»Hüte Dich, in ihre eigene Schwäche zu fallen«, raunte der Beichtiger. »Du verachtest zu viel.«

»Ich!« – aufzischend. »Wer stark ist, steht mit Recht nur sich. Als ich in Friedrichsruhe ankam, fand ich Bismarck mit Gesichtsschmerzen und mit Reue behaftet. Ihm waren seine Opfer eingefallen, die Opfer seiner drei Kriege. Er hatte sich darauf besonnen, daß im Grunde niemand durch ihn glücklicher geworden sei und viele unglücklicher. Nie machte es ihm Sorge, als er noch stark war. Nun saß er auf dem Trockenen und hatte Sorgen, die keine sind. Was sind die Sorgen des Endes gegen die Qualen des Anfangs!«

»Jeder denke von vorneherein an das Sankt Helena, das ihn erwartet«, raunte der Beichtiger. Da lachte Mangolf wie ein Verdammter.

»Sankt Helena – mit tausend Freuden, denn dort ist alles überstanden, die Niederlagen und die Siege. Dort quält mich von meinem Ehrgeiz nur noch das entfernte Bild, nur in Erinnerungen bin ich enttäuscht und habe es schon vergessen, das tödliche Gefühl der immer wieder unterdrückten Sprungbereitschaft, einer Erschlaffung wie vor dem Sturz, – indes noch nichts geschehen ist. Die Leistung ist furchtbar.«

»Verzichte! – Liebst Du nicht den Schlaf und Verzicht?«

»Nein!«

»Du leidest.«

»Ich bringe jedes Opfer.«

»Du bist geistiger als alle, die Dich nicht durchlassen wollen. Du bist adeliger als sie. Das Opfer des Denkens kannst Du nicht bringen. Wir sind herrschsüchtig, Gott weiß es. Aber an ihr Reich, ihre Macht mit Deinem Denken nicht rühren dürfen, nur um mitzuherrschen?«

»Ich werde mitherrschen und durchschauen. Werde durchschauen und, darüber hinaus, begreifen, daß so das Leben ist. Der Tag entscheidet, an dem ich für eine zweite Naivität reif bin und handeln kann, als wüßte ich nichts. Dann haben große Dinge mich so gewollt.«

»Die großen Dinge auf die Du rechnest,« Terra hob die Stimme, »können nur Verfall oder Zusammenbruch eines Staates sein, der seine besten Kräfte erst dumm und heuchlerisch machen muß, bevor er sie brauchen kann.«

Mangolf auch schon schärfer: »Eine Gesellschaft, die Dir, nur Dir noch immer keinen Halt gewährt hat, erscheint Dir reif, zu fallen. Du fällst allein.«

Terra von unten mit bösem Triumph: »Mit Dir – dereinst. Ist Dein Staat, der Dich nach seinem Bild geschaffen hat, glücklich, warum bist Du selbst ein leidender Mensch? Warum hast Du, je näher Erfolg, Ehren und Macht Dir winken, ein Leben der Todessehnsucht vor Dir, das keinen Hund verlocken würde? Und wirst dennoch vor dem Tode beben. So lebt niemand in glücklichen Staaten.«

»Ich hatte für meine Person das innere Erlebnis der Unsterblichkeit«, sagte Mangolf erbittert.

»Regen wir uns nicht auf! Ich will Dir verraten, was gestern Abend bei Lannas vorging. Ich suchte den Minister gegen die Todesstrafe einzunehmen.«

»Narr!«

»Jeder gewinnt auf seine eigene Art dem Tode Terrain ab: Du, die Ewigkeit – für Deine Person. Ich, ein paar Jahre, aber für andere. So ist meine Art von Herrschsucht. Hilf mir bei Deinem Chef!«

Mangolf verließ das Versteck, hier durfte es keine Heimlichkeit mehr geben. »Ich bedaure aufrichtig, daß Du als mein Freund es Dir nicht versagen konntest, in solchem Maß den Ideologen herauszukehren. Der von Dir hervorgerufene Eindruck wird unwillkürlich auch auf mich bezogen.«

»Ich kann Dich beruhigen. Seine Exzellenz gibt sich über Dich keinen Irrtümern hin.«

»Du hast mir geschadet, ich wußte es!«

»Wenn ich Deiner doch bedarf? Denn Du verfügst über die tägliche Einwirkung. Graf Lannas hat das Unglück, Wahrheiten nicht ganz widerstehen zu können.« »Das wird ihn zu Fall bringen.«

Terra sagte, als sie über die Brücke zurückgingen: »Schade. Gern würde ich Dir einen Gegenwert geboten haben.« Pause. »Ich könnte manches verhindern.«

Mangolf schwieg, er fragte sich immer wieder: »Verhindern, was er selbst anzettelt? Was ist es? Lea sogar tritt als Drohung zurück hinter Tolleben. Oder wären sie zwei Drohungen, die zusammenhängen? ...« Er stieß Luft durch die Nase und blieb stumm. »Ich bin nicht Gubitz, gegen Gespenster sichere ich mich nicht. Erpressung!« ... »Es tut mir weh«, äußerte er endlich, »daß auch das kommen mußte. Ich will kein kennzeichnendes Wort aussprechen, wir hatten seit langer Zeit doch wieder einen guten Augenblick vorhin.«

»Wir wollen von ihm zehren«, schloß Terra.

In der Buchenallee sagte Mangolf noch: »Merkwürdig. Deine ersten Enttäuschungen und Einblicke haben Dich für Dein eigenes Dasein zum Diogenes und Nihilisten aus Moral gemacht. Für das Menschengeschlecht aber glaubst Du hartnäckig an eine hohe Zukunft.«

»Merkwürdig« – stimmte Terra ein. »Du glaubst auf Erden nur an immer erneutes Elend und Verbrechen, Dich selbst aber soll das Leben belohnen für Deine Verachtung, und sogar im Tod erhoffst Du Dir noch Karriere.«

Vor dem Hause wendeten sie die Gesichter einander zu. Beide gleichzeitig sagten sie:

»Wir können uns die Hände reichen.«

*

Am Frühstückstisch saßen schon die Geschwister Lannas, beide im Reitanzug. »Erwin begleitet mich«, erklärte die Gräfin Alice. »Herr Mangolf hat natürlich zu arbeiten, aber Herr Terra?« Komme was wolle, Terra sagte: »Ich schließe mich an, mit gnädiger Erlaubnis«, – worauf die Gräfin errötend: »Die Straßen sind schrecklich naß.« Ihr Bruder klappte nach. »Aber wir haben kein drittes Pferd«, Terra überhörte es, die Komtesse Alice zog vor, zu lachen.

Die Gräfin Altgott erschien, für die Stadt gekleidet. Graf Lannas lasse um Entschuldigung bitten, er arbeite. »Seine Abwesenheit gilt mir«, fühlte Terra, indes die Altgott gerade ihn nicht ansah. Sie schloß: »Er erwartet Herrn Mangolf«, und Mangolf ging sofort. Er überflog Terra und die Komtesse Lannas mit einem Blick, gleichgültig wie ein Achselzucken. Terra sah, man halte ihn für erledigt, er machte sich zur Verteidigung fertig.

»Ich fahre um elf Uhr nach Berlin«, sagte die Altgott, zum erstenmal sah sie ihn an. »Wer fort will, muß mit mir kommen. Der Wagen fährt bis hinein, wegen der Einkäufe, die ich mitbringe.« Sie wartete. »Vor morgen Abend kann Niemand abreisen.« Da Terra nicht zuckte, beschloß sie kaltblütig, ihrem Auftrag von einer anderen Seite her gerecht zu werden. »Guter Gott, Alice, und Deine Robe für den Empfang am Zehnten. Du mußt mich begleiten, wir treiben Katastrophen entgegen.«

»Schicke mir die Schneiderin heraus«, erwiderte die junge Gräfin. »Mußt Du jetzt nicht Vorbereitungen treffen?« fragte sie herausfordernd, indes ihr vielleicht das Herz schlug, denn Terra fühlte das seine hoch aufschlagen.

Die Altgott blieb wohlgelaunt. »Auch gut«, sagte sie. »Ich finde schon noch meinen Begleiter«, – und im Hinausgehen winkte sie Dem zu, den sie meinte. Sie lachte sogar musikalisch, es hieß: »Mit der Komtesse Alice wärest Du mitgefahren. Jetzt kommst Du wohl oder übel mit mir allein: Du wirst sehen.«

Als der junge Erwin sich den beiden allein gegenüber sah, empfing sein Gesicht einen Schatten, sie wußten nicht, ob von einem Verdacht oder nur vom Gefühl des Alleinseins. Dann lächelte er wie vor einer Entschuldigung. Sie warteten die Pause ab. Er stand auf und sagte: »Du hattest Recht, die Straßen sind zu naß. Ich hole mein Zeichenbuch.«

Sie waren allein, da öffneten sie wortlos die Terrassentür und gingen in den Park.

Die Komtesse Lannas richtete sich auf so hoch wie möglich, sie fühlte sich auf Abwegen. Sie bekam einen hohlen ganz schmalen Rücken, die Schultern spannten sich gebrechlich in dem engen schwarzen Tuchkleid, die Schleppe um die Knie geschlagen stieß sie mit ihren Lackstiefeln das trockene Laub aus dem Wege. Terra erinnerte sich: »Mit einer Dame vom Zirkus muß ich unter ähnlichen Umständen schon so spaziert sein. Das Kostüm ist das gleiche, aber welch ein Abgrund hier, da läßt sich nichts anderes denken, als ein Gewaltstreich, und offenkundig wartet sie darauf.« Sie dachte, die Augen schmal und schwarz, als machte sie sich lustig: »Mich entführen lassen? Alles ist darauf angelegt, es aufgeben wäre Blamage, er hätte bei mir verspielt.« Die Angst machte, daß sie fast ins Laufen kam, der Ausgang des Parkes war nahe.

Vor dem Gitter hielt sie jäh an, sie konnte kaum sprechen. »Wir haben noch nichts gesagt, und wir sind rot vor Aufregung, es ist wie beim Reitlehrer.« Aber er sah vielmehr, daß sie todblaß war, und bildete sich ein, er höre ihr Herz klopfen. Umso feuriger riß er die Augen auf, der Mund spannte sich und bildete Knoten in den Winkeln. Er streckte den Arm nach ihr aus, da erkannte er, daß sie ihm nicht widerstehen werde: aber nur aus Stolz nicht, weil sie die Verantwortung für das Geschehene auf sich nahm; und seine Bewegung veränderte, bevor sie vollführt war, den Sinn. »Wollen Gräfin sich stützen?« sagte er. »Sie sind erregt, Sie könnten umsinken.« Das todblasse Gesicht erwiderte: »Ob gerade Sie meine Stütze wären? Sie schwanken selbst.«

Stumme Verabredung, dann kehrten sie um, zurück nach Liebwalde. Am Flußufer liefen Pfade durch das dürre Gebüsch. Sie streiften an Dornen, so schmal war der Weg. Einer hinter dem andern arbeiteten sie sich durch zähen Lehm; aber hier sah man sie vom Haus nicht.

Terra, hinter Alice, wartete auf ihr erstes Wort. Nun kam es, es lautete: »Sie sagen mir nicht mehr, daß Sie mich lieben?«

Er öffnete den Mund mehrmals, bevor er ausdrücken konnte: »Jede Frau, die ich liebte, habe ich auch gehaßt. Nur Sie nicht.« Da zuckte ihr Nacken, als werde er von Lippen berührt; sie fühlte, dies sei mehr, als die einzelne Erklärung einer Begierde; er eröffne sich ihr ganz. »Sagen Sie mehr«, murmelte sie. Er, ihr in den Nacken:

»Bei Ihnen zuerst kenne ich keine Furcht, – obwohl ich soeben versäumt habe, Sie zu entführen.«

»Wir überzeugten uns noch rechtzeitig, daß es nicht sein müsse«, sagte sie ergeben. Er vielmehr mit Zuversicht: »Weil wir uns, komme was will, doch niemals lassen werden!«

»Wenn das Schicksal es so vor hat«, ergänzte sie, und sie wendete sich ihm zu. Ihre Augen strahlten schon wieder die gütigste Ironie, nur der Mund lag noch schmerzlich.

An der Hand führte sie ihn auf einen Weg, den sie nebeneinander gehen konnten. »Daß wir uns lieben!« sagte sie staunend. »Heißt es denn kämpfen?« – Der andere Lebensschüler erklärte ihr: »Kämpfen umeinander, miteinander, und zusammen gegen die Welt.« Er hielt an, und er sann, in ihr Gesicht verloren:

»So müssen wir uns schon einmal gegenüber gestanden haben, in irgend einer alten Tracht vor hundert Jahren, umdroht wie heute von den Gewalten der Welt, genau so aufrührerisch und so vorsichtig. Das sind und bleiben wir.«

»Was waren Sie damals?« fragte sie, um abzulenken.

»Geistlicher«, sagte er bestimmt.

Sie starrte ihn an und wollte fort. »Nein!« rief er entsetzt – und riß schon ihre Hand an seine Lippen, riß mit den Zähnen den Handschuh fort ... »Es ist dennoch so«, sagte sie. »Ich ahne von Ihnen so vieles, und Sie nichts über mich? Auch ich bin nicht so ganz auf der Höhe des Lebens, wie es den Leuten scheint. Sie aber müssen es ahnen, woher sonst Ihre Geständnisse.«

Er ging betroffen mit. Was hatte sie? Welche Sorgen konnte die Frau, die er liebte und nur auf der Höhe seines Gefühles lebendig glaubte, im Leben dort unten haben, welches Verhältnis zu der Welt außer ihm! ... Sie bekannte:

»Die Lannas sind halb bürgerlich; das ist heute, 1894, in gewissen, nicht sehr ausgedehnten Bezirken unseres Weltteiles noch tragisch für meinesgleichen.«

»Die Lannas sind ein großes Geschlecht«, sagte er verständnislos.

»Manche haben auch Geld. Mein Vater war so arm, daß er in seiner Jugend an jeder wirklichen Karriere verzweifelte.«

»Er wollte Journalist werden!« rief Terra, erleuchtet.

»Sehen Sie!.. Er ging so weit, eine Französin zu heiraten.«

»Ihre Augen!« rief er, erleuchtet.

»Auch sein Vater hatte schon bürgerlich geheiratet, wir würden sonst nicht einmal dieses anständige Patrizierhaus in unsere Familie bekommen haben.«

Sofort sah er sein Zimmer vor sich, mit den Gegenständen aus ihrer Sphäre, dem Hyazinthentopf, von ihren Händen hineingetragen. Sie hatte sich ihm versprochen! Kochende Reue befiel ihn. Er fand die alten, vererbten Bürgerstuben, so ähnlich denen, worin er aufgewachsen war, voll unverhoffter Zeugnisse, wie nahe verwandt dieses märchenhafte Geschöpf ihm war. Einen Atemzug lang trug sie das Gesicht seiner Schwester ... Kochende Reue, und ein Zorn, daß er mit Anstrengung nicht niederschrie, was sie vorbrachte.

»Der arme Papa stützt sich nur auf eine Liebhaberei des Kaisers, der ihn gern hört. Aber das einzige Mittel beim Kaiser dauernd beliebt zu sein, ist großer Reichtum. Sagen Sie mir aufrichtig, ob Sie glauben, daß wir Reichskanzler werden!« verlangte sie zum Schluß.

»Unbesehen«, sagte er schroff.

»Sie müssen mich ernst nehmen.« Ihr Ton zwang ihn, hinzusehen: da hatte sie wieder jene Brauenfalte, die ihn abstieß. Der geistreich strahlende Blick war verwandelt in einen kurzsichtigen, besorgten, und dies Menschenherz in eine Ehrgeizige. Entmutigt ließ er sie weiter sprechen.

»Ich will mich oben halten, ich will aus der Wilhelmstraße nicht ausziehen müssen. Glauben Sie, mein weiblicher Verkehr sollen eine Theatergräfin und eine Kanonenprinzessin bleiben? Ich laufe den großen Damen nicht nach, mögen sie mich nur zu großen Empfängen bitten. Aber an dem Tage, wo sie in meinem Salon sitzen –«

»Haben Sie die Weltordnung umgestürzt.«

»Kann ich auch meinen Freunden endlich nützen«, – ihre Überlegenheit kehrte wieder. »Ihnen zum Beispiel bei meinem Vater. Denn ich bilde mir nicht ein, daß Sie ausschließlich nur meinetwegen hier sind. Sie wollen mir nicht sagen, was Sie bei ihm betreiben? Tut nichts, wir sind Verbündete, Hand darauf.«

Aber Terra übersah die ihre, die sie hinstreckte. Er fühlte, von kaltem Schauder überlaufen: »Dies bleibt übrig von allem? Neu das Leben begriffen, Mann geworden, das Ziel gefunden für Deine Tat und Deinen Glauben, – damit dies Wort kam?« Kalter Schauder: »Und ich habe mich hingegeben, was ist mir noch geblieben aus der Zeit als ich sie nicht kannte!« Zu Lea, die ihn fragte: »Liebt sie Dich«, hatte er gesagt: »Liebe denn ich sie«, – weil das Wesen, das Dein Leben selbst ist, mehr von Dir mitbekommen hat, als nur Liebe! Er begriff sich im Augenblick, da alles aufhörte. Von hier gab es einzig noch Abgang in den Tod ... Da lachte er auf: und sie wollte ihm beistehen im Kampf gegen die Todesstrafe!

Sie hatte einen raschen Schritt von ihm fort gemacht und schützte sich mit vorgestrecktem Arm. Sein Gelächter hatte ihr wohl unheilvoll geklungen? Erst jetzt bemerkte er, daß seine Hände krampfhaft geballt waren und daß seine Muskeln sich spannten für den Sprung, den er vorhatte. Überwältigende Wut verhinderte die Drohungen und Flüche, sein knirschendes Gebiß zu durchdringen. Irr sah er umher, wie nach Errettung, und doch auch, ob nichts ihn stören werde. Die kahlen Büsche ließen einen engen Platz frei, genug um Dich zu rächen, bevor Du selbst stirbst. Gebückt, mit knotig geöffneten Armen stand der tierartige Umriß eines Baumes im weißlichen Himmel, als Sinnbild des Mordes, und hinter den Büschen das überall gurgelnde Wasser schwoll an und rief, gleich zu vergießendem Blut.

Sie aber: die Angst verließ, wie durch Zauber, ihr Gesicht, ihre Augen strahlten hochgemut wie je, die Gebärde, mit der sie sich geschützt hatte, ward befehlend. »Auch das tun Sie nicht!« rief sie hell, – und wahrhaftig sanken ihm die Arme. Entwaffnet sah er an sich hinunter und stieß geduckt nur aus, um nicht zu verschwinden wie ein Knabe: »Aber ich halte Sie in der Hand!« – worauf sie lachte, ein wenig erschreckt, wie ihm schien, aber so tapfer. Ihm kam Mitleid mit ihr, alles was sie war und verhieß, kehrte zurück, das Leben hatte ihn wieder. Er schämte sich aber, vor ihr hinzufallen, er raffte vielmehr seinen ganzen Stolz zusammen, aus geschwellter Brust schmetterte er ihr in das Gesicht: »Ich gehe meiner Wege! – und bedauere Sie, daß es nicht Ihre sind. Nun ich Sie kenne, kann ich Sie so wenig lieben, wie Sie mir befehlen können. Meine Zukunft trage ich in mir selbst; um neidisch zu sein, habe ich zu viel Phantasie, um ehrgeizig zu sein, zu viel Selbstachtung, und sollten wir uns jemals wiedersehen, werde ich vielleicht einflußlos geblieben sein wie heute, aber mir erkämpft haben was Sie verlachen, meine Menschenwürde!« Noch maß sein Blick sich feurig mit ihrem; jetzt schroff kehrtum, die Büsche durchbrochen mit Ungestüm und davongestürmt im herben Trotz Deiner Jugend.

»Terra!« rief eine neue Stimme, überrascht hielt er an. Bruder Erwin trat drüben hervor. »Die Gräfin Altgott«, sagte er in aller Ruhe, »behauptet, daß Sie sie nach Berlin begleiten. Aber so eilig?«

»Hier ist meines Bleibens nicht.« Noch schroffer: »Ersparen Sie mir die Gründe – Herr Graf!«

»Schade. Wir haben Sie gern, meine Schwester und ich. Auch ich. Sie haben nichts Böses vor. Ich habe mir Ihr Gesicht angesehen, vorhin, bei Ihrer großen Tirade. Wenn ich genug könnte, ich hätte Sie gezeichnet.« Womit er Terra nur die Wahl ließ, ihm an den Hals zu springen oder in den Erdboden zu versinken. Als Kuriosität betrachtet und nicht ernst genommen, diese auserlesene Demütigung krönte seine Erlebnisse hier!

»Ihr Vertrauen ehrt mich«, sagte er, in sich zusammengezogen, den Blick am Boden. Der junge Graf sprach weiter mit Wohlwollen, nahezu vertraulich. »Sie haben selbst eine Schwester, Fräulein Lea.« – »Sogar den Namen!« knirschte Terra. – Erwin zu Alice:

»Und er verteidigte sie gegen jeden Versuch der Herabsetzung, auf eine merkwürdige und unnachahmliche Art übrigens.«

»Auch Sie haben die Ihre«, knirschte Terra. Erwin sagte aufrichtig: »Ich weiß doch nicht, ob ich mich so hingeben und mit solcher Leidenschaft für einen anderen eintreten könnte, wie damals Sie ...«

Er wollte den Hergang berichten, nur die Komtesse Alice verhinderte ihn. Sie sah, daß Terra an allen Gliedern zitterte. Er würde sich zweifellos in das Gebüsch verkrochen haben, wenn seine Füße ihm gehorcht hätten. Als Ritter seiner Schwester sich bewundern hören, und sie war, eben in dieser Stunde, unterwegs zu einem skandalösen Abenteuer, dem er nachhalf! Was ward aus ihm? Was machte aus ihm sein zynischer Spieltrieb, seine Art voraussetzungslos abzurechnen mit dem Leben, das ihn erniedrigte? Schon war er dahin gelangt, seine Schwester zu entehren ... In seinem bösen Traum hörte er sagen:

»Du glaubst nicht, welch ein Wesen! Ich habe so viel Schönheit nie gesehen, und kann schon nicht mehr glauben, daß ich sie wirklich gesehen habe. Eine unbestimmbare Verwandtschaft hatte sie mit Dir, Alice.«

Hilfesuchend sah er nach dem Sprecher auf, da stand nur noch das junge Mädchen. »Ich habe eingesehen, daß wir um einen zu viel waren« – und sie winkte beschwichtigend. Er stimmte ihr bei. »Für unseren Abschied müssen wir allein sein.«

»Nicht bitter!« Damit kam sie auf ihn zu. »Wir haben einander nahe gestanden, schonen wir uns doch!«

Er verbeugte sich, und sie gingen Seite an Seite zurück durch die Dornen.

Wie lange schon dies Schweigen ratloser Gefühle, – da brach es unter Schluchzen aus ihm: »Wo wirst Du meine Begeisterung wiederfinden?«

»Nie und nirgends«, sagte sie, mit einem Blick der Reue. »Bedauere mich, daß ich Dich gehen lasse!«

»Und ich? Dies war nun mein Teil. Ich habe Dich unerhört geliebt.«

»Ich liebe Dich noch immer«, sagte sie sanft. Er ertrug es nicht länger, er beugte sich über ihre Hände, er küßte sie, schmerzgeborene Küsse. Sie hielt ihr bleiches Gesicht, über das Tränen rannen, in das Ungewisse gerichtet. »Es ist vielleicht ganz einfach?« murmelte sie. »Wir sind nur zu jung?«

Er richtete sich auf, er behielt ihre Hände. »Aber ich werde warten«, sagte sie schnell. – »Auf mich warten, bis ich Dich holen kann?« fragte er ebenso schnell, und fühlte ihre Hände die Antwort geben. Aus den Augen freilich lasen sie einander ab, daß dies die mehr oder weniger konventionellen Fragen und Antworten der Jugend seien, die sich nicht geschlagen geben will. Gewiß, alles konnte eintreffen; aber diese Herzen zweifelten selbst noch im Brechen.

Diskret trennten sich ihre Augen, sie brachen nochmals auf, sie eilten jetzt, schon lag vor ihnen das Haus, sie sahen den Wagen bereitstehen. In der Sekunde, bevor sie die Deckung des letzten Gebüsches verließen, erbebte Terra noch einmal unter dem elementaren Drang, sie an sich zu reißen, in den Wagen zu werfen, dahinzunehmen. Sie hatte mitgebebt. Dann war es vorüber.

Der Kutscher trug ein Gepäckstück herbei, Terra erkannte mit Staunen sein eigenes. Gleich nachher erschien die Gräfin Altgott und winkte ihm einzusteigen. Er sah sich hastig um; Alice war fort. »Adieu. Ich habe zu eilig leben wollen. Phantasie, mein Glück, meine Qual. Goldener Reisemorgen, ich wartete auf meine Gefährtin – wie schon einmal, kann ich mich entsinnen; nur nicht mehr ganz so zuversichtlich wie einst, als ich auf die Frau von drüben wartete. Andere Zeiten, aber derselbe Aufbruch –« dachte er in dem Augenblick, da er zu der Altgott stieg und ihr Lächeln ihm sagte: »Wer hat Recht behalten.« Er dachte: »Sie, meine Beste. Sie ganz allein, Sie sollen sogar mehr recht haben, als Ihnen lieb ist.« Er sah sie Unheil verheißend aus den Augenwinkeln an; sie aber mißverstand ihn, ihr Lächeln ward gewährend. »Alte Hexe,« dachte er, »welche Niedertracht sinnst Du noch.« Da aber ihre Lockung, nun sie das Parktor verließen, immer deutlicher ward, erinnerte er sich, daß sie nicht nur als Aufsichtsperson über das junge Mädchen sich alle diese Mühe gab, auch für eigene Rechnung. Der Humor der Lage ließ ihn auffahren wie gestochen. Den Mund voll Bitterkeit, stürzte er sich auf die Dame. »Schlimmer!« murmelte sie vergehend, »Du küßt wie ein Gott.«

Freilich besann sie sich bald auf die Sicherungen, deren sie benötigte. Wie stand er mit der Komtesse Alice? War irgend eine Aussicht übrig, daß er jemals in das Haus Lannas zurückkehrte? Sie horchte auf. Die Spur eines Zweifels, und sie opferte auch dieses letzte, schwer erkämpfte Glück den Geboten ihrer Stellung. Er beruhigte sie, da überließ sie sich der Schwärmerei. Sie hatte eine Wohnung, voll der Trophäen ihrer großen Vergangenheit, ihr Heiligtum, Niemanden empfing sie dort. Heute aber, gleich nach ihrer Ankunft in der Stadt wollte sie den Wagen fortschicken, eine Droschke nehmen und mit ihm heimfahren, er und sie. »Wir werden unser Glück vor der Welt verstecken«, würde sie gesagt haben, aber Terra nahm es ihr aus dem Mund. Hierauf gestand sie an seiner Schulter, daß sie noch lieber mit ihm in die Welt hinaus gereist wäre. »Du verkörpertest mir, gleich als ich Dich sah, den Fliegenden Holländer«, sagte sie, errötend in zweiter Mädchenhaftigkeit. Er fürchtete, sie zu bemitleiden, daher lachte er plötzlich hart auf. »Wie Tolleben und die geborene Knack!« – »Nein«, sagte sie gekränkt. »So etwas verläuft bürgerlich normal, wir sind anders.« Er widersprach: »Unterschätzen Sie, meine Gnädigste, nur den Bürger nicht! Nirgends hat die Norm soviele Hindernisse zu nehmen.« Und er legte los: »Ich kannte einst einen Kavalier und eine Erbin, die zusammen auf die Hochzeitsreise gingen ...«

Die Altgott erstarrte, ihre Erwartungen wurden übertroffen, sie hatte neben sich den leibhaftigen Teufel: ein Gesicht, das sich verrenkte vor Hohn und Haß, Augen wie brennende Abgründe, und plumpe Hände formten um die gesprochenen Dinge ihre Griffe grauenerregend sicher ... »Ihr – Kavalier«, fragte sie ahnungsvoll, »wäre dazu imstande?« – »Er ist es«, sagte Terra. »Nun er das Frauchen im Speisewagen verstaut hat, schützt er die Gepäckrevision vor und verschwindet. Noch einmal hält der Zug, dann rollt er mit dem unschuldig sich nährenden Frauchen der Grenze Frankreichs zu, – indes der Herr Gemahl den Zug nach Italien besteigt, zu seiner Seite eine Schauspielerin.«

»Das muß sich furchtbar rächen«, sah die Altgott schaudernd voraus.

»Sehr richtig, meine Gnädigste. Es ist sogar ursprünglich nichts weiter als ein doppelter Racheakt. Die Schauspielerin hat einen Liebhaber, der Bruder der Schauspielerin hat eine Schwester.«

»Um Gotteswillen!« flehte die Altgott vor dieser Miene. »Sie sitzen doch hier. Sie sehen aus, als vernichteten Sie in diesem Augenblick Ihren Feind. Sie sitzen doch hier!«

»Anstatt des Bruders geht ein harmloser, blond gelockter Deutscher in Mailand umher und versichert sich mehrerer der internationalen Artisten, die ihm von seiner Tätigkeit an einer Berliner Agentur her bekannt sind. Die Nacht sieht einen kostümierten Überfall, dem Kavalier bleibt gerade noch Zeit, der Dame Mut zuzusprechen, dann trennen die Räuber das Paar, in ihrer Höhle findet er sich wieder. Schwerenot, sie nehmen kein Lösegeld. Verdammt, sie wollen etwas Schriftliches. Im Besitz eines vom Kavalier beglaubigten Protokolls über das lächerliche Abenteuer macht der mehr als blonde Impresario sich Maske und Rotte des Kavaliers zu eigen, beschäftigt die Behörden, läßt sich interviewen, erfüllt das halbe Europa mit einem Berliner Skandal ersten Ranges.« Erstickter Schmerzenslaut, und die Altgott sank in sich zusammen. »Was haben Sie davon«, stammelte sie. »Uneigennützige Freude am Lauf der Welt«, versicherte Terra. »Der Kavalier steht an hoher diplomatischer Stelle. Seinen Kollegen, den glücklicheren Liebhaber der Schauspielerin, trifft der Schlag nicht weniger, die Schauspielerin wollte im Grund nur ihn treffen. Ihr Bruder tut alles um des sittlichen Problems willen.«

»Sie sind ein Teufel«, ächzte die Altgott.

»Nein. Ein Komödienschreiber«, sagte Terra.

Sie wimmerte versunken; plötzlich fuhr sie auf. »Steigen Sie sofort aus!«

»Ich verstehe nicht. Wir sind auf weiter Haide.«

»Steigen Sie aus, ich darf nicht mit Ihnen in Berlin einfahren. Wie lange kann es dauern, und das unerhörte Gerücht kommt auf. Es nimmt Gestalt an, bestätigt sich, der Mittelpunkt ist das Haus Lannas, auf jeden von uns zeigt man mit den Fingern«, – sie selbst erhob wankend den Finger. In ihren Augen der blasse Schrecken malte ihr den Zusammenbruch. »Wer mich heute mit Ihnen sieht, hält mich für die Anstifterin, ich bin verloren, kein Salon öffnet sich mir wieder. Steigen Sie aus!« verlangte sie dramatisch. Terra, kalt: »Fahren Sie mich bis zur Haltestelle des Omnibus!«

Dort angelangt, stieg er aus.


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