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Zweites Kapitel.
Die Ringer

Nach einigen Semestern an Universitäten, deren absichtsvoll erhaltene Romantik ihn in seiner modernen Geistesverfassung nur bestärkt hatte, ging Wolf Mangolf, um seine Studien abzuschließen, 1894 nach München. Dieser junge Doktor verkehrte bald bei mehreren Professoren und mit ihrer Hilfe noch weiter oben. Er glänzte nicht weniger auf Faschings- oder Sommerfesten, als bei den ernsteren Veranstaltungen der kunst- und bildungsbeflissenen Jugend.

Aber in seinen beiden elegant möblierten Parterrezimmern, wo der Lebenskämpfer unbeachtet nur die bescheidenste kalte Mahlzeit aß, streifte er sogleich seinen gutgeschnittenen Rock ab, und in alten, engen Schülerkleidern, die Stirn in Falten, rechnete er und zog die Bilanz. Die glühenden Wangen der Mädchen, die sich hatten küssen lassen, wurden genau so hoch veranschlagt, wie der Einfluß ihrer Väter reichte. Der kalte Händedruck eines jungen Adeligen wog schwerer. Der Beifall, nachdem wir »Tristan« gespielt hatten, ward auf seinen praktischen Gehalt untersucht. Wie viele Beziehungen hatte der Sommer uns eingetragen, wohin führte jene Einladung auf das Land, welche Aussichten auf offizielle Beachtung eröffnete solch' eine rechtzeitige Heuchelei?

Graf Lannas, »mein Kollege Graf Lannas«, hatte wörtlich gesagt: »Jeder junge Mann, der unsere tatsächlichen Zustände heute richtig beurteilt, darf annehmen, daß irgendwo gewisse Personen, die hierzu in der Lage sind, ein Auge auf ihn haben.«

Langsam und deutlich, vorigen Dienstag sieben Uhr, auf der Toilette. War es dennoch nur so hingesagt? »Am Mittwoch nahm er meine Einladung zum Frühstück an, am Donnerstag kam er. Er schien nicht verwundert, daß es Kaviar gab. Die Bürgschaft auf dem Wechsel verlangte er wahrhaftig von gleich zu gleich. Ich bin felsenfest überzeugt, daß er mich nicht mit ihr hängen läßt. Ein Graf Lannas, Sohn des Botschafters! Früher oder später erfährt es der Vater. Man hat ein Auge auf mich.«

Was nicht hinderte, daß die Bürgschaft den Hals kosten konnte! »Ich bin harmlos wie ein Kind. Was machen sich jene Leute noch aus dem Plebejer, der ihnen gedient hat.« Heiß emporsteigend der Haß gegen die Mächtigen, – aber selbst den Haß übertäubte der durchbohrende Schmerz: Du bist klein, bist abhängig von Wesen, die nach dem Recht der Natur Dir untergeben wären. Du mußt Dich in ihre Art einfühlen, Dein besseres Wissen hat sich auszugleichen mit ihrer Gesinnung, Du verleugnest Dich täglich. Wie lebst Du!

Den Brechreiz aufhalten, sich hinstrecken und die Augen schließen. Da erschien hinter den Lidern der Freund, verloren, ausgemerzt seit Jahren, von fern wie sehr verachtet, – aber träte er jetzt ein, Du fielest auf die Knie. Er würde sein maskenloses Gesicht haben, das die wahren Gefühle furchten, und es würde Reinheit fordern, auch von Dir. »Von mir! Was weiß er von mir. So einer fährt wie ein Tor durch die Welt, er will nichts, ihn brennt nichts, ihn reißt nichts hinab. Den Zwiespalt, worin Verzweiflung und Tod lauern, er sieht ihn garnicht. Der hat es leicht, der ist kein Ehrgeiziger!«

Und der Ehrgeizige neigte sich gegen sein Spiegelbild, diese bestgekannten Züge. Zu solcher Stunde waren sie von Selbstqual vertieft und zurückgesunken unter der breiten gelben Stirn, einer erschlafften Greisenstirn. Die Augen begegneten sich selbst mit bangem Haß. So saß er, und sein Geist durchmaß nun glühend, nun mit Schaudern, Erfolg, Macht und Tod, – bis endlich von allem Irdischen das Beste kam, der Schlaf, so heißgeliebt von einem süchtigen Ich, das sich vergessen darf.

Am Morgen erinnerte er sich dann: »Ich war noch immer nicht bei Lea. Die Bahnfahrt ist kurz, und sie wartet.« Er brach ab. Liebte man denn eine erfolglose Schauspielerin?

Dann also hinaus unter Menschen, heiter und nützlich sein, und gefallen. Schön gelenkig, auf den Händen durch das Zimmer! Einem so gewandten jungen Mann sieht niemand das Gesicht an, das er gestern zur Nacht hatte. Fratzen vor dem Spiegel! Das stimmt gelassen. Ist der Anzug einwandfrei in den Augen des Gecken wie des Spießers?

Schon war er unterwegs und in Gang gesetzt, der unbefangene junge Mann namens Wolf Mangolf; – da kreuzte seinen beschwingten Weg der Gedanke an eine unpassend gewählte Kravatte, und nichts half, er mußte nochmals umkehren.

An solchem schönen Septembertag begegnete er einem gewissen Kurschmied, einem unbeträchtlichen Bekannten. Mangolf wußte zuerst nicht einmal, wo er den geringelten Blondkopf schon gesehen habe. In der Umgebung eines Stadttheaters offenbar. Ganz recht, bei Lea. Ein Kollege, der ihr seine Verse vorlas. Aussichtsloses Mittel, ihr die Besinnung zu rauben.

Dieser Kurschmied überbrachte Grüße von ihr, und zwar in einer betretenen und anzüglichen Art. Es sollte bedeuten: »Sie ruft nach Dir, warum kommst Du nicht. Ich, der ich sie ehrlicher liebe als Du, habe von ihr den Auftrag, Dich zu holen. Da bin ich mit meinem tragischen Weh, was sagst Du.«

Mangolf nahm ihn einfach auf die Oktoberwiese mit, zur Erheiterung im Glanz der Buden, Karussells und Bierhallen. Zwei launige Maler waren noch dabei, ein reicher Junge, und dann Graf Lannas. Frauen fehlten, der Reiche bemerkte es schmerzlich, indes er um zwei Köpfe höher als Andere, dort oben sein Monokel einklemmte. Da stürmte er langbeinig in das Gedränge. Die Musik, von allen Seiten zusammendröhnend, verschlang seinen Schlachtruf, aber es war klar, er hatte ein Weib gesichtet. Die Übrigen folgten, Kurschmied immer bei Mangolf, immer beflissen für den Bevorzugten, als sei es ein Vorgesetzter.

Endlich zeigte es sich, was der Reiche vorhatte. An einem großen, wild flirrenden und brüllenden Karussell vorbei stürzte er sich hinter eine Budenreihe und auf ein nichts ahnendes Geschöpf. Es stand in kurzen Flitterröckchen, hielt frierend ein armes Tuch am Hals zusammen und erwartete irgendwen, zwischen Latten und flatterndem Sackleinen, an der Kehrseite des Festglanzes.

Die Freunde des Reichen ließen ihn gewähren, von drüben aber nahte schnell und sicher eine gedrungene Gestalt, befreite kurzer Hand das Flitterröckchen und ging mit ihm ab. Unter einer Lampe waren sie zu sehen, sie hatte viel rotes Haar, er aber ein überaus entschlossenes Profil. Hiebei ließen die Herren es bewenden, nur Mangolf nicht. Er verlor absichtlich die Anderen. Kurschmied freilich war unverlierbar, Mangolf mußte sich ihm halbwegs anvertrauen. Jener Mann – es beunruhigte ihn, ob es wirklich ein alter Bekannter sei. Nicht, daß er, unter solchen Umständen, die Bekanntschaft zu erneuern wünschte. Kurschmied werde es verstehen.

Kurschmied verstand noch mehr. Sein schonender Ton besagte, er ahne Hintergründe. So suchten sie gemeinsam rund um das große, wild flirrende Karussell und auf den dunklen Rückseiten nach Claudius Terra.

 

Aber einmal, in der Helligkeit der größten Budengasse, begegnete der Freund ihm wirklich. Während Kurschmied in der Menge suchte, sah Mangolf den Freund dort hinten durch einen freien Kreis schreiten. Halstuch und helles Jäckchen, die Hand in der Tasche der schwarzen Hose, heruntergekommen, aber den Kopf im Nacken. Mangolf wußte, der ablehnende Blick des Freundes habe ihn schon gestreift, er werde nicht mehr hersehen, so konnte er ihn lange betrachten. Im Betrachten aber ward sein Ausdruck demütig, – und als er dessen bewußt ward, war es zu spät; Kurschmied stand da und nickte, als wisse er alles.

Worauf Mangolf ihn kurz entließ und seiner Wege ging. Wer wollte sich zwischen ihn und Terra drängen! Er suchte den Rest des Tages nach ihm, wo er hinkam, gespannt, wie zum Zweikampf. Er lehnte es ab, Auskünfte einzuholen; von ihm selbst, aus eigenem Mund, wollte er wissen, auf welcher schiefen Bahn der Freund begriffen sei, wohin das ungebundene, ehrgeizlose Leben führte. Terra hatte ihn erblickt; er war nicht der Verräter, ihm dauernd auszuweichen.

Am Abend in der Kneipe ging die Tür auf, – er stand da. Mangolf hatte gerade einen Witz gemacht. Aus seinem Erfolg heraus begrüßte er Terra wie einen Erwarteten, aber gönnerhaft. »Gottlob«, dachte er dabei, »er hat sich anständig angezogen.« Terra ließ sich mit Selbstbewußtsein und einer gewissen Strenge die Gesellschaft vorstellen, den Grafen Lannas, den reichen Pilz, die beiden Maler und Kurschmied. Zeremoniös, unter scharfem Mienenspiel erkundigte er sich bei dem Grafen Lannas nach dem Befinden seines Herrn Vaters. Ob er ihn kenne? – »Aus seinen Taten«, sagte er klangvoll durch die Nase – und wandte sich an den reichen Pilz, dessen Millionen er auch schon kannte. »Die Seifen Ihres Herrn Vaters werden teurer, was ist denn da geschehen«, bemerkte er, machte aber sogleich die beiden Maler darauf aufmerksam, daß ein Nachbartisch sich offenbar für ihre berühmten Gesichter interessiere. »Es geht vorwärts«, sagte er und zog die Brauen hinauf.

Den Schauspieler Kurschmied, der ihn unverwandt musterte, übersah er. »Nun zu uns Beiden«, verhieß er und trank Mangolf zu. Das Trinken geschah ausführlich, mit kostenden Lippen und in besonders energischer Haltung. Wo hatte er es gelernt, mit Menschen so umzuspringen? Und sah er nicht, daß er auffiel? Mangolf stellte beunruhigt fest, daß die beiden Maler ihn schon karikierten; mit dem rötlichen, geteilten Bart, den er sich hatte wachsen lassen, seinen feurigen schwarzen Augen, dem Mund, dessen Winkel die Tatkraft förmlich ballte, – und alles doch nur das Gesicht eines Halbzwergen, der sich angestrengt größer macht.

Nach beendigtem Trinkakt erhob Terra das Glas nochmals gegen den Mittrinker, setzte es liebevoll hin und fragte mit plötzlich betonter Wiedersehensfreude:

»Womit, mein lieber Wolf, hast Du Dir also die Zeit vertrieben?«

»Wenn dies das entsprechende Wort wäre, dann, scheint es, hättest Du mehr zu berichten«, erwiderte Mangolf.

»Ich habe mir nicht die Zeit vertrieben«, sagte Terra; und hell trompetend: »Ich habe mich blamiert.«

»Du faßt die Blamage als Beruf auf?«

»Was könnte ein junger Hund, sofern er nicht schwachsinnig zur Welt gekommen ist, in ihr sonst tun, als sich blamieren.« Weiter, zu Kurschmied: »Wir sehen uns nicht das erste Mal, mein Herr.«

»Es wäre möglich.« Kurschmied wechselte mit Mangolf einen besorgten Blick. Terra fing ihn ab, worauf er sich, von der Vorfreude gehoben, an Pilz wandte. »Auch wir kennen uns. Die junge Dame, die Sie hinter einer Budenreihe des Volksfestes Ihrer Verehrung versicherten, verdient sie auf mein Wort. Sie hat eine Haut, so blendend, daß die Schlange, womit die Dame sich berufsmäßig umwickelt, im Schillern es mit ihr nicht aufnimmt. Schwarze Fingernägel stören Sie bei einer Frau nicht?«

Der Reiche verneinte es sachlich. Graf Lannas fragte nachlässig: »Sind Sie beim Varieté, Herr –?«

»Terra.« Und stotternd: »Herr Graf schmeicheln mir. Obwohl ich mancherlei Berufe –«

Sogar die Maler, die aufhörten sich anzustoßen, sahen mit Staunen, wie wehrlos jener Mensch war, sobald einer seinen Angriffen zuvorkam. Schon aber setzte Terra sich zurecht. Lannas begegnete seinem Blick nicht, – obwohl es immer ungewiß war, wohin die Augen des jungen Edelmannes, undurchsichtige Augen vom Glanz der Halbedelsteine, zielten. So blickte Terra von Lannas zu Mangolf; er begann feierlich:

»Mein verehrter Herr Graf! Ihr verehrter Herr Vater –«

»Was wollen Sie nur immer mit meinem Vater.« Der Edelmann zog vor dem unzarten Menschen die Schultern zusammen, als ob es ihn fröre.

»Ist mir der unwiderlegbarste Bürge Ihrer großen staatsmännischen Zukunft.« Gedämpft aber scharf: »Der Graf ist im Begriff, Minister zu werden.«

Der junge Lannas zuckte zusammen, bei der Nennung des streng behüteten Familiengeheimnisses. Er überzeugte sich, ob Mangolf gehört habe. Mangolf sah peinlich berührt aus. Terra, der nur darauf los behauptet hatte, ging sogleich daran, seine jetzt erworbene Vertrauenswürdigkeit auszunützen.

»Eben darum wagt meine obskure Wenigkeit es. Ihnen den Gedanken nahe zu legen, daß Sie es nicht eilig haben. In Ihrem Wesen, Ihrer Erscheinung macht sich selbst dem Uneingeweihtesten jene besondere und, das Wort sei erlaubt, verhängnisvolle Glut bemerkbar, die auf Erden nun einmal nur beim Theater ihre geeignete Verwendung findet.«

Wobei er die korrekte Gestalt des jungen Edelmannes ehrfurchtsvoll erstaunt überblickte. Die anderen bekamen hierauf neugierige Mienen, sogar Mangolf. Terra beachtete dies nicht. Er zog sich, als habe er die gräfliche Aufmerksamkeit schon zu lange mißbraucht, mit Zartgefühl ein wenig vom Tisch zurück.

Unvermittelt überkam ihn nochmals die Wiedersehensfreude, er trank wieder dem Freunde zu. Der Freund suchte zu erraten, welches neue Unheil bevorstehe, da kam schon die Frage: »Wann warst Du das letztemal bei meiner Schwester?« Und bevor Mangolf eine unanstößige Antwort geben konnte: »Meine Schwester befindet sich in einem öffentlichen Hause«, – klar und zu allen. Mangolf griff ein. »Der Witz ist gut. Auch ein Stadttheater ist mehr oder weniger ein öffentliches Gebäude.« Worauf die Mienen Erleichterung ausdrückten. Graf Lannas zeigte sogar Teilnahme.

»Hat Ihr Fräulein Schwester Talent? Glauben Sie, Herr, Pilz solle das Theater gründen, von dem er immer spricht? Ist ein Theater ein gutes Geschäft? Würden Sie die Leitung übernehmen und vielleicht auch Ihr Fräulein Schwester engagieren, falls sie Talent hat?« – wobei der junge Herr die Schultern zusammenzog.

Terra beantwortete diese hilflosen Fragen wie ein Vater. Er unterrichtete die Herren über die laufenden Gründungspläne, verriet ihnen einen erstrangigen, von Niemand noch erkannten Bauplatz und stellte sich ihnen persönlich zur Verfügung. »Was meine Schwester betrifft, ein pompöses Weib, werde ich mir erlauben, sie den Herren bei der ersten Gelegenheit hierselbst vorzuführen.« – »Ah!« machte der reiche Pilz und lebte auf.

Unverzüglich wollten die beiden Maler nach den Angaben Terras die Pläne entwerfen für das künftige Theater. »Ich glaube doch, Herr Mangolf wollte Ihnen noch einen Witz erzählen«, sagte Terra teuflisch. Aber Mangolf und Kurschmied, an dem Zeitvertreib unbeteiligt, setzten sich weiterhin, im schon geleerten Lokal – Mangolf schweigsam und gelb. Er sah gramvoll vor sich hin, sein plötzlich gealtertes Gesicht bebte leise.

»Ich verstehe Sie«, begann Kurschmied; und auf einen fremd fragenden Blick: »Welche Enttäuschung erleben Sie an Ihrem Jugendfreunde.« Zufolge einer Bewegung Mangolfs: »Sie wollen nicht, daß man es sieht, aber ich sehe alles. Ihr Freund macht seine Geschäfte auf Ihre Kosten«.

»Wer weiß«, sagte Mangolf, »ob im Grunde nicht mehr vorgeht, als eine einmalige Fopperei.« Er runzelte die Stirn, weil er bereute, laut gedacht zu haben, und lenkte ab.

Als Mangolf dann aufbrach, erhob sich auch Terra. »Meine Herren, so sehr ich Ihre vielversprechende Leidenschaft noch weiter mit meinen schwachen Talenten zu unterhalten wünschte, hier ist mein Freund. Wir entbehren einander seit Jahren. Trennen Sie uns an diesem ersten Abend nicht!«

Und er nahm den Arm seines Freundes, um mit ihm fortzugehen.

 

Der Freund sagte: »Du bist mitteilsamer geworden. Ich wollte nicht sagen: zynischer.«

»Das Meiste hab' ich allerdings schon mitgemacht.«

»Mit der Frau von drüben? Ihr habt euch in der Welt umgesehen?«

»Sie hatte besseres zu tun. Statt ihrer sahen sich zwei volle Dutzend jener Damen, deren Urtyp sie war, in meinem Hirn und meiner Tasche um. Ich hatte alle Hände voll zu tun. Und Du, mein lieber Wolf?«

Da bekannte Mangolf, plötzlich vertraulich wie einst, was ihm der Ehrgeiz sei. Kein Drang, sich zu versorgen und groß dazustehen. Eine Leidenschaft, dem Gelichter unbekannt, aber wirkend aus geheimer Tiefe, und darum in steter, geheimnisvoller Verbindung mit dunklen Kräften. »Man hat ein Auge auf mich.«

Terra blies durch die Nase und schwieg. Von der Seite stellte er fest, der Freund habe gerötete Backenknochen. »Darauf möchte ich Dir vorschlagen, eine gute Flasche Wein zu trinken«, sagte er zeremoniös wie bei einer ersten Vorstellung.

Mangolf war nicht geneigt, länger aufzubleiben, immerhin begleitete er Terra noch ein Stück Weges nach seiner erstaunlich abgelegenen Wohnung. Terra fragte: »Sollte Dir der Abenteurer Wiborg aus seinen Taten bekannt sein?«

»Wenn Du mich als Juristen fragst.«

»Er war mein Lehrer. Ein teurer Lehrer, aber es hat sich gelohnt. Dank seinem praktischen Unterricht stehe ich den verschiedenartigsten Zumutungen des Lebens nicht mehr mit solcher gottverdammten Hilflosigkeit gegenüber. Ich finde mich in Palästen und Spelunken zurecht. Dabei fällt mir ein, daß Du mich heute in einer Verkleidung gesehen hast.«

Indes Terra für seinen Aufzug von Nachmittags eine verblüffende Erklärung gab, bedachte Mangolf, daß sie schon wieder nicht fern von dem Festplatz seien. »Todmüde, und weit und breit kein Wagen – nimm mich mit auf Deine Bude!«

Hiegegen sträubte sich Terra, mit Gründen, die nicht überzeugten. Zum Schein machte Mangolf sich auf den langen Heimweg. Er wartete aber unter dem Hause gegenüber, bis bei Terra das Licht ausging, dann läutete er gegenüber, schlief in einer Pension, und am Morgen rief er Kurschmied herbei. »Lieber Kurschmied, hier stimmt etwas nicht, man hält mich zum Besten. Ich würde schweigen; aber Ihre Teilnahme gestern Abend schien ehrlich. Sie haben Ihren photographischen Apparat mit?«

Als Terra das Haus verließ, war er in dem Aufzug wie gestern. Sie folgten ihm, – wahrhaftig, auf die Wiese ging er. Mangolf, dem erschütternde Zusammenhänge aufdämmerten, sprach kein Wort. Hinter dem großen, flirrenden und dröhnenden Karussell, wie ausgelöscht von der Übermacht seines Glanzes, drehte sich ein Kleines. Sie waren immer daran vorbeigegangen, nicht einmal seine Musik war zu hören, in dem Gebrüll der anderen. Dort hinauf sprang Terra, während es sich drehte, sprang drinnen wieder ab, sprach mit dem zerlumpten Buben, der den Sammelteller hielt, und stellte sich statt seiner selbst hin.

Das Karussell lief ab, der Knabe ging, die zuschauenden Kinder anzulocken, Terra ermunterte die Mädchen. Als alle Mitreisenden bezahlt hatten, setzte er das bescheidene Musikwerk in Bewegung, und der hölzerne, grell bemalte Zauber nahm von neuem seinen Lauf. Die Kinder in einem heftig schaukelnden Postwagen machten eine bewegte Reise, der Junge auf dem Schimmel fühlte sich als General, und die Mädchen, die der goldene Schlitten trug, lebten, wenn auch die Hände ihrer Liebhaber ihnen um den Leib lagen, in einer Wirklichkeit, die nicht weniger trügerisch war. Dem Allen sah Terra zu, stand in der Mitte und verteilte es sozusagen – flüchtiges Glück für arme Menschen, denen übrigens nicht zu trauen war; hier aber drehte er sie, teuflisch lächelnd, um seine eigene Person.

Er lächelte zeitweilig mit einem Hohn, der an Irrsinn erinnerte; Mangolf und Kurschmied traten unwillkürlich näher zu einander. Dann aber bekam er ein Vatergesicht, sah gutmütig dem Traum nach, der seine Kinder entführte, um schließlich, indes das Karussell schon langsamer ging, als der gewöhnliche Aufpasser an seinem Posten zu stehen, plump, schofel und mit Geschäftsmiene.

Das Karussell hielt ganz, keine Musik mehr, da hörte Mangolf neben sich das Knipsen. »Sie haben ihn auf der Platte?« – »Ihn und seinen Betrieb.« – »Dann gehen wir.«

Aber jetzt brach durch die Menge das Mädchen mit dem Flitterröckchen. Ein karierter Mantel verdeckte heute das Röckchen, und zu dem alten Mantel paßte nicht der gepuderte Kopf, mit dem reichen roten Haar. Sie sprang entschlossen auf das Karussell, drüben half Terra ihr ritterlich, abzusteigen. Er ließ den Jungen allein einsammeln und führte sie nach der Mitte, in den bunt bewimpelten Verschlag aus Holz und Segeltuch. Da er die Tür schloß, sagte Kurschmied: »Wir müssen durch das Fenster sehen, steigen wir auf den Elefanten!«

Sie saßen droben und drehten sich schon, da ging durch das Volk hinter ihnen ein hörbarer Ruck. Geschrei, – und gegen das Karussell her wälzte sich etwas, zwei starke Männer, in Trikots aus ihrer Bude entwichen. Einer wollte den andern verhindern, aufzuspringen. Inzwischen erlangte das Karussell seine volle Geschwindigkeit, sie wurden fortgeschleudert und trollten sich, einander beschimpfend.

In dem Verschlag ward Geld hingezählt, man sah Hände auf dem Tisch. Nur Teile ihrer Bewegungen erfaßte man im Vorbeisausen; welche Hand gab, welche nahm? Kurschmied war dennoch seiner Sache sicher. »Er läßt sich von dem Mädchen bezahlen«, sagte er empört. »Das hätte ich denn doch nicht von ihm gedacht.« Hierzu schwieg Mangolf.

»Jetzt können Sie verschwinden«, bedeutete er kurzer Hand dem Schauspieler, als sie standen; und Kurschmied, enttäuscht aber gefaßt, verschwand.

Aus dem Verschlag trat das Mädchen, eine Hand hatte sie noch drinnen bei dem Mann, vielleicht an seinem Mund, vielleicht um seinen Hals. Sie sah schon von ihm weg, ihr Gesicht trug noch die Leidenschaft der Umarmung und schon die Angst des Abschiedes. Sie zog die soeben geliebkoste Hand an sich, an ihr Herz, und ging hinaus in das Leere. Aber schon an der nächsten Ecke ward sie erwartet von dem einen der starken Männer, einem gelben Menschen, der im Zustand der Ruhe, mit schlotterndem Trikot, nicht mehr stark, nur noch krank aussah. Er nahm sie sorgenvoll in Empfang, er zog, ängstlich verhandelnd, mit ihr ab.

Mangolf sagte eindringend: »Du bist entlarvt.«

»Wer sagt das!« rief ihm Terra, fast gleichzeitig, entgegen. Er war hochrot, er nahm eine Zigarette und paffte aus verzerrtem Munde. Ebenso plötzlich entspannte er sich wieder. »Nimm Platz, mein lieber Wolf!« und er wies auf eine Kiste.

Dann: »Dein bewährter Scharfsinn läßt Dich natürlich nicht einen Augenblick im Zweifel über Wesen und Bedeutung meiner öffentlichen Stellung. Die Menschen richtig lenken, wie sie es gewohnt sind, nämlich im Kreise; sie in Bewegung setzen, berauschen, beschwindeln, ihnen ihr Geld abnehmen und sie zum Teufel schicken: – tu' als Staatsmann mehr für sie, wenn Du kannst! Oder bin ich ein Dichter?«

»Mit geringeren Kosten«, sagte Mangolf, die Mundwinkel gesenkt. »Wo willst Du hinaus, mit Deiner unheimlichen Spielerei?«

»Mich hat das Leben gleich bei meinen ersten Gehversuchen dafür bestraft, daß ich es ernst nahm. Gott in seiner Güte bewahre mich davor, daß ich dem Leben je noch einmal auf den Leim krieche.«

Um sie her klingelte das Karussell. Jauchzen kreiste zur Musikbegleitung.

»Du entgehst ihm nicht. Komm wieder in die Welt mit! Es ist feige, dem Leiden auszuweichen«, sagte der Freund von unten, auf seiner Kiste.

»Gott hat mir die unvergleichliche Gabe versagt, unter meiner eigenen Schlechtigkeit so leiden zu können, als sei sie der ganze Schmerz der Welt.« Mit eherner Stimme sprach Terra. Der Freund aber, von unten:

»Das Mädchen, das hier war, sah nicht aus, als dächte es wie Du. Der ist es ernst.«

»Sie ist tausendmal wertvoller als ich«, sagte Terra durchdrungen. »Einzig mit Demütigen läßt es sich auskommen. Meine Verbindung mit dem Leben der Menschen sind die Töchter des Volkes, besonders die Rothaarigen.« Unvermittelt bekam er zornige Augen. »Kannst Du den Haß verstehen, dessen Menschen fähig sind? Warum lastet er so furchtbar auf mir? Ich trage diese Maskerade«, er berührte seine Kleider, »weil ich vorübergehend ohne größere Barmittel bin. Sie sehen es mir an, daß ich für eine solche Verfassung nicht gedacht war; das ist Grund genug für ihre teuflische Bosheit, sich zu belustigen, wo immer sie meiner ansichtig werden.«

Mangolf stutzte. »Irrst Du Dich nicht?« Terra sah ihn scharf an. »Als wäre es bei Euch in der Kneipe anders gewesen. Der ganze Theaterplan war eine Erfindung der Deinen, um mich im Atem zu halten und Euch etwas zum Lachen zu geben.«

»Mich dünkt doch –«. Aber Mangolf stockte. Die Augen Terras waren gerötet, und sie flackerten. Das Gesicht hatte seine ganze Zucht verloren. In diesen Zügen wankte der Wille.

Da sagte Mangolf gesenkt, und nun selbst erhitzt: »In der Kneipe trugst Du freilich bessere Kleider. Aber der Grund weshalb sie uns hassen, sind nicht unsere ärmeren Kleider, es ist unser reicherer Geist.«

Terra, auch gesenkt: »Sie zwingen uns, da sie uns unterdrücken wollen, herrschsüchtig zu sein.«

»Wir haben den Trieb, zu herrschen«, blies der Freund ein. »Habe Erfolg!«

»Ich sträube mich noch«, gestand Terra ganz leise. »Ich will noch rein bleiben. Aber als ich unlängst von dem Bankrott meines Vaters erfuhr, den ich doch leidenschaftlich ersehnt hatte, da hat mich zu meiner ewigen Schande das Entsetzen gepackt, daß ich nun also ganz im Ernste ein Deklassierter sei.«

Der Freund nickte. Wo waren eherne Stimme und überlegene Vernunft, wo auch das Mißtrauen beider. Eine Wolke verdunkelte das Fenster, in dem engen Verlies sahen sie ihre Gesichter nicht mehr. Jeder für sich litt köstlich unter seiner tiefen Ähnlichkeit mit dem andern.

Draußen war es vorbei mit Jauchzen und Musik, ein Streit brach aus, Terra mußte dazwischentreten. Als er zurückkam, hatte er nur den einen Gedanken, sich zu rächen für den Augenblick der Selbstentblößung. Aber Mangolf kam ihm zuvor. »Hat das Mädchen Dir nicht, als sie hier war, Geld gegeben?«

Terra wankte wie von einem Stoß. Er stotterte lange, verzerrte das Gesicht, brachte aber dann klar geformt hervor:

»Ich muß es bekennen, da ich nun doch einmal von Dir durchschaut bin. Ja, Dein Jugendfreund ist ein so tief gesunkenes Subjekt, daß er nur noch von dem Schandgeld einer Dirne sein bejammernswertes Dasein fristet.«

Mit stark übertriebenem Ausdruck. Der Freund fragte sich: Was will er. Terra aber beruhigte ihn: »Deine tiefe Seelenkenntnis kann an der Echtheit meiner Zerknirschung unmöglich zweifeln.« Worauf Mangolf gehen wollte. Jetzt aber kam Terra mit seiner Überraschung. »Gibt es hienieden einen mildernden Umstand für meine Verworfenheit, dann suche ihn bitte einzig in der feststehenden Vernunftwidrigkeit des Lebens, die grade einen Mann wie mich zum politischen Agenten ausersehen mußte.«

Da Mangolf ihn nur ansah:

»Das würdest Du nicht denken, wenn Du es um mich her klingeln und jauchzen hörst. Eben dies aber –« er flüsterte durchdringend – »wünschen die Herren, die hinter mir stehen. Es lenkt ab, es schläfert den Argwohn ein. Man kommt in vertrauter Begleitung, man fährt im Kreise, und ahnt nicht, daß an verborgener Stelle ein Bericht einläuft. Hier stellt das geheime Wesen unseres deutschen Staates mit seinen tiefen Beziehungen zu der Weltenunvernunft sich bildhaft dar. Jeder Einzelne, so frei er seine Schritte zu lenken glaubt, gilt dem unsichtbaren Auge, das ihm folgt, nur gerade, insofern er brauchbar scheint.«

Mangolf, mit gefalteten Brauen und gesenkten Mundwinkeln, wandte sich schon ab, da brachte Terra ihn nochmals zum Stehen. »Mache die Probe! Ich verrate zu viel, ich tue es um Deiner Achtung willen. Geh' ins Hotel Karlsbad, sieh die Tafel beim Portier nach großen Herren durch. Du findest keinen, Du wirst hören, auch angemeldet sei keiner. Morgen aber um fünf –«

Terra betonte alles.

»Punkt fünf kannst Du durch die Halle den Höchsten Deiner geheimen Gönner schreiten sehen.«

Terra sah ihm bezwingend in die Augen, ein Schauer überlief Mangolf.

»Daß Du ihn nicht ansprichst!« flüsterte Terra. »Alles wäre verloren.«

Mangolf wartete noch, er hob die Schultern, wollte etwas hervorbringen, – aber dann ging er wortlos, wie verzaubert, durch eine große Stille von dannen.

 

Terra, völlig aufgeheitert, setzte sich händereibend vor seinen Verschlag. Der Junge brachte ihm das Mittagessen und lief weiter. Der Festplatz stand für eine Stunde leer, das große Karussell sogar hatte sein Flirren und Dröhnen eingestellt. Aber die schwüle Luft roch weiter nach Menschen.

Terra stellte grade den Topf weg, da vernahm er ein Schnaufen, und hinter ihm ward der hölzerne Boden erschüttert. Er sah sich um. Verdammt, der Athlet! Der Stärkere der beiden, sein Feind! Terra gab sich eine eherne Maske, er wartete. Der starke Mann kam schaukelnd herbei, jeder Schritt ein schweres Ereignis. Er schnaufte nicht nur vor Hitze, auch von den Vorsätzen, die in seiner Miene standen. »Jetzt wird Schluß gemacht«, sprach er aus. »Du gibst Ruhe oder –«

»Nehmen Sie eine Zigarette?« fragte Terra kalt. »Übrigens wen meinen Sie? Ich bin mir nicht bewußt –«

Der starke Mann nahm plötzlich seinen Hut ab. Als Terra ihn eingeschüchtert sah, wies er leutselig auf einen Stuhl. Gehorsam setzte sich der starke Mann. »Herr Hähnle«, begann Terra. »Sie sehen, Sie sind mir nicht fremd. Ich kenne Sie durch Ihren Freund Schunk.«

»Schunk ist mein Freund nicht«, murrte Hähnle, mit verhaltener Kraft. »Ich kann ihn nur nicht loswerden.«

»Das ist eben Freundschaft, Herr Hähnle.«

»Fein reden kann ich nicht« – immer verhalten. »Ich rede gradezu. Sie sollen dem Schunk kein Geld mehr geben, Herr.«

»Ich gebe ihm keins.«

»Wem Sie es geben, ist gleich. Er kriegt es.«

»Er ist ein kranker Mann, er macht schlechte Geschäfte.«

»Wer krank ist, soll fort«, entschied Hähnle, »und mir das Brot nicht nehmen.«

»Sie sind Darwinist, wie ich sehe.«

»Witze mag ich nicht« – immer verhalten, aber mit rotem Kopf. »Der Schunk und ich haben früher das Geschäft zusammen gehabt. Ich hab' ihn auch behalten, als er krank wurde, und ringen mußte er nicht mehr im Ernst, wir taten nur so. Ist das ein Freund, der mir fortläuft mit einem Mädchen?«

»Das Mädchen ist der springende Punkt«, bemerkte Terra. Hähnle hielt es wohl für einen Witz. »Springen Sie selbst!« brüllte er entfesselt und trat Terra auf beide Füße. Terra sprang wirklich, dann brach er sogar in die Knie. »Hund!« brüllte Hähnle, »gibst Du dem Mädchen kein Geld mehr?«

Terra schützte mit dem gebogenen Arm sein Gesicht; hinter dem Arm sagte er fest: »Es steht vollständig in meinem eigenen Belieben.«

»Das sollst du nicht noch einmal sagen«, – womit Hähnle ihn auch schon bei den Schultern hatte. Er schickte sich an, sie gegeneinander zu drücken, daß nichts übrig blieb. Terra fühlte seine Sinne schwinden, da rief eine weibliche Stimme »Achtung!« – und Hähnle mußte wohl unterbrochen sein, er ließ sein Opfer und machte einen Satz. Terra sah sich um nach der weiblichen Stimme. Ein junges Mädchen stand auf dem Karussell, zwischen dem Löwen und dem Kamel, ihr gestreckter Arm hielt einen kleinen schwarzen Revolver.

Hähnle zog sich ehrerbietig zurück. Bei dem Boden des Karussells angelangt, machte er noch einen Satz, war hinüber und verschwand laufend. Terra bemerkte auf einmal, daß er selbst, auf seine Hände gestützt, an der Erde sitze und den Mund offen halte. Er schloß ihn, stand auf und säuberte sich, mit Bewegungen, die ihn verstecken sollten. »Verdammt, eine junge Dame hat meine Feigheit vor dem Feind mitangesehen!« Er beeilte sich nicht; vielleicht war sie jetzt schon fort? Ach nein, sie hatte noch eine zweite dabei, und beide lachten. Es blieb nichts übrig, er machte mitten in seiner runden Arena eine tiefe Verbeugung und sagte schon im Näherkommen, großartig und munter zugleich: »Gnädigste haben mir gradezu das Leben gerettet.«

Bei seiner Ansprache stutzte die Person, errötete und äußerte eine Art von Entschuldigung, wobei sie ihn aber prüfte. Er seinerseits hatte einen ungünstigen Eindruck: die Nase zu lang, und das anmaßende Lachen. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, sagte er umso förmlicher. »Darf ich Sie bitten, anzunehmen, was meine Hütte bietet.«

»Was bietet sie denn?« – so spöttisch, daß es anzüglich klang. Er aber, ohne Übergang frech: »Eine Freifahrt.« Da bekam sie ein Gesicht, verlegen wie ein Kind. Er sah erst jetzt, wie jung sie war. Augenscheinlich hatte sie Lust und wagte nicht. »Kommst Du mit?« fragte sie die andere, in deren Miene Bedenken standen. Terra mißbilligte die andere, weil sie störte, im übrigen verdiente sie keine Beachtung.

»Steigen wir ein!« rief seine Dame tapfer. »Meiner Freundin wird es schwindlich. Lisa, Du holst mich dann ab.«

Sie saß schon in dem Schwanenschlitten, Terra setzte das Karussell in Gang und blieb, peinlich besorgt, sich nichts zu vergeben, in der Mitte stehen. »Nun?« rief sie, im Vorüberfahren. Da sprang er hinauf zu ihr, wie ein Wilder. Sie wich doch in die andere Ecke, – wo seine Blicke sie verschlangen.

Denn sie hatte dunkle Augen zu dem hellen Haar, und noch die ersten frischen Farben, obwohl so geistreiche Augen. Da war es hinzunehmen, daß ihre Gestalt noch unreif wirkte. Die Nase, die Spott ausdrückte, ward ausgeglichen von den Augen. Merkwürdige Augen, was hatten sie? »Wie kommen Sie hierher?« fragte die junge Dame. Er bemerkte unruhig: sie hatten Strahlen in der Pupille, sie hatten schwarzgeränderte Lider. Jetzt schlossen sie sich halb und sahen aus wie ein glänzender Witz. Hatte die Dame etwas gefragt?

»Auf Umwegen«, antwortete er.

»Ich auch«, sagte sie, und von ihren Augen ward damit viel gesagt. Aber was konnte es schon heißen. Er vermutete:

»Wohl geradeswegs vom Elternhaus? Es steht etwa auf einem ländlichen Pfarrhof, sagen wir an der Elbe?«

Sie antwortete mit den Augen allein, aber er ward rot davon. Plötzlich sah er auch, daß ihr Haar gefärbt war. Er sagte anzüglich:

»Bürgerkinder, die etwas anderes vorstellen wollen, übertreffen manchmal ihr Ideal.«

Nun biß sie sich auf die Lippen. Dann versuchte auch sie es, anzüglich zu sein. »Ihr eigenes Ideal –« sie führte die Hand im Kreis umher – »hat Sie große Kämpfe gekostet? ... Das ist immer so«, antwortete sie selbst. »Damit ich mir die Haare färben konnte, mußte ich drohen, einen Liebhaber zu nehmen.«

»Und Sie lassen es bei der Drohung?«

»Ich denke nicht daran« – hochgemut wie ein Knabe.

Da spürten sie einen schwachen Stoß; Jemand war aufgesprungen – ein Mädchen, rothaarig, im karierten Mantel. Dort saß sie, gerade ihnen gegenüber auf dem Brett hinter der Postkutsche, blickte her aus mehlweißem Gesicht, groß und stumm. Die junge Dame begriff wohl; sie sah auf Terra aus geistreichen Lidern. Er war ratlos, ob jetzt abzusteigen wäre. Statt dessen rückte er ihr näher, erklärte die Lage wie es ging, – und da sie den Kopf plötzlich bewegte, traf sein naher Mund ihren Hals, bei der Wange. War es vor Schreck, und um ihn fortzustoßen, daß sie sich gegen seine Lippen drängte?

Als beide die Augen wieder öffneten, war das Mädchen fort. Sie schwiegen betroffen. Dann sah die junge Dame sich hastig um. »Meine Freundin bleibt lange aus.«

»Es ist nicht Ihre Freundin«, sagte Terra. Seit drüben das arme Mädchen gesessen hatte, ward es ihm bewußt, diese hier sei gekleidet wie eine Reiche. Er bereute alles.

Sie sagte: »Finden nicht auch Sie es schwer, so – durchschnittlich zu werden, wie man möchte?« Ihre Augen sagten: so gemein, und widerriefen alles, was geschehen war.

Er sagte schneidend: »Ich bin Millionär. Es handelt sich um eine Wette. Eine Dame wie Sie, Gnädigste, sollte mir auf den Leim gehen.«

Statt einer Antwort nahm sie leichthin aus ihrer Tasche den kleinen schwarzen Revolver, spielte damit und – entfaltete ihn. Es war ein Fächer. Terra wich, bis er aus dem Schlitten war.

Das Karussell hielt an, die junge Dame winkte ihre Begleiterin herbei und auch die Kinder, die wieder umherstanden. Alle durften fahren, sie zahlte. Dreimalige Fahrt – dann erinnerte sie sich des Turmes nebenan, von dem man abrutschte. »Dorthin wollen wir. Man rutscht in zwei Sekunden ab, das ist gefährlicher als Ihr Karussell und lohnender.«

Fort war sie. Er hatte keine Zeit, ihr nachzusehen, das Karussell füllte sich schon wieder. Wie er Kinder in den Schwanenschlitten setzte, fand er darin ein Buch: Ariost, italienisch – ohne Namen.

 

Der größte Andrang war vorbei, er übergab das Geschäft dem Jungen und ging. In bürgerlicher Kleidung auf dem Sopha seines möblierten Zimmers dachte er, indes es dunkelte, an ihr Geständnis, es sei schwer, gemein zu werden. Dabei hatte sie den Kopf gehalten wie Lea. Schwer war es für ihn, für sie und für Lea. Er fühlte: ich muß sie wiedersehen, – und entschied nicht, ob jene Fremde oder seine Schwester.

Klopfte es? Da stand sie in der Tür: noch glaubte er, es sei die Fremde, da sagte sie aus dem Dunkel: »Klaus«. Die Schwester war es. Sogleich sprang er auf, »ich habe einfach geschlafen« – machte Licht, nötigte sie beflissen auf seinen Platz, bot ihr Tee an: bei all' dem immer schwankend, was zu sagen sei. Sie belächelte ein wenig seine Verlegenheit, indes sie ihm antwortete. Es gehe ihr gut, o, recht gut. Das erste Jahr, er wisse es, sei sie zu einer Beliebtheit geworden. Dann kamen die Rückschläge, die Feindschaften. – »Also doch nicht gut?« – Nein, nicht gut. Sie kam jetzt von einem Gastspiel an einem Hoftheater. Starker Erfolg, aber nicht engagiert, denn ihre Stimme hatte gelitten. Sie machte »i« durch die Nase, um sich wieder einmal zu prüfen.

Der Bruder stand vor ihr, er fühlte: dies ist endlich die Ruhestunde, wir dürfen beichten, vielleicht weinen. Die Schwester fragte: »Warum bist Du niemals gekommen, mich ansehen?« Da sagte er breit: »Liebes Kind, ich mute es auch Dir nicht zu, die Verantwortung zu übernehmen für meine Leistungen oder gar für meinen Lebenswandel.«

Jetzt lächelte sie traurig. »Du stellst Dich, als seiest Du mit allem fertig. Wir sind es nicht.«

»Sonst würden wir bessere Ellenbogen haben – und Erfolg.«

»Nicht wahr?« – und sie schloß eine Sekunde lange die Augen. »Unsereiner mag entschlossen sein, für den Erfolg alles, rein alles zu tun.« Sie bewegte die Hand ein wenig theatralisch. »Es hilft nichts.«

»Du kannst Menschen umbringen«, sagte der Bruder mit rollender Stimme. »Du wirst davon nichts haben.«

»Einer wird etwas davon haben« – sie sprach nur vor sich bin.

»Seit wann hast Du ihn nicht mehr gesehen?« fragte er verhalten. Er war überzeugt, sie komme gerade jetzt von Mangolf. Sie sagte aber: »Seit ich keinen Erfolg mehr habe.« Da schwieg er und schob die Zunge hin und her. Ihr Gesicht war im Schatten des Lampenschirmes, hatte sie denn wirklich Tränen in den Augen? »Nicht um uns, sondern um Jenen? ... Nun, sie ist ein Theatermädchen geworden und beweint ihre Jugendliebe ... Was aber aus ihr wird, sie ist Lea« – und schnell setzte er sich neben seine Schwester, er sagte schonend:

»Ihm nachtrauern? Eine so schöne Person wie Du?«

Er musterte sie, pries ihr einzeln ihre »Mittel«, dann sagte er: »Ich bin kein Schulmeister. Du darfst also ruhig aus der Schule plaudern.« Mit einem Seitenblick: »Zum Beispiel, der Kurschmied?«

»O!« – voll Schrecken. »Ein wirklicher Freund!«

»Und solche, die mehr sind?« – Da sie vielsagend schwieg: »Nun, Gott sei Dank.« Er rieb sich die Hände. »Der liebe Wolf trägt Hörner! Ich wäre der letzte aller Dilettanten, wenn es mir nicht glücken sollte, ihm zu beweisen, daß er ein lächerlicher Narr ist.«

»Was hast Du vor?« Mehr gespannt als besorgt.

»Einen heillosen Spaß« – wobei er aufstand, um sich Bewegung zu machen. »Jemanden, der an höhere Mächte glaubt, kann es den Verstand kosten.«

»Das ist grausam«, sagte sie, ohne große Erregung. »Rächst Du Dich an ihm?«

»Vielmehr Dich«, rief er feurig. »Du sollst Erfolg haben – in demselben Augenblick, da er den schändlichsten Hereinfall seiner empfänglichsten Jugendjahre erlebt. Ich gründe ein Theater, Du wirft die Primadonna.« Auch sie stand auf. »Ist das Ernst?«

Er nahm sie vertraulich beim Arm, er sprach ihr von dem, was vorging mit Pilz und Lannas, er malte es aus. Die Dinge wuchsen, ihm selbst leuchtete es plötzlich ein, sie seien weiterzuführen. »Du wirst es sehen heute Abend, die Harmlosigkeit der braven Leute hat etwas Beschämendes, sie machen es uns zu leicht. Wozu ist man mit allen Wassern gewaschen.« Ihr am Ohr: »Der Parfümeur Pilz, dem der Mund nach Dir wässert, ist völlig der Mann, sich jahrelang von Dir an der Nase herumführen zu lassen. Inzwischen sind unsere Geschäfte besorgt« – böse auflachend, und sie lachte mit, ihr Bühnenlachen. Sie wechselte die Stellung und wartete, den Kopf im Nacken, auf ihr Stichwort.

Statt es ihr zu geben, setzte er sich in das Sopha. Er schwieg, bis sie wieder neben ihm saß.

»Haben wir dies alles nicht schon als Kinder erlebt?«

»Du meinst die Tanzstunde.«

»Ich verriet dem kleinen Wolf Mangolf, daß Du mit ihm zu tanzen wünschtest. Darauf schämtest Du Dich furchtbar.«

Die Schwester schien sich noch heute zu schämen. Der Bruder sagte: »Unser Haus haben sie niedergerissen. Ob wenigstens im Garten noch die Bank steht?«

»Auf der Bank lasest Du mir das Märchen von den roten Schuhen vor. Ich fürchtete mich vor ihnen. Noch jetzt, manchmal, wenn ich nicht weiß, wohin es kommen soll, denke ich, daß ich an den Füßen die roten Schuhe habe, die immer weiter tanzen.«

Da klopfte es. Ihre Hände, die ineinander lagen, trennten sich.

Kurschmied war es. Er begrüßte die Kollegin mit einer gewissen Abgeklärtheit, in die er Spuren des inzwischen Durchgekämpften hineinlegte, den Bruder aber mit fühlbarem Abstand. Er kam von ihrem gemeinsamen Freunde Mangolf, um sie zu einer kleinen Wiedersehensfeier abzuholen. Mangolf habe es sich nur schwer versagt, das erste Beisammensein der Geschwister zu stören.

»Er hält mit sich zurück«, erklärte Terra. »Er steht vor einer Wendung seines Schicksals.«

»Den Eindruck habe ich auch«, bestätigte Kurschmied. Dann brachen sie auf.

Im Restaurant war ein Zimmer bestellt. Kurschmied, der hineinging, ließ die Tür offen; Lea Terra sah draußen im Spiegel, wie aus dem Zimmer ein langer Mensch mit angstvollen und gefräßigen Vogelaugen nach ihr lugte. Sie blieb vor dem Spiegel, obwohl sie fertig war. »Der ist unmöglich!« sagte sie mit geschlossenen Lippen, und legte ihre lange Perlenkette zurecht. Der Bruder half ihr, lächelte galant, und zwischen den Zähnen murmelte er: »Schulden hast Du keine? Und Deine Perlen sind echt?«

Drinnen sagte Graf Lannas: »Tatsächlich ein pompöses Weib,« – während sie schon eintrat. Der reiche Pilz war wortlos, wie ein erwartungsvoller Freier, und die Hand, mit der er die ihre berührte, war feucht. Pilz, Lannas und ihnen gegenüber die beiden Maler standen Spalier, Mangolf führte die Schauspielerin hindurch.

»Lea, ich habe niemals vergessen«, flüsterte er, und hielt ihr am Kopf der Tafel den Sessel hin.

»Auch ich weiß noch manches«, sagte sie, ohne die Stimme zu senken. Und zu allen: »Lea heiße ich beim Theater. Ist das gut, kann man damit etwas werden?«

»Als ob Sie nur den Namen hätten – Fräulein Lea«, hauchte Pilz, rechts von ihr; und Mangolf, links, senkte die breite Stirn, wobei, wie zufällig, eine Locke darauffiel. Vor der Mitte des Tisches vollzog Terra umständlich den Trinkakt und nahm hierfür auch sein Gegenüber, den Grafen Lannas, in Anspruch. Neben ihnen die beiden Maler winkten von weitem mit den Gläsern nach Fräulein Lea. Kurschmied aber, am anderen Ende, sah über sie hinweg die Wand an, – bis die Kollegin ihn aufrief. »Sie haben mich in Hosenrollen gesehen. Nun?« – Da lächelte er blaß zu den Herren hin. »Versäumen Sie es nicht!« – und neigte sich erglühend über seinen Teller.

Der Bruder trank der Schwester zu. »Auf Deine Beine«, sagte er klar und deutlich. Sogleich bekamen die Herren beherrschte Mienen. Graf Lannas prüfte den Bruder unauffällig. Pilz erklärte: »Wir meinten es nur im Hinblick auf den Naturalismus.« – »Einverstanden«, sagte Terra, und zwang Mangolf, in dessen Augen Gram und Verachtung erschienen, mit ihm zu trinken.

Die Herren ließen es sich von dem Bruder gesagt sein. Graf Lannas erbat sich über Mangolf hinweg, die Hand der Schwester, um, die Schultern fröstelnd zusammengezogen, ihre rosig polierten Nägel zu bewundern – nichts weiter. »Und meine Augen?« fragte sie und zog ihn an der Hand hinauf, da sah er ihr höflich und zerstreut in die Augen. »Komisch«, sagte sie, im Augenblick ganz ernst, »es gibt noch Zartgefühl ...« Pilz, nicht fähig, dies aufzufassen, äußerte mit wankender Stimme seine Anerkennung für das Rot der Lippen, ihren ausdrucksvoll umränderten Blick. Die Schwester lachte singend und unberührt. Ein wenig verzerrt sah Mangolf dem zu. »Mangolf ist langweilig«, hörte er sagen, und schwur sich, es solle ein Ende nehmen.

Der Bruder klopfte auf den Tisch.

»Dies sind noch immer Präliminarien. Meine Herren, die Künstlerin steht vor dem Abschluß mit einer unserer ersten Hofbühnen. Haben Sie Besseres?«

Graf Lannas sah fragend aus, er hatte alles vergessen. Aber Pilz hatte Besseres. »Hier die Pläne. Die höchste Gage bezieht Lea Terra – von mir«, sagte Pilz und wollte gemein werden. Da er zurückgewiesen ward, wollte er mit seinem Direktor Terra Bruderschaft trinken. Terra sagte schneidend in die Ausgelassenheit hinein: »Dafür ist es noch Zeit, nachdem wir unterschrieben haben,« – und er bestellte Sekt.

»Engagiert Ihr Kurschmied?« fragte die Schauspielerin. Denn Kurschmied starrte die Wand hinan. Er sagte erbleichend: »Das Ansinnen müßte ich ablehnen.«

Befremdete Gesichter; – aber Mangolf erhob zum erstenmal die Stimme. »Ich bin in der Lage, das Verhalten des Herrn Kurschmied den Herren zu erklären.«

»Schieß los!« sagte Terra, und sah ihn an. Mangolf hielt den Blick aus. Dann beteuerte er ernst, geradezu schmerzlich, daß er die Mitverantwortung dessen, was geschehe, nicht länger tragen könne.

Große Spannung, alle Augen auf Mangolf. Terra, mitten am Tisch völlig einsam, trank ein Glas Sekt nach dem andern, wozu er Fratzen schnitt. Die Schwester lachte verstört.

»Mein Jugendfreund ist auf unbegreifliche Art gesellschaftlich verkommen«, sagte Mangolf gedämpft und mit Gramfalten. »Wie? das mag ich nicht aussprechen. Herr Kurschmied zeigt es Ihnen im Bilde.«

Schon hielten die beiden Maler die photographische Aufnahme des Karussells in Händen. Sie bekamen runde Augen und gaben das Bild weiter. Dann erst lachten sie hinter den Servietten, indes Pilz und Lannas nur ungern den Ernst der Lage erfaßten. Die Schwester lachte sie aus. »Und ich? Ich bin schon mit Volkssängern aufgetreten. Das ist ehrlich verdientes Geld.« Sie dehnte sich und hatte Augen, wie berauscht. Der reiche Pilz widerstand nicht, er gab zu, auch ein Karussellbesitzer verdiene ehrlich. »Leider nein«, sagte Mangolf.

Jetzt warteten sie unzufrieden. Er empfand es. »Ich wirke störend«, sagte er, »mit meiner unerwünschten Gewissenspflicht. Auch mich stört sie.«

Alle sahen seinen inneren Kampf. Zusammengepreßte Lippen, zuckende Schläfen, und die Augen schlossen sich; so saß Mangolf da, im Angesicht der Welt. Er wollte sprechen, vermochte es nicht, führte die Hand an die Stirn und sah noch einmal den Freund an, letzter, flehender, leidender, alles gestehender Blick, – bevor er überwunden hatte und sprach.

»Mein Freund lebt von dem Geld einer Frau«, sagte er knapp. »Er selbst hat es mir zugegeben.«

Da rückten alle Stühle. Terra saß, geduckt und fletschend, in einer Runde des Entsetzens.

»Schluß«, sagte Graf Lannas, mit schüchternem Bedauern.

»Ich danke Ihnen« – Pilz streckte Mangolf die Hand hin.

In diesem Augenblick machte Kurschmied auf sich aufmerksam. Er stieg steil vom Stuhl auf, röchelnd, als würge ihn Jemand. Seine geängsteten Augen irrten von Mangolf zu Terra. Plötzlich schlug er die Hände vor das Gesicht, und unförmlich aufheulend flüchtete er.

Die beiden Maler nahmen ihn komisch, die beiden anderen Herren wurden durch sein Betragen darauf hingewiesen, daß es nicht angemessen sei, viel Aufheben zu machen.

»Das soll uns nicht hindern«, sagte Pilz gefaßt und stieß mit der Schwester an. Sie wechselte trinkend einen Blick mit dem Bruder, – worauf sie dem reichen Pilz um den Hals fiel. Er wollte zugreifen, aber sie riß sich los.

»Zerreißen Sie mir nur meine Perlenkette! Sie ist vom Prinzen Iffingen. Ich beziehe von der fürstlichen Güterverwaltung eine Rente auf Lebenszeit. Klaus, wie viel brauchst Du?«

»Das ändert Manches«, bemerkte Pilz.

»Meinetwegen«, sagte Graf Lannas – und schob beglückt seinen Stuhl auf den Platz Mangolfs, der jetzt hinter Lea im Schatten saß.

Mangolf sah toten Auges, als sei er selbst der Geschlagene, dem Geflirr ihres grell bestrahlten Haares und Nackens zu, dem Spiel ihrer Arme, die abwehrten und lockten. Sie ward noch unverblümter. »Ich ziehe Ihnen die Lebewelt in Ihr Theater!« Terra hörte von seiner Schwester die helle, leere Stimme der Frau von drüben.

»Mein Kind!« rief er schallend. »Hast Du Dein Trikot an, dann tanze!« Er klatschte in die Hände.

Sie stand wirklich auf. »An's Klavier, Herr Doktor Mangolf!« Er gehorchte. »Tristan!« verlangte Terra. Während Mangolf ihr einen Walzer aufspielte, strich Lea, den Kopf im Nacken, durch die Luft über ihr Kleid hin, als streifte sie es ab. Die Männer jubelten, als stände sie nackt; nur Graf Lannas sah sie an, als wollte er es nicht glauben.

»Zuerst der Vertrag!« sagte sie zum Takt des Walzers.

»Gemacht«, sagte Pilz, ließ sich von Terra den Vertrag reichen und unterschrieb. Terra zog ihn dem Reichen unter der Hand fort, er faltete ihn sorgfältig, wobei er herausfordernde Blicke schoß. Dann zerriß er den Vertrag. »Wie, Lea? Der Erfolg genügt uns.« Er klingelte nach dem Kellner. Pilz wollte den Sekt übernehmen, er bat es sich aus, oder doch einen Teil! – aber Terra ließ nicht mit sich handeln. »Die Herren werden erlauben müssen, daß ich bezahle, was ich bestellt habe«, sagte er, streng und gediegen.

Seiner Schwester legte er selbst den Mantel um. Im Gang draußen sagte Mangolf nahe bei ihm und gepreßt: »Ich mußte es tun.«

»Das weiß ich«, sagte Terra. »Du hattest den Auftrag von Gott. Vergiß nicht, morgen fünf Uhr.«

Aus der Gasse beim Haus sprang Kurschmied hervor, er hielt Terra an, Mangolf gewann Zeit, mit Lea voranzugehen. »Ich weiß alles!« raunte Kurschmied inbrünstig. »Soll ich Ihnen zu Füßen fallen?«

»Ich hatte nicht den Eindruck, daß Sie übermäßig tranken.«

»Ich bin das Opfer eines tragischen Irrtums!«

»Sprechen Sie endlich wie in einer lebenswahren Rolle!«

»Ich komme durch die Hintertür. Pilz jammert, er sei von Ihnen gefoppt. Nein! niemals in Ihrem ganzen Leben haben Sie den Gedanken gehabt, Ihre Schwester zu verkuppeln. Nur der Verrat Ihres falschen Freundes war so teuflisch angelegt, daß ich wahnsinnig zu werden glaubte, als es mir klar ward, wozu ich mißbraucht sei. Sie, den ich für den verruchtesten Menschen unter Gottes Sonne gehalten hatte –«

»Sie schmeicheln mir.«

» – sind einer der edelsten. Sie gehen mit einem unstillbaren sittlichen Bedürfnis durch das Leben.«

»Woher wissen Sie –!« Terra sah sich den Blondkopf genauer an. Er hatte blaßblaue Halbkreise unter den Augen, und die Nasenwurzel glänzte weiß.

Mangolf dort vorn ging nahe an Lea, aber halb hinter ihr, wie Kurschmied an dem Bruder – und flehend geneigt unter ihren Hutrand. Sie warf über die Schulter: »Warum sind Sie nie mehr gekommen? Sagen Sie mir einen Grund, an den ich mich halten kann.«

»Überlegen Sie es sich noch«, sagte Terra zu Kurschmied. »Schließlich nehme ich von dem Jahrmarktsmädchen Geld, Sie selbst haben es gesehen.«

»Wer kann denn wissen, für wen Sie das Geld nehmen? Ich weiß es! Für Ihre Schwester, – um ihr die falschen Perlen zu kaufen, damit sie das Engagement bekam.«

»Ihr Scharfblick ist erschreckend«, sagte Terra.

Und Mangolf zu Lea: »Wenn ich Sie wirklich für meine Zukunft fürchtete?«

»Ich werde Erfolg haben!«

»Dann umso mehr. Erfolge wie die Ihren und die Ihres Bruders sind verderblich, sie sind nicht ernst gemeint. Ihr kennt den Kampf nicht. Warum muß ich Dich lieben!«

»Weil Du ihn haßt«, sagte die Schwester.

Kurschmied, die beschwörenden Hände hinstreckend: »Ich bin nun Ihr Freund, von dieser Stunde ab Ihnen mit Haut und Haar ergeben. Sollte ich achtzig Jahre lang leben – Ihr Freund!«

Terra nahm die Hände, sah ihm in die Augen, ging schweigend weiter. »So kommt man zu Freunden«, dachte er.

Mangolf zu Lea, vor dem Hause, wo sie stehen blieb: »Du liebst keinen Andern, ich weiß es.«

Sie lachte leichtsinnig, da drängte er sie gegen das Haustor; er kam ihr so nahe, daß er ihre Brust mit der seinen berührte, und sie den Kopf zurückbiegen mußte. »Wirf Dich nicht weg!« sagte er ihr in die Lippen. »Zwischen Dir und mir ist es für's Leben.«

Da stockte ihr Leichtsinn, in ihrer Miene vermischten sich Lachen und Qual, sie seufzte: »Ich weiß es.« Plötzlich stieß sie ihn fort. Er verlangte aber, daß sie hinter dem Haustor auf ihn warte, dann enteilte er, indes der Bruder schon nahte.

Der Bruder sagte zu Kurschmied: »Können Sie gut Maske machen? Dann kommen Sie morgen um vier Uhr zu mir und bringen Sie alles mit, um sich nach vorhandener Vorlage in einen vornehmen Fünfziger zu verwandeln, glatter Scheitel, bartlos, wohlbeleibt. Gute Nacht.«

Womit er ihn stehen ließ und zu der Schwester ging. Er sah das armselige Haus und davor sie, den Umriß des Reichtums und der Schönheit, der ihr Umriß war. Er sagte umso gehobener: »Du hast es gesehen, wir können alles, was wir wollen.«

»Ach, Lieber, es ist gekommen, wie es mußte«, murmelte sie, und sie trat, als versteckte sie sich in den Winkel hinter der Tür. Der Bruder wollte sie hinaufführen, sie schüttelte den Kopf. Er fragte, worauf sie noch warte, sie schwieg. Da schwieg auch er, stand stumm noch da, – und dann verließ er seine Schwester.

An einer entfernten Straßenecke machte jemand sich unsichtbar. Terra, dessen Weg dorthin geführt hätte, ging nach der anderen Seite. Er dachte: »Einander verraten und verlassen. Einander bekämpfen, finden und nicht kennen. Einander hassen, einander verfallen sein – und kaum fünfundzwanzig Jahre sind wir alle.«

 

Gegenüber dem Hotel Karlsbad, am Fenster einer kleinen Gastwirtschaft, wartete Terra auf Mangolf. Fünf Uhr, wahrhaftig, da kam er – aber in Gesellschaft. Lustige Damen und Herren, Mangolf brachte sie alle zum Lachen. Unter Lachen verabschiedete er sich einige Häuser weiter. Niemand hätte gedacht, er werde gleich darauf dieses unruhige Gesicht zeigen, werde mehrmals an dem Hotel vorbeigehen und endlich, qualvoll aufgerafft, es betreten, wie zu einer schweren Operation.

»Herrgott im Himmel, ob er es gut übersteht«, dachte Terra Fratzen schneidend, die stummes Hohngelächter waren, und folgte ihm auf dem Fuß bis in die Halle. Mangolf sah ihn nicht, er spielte den unbeteiligten Fremden und lagerte sich in einen Sessel. Terra verharrte angesichts der Treppe, hinter einer Palme. Den rechten Arm der Doppeltreppe herab stieg langsam und sicher ein Herr in reifen Jahren. Terra aus seinem Versteck nickte ihm zu, der Herr übersah es. Mangolf war aufgesprungen. Da kam links derselbe ältere Herr, viel schneller, von oben. Der Zweite erblickte drüben den Ersten, der ihn nicht sah. Er stockte, dann nahm er eilig Deckung neben dem Aufzug. Als der Erste sich in die Halle und zu den Tischen wandte, stürzte sein Doppelgänger fluchtartig dem Ausgang zu. Der Portier hinter seinem langen Tisch sah ihm aus aufgerissenen Augen nach. Da Terra sich zeigte, fragte der Portier: »Was war das? Zweimal derselbe?«

»Sehen Sie doppelt?« bemerkte Terra. »Das sagen Sie nur Niemandem.«

Ein Ehepaar fragte erregt: »Wer ist der Herr dort?«

»Exzellenz Graf Lannas«, sagte der Portier.

»Und der andere, der genau so aussah?«

»Den gibt es bei uns nicht«, sagte der Portier.

Hinter Terra stand Mangolf, sehr bleich. Er raunte ihm zu: »Charlatan! Und ich war drauf und dran, Dir zu glauben!«

»Du wirst sogleich sehen«, behauptete Terra, aber auch er konnte kaum sprechen. Bei dem Herrn in reifen Jahren stand die junge Dame von der Festwiese! ... Er hatte sich gefaßt, er fragte den Portier: »Fräulein von Lannas?«

»Die Komtesse steht beim Herrn Papa«, sagte der Portier.

Nun zog Terra aus seinem Mantel ein Buch, schritt gediegen über den Teppich und überreichte es zeremoniös der Dame, – die es zuerst sogar nehmen wollte. Dann hatte sie Terra erkannt und erstarrte. Graf Lannas stellte die Teetasse hin. »Der Kurier?« fragte er schnell.

»Leider nein, Herr Staatssekretär«, sagte Terra sorgfältig und verbeugte sich tief.

»Ich bin nicht Staatssekretär.« Graf Lannas runzelte die glatte Stirn. »Um Vergebung«, sagte Terra.

»Und das Buch?« Der Vater sah die Tochter an, dabei bekam er ein Grübchen. Sie hatte sich gefaßt. »Bei Mila. Wir lasen Ariost. Der Herr ist –«

»Terra, Student der Rechte.« Er setzte mit Ausdruck hinzu: »Ich habe die Ehre, Exzellenz, ein älterer Freund und Mentor Ihres Herrn Sohnes, des Grafen Erwin, zu sein.«

»Dann muß ich mit Ihnen sprechen. Mein Sohn macht dumme Streiche.«

»Er ist nicht immer in den besten Händen«, sagte Terra über die Achsel. Mangolf trat vor. »Ich bin in der Lage –«

»Der Kurier?« fragte der Botschafter schnell. Um sein doppeltes Mißverständnis zu entschuldigen, lud er zum Sitzen ein.

»Zweifle noch einmal an mir!« raunte Terra. Aber Mangolf sah ergriffen aus. Dies alles war vom Schicksal auf ihn gemünzt! Terra dachte sich aufzuspielen und doch setzte er nur das Schicksal in Gang. »Hier sitze ich endlich im Angesicht der Macht. Sie hatte schon immer ein Auge auf mich, vielleicht war dies Auge Graf Erwin selbst?«

Graf Lannas verhörte, indem er einen Teller mit Kuchen aufaß, die jungen Leute wohlwollend über Familie, Studien, gesellschaftliche Verbindungen. Dazwischen fragte er alle Welt nach seinem Kurier. Mangolf stand auf. »Ich stelle mich zur Verfügung, wenn Eure Exzellenz einen sicheren Boten nach dem Ministerium des Äußeren brauchen. Der Minister ist jetzt nicht dort, ich kann den Kurier abfangen.«

Der Diplomat stutzte. Dann nickte er Mangolf zu. »Nicht übel. Sie haben sich vorbereitet.« Er bekam sein Grübchen. »Wenn die Herren mich aufsuchen wollten, sagen Sie es doch!«

Die junge Gräfin bemerkte: »Du wirst noch behaupten, Papa, daß ich meinen Ariost nur verloren habe, damit die Herren sich bei Dir einführen können.«

»Tatsächlich, warum soll er nur Dir vorlesen. Liest er gut? Dann will ich mit zuhören.«

Er gähnte, sah noch einmal nach der Uhr und nach dem Eingang, worauf er die Herren in sein Zimmer bat. Etwas kurzatmig infolge der vielen Kuchen, betrat er den Aufzug, mit ihm Mangolf. Die Gräfin war schon fast oben, Terra, den sie nicht ansah, sagte: »Jetzt haben Sie etwas angerichtet, ich kann nicht italienisch.« – »Das sieht Ihnen ähnlich«, sagte sie, zwischen den Zähnen. Da trafen sie schon mit dem Vater zusammen.

Als der Botschafter Terras ansichtig wurde, erschien über seiner Nasenwurzel ein ernster Gedanke. Zwischen Tür und Angel hielt er den Studenten am Knopf fest. »Warum nannten Sie mich Staatssekretär?« fragte er. Terra besah ihn sich, er hätte fast gesagt: »Weil ich kein Hornochs bin.« Er sagte: »Wollen Eure Exzellenz sich, bitte, keinem, wenn auch verschwindend kleinen Zweifel über die Diskretion des Grafen Erwin und meine eigene Zuverlässigkeit hingeben.« – Nach dieser Rede ließ der Graf ihn sogar vor sich eintreten.

Mangolf inzwischen hatte beschlossen, dem Sohn hier zu helfen, wie jener ihm. Die Bezahlung des Wechsels war hiermit gesichert. So strich er dem Vater den Sohn heraus, der, schwankend aber nicht leichtsinnig, nur eines ernsteren Führers bedurfte, um immer wieder den Weg in die gute Gesellschaft zu finden. Häuser und Namen zogen vorbei.

»Personalkenntnis«, sagte Graf Lannas mit Anerkennung. Und unser Ariost?«

Die Gräfin sah umher. »Das Buch muß unten geblieben sein.«

»Hier ist es«, sagte Terra und zog es ungesehen aus ihrer Tasche. Er las so gut, daß Graf Lannas sich immer tiefer in seinen Sessel senkte. Endlich entriß er sich dem Genusse. »Lesen Sie ruhig weiter! Sie lesen zu dramatisch, es kommt auf die Melodie an.«

»Ich habe wenig Melodie«, sagte Terra und sah die Gräfin an. Sie hatte den Zeigefinger an ihrer hellen Wange und die Stirn in Falten.

Der Botschafter räumte ächzend die Papiere vom Tisch. »Ich habe meinen Privatsekretär bis morgen fortschicken müssen. Lesen Sie weiter, junger Mann! ... Wo hat er den Akt F H/6235?« Der Botschafter suchte im Schweiß seines Angesichts. Da trat aus dem Nebenzimmer Mangolf. Mit anmutiger Verbeugung überreichte er das Gewünschte. Er habe nebenan den Schreibtisch des Sekretärs bemerkt. Alles liege offen. Bevor ein Unberufener darüberkomme, habe er sich erlaubt –«

»Alle Wetter«, sagte der Botschafter. – Zwischen dem Lesen des Schriftstückes schob er ein: »Mein Sekretär taugt nichts. Sie sind Referendar?«

Hier klopfte es. Mangolf ging zur Tür, als sei er schon im Dienst. »Der Kurier«, meldete er. Der Botschafter, so peinlich er gewartet hatte, schien nur ungern zu hören, daß es etwas zu tun gab. Er winkte, damit Mangolf den Kurier von außen in das Zimmer des Sekretärs führe, dann bequemte er selbst sich hinein.

Terra las noch eine Strophe – die Stirn gefaltet, denn er fühlte sich lächerlich. Als er aber aufsah, fand er keine Ironie bei ihr, sondern Unwillen.

»Sie sind taktlos. Nach manchem, das ich Ihnen gesagt hatte, durften Sie mir nie wieder begegnen.«

»Ich habe alles vergessen. Ich denke einzig an das, was Sie mir erlaubt haben.«

Hierfür bekam er einen schwarzen Blick. Dann wendete sie sich ab, und Terra fuhr laut zu lesen fort. Die Tür zum Nebenzimmer stand halb offen, man hörte Papier rascheln.

Terra sagte zwischen zwei Versen: »Sie beherrschen alle meine Gedanken.« Plötzlich sah er glühend auf. Sie fuhr merklich zurück, dann biß sie sich auf die Lippe. »Es war ein Zufall«, behauptete sie.

»Nein, Gräfin. Zufall allein würde mir die Kühnheit nicht verliehen haben, mich Ihrem Vater vorzustellen.«

Jetzt lächelten ihre Augen zum ersten Mal wieder und wurden geistreich. Darauf sagte er, in dem Ton, wie auf dem Karussell: »Übrigens haben Sie es erwartet.«

Sie, auch wieder herausfordernd: »Geschickt. Sie werden es weit bringen.« Und infolge seiner Miene: »Wenn Sie wollen.«

»Ich wüßte nur einen einzigen Grund zu wollen«, – und er beugte sich weit vor. Sie blieb dreist lächelnd sitzen.

»Sagen Sie ihn nicht! Es wäre in unserer Bekanntschaft die erste gewöhnliche Wendung.«

»Was glücklich macht, ist gewöhnlich.« Worauf er sich erhob. Er stand achtungsvoll beiseite, als Graf Lannas wieder eintrat.

Der Botschafter trocknete die Stirn und sank erleichtert in seinen Sessel. Zu Mangolf, der ihm folgte: »Ist drinnen abgeschlossen? ... Übrigens, lieber Doktor, begraben Sie alles in Ihrem Herzen!«

Mangolf legte die Hand auf das Herz. Der Botschafter entspannte sich vollends, er ließ Likör einschenken und reichte Zigarren. Terra sah sich den beflissenen Mangolf an, der ihm auswich; dann nahm er Platz, dem Botschafter gegenüber, die Knie auseinander und die Hände darauf. So sagte er nasal und klangvoll:

»Wollen Eure Exzellenz einem niedrig Geborenen und durchaus Uneingeweihten, den aus der misera plebs vielleicht nichts anderes heraushebt, als nur seine besonders verehrungsvolle Bewunderung für die Person Eurer Exzellenz, – wollen Sie mir eine kurze Frage gestatten, so wäre es diese: »Wozu gibt es Diplomaten?«

Da der Botschafter nur mit dem Kopf zuckte:

»Ich fühle meine überwältigende Unwürdigkeit, mich irgend weiter zu erklären.«

Er sah tief zerknirscht aus. Graf Lannas ließ Nachsicht walten. »Sie gehören wahrscheinlich zu den jungen Leuten, die sogar die internationalen Geschäfte öffentlich in den Parlamenten verhandelt sehen möchten.«

Trotz der entrüsteten Verwahrung Terras behielt er seine milde Überlegenheit. »Das junge Geschlecht ist ungewöhnlich selbstbewußt, – was ich persönlich zu schätzen weiß. Wir haben das Glück in einem Staate zu leben, der kein Talent, ich sage kein irgend verwendbares Talent, unverwendet läßt.«

Mangolf, der nun wußte, woher der Sohn seine Redensarten bezog, drückte mitten im Ordnen verstreuter Papiere, durch eine seitliche Verbeugung seine Überzeugtheit aus. Graf Lannas ließ sich dennoch auf eine ausführliche Darlegung ein, eigens für den tief ergriffenen Terra, der solcher hohen Belehrung rückhaltlos offen, den Mund aufhielt und bei der Anstrengung des Lernens die Zunge darin bewegte.

Die Öffentlichkeit der internationalen Geschäfte, so lehrte Graf Lannas, sei eine Forderung der Demokratie. Es sei ihre letzte Forderung, es würde sie restlos vollenden. Nun bedenke man ihren Charakter. »Ich schätze die Demokratie.« Wer sehe aber nicht ein, daß sie rücksichtsloser, begehrlicher, brutaler sei als die mehr oder weniger gesättigten Vertreter der zum Glück noch unerschütterten Kaisermacht.

Der Botschafter stand auf, er trat hinter den Tisch, seine rechte Hand warf beim Sprechen die daliegenden Gegenstände durcheinander, seine Stimme verlor ihre Gelassenheit, sie ward mißtönig. »Meine Herren! Sie werden es vielleicht erleben, wie die losgelassenen Instinkte der Völker vernichtend gegeneinander platzen. Von uns werden sie noch gezähmt. Das Kaiserreich ist der Friede.«

Terra fand es angezeigt, auf seinem Stuhl sich ganz still zu verhalten. Mangolf fragte geschäftsmäßig: »Die Besetzung von – gehört doch zu dem Akt F H/6235

»Ganz recht. Wir schicken Truppen hin.«

»Das Kaiserreich ist der Friede«, wiederholte Terra mit Überzeugung.

»Wir haben das Spiel in der Hand«, sagte der leitende Staatsmann von morgen und schien in der Luft seine Karten auszubreiten, mit Händen wie ein Taschenspieler. Vor Freude über seine Gewandtheit bekam er sogar sein Grübchen.

Plötzlich erinnerte er sich einer Verabredung. Es war klar, er ward sich bewußt, an wie geringes Publikum er die Proben seiner Kunst hier verschwendete. Er gab laue, flüchtige Händedrücke und war schon draußen. »Alice, ich erwarte Dich.« Mangolf ihm nach, er fühlte: ihm nach, durch Dick und Dünn, jetzt oder nie! Terra sah sich um, die Gräfin hatte den Rücken gekehrt. Er ging hin und flüsterte ihr dringend über die Schulter. Sie antwortete nicht, er fühlte sie beben. Aber die Tür stand offen. Er wagte sie nicht zu schließen und ging.

Mangolf trat gleichzeitig aus einem Zimmer gegenüber, argwöhnisch musterte er Terra, der ihn ironisch musterte.

»Die Karriere beginnt«, sagte Terra.

 

Die Gräfin dachte, als sie sich am Abend allein davonmachte: »Was wage ich viel. Das ist keiner, den man aus der Hand verliert. Viel gefährlicher war es damals mit –«. Sie ging Erinnerungen durch, mit ihren achtzehn Jahren. »Aber dieser ist sonderbarer ... Er ist, wie ich es will. Mit ihm werde ich gewiß etwas erleben, die Saison war so schlecht, – und es wird im Grunde nichts kosten.« Da hielt der Einspänner vor der Wiese.

Die Gräfin drang sicheren, leichten Schrittes in die ausgestorbene Budenstadt. Einmal stieß sie im Dunkeln an einen Schlafenden oder Betrunkenen, sprang um eine Ecke und rührte sich minutenlang nicht. Unkenntliche Gerüste standen auf allen Seiten im Himmel: – wo nur der Turm, von dem man in zwei Sekunden abfuhr? »Ach! ich befinde mich gerade unter ihm, und dort –«. Sie machte sich steif, aus einem Schatten, der wohl das Karussell barg, löste sich eine Gestalt.

»Gräfin sind pünktlich« – Terra verbeugte sich, wie in einem Salon. »Somit werde ich die Ehre haben. Ihnen die Wiese bei Nacht zu zeigen.«

»Ich kenne sie schon, es hat sich nicht gelohnt.«

»Was unternehmen wir statt dessen. Eine Freifahrt?«

»Verbraucht.«

Ein Pfiff, dann Laufen irgendwo in der Nacht, – und eine Frau, die langsam dahinten vom Erdboden aufstand, glitt bläulich durch einen Lichtkreis, den Laufenden nach. Die Gräfin drängte rückwärts, da traf sie auf den ausgestreckten Arm des Mannes. »Komm' mit, mein Kind«, sagte Terra und schlug seinen Mantel auch um sie.

Unter einer Lampe hielten sie. »Nicht«, sagte sie – und streckte sich dennoch an ihm hinan, wie er an ihr. Auf der Zeltwand neben ihnen wuchs schlank ihr vereinigter Schatten. Gespannt blickten sie einander in die durch Lampenschein entblößten Gesichter. Er löste den Arm von ihrer Hüfte und faßte ihre hellen, schmalen Wangen in seine beiden Hände. Unter dem schwermütigen Feuer seines Blickes schmolzen ihre jungen, festen Züge, die geistreichen Strahlen in ihren Augen erloschen und auseinander glitten die Lippen. Er neigte sich tiefer auf diese schimmernden und noch zusammengehaltenen Zähnchen – neigte sich so langsam, daß er endlich fast anhielt. In diesem irrsüßen und verklärten Gesicht berührte ihn grauenvoll die tiefe Ähnlichkeit mit seiner Schwester. Noch gestern, ihr verstörtes Warten hinter dem Haustor ... Dann senkte er sich umso stärker, umso schwärmerischer auf diesen Mund.

Ein Keuchen, – das nicht seines, nicht ihres war. Es kam näher, ward Schnauben, und schon rollte ein wilder Körper ihnen vor die Füße. Eine Frau dann – sie sah sie nicht, sie breitete schützend die Arme vor den Zusammengebrochenen. Und jetzt der Verfolger, ein halbnacktes Ungeheuer, daherstampfend und eine dicke Eisenstange schwingend. Das Mädchen duckte sich, da stürzte das blinde Ungeheuer, die Stange flog klirrend dahin.

Die Gräfin hatte geschrieen, das Mädchen sah auf, es streckte die Hände vor, als bäte es: nicht dies! Nun wankte es her. Es mußte von Angesicht zu Angesicht sehen, was viel schrecklicher war, als daß Männer einander töteten. Erstarrtes Entsetzen; reglos auch jene Beiden samt ihren vereinigten Schatten. Da schien das Mädchen aufzuflattern, drehte sich um sich selbst und lief, in die Flucht geschlagen.

Die beiden Herkulesse krochen am Erdboden auf einander zu. Unerwartet schnellten sie auf und standen, die Fäuste in Bereitschaft, vor einander. »Das gibt ein Schauspiel!« sagte die Gräfin, leise jubelnd, sprang davon und war im Turm. Terra folgte, verlor sie in den Windungen, fand sie auch auf der Plattform nicht, – aber drunten, von der blutigen Lampe beschienen, keuchte der Kampf, keuchte bis hier herauf, und jetzt ein Brüllen.

»Sie bringen sich um, nur schnell dazwischen!« Er setzte sich in eines der kleinen Fahrzeuge und sauste hinab, in Spiralen, schnell und unendlich wie Gedanken. Er dachte auf der Fahrt: »Sie töten sich. Das ist bei uns Menschen der Anfang, die ersten Beziehungen, die Spur.« Auflodernd haßte er Mangolf. Wo war jetzt Mangolf mit Lea, – deren Tod er war. Schwester! Ihr Gesicht in den Gesichtern der anderen Frauen, der Gräfin, der Frau von drüben, – und jene Nacht am Hafen, als eine andere, wie heute diese, an seiner Brust lag in der Nähe fließenden Blutes! So hing denn alles zusammen auf der schwindelnden Nachtfahrt, die wir machen; ging eins in das andere über, wie Spiralen, und führte in das Leere ... Da fuhr er unten auf.

Die Ringer lagen und zuckten nur noch in ihrem Blut. Terra umkreiste sie entsetzt. Der Stärkere war auf den Schwächeren gefallen, er hatte ihm mit der Eisenstange den Schädel zerschlagen. Aber wie er zuschlug, traf ihn selbst das Messer.

Von droben klang heller Jubel. Dort stand die Gräfin und winkte. Jung, hochgemut, unangreifbar und ohne zu begreifen, sah sie herab auf das Sterben.

Hochatmend vom Rausch der Abfahrt war sie da und fragte: »Ist es alle Nächte so? Soll dies sein?«

»Verdammt«, sagte Terra und regte sich wieder. »Wir täten gut, Gräfin, von hier zu verduften.«

Er nahm sie beim Arm und machte Schritte, daß sie laufen mußte. Nach kurzem Laufen weigerte sie sich. Sie hatte ein beleidigtes Damengesicht und ging weiter wie es ihr gefiel, in gemessenem Abstand von ihm, der sie ließ. Keiner sprach.

Vorbei an diesem gefahrdrohenden Lichtkreis, ihn fliehen – wie auf Verabredung. Aber beide zugleich auch stockten. In dem Lampenschein, weißbläulich wie von einem schlechten Mond, lag eine Gestalt, – ach, beide klopfenden Herzen wußten schon, welche. Sie lag mit hart gestreckten Gliedern, die Augen starr offen, – und über ihrem schwarz und schillernd umwundenen Hals stand still ein Schlangenkopf.

Die Gräfin langte nach seiner Hand, wie nach Verzeihung, wie um zu helfen, hielt ihn fest, der los wollte, zog ihn mit, der verharren wollte über der Toten. Im Gehen, ganz plötzlich, empörte er sich laut. »Wie konnte sie es tun!«

Die Gräfin fragte so sanft, als sei sie abwesend: »Haben Sie noch keiner Frau gesagt, Sie würden für sie sterben?«

»Ja, aber nur aus Galanterie«, sagte er, mit den Zähnen klappernd.

Die Gräfin fühlte: »Der Wagen! Mein Bett! Wie komme ich hierher?«


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