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Drittes Kapitel.
System Lannas

Neue schwere Krise Mangolfs: Tolleben war ihm voran. Noch schlimmer, es war endgültig. Tolleben nahm jetzt Hindernisse, über die ein Mangolf stürzen mußte. Schwiegersohn Lannas', damit schlug der Dummkopf den Fähigsten. Wofür so viele erarbeitete Aussichten, der Sieg über Menschen, die ihn lieber mißachtet hätten? Wozu ward Mangolf gefürchtet sogar von Lannas? Ja, aufmerksam betrachtet vom Kaiser? Alles umsonst, ein breiter Rücken schob sich vor ihn hin, ab trat Mangolf zur zweiten Klasse, in alle Ewigkeit kein Mitbewerber mehr um die höchste Stellung. Je mehr Erfolge vorher, desto lieber sahen alle ihn abtreten.

Er gab sich glatt, lebensfroh, nur selten von unausgesprochenen Drohungen beschattet: seine Art, dem Schicksal beizukommen. Allein mit sich, hatte er die gewohnten Anfälle von Überdruß, Selbsthaß, Sehnsucht nach dem Ende. Das ganze Leben ein Opfer des Intellekts – und nun am Boden! »Ich hätte als Denker meinen Namen berühmt gemacht, was heißt regieren, dem Handelnden schreibt der Denker zuletzt es vor. Das kann ich noch immer. Ich gehe ab. Ich, mit dem was ich von ihnen weiß, sage öffentlich Dinge, daß sie mich zurückholen möchten mit sofortigem Avancement. Ich werde doch noch Staatssekretär vor dem Schwiegersohn.« Als Rückschlag hierauf der unerträglichste Jammer, ja, planloses Suchen nach einem alten Revolver.

Im Leben draußen war es anders, sein Vorgehen ergab sich von selbst. Wie stand Tolleben zu der Flotte? Mangolf brauchte die Fragen Tasses und seiner Freunde nur richtig zu beantworten. Tolleben? Ein Landjunker. Sie hatten den Landrat von Jerichow über die Flotte gehört. Wenn sie übrigens glaubten, daß Lannas selbst mit dem Herzen –. Nein, Mangolf brach ab, er gab zu, das Herz Lannas' sei unkennbar; – was ihnen gerade verhaßt war.

Mit seinen Kollegen aus den hohen Rangklassen verständigte der Unterstaatssekretär sich ohne Umschweife. Sie begriffen, wie er, die Gefahr eines Schwiegersohnes. Wieder eine Dynastie Bismarck? Die kannte man noch. Aber sagt das den Parlamentariern! Dort fand Mangolf Unempfänglichkeit, wie hätte sie ihn überraschen können. Die Gruppen der Interessenten machten ihren Einfluß außerhalb der Parlamente geltend. Der Kaiser wählte seine Ratgeber, der Erfolg eines Reichskanzlers aber hing davon ab, wie weit er den Kaiser für die Pläne der Interessenten gewann. Der Kaiser wieder sah die Sache wahrscheinlich so an, daß sein Reichskanzler die Herren hineinzulegen hatte. Dies war das System, kein Grund es zu ändern. Abgeordnete, deren Programm das parlamentarische Regime verlangte, mußten von Mangolf erst daran erinnert werden. Sie wandten ein, inmitten glücklichsten Aufschwunges sei nicht an Hochgehn, gar Bruch zu denken. Was das System allenfalls mit sich bringe an unzeitgemäßen Entgleisungen, werde begütigt, meistens sogar abgewendet von Lannas. Dank Lannas' wirkten wir geradezu modern! Er brachte Leichtigkeit, Beweglichkeit, selbst Nachlassen veralteter Sittenstrenge in das System. Es war nun seins, System Lannas. So ging es, so mochte es fortgehen. Der Anwärter sein Schwiegersohn? Auch gut.

Dabei kam schon der Hochzeitstag. Er war vorbei, das Ehepaar Mangolf saß allein. »Du bist blaß, mein Freund,« sagte Bellona. Obwohl ihre Teilnahme echt war, gab sie ihr Töne vornehmer Konvention. Sie legte den Arm um seinen leidenden Kopf, nicht ohne das Bestreben, stilvolle Ranken zu bilden mit ihrer Person. Sie fragte mit heiterem Gleichmut: »Bist Du denn nicht glücklich?« Aber da er ihr geheimes Zittern spürte, reizte sie ihn. »Das Möllendorf'sche Palais ist kein Trost für alles«, – scharf ausgesprochen.

»Unser Vater hat uns das großartigste Stilpalais gekauft und eingerichtet, wir sitzen drin: ist dies der Augenblick, uns nach den paar niedrigen Domestikenzimmern in der Reichskanzlei zurückzusehnen – mein Freund?« Den Arm rechtwinkelig nach oben bewegt. Sprach aus der Höhe mit Schnäuzchen. So verstand sie seinen Gram! In regloser Erbitterung verharrte Mangolf vor seinem Prunkkamin.

Plötzlich sagte sie, fast wie eine gewöhnliche Frau: »Übrigens wird sie ihn betrügen.«

Er fand es richtig, Zweifel zu äußern; die geborene Knack aber wußte was sie wußte. Sie hatte Alice Lannas bei der Trauung beobachtet. »Ihr alle seht nichts. Hört auch nichts. Wenn sie ›Der Bismarck‹ sagte und meinte ihren Künftigen, von wem hatte sie den Ton?«

Er, unverhohlen: »Mit Terra ist es doch wohl aus.«

»Soll erst kommen«, eröffnete sie ihm. »Du warst im Irrtum, guter Junge, wenn Du manchmal glaubtest, daß eine Lannas vor der Ehe –. Und gerade diese, mit ihrem berechnenden Verstand!«

»Du, Bellona, hast einen Frauenverstand.«

»Gott sei Dank. Darum kann ich Dir prophezeien: nun kommt es.«

Er widersprach – womit er bewirkte, daß sie ihm für die nächste Zukunft Beweise in Aussicht stellte.

Aber was sie Beweise nannte, war schwer zu benutzen. Alice Lannas hatte keine Hochzeitsreise machen wollen mit ihrem Tolleben. Sehr begreifliche Furcht vor Langeweile, meinte Mangolf, aber seine Frau argwöhnte ein Zugeständnis an Terra. Denn sie sah die beiden Komödie spielen, Fremdheit und Gegnerschaft heucheln. Bellona ging zu jedem Tee ihrer Freundin, nie traf sie Terra. Man empfing ihn also allein. Bellona auf einer ihrer Abendgesellschaften in ihrem neuen Möllendorf'schen Palais setzte sich absichtlich von allen Leuten fort mit Terra. Sie gab ihm reichlichste Gelegenheit, von Alice anzufangen. Kein Wort. Sie ward vertraulich. »Unsere arme Alice ist nicht glücklich.« Erschrecken – überdeutlich, wie alles bei dem Menschen. Er zog die Hände gekrampft an den Leib, er fletschte die Zähne. Dazu der scheuglühende Blick von unten: klar, daß er sich ertappt fühlte. Er sah sogar aus, als wäre er imstande, sich an einer Dame zu vergreifen, Bellona rief Leute herbei.

Beim Zubettgehen berichtete sie ihren Mann. Während der Toilette wog das Ehepaar nochmals alles ab, was für vollendete Tatsachen sprach. Wie es lag, seufzte es und erbarmte sich. »Meine arme Freundin!« seufzte Bellona. »Welch ein Unglück für unsere Kreise! Was wird die Kaiserin sagen? Und die Wirkung nach außen?«

»Sie darf nicht eintreten«, sagte Mangolf beklommen. Bellona stimmte durchdrungen bei. Hierüber verloren sie eine Stunde Schlaf, ohne vorwärts zu kommen. Jeder hielt dem andern ein Wort wie eine Angel hin. »Erfährt man es, ist Tolleben unmöglich«, sagte die Frau. Der Mann wagte nicht zu verstehn. »Das Schlimmste wäre der Sturz Lannas'«, sagte er. Auch diesem Gedanken opferten sie eine halbe Stunde Schlaf. Endlich rückte Bellona bis auf sein Kopfkissen, sie hauchte ihm ins Gesicht: »Die Sache muß aus der Welt, bevor Tolleben Staatssekretär wird.«

Dies war nicht mißzuverstehen, besonders nicht in der Lage, wie es gesagt ward. Lange Pause, Mangolf atmete nicht. Dann: »Wie denkst Du es Dir?« Bella, schnell und leicht: »Mein Gott, man sagt es dem Mann. Natürlich sagt man es nicht, man schreibt es. Nicht, daß ich mich exponieren möchte.«

»Also anonym?« fragte Mangolf, denn was war noch zu verlieren. Sie lachte etwas zu schrill. »Mein Gott, ist die Handlung gut und geboten? Dann kann kein Wort sie herabsetzen. Ein anonymer Brief – was weiter? Mir ist er nicht an der Wiege gesungen. Eine Frau wie ich schreibt anonyme Briefe sozusagen mit der Feuerzange, mit der sie sie anfassen würde.«

Sogar im Bett ihr gezierter Snobismus, ihr Schnäuzchen, und der Sinn so zynisch! Er hatte sie so reizvoll nie gekannt, plötzlich ergriff er sie. Schon in halber Entrücktheit murmelte sie: »Höchstens schlägt der dumme Kerl Lärm und fliegt erst recht. Was kann ich dafür.«

Als Tolleben den Brief bekam, ließ er alles stehn und liegen, durch den Garten, barhäuptig, den Brief offen in der Hand, eilte er nach der Reichskanzlei. Suchte vergebens seine Frau zu Hause, in dem Flügel an der Wilhelmstraße; verlor Zeit, gelangte schwitzend und stimmlos zum Portier; erfuhr, sie sei droben; setzte die Treppe hinan. Umherirren bis vor das Arbeitszimmer Lannas'. Tolleben war nachgerade in einem Zustand, daß er mit dem Brief wohl eingetreten wäre. Zum Glück kam der Diener Söchting heraus, Exzellenz der Herr Graf seien im Botschafterzimmer. Empfang. Tolleben hatte es vergessen. »Meine Frau? Meine Frau?« Frau Gräfin Alice sei im Wintergarten. Ohne zu zucken, hielt der geschulte Mann den furchtbaren Blick des unglücklichen Gatten aus.

Endlich der Rote Salon: da hatte Tolleben den Gang der Verzweiflung hinter sich. Jeder Prunkraum, den er durchschritt, versicherte ihm, der schurkische Brief rede wahr. Die Erfinderin solcher Pracht war ihm nichts, er ihr nichts; schwerer Mißgriff, eine Heirat wie diese. Er kannte in seinem Herzen keine Hoffart; er verachtete Hoffart – mit Faustschlag auf irgend eine Vergoldung. Er war ein treuer Protestant. Fußtritte dem Gerümpel und seinen Bewohnern, ein ehrlicher Junker zog erleichtert ab, auf das Gut, das als Mitgift Gottlob mit seinem Namen zu Buch stand!

Die letzte Tür bekam den Fußtritt, der Lakai war faul. »Meine Frau?« »Im Wintergarten.« Zwischen den beiden Säulen, die dahinten den Garten rahmten, erblickte er sie. Seine Frau erschien ihm jenseits einer Art von Altar, der letzten Kulisse vor dem Prospekt des Wintergartens. Hier vorn rote Seide, gehäufte Möbelgruppen und ihr Widerschein, Kardinalrot golden, aus Pfeilerspiegeln; dann der Altar, darauf spitz ein Schrein; nun Pflanzen, hoch zu einander geneigt, herüberatmend, friedevoll, kühl.

Seine Frau sah flüchtig um, wie er stampfte. »Einen Augenblick«, – friedevoll, kühl. Sie ließ den Gärtner einen Topf aufheben, sie ging voran ins Grüne. Tolleben stampfte im Kardinalrot, weiter kam er nicht, trotz der großen Öffnung des Wintergartens. »Ich bin kein Komödiant«, fühlte er. »Wie komme ich auf diese italienische Opernszene. In was für eine Familie bin ich geraten. Internationales Gesindel!« – vom Zorne schwellend. Er versuchte hinzurufen »wird's bald?« – pfiff aber nur, indes sie mit dem Gärtner klangvoll im Alt sprach. Da faßte der Gatte den Lakaien. Der faule Bursche von vorhin, er drückte sich noch herum, er spionierte. Auf ihn, Knie ins Gesäß, Faust an den Kragen. Aufheulen, ein Tisch mit Kupfer fiel rasselnd um, Tür zu, uff.

»Um Gotteswillen«, sagte Alice Lannas. Sie ließ den Gärtner den Tisch aufrichten, sie winkte, er möge gehn. Ihr Schreck war überwunden. »Passiert Dir das öfter?« – auf der Höhe wie immer. »Setze Dich doch!« Er aber gehorchte.

Der riesenhafte Oberkörper schaukelte in der Aufregung vor und zurück, die Augäpfel quollen heraus. »Bismarck mehr als je«, sagte sie bewundernd. Ach! Bewunderung, gegen die es höchstens einen Wutanfall gab, und er hatte ihn hinter sich. Über die Armlehne des römischen Wiegensessels hing seine Hand mit dem Brief. Er wartete furchtbar, daß sie den Brief sähe. Sie sagte aber verändert: »Jetzt zu etwas Wichtigem. Wenn Papa doch noch Fürst werden soll, – wir haben Feinde. Willst Du nachsehn, ob man ungestört ist?«

Er versicherte sich, im Grünen Zimmer sei niemand, und ließ die Tür weit offen. Trotzdem sprach Alice die feindlichen Namen nur flüsternd. »Herrenhaus?« fragte Tolleben, er ward aufmerksam.

»Neid der Standesgenossen,« erklärte sie. »Allen andern ist höchstens gedient, wenn der Reichskanzler Fürst wird. Am meisten dem Kaiser.«

»Leuchtet mir nicht ein. Er will sein eigener Reichskanzler sein.«

»Gerade darum. In seinem Leopold bescheinigt er sich seinen eigenen Erfolg. Er ist der Verständigung mit England glücklich entgangen. Die englisch-französische Entente ist Tatsache. Er kann rücksichtslos Schiffe bauen. Sein Leopold muß Fürst werden, er sinnt darauf. Arbeite dafür! Des Dankes wegen brauchst Du nicht auf Papa zu warten; das wäre zweifelhaft«, wobei ihre Augenfalte tiefer ward. »Dank kommt von höher oben.«

Er ließ sie ganz ausreden, er lauschte sogar noch nachher. Zu sich gekommen, sagte er wie ein aufgerufener Schüler beflissen her, was er für die Sache getan hatte, die Gespräche um zu werben, die Beeinflussungen. Jeder einzelne Fall war verlaufen, wie von ihr berechnet. Nun beriet sie ihn über Personen, die noch schwierig blieben. Lange, genau, alles doppelt und dreifach – aber immer zum Schluß: »Ich habe das alles doch nur von Dir, kluger Mann. Gerade den Menschen kenne ich erst richtig durch ein Wort von Dir. Du selbst hast es vergessen. In mir sitzt es.«

Wobei sie nur fürchtete, er könnte noch nicht einmal die wirkliche Bedeutung der Sache erfaßt haben. Sie ward überdeutlich. »Offenheit ist die beste Diplomatie, Du fragst natürlich, was Du davon hast, daß Du meinen Vater zum Fürsten machst, wenn Du dabei nicht Staatssekretär wirst. Sage ich auch. Papa schöbe uns lieber auf eine Botschaft ab, aber so haben wir nicht gewettet. Kein Staatssekretär, kein Fürst, ich habe Papa in der Hand, verlaß Dich auf mich.«

Er wollte sagen: »Kann ich Dir darin nun trauen?« aber es war ohnedies klar. Sie sprach schon weiter.

»Und dann Majestät! Du hast einen geheimen Wunsch unterstützt, einer Eitelkeit geschmeichelt, das wird Dir nie vergessen. Die nächsten Jahre sitzt Leopold fest, sein Erfolg ist der des Kaisers. Aber seine Nachfolge muß von langer Hand doch vorbereitet werden, wer kann das, wer ist so gestellt? Gesellschaftlich hat er den Feind im Haus. Ob politisch, findet sich«, wobei sie litt. Gegen ihren Vater für diesen Dummkopf! So war das Leben. »Du wirst mir Direktiven geben«, schloß sie – und fing mit anderen Worten dasselbe noch einmal an.

Sie hörte erst auf, als er durchaus sicher im Text sein mußte, denn sein Gesicht schweifte ab – zu dem Brief, den er hin- und herbewegte. Alice hatte ihm das Wesen des Briefes schon längst von der Stirn gelesen, jetzt sah sie ihm an, er habe die Ehe eines geborenen Herrn sich anders gedacht. Trotz allen ihren Vorsichtsmaßregeln blieb ihre Überlegenheit ihm noch fühlbar genug, er fragte sich immerfort: »Kann sie so klug und mir treu sein?«

Bevor seine Wut neu aufwallte, sagte Alice: »Jetzt zu dem, was meine Freundin Bella Dir schreibt. Laß sehn!«

Tolleben gab den Brief hin wie ein Kind, er fragte nichts, er war baff. Sie sagte sachlich: »Zusammengesetzte Buchstaben aus der Zeitung. Nein! Das muß ein ganzes Stück aus dem Zeitungsroman sein, so klingt es. Mein Geliebter soll die Nachmittage, an denen ich nicht empfange, mit mir Tee trinken.« Sie sah auf. »Höre, das wäre nicht heute. Ich empfange heute. Das Einfachste ist nun, ich sage den Empfang ab, lasse es aber einzig das Ehepaar Mangolf nicht wissen. Sie werden kommen, schon um nicht Verdacht zu erregen. Was meinst Du dazu?«

Tolleben versuchte sein gefährliches Feixen, etwas zwischen Ablehnen und Drohen. »Wenn Du meine Mitarbeit wünschest, mußt Du Dich genauer erklären.«

»Errate doch selbst, wer Dein Feind ist!« sagte sie ruhig. »Es ist Deiner, nicht meiner. Man handelt zweckmäßig in unseren Kreisen, niemand gibt sich die Mühe, das da, Buchstaben für Buchstaben aus der Zeitung auszuschneiden, nur um einer Frau zu schaden. Du bist gemeint«, wiederholte sie.

»Er stellt mir ein Bein, bevor ich Staatssekretär werde,« erkannte Tolleben. »Gut«, sagte Alice. Dann: »Hier steht. Du mögest selbst im richtigen Augenblick eintreten. Ich rate Dir das Gleiche. Du wirst zwar nicht meinen Geliebten finden, ich kann Dir keinen vorsetzen: aber Deinen Feind.« Dies mit Festigkeit, und sie stand auf. Auch Tolleben verließ seinen Sitz und verbeugte sich als Ritter. Seine Mitarbeit war gewonnen.

Sie wußte, sie wage alles. Terra konnte von dem abgesagten Tee erfahren und herkommen. Wen sollte sie zu ihm schicken? Sie hatte kein unbelauschtes Telephon. Als sie dennoch anrief, antwortete seins nicht. In letzter Stunde, sie verlor fast schon den Kopf, fiel ihr Vater ihr ein. Graf Lannas wollte grade in den Reichstag fahren, sie bat ihn, Herrn Terra zu sagen, daß sie nicht empfange. Kaum war sie zurück im Roten Salon, kamen Mangolfs.

»Sonderbar, daß wir allein bleiben«, sagte Alice ihnen. Sie zeigte den Teetisch. »Ich erwartete alle meine Freunde. Jetzt haben wir in der kleinen Ecke Platz«, – womit sie die beiden gleich neben der Öffnung des Wintergartens in die tiefsten Sessel setzte. »Je intimer je besser. Hauptsache, unsere wahren Freunde zu kennen.« Traurig heiter. Bellona umarmte ihre Freundin, dekorativ in der Bewegung, aber sie weinte doch Tränen der Reue. Mangolf sah stumm vor sich hin. Unvermittelt begann er Gutes von Terra zu sprechen. »Seine Verbindung mit Ihrem Schwiegervater gefällt mir nicht«, wandte Alice ein. »Bei seiner Richtung ist es keine aufrichtige Handlung, wenn man Syndikus einer Kriegsindustrie wird.«

Mangolf lachte auf. »Das scheint Ihnen so unerhört?«

»Bei Herrn Terra, gewiß. Er ging noch immer seinen eigenen Weg.«

»Dann seien Sie überzeugt, daß das Opfer des Intellekts nachgerade unausweislich war. Das bringen nur leichte Herzen vor der Zeit.«

Sie sah den Gequälten, unter der breiten gelben Stirn sträubten die Brauen sich über die ausgehöhlten Schläfen hinweg. Sie war versucht, ein offenes Wort zu sprechen. Gerade aber verständigte das Ehepaar sich mit Blicken, leichte Unterhaltung begann.

In eine Stille hinein schlug die Uhr, die Gäste brachen auf. Mangolf hatte der Hausfrau schon die Hand geküßt, Alice stand noch mit Bella. Als Bella ging: »Dein Gatte ist vorangegangen.« – »Schon wieder unartig«, sagte Bella. Alice sah ihr nach, sie nickten sich nochmals zu. Dann trat Alice vor den Spiegel, in dem sie vorhin Mangolf erblickt hatte, wie er um die Ecke geglitten, gebückt in den Garten getaucht war. Hinter einer Gruppe von Pflanzen wartete er, daß Terra einträte.

Das Schlimmste war: er konnte eintreten. Sie hatte während des ganzen Tees sich bis zur Unerträglichkeit beherrscht, das Maß war überschritten. Als hinten eine Tür ging, fuhr sie herum, die Hände vorgestreckt. Halblaut ein Name, ihr Schrei war nebenan im Garten zu hören gewesen, jene Blätter schwankten.

Der Eintretende war Tolleben, Alice konnte es früher als Mangolf sehen. Sogleich spielte sie Komödie. Er sollte bis zuletzt hoffen, es sei Terra. Er sollte nicht hervorkommen, solange es ihn noch retten konnte.

Nie hatte Tolleben diese zärtliche Gestalt herbeischweben, ein Gesicht verklärt wie dieses gesehn. Betroffen hielt er an, noch bevor er von nebenan sichtbar war. Alice flog zu ihm, flüsternd klärte sie ihn auf, fort war sie.

Tolleben stampfte geradenwegs auf die Pflanzen los, Mangolf fand noch eben Zeit, ihm entgegenzutreten, bevor er am Ärmel herausgeholt ward. Den Augenblick benutzte er, sich große Haltung zu geben. »Kein überflüssiges Wort«, sagte er stark. »Auch das nicht!« Ohne auszuweichen, obwohl er die Hand des andern zucken sah. Mangolf behielt ihn im Auge und ward der Herr, einzig mit diesem Blick, der nicht herausfordernd, nur zergliedernd war, mit diesem dunklen Gesicht, das alles wußte über sich und die andern, das jede Sekunde es satt haben konnte zu schweigen. Tolleben wich, vor etwas Unbegreiflichem wich er.

»Komödiant«, sagte sein böses Stimmchen, aber bei aller Verachtung: innerlich schlotterte er.

»Ich erwarte Ihre Zeugen«, sagte der da und ging ab durch die Mitte.

 

Wie aber Mangolf durch das Grüne Zimmer ging, hörte er seitwärts im Empfangsraum die Stimme Alices. Unbedenklich trat er ein. Sie sah nicht her, sie telephonierte. »Er ist nicht zu erreichen?« Noch erregter: »Geben Sie sich doch Mühe, er muß erreicht werden ... Wie? Nicht in Berlin? Er ist nicht in Berlin? Dann danke ich Ihnen. Sagen Sie auch meinem Vater, daß ich ihm danke.« Der Hörer fiel ihr aus der Hand, sie glitt am Tisch nieder.

Mangolf eilte herzu, er half ihr. Sie wandte sich nur weg. Darauf er: das tiefste Bedauern, das wahrste Gefühl für den Grundirrtum seiner Rolle. »Man sollte nicht kämpfen.« Aber: »Wir sind verwickelt in Kampf. Da hängt es nicht mehr von uns ab, wohin er führt.«

»Was wollen Sie?« fragte Alice.

»Dasselbe wie Sie. Das Duell darf nicht sein.«

»Sie irren. Ich will, daß es ist.« Sie sah ihm voll ins Gesicht. »Sie sollen fallen.«

Er kam leicht ins Wanken. »Das wäre kein Ausweg«, sagte er sogleich. »Doch«, behauptete sie. »Denn Sie wollten, daß mein Mann fiele – oder der, auf den Sie ihn hetzten«, unheilvoll abklingend.

Mangolf ward eindringlich. »Gnädigste Gräfin! Die Logik des Gefühls ehrt Sie, aber sie täuscht Sie auch. Das Duell ist unmöglich. Wir sind nicht dazu da, unserem Herzen zu folgen. Der Schwiegersohn des Reichskanzlers ist genau so unabkömmlich wie der Schwiegersohn des Geheimrates von Knack. Tiefgehende Gegensätze zwischen den beiden Machtfaktoren Knack und Lannas sind für unsere Politik untragbar.«

»Sie trägt noch mehr«, sagte Alice. Er fing von vorn an, mit noch mehr Schärfe des Gedankens.

»Feigling!« sagte Alice.

Bedauern, kluge Nachsicht, er ging. Sie lief zurück in den Roten Salon, lief, damit nur Tolleben noch da sei. Ja, er stampfte umher. »Warum habe ich den Burschen nicht auf der Stelle niedergeschlagen? Wenn auch Du es nicht weißt, platze ich!« Er war übertrieben gerötet.

»Statt dessen weiß ich, daß er heillose Angst hat. Er stirbt vor Angst, noch ehe Du ihn vor Deine Pistole bekommst.«

»Danach sah er nicht aus«, meinte Tolleben verwundert.

»Wenn ich bedenke, was er vorhatte, bin ich überglücklich!« Die Zunge kam dem Herzen nicht nach. Vergeltung für die Angst all dieser Stunden. Gefahren abgewendet von ihr nicht nur: von einem anderen Haupt, das nicht einmal drum wissen durfte. Welch eine Lehre! Und jener träumte noch immer, sie würden einander gehören. Nie, nie, und doch nicht aufgeben, uns zu lieben, – womit ihr Ernst und Festigkeit kamen. Zu Tolleben zurück:

»Ich will etwas sagen, wozu es wirklich diese große Gelegenheit brauchte, sonst sagt man es nicht. Ich werde Dir treu sein.«

Er antwortete nichts. Gewisse Dinge läßt man gut sein, denn Worte kommen und gehn. Worte fände der Feigling. Zwar hatte sie jetzt wirklich ein Gesicht, fühlte Tolleben, das Frauen sonst nicht hatten, ein ehrliches Gesicht.

»Ich habe unaufschiebbar zu tun«, sagte er und ging, sich Zeugen zu suchen.

Mangolf faßte sich nicht vor Erstaunen; ganz früh, man lag noch im Bett, kamen zwei Offiziere. Er erklärte seiner Frau, es handle sich bestimmt um Formalitäten, das Duell sei und bleibe unmöglich. »Alice muß inzwischen eingegriffen haben.« Zur Beilegung der Sache bedurfte es wohl auch seiner Zeugen, er rief sogleich den General von Heckerott an, der bereitwillig zusagte. Hinaus zu den Herren, eleganter Hausanzug.

Korrektes Gespräch, dermaßen einstudiert und festgelegt, daß es schwerlich voller Ernst war. Man würde irgendwann einmal gespürt haben, daß es um das Leben ging. Die Herren verabschiedeten sich, die Szene hatte geklappt.

Beim Frühstück beschäftigten ihn Zeitungen und Briefe, er bat nur Bella, ihn ins Amt zu benachrichtigen, wenn Heckerott mitteilte, die Sache sei ausgetragen. Dann bestieg er sein Auto.

Wichtiger Tag, die Beantwortung einer sozialdemokratischen Interpellation war vorzubereiten, Lannas glänzte dabei gern. Erst bei einem zufälligen Blick auf die Uhr dachte er wieder an Heckerott. Jetzt hätte die Nachricht schon da sein sollen. Also nicht. Aber er wußte jetzt doch, daß er wartete. Noch eine Weile, er rief zu Hause an: nichts; bei Heckerott: fortgegangen. Was geschah eigentlich? Geschah denn Unvorhergesehenes? Mangolf bekämpfte die sich meldende Unruhe mit den geläufigen Gründen. Die Zeugen Tollebens waren selbstverständlich verpflichtet, Entgegenkommen zu zeigen. Mangolf hatte die seinen sogar angewiesen, sich abwartend zu verhalten. Denn wem drohte in Wirklichkeit der Skandal? Wer war betrogener Gatte und erledigt?

Aus diesem Wort aber brach die Wahrheit. Nein. Ein Tolleben war selbst dann nicht erledigt. Erledigt war nur der, der fiel. Furchtbare Wahrheit! Auf einmal gab Mangolf sich ganz ihr hin, den Kopf in den Händen. Er fiel, und alles ward vergessen, der Tollebensche Fleck, der Tod Mangolfs, die ganze Gegnerschaft. Knack, Gegner Lannas', wegen eines toten Schwiegersohnes? Der Schwiegersohn, Vertreter des Hauses im Schoß der Regierung, verunglückte tödlich, Neubesetzung des Postens, was weiter? Knack vergaß zuerst, später Bella. Zuletzt erwähnte auch Tolleben den Beseitigten mit Wohlwollen. Er konnte es sich erlauben, der Dummkopf. Wer stirbt, ist der einzige Dumme.

Mein Gott, welch unsäglicher Mißgriff war geschehn! Seine Sache, seine ganze selbst erbaute, gespannte, strenge und sinnvolle Existenz vor eine nichtssagende Schußwaffe! Ein tödlich albernes Spiel, kein Gewinn, aber der Einsatz ich. »Ich! Ich!« Laut, mit Schlägen auf die Brust, mitten im Zimmer. So überraschte sich Mangolf.

Er ward gewahr, daß er seit einer vollen Stunde die entsetzlichste Angst litt. Ende machen! Ans Telefon. »Herr General?« Ja, Heckerott selbst, er atmete hörbar. »Komme gerade nach Haus. Schöne Bescherung, das muß uns passieren. Fällt natürlich wieder auf die Armee zurück, müßte vaterlandslose Gesellen nicht kennen.« Wie betrunken. Mangolf bekam seine ganze Kälte zurück.

»Wovon reden Sie?«

»Ach, Sie wissen nicht? Sie wissen wirklich nicht? Ja stimmt, woher sollen Sie? Ihr Duell kann nicht sein, Zeuge ist tot.«

»Was? Welcher Zeuge?« So scharf, daß Heckerott zu erschrecken schien. »Entschuldigen Sie vielmals, lieber Mangolf, ich hätte gleich angerufen, aber wenn Sie wüßten, Zustand, in dem man ist. Keine Sorge, Ihr Duell kommt richtig dran, bloß mit Aufschub, aber Ehre wird gewahrt, keine Sorge! Hören Sie bloß zu! Alles war schönstens geordnet, dreimaliger Kugelwechsel. Idee von Graf Finkenburg, bestand darauf, für Ihren Herrn Gegner. Ich natürlich zurückhaltend in Ihrem Sinne, verlangte bis zur Kampfunfähigkeit. Drang nicht durch, tut mir leid, also dreimaliger. Sind Sie noch da?«

»Ich höre.«

»Nun hätte ich Sie natürlich aufsuchen sollen. Wollte ich auch. Aber Graf Finkenburg ließ nicht locker, ich mußte auf Reitschule mit, Stute besehn. Da ist es denn passiert.«

»Graf Finkenburg ist gestürzt?«

»Nee, erschossen.«

»Er?« fragte Mangolf. »Und nicht ich?« Er wußte nicht, was er sagte, ward aber überschrieen.

»Rückenschuß!« schrie der General. »Von hinten! Feige und tückisch! Fällt auf die Armee zurück, denken Sie an mich! Eigener Bursche Finkenburgs schwer verdächtig, aber nichts nachzuweisen, habe persönlich ihn zwei Stunden in Arbeit gehabt. Leute halten zusammen wie die Faust. Na, Seliger war Leuteschinder. Können uns freuen auf Berichte der Schweinepresse!«

»Ich danke, Herr General.«

Mangolf wollte einhängen, Heckerott rief noch: »Jetzt kann Ihre Sache natürlich heute nicht mehr steigen, haben Sie eine Ahnung, was alles über mich kommt. Morgen fangen wir von vorn an. Übermorgen früh, wenn alles klappt, kommen Sie zum Schuß.«

Mangolf setzte sich, um nicht an die Decke zu springen. Gerettet! Durch ein Gottesgericht! Das Duell war also dennoch dergleichen. Ein Mensch, ihm gestern unbekannt, seit heute in sein Schicksal verfangen, war gestorben statt seiner. Mangolf erschauerte unter der Hand des Höchsten. Dann freute er sich wieder und rauchte Zigaretten. Hinaus ins freie Leben! Auf der Straße bemerkte er die Frühlingssonne und alle Frauen. Noch jung zu sein! ... Hier ward ihm bewußt, er werde nicht alt werden, noch immer gehe er als Verurteilter umher.

Zeit gewonnen, alles gewonnen! Er setzte sich in ein Café hinter die große Glasscheibe. Das wagehalsige, besonnte Gewühl auf dem Platz ermutigte ihn, es zeigte, wie das Leben seinen Weg fand. »Auch ich habe Auswege, zehn statt eines!« Aber jeder, den er ins Auge faßte, verschwand. Am Ende saß er allein, dunkel nach innen gerichtet. Fort das besonnte Gewühl, Mangolf sah einzig ein ungeheures Grab, groß genug für seine ganze Welt.

Auf, fliehen! Flucht vor der Angst. Wohin? Du hast einen Menschen, einen einzigen. Ihm allein ist Dein Leben so teuer, daß er statt Deiner sogar sich entehren würde. O! der findet ein Mittel, Dich zu behalten, denn ihm ist jedes recht. Dies ist die Stunde, klar zu sehn ... Da stand er schon vor der Tür Terras.

Terra war nicht in Berlin. Wo war er? Ach! Im Rheinland? So weit fort? »Ich muß ihn anrufen. Gleich hier.« Er ward eingelassen.

Er saß da, wartend auf die Stimme des Freundes. Saß lange da, als sei er schon geborgen, – da traf ihn der Schreck. Terra – doch! Terra hätte statt seiner –. Wie jetzt Graf Finkenburg. So hätte es kommen können, »nicht mein Verdienst, daß es anders steht. Ich habe ihn verraten.« Hier rasselte das Telefon.

Mangolf wollte hineinrufen, man solle Terra nicht mehr herbeiholen; aber der Freund war schon selbst da.

»Du kannst kaum sprechen, mein lieber Wolf«, sagte er. »Es muß etwas geschehen sein. Wir sehen uns unbedingt morgen früh, denn natürlich setze ich mich heute Abend in meinem eigensten Interesse auf den Zug nach Berlin.«

»So lange kann ich nicht warten«, brachte Mangolf hervor. Der Freund, unverzüglich: »Wozu auch. Es gibt das Automobil. Es ist eigens für uns erfunden. Ich besteige sofort das stärkste Auto Deines Herrn Schwiegervaters und bin, wenn ich nicht geradezu den Hals breche, schon in der zweiten Morgenstunde bei Dir.«

»Ich fahre Dir entgegen!« Aufschrei, er drang zu dem Freund, wie vorher die Tränen.

Sie verabredeten eiligst den Ort mittwegs, wo sie zusammentreffen wollten. Ein Wort an Bellona, Mangolf bestieg sein eigenes Auto – gleichzeitig mit Terra, der dort hinten abfuhr. Fahrt durch Frühlingsdörfer, im leichten Rausch der Luft, der Bewegung. Keine Angst; auch Verlassenheit war nicht mehr zu fühlen; dahinten legte der Freund den Weg zurück statt Mangolfs. Teilte mit ihm den Weg, die Angst, die Gefahr. Wußte gewiß schon alles, noch bevor er das Ohr neigte. Der Abend fiel, sie kamen sich näher im Dunkeln. Der Wagen nahm eine Wendung schlecht, Mangolf ward nach vorn geworfen. Erschrecken, war nicht der Freund verunglückt eben jetzt?

Ankunft in der kleinen Stadt, das Gasthaus. Niemand da. Mangolf wollte nicht essen ohne den andern, aß dennoch, damit die Zeit vergehe, aber statt der vergangenen kam nur noch schwerere. Er ging aus dem Haus, warum? Betrat einen Platz, welch ein Druck! Es war der Dom; gedrängt, halb in der Erde, wuchtete er, allein und nachtgrau. Im Abstand die leeren alten Gassen wurden nach den ersten Schritten die Nacht selbst. Zurück zum Dom, die Fledermäuse strichen. Ach! beim wagehalsigen Gedränge des besonnten Platzes heute Mittag ließ sich der Tag noch leben, selbst wenn es der letzte war. Hier nicht.

Schritte hinter jenem Pfeiler: sie standen vor einander. »Mein lieber Wolf, ich suchte Dich«, sagte Terra. Mangolf schwieg, und Terra verlangte noch nicht, daß er spreche. »Wir sind offenbar an verschiedenen Punkten dieses Nestes gelandet, mein lieber Wolf. Ich bin nicht müde, aber hier steht eine Bank. Sie steht unter blühenden Fliederbüschen, beschattet vom tiefen Winkel der Kirche, und auch einige verwitterte Gräber lassen es sich nicht nehmen. Es zeugt einzig und allein für die hoffnungslose Versumpftheit des Nestes, daß auf der Bank kein Liebespaar sitzt. Bei Gräbern, den bekannten Vertrauten! Sogar ein Wasser murmelt wer weiß wo. Wir ersetzen das Liebespaar, wir übernehmen es, zu murmeln mit dem Wässerchen.«

Und Mangolf beichtete. Terra ermutigte die halblaute Stimme mit Neigen des Kopfes, einem sanften Umfassen des Armes. Als Mangolf im Fluß war, wild flüsternd hinsprang auf jede böse Stelle und weiter, sprach Terra scharf hinein: »Weiter!« und »Vorzüglich!« Am Ende lachte er, es schallte grausam, Mangolf sank über sich selbst. Aufstehend sagte Terra. »Mein lieber Wolf, ich hatte es nicht anders von Dir erwartet« – und ging.

Die zornigen Schritte hallten; sie stockten; kehrten um. Mangolf saß über sich gebeugt. Terra stieß hervor: »Du bist kein Mann von Ehre!«

»Ist das wirklich Dein Standpunkt?« fragte Mangolf.

»In der durch nichts berechtigten Annahme, ich könnte mich zu einem Schäferstündchen bei Frau von Tolleben einfinden, hast Du ihren Herrn Gemahl wie einen tollen Hund auf mich gehetzt. Es soll Dir erlassen sein, aber Du kompromittierst auch die Dame!« – »Was für Worte«, sagte Mangolf. »Brauchen wir doch Worte, die zu uns passen. Ich habe Dich verraten, dafür werde ich bestraft.«

»Wenn Frau von Tolleben sich an Dir zu rächen wünscht, kann ich es ihr bei Gott nicht verdenken«, – womit Terra sich nochmals zum Gehen wandte. Er machte aber nur die Drehung um sich selbst, dann saß er wieder. »Erkläre mir gefälligst das Eine«, sagte er viel weniger entschlossen. »Wie kommt ein Mensch unseresgleichen mir nichts dir nichts zu einer solchen riesenhaften Produktion kindischer Niedertracht. Du bist mir ein Rätsels mein lieber Wolf.«

Aber sein Ton war nichts weniger als verwundert. Mangolf hob den Kopf, sie sahen sich an, jeder verstand durchaus den geschehenen Mißgriff. Einfacheren als sie, lief das nicht unter: keinem Einfacheren, der handelte. Terra sagte, selbst die Stirn in Falten der Schuld: »Und ich? Noch im Winter bei der Altgott hattest Du die schönste Gelegenheit, mich direkt vom Galgen herunterzuschneiden, so hatte ich gewirtschaftet. Und wenn Dein sauberer Plan, mich abzufassen mit Alice, mißlingen mußte, Gott ist mein Zeuge, daß es nicht an mir lag. Ich habe deshalb noch kein Recht, moralisch auf Dich herabzusehen. Du bist einfach an der Reihe, Dich aufzuhängen, und ich, Dich abzuschneiden.«

»Ich kenne Deine Ausdrucksweise«, murmelte Mangolf, indes sie Arm in Arm von dannen gingen.

»Unverzeihlich ist einzig und allein Deine gottverlassene Dummheit«, behauptete Terra. »Gut, einen Mann, dem sonst nicht beizukommen wäre, beseitigt man herkömmlicherweise vermittelst der Geschlechtsmoral. Aber ist Dir denn keinen Augenblick der simple Gedanke gekommen, Dich an Deinen Gegner selbst zu halten, anstatt an die unschuldige Frau? Wozu lebt eine Fürstin Lili?«

»An Lili dachte ich nicht«, – Mangolf spähte erstaunt in die Nacht. »Tatsächlich«, fand er, »das Mittel war unfehlbar, wenn auch vielleicht nicht tödlich für den Patienten. Er soll noch immer bei Lili hängen, wohl wegen des Kindes.«

»Das Deins ist«, sagte Terra.

»Er konnte aus der Sache lächerlich genug hervorgehen, um wenigstens dieses Jahr noch nicht Staatssekretär zu werden. Was wollte ich mehr? Aber –«

Mangolf blieb stehen.

»Jetzt siehst Du selbst die Hauptsache nicht. Deine Alice wäre in ihrem Ehrgeiz getroffen. Glaubst Du, daß irgend eine andere Art sie zu treffen, ihr schmerzlicher sein könnte?«

»Nein«, sagte Terra, stand da und sah vor seine Füße hin. Mangolf atmete nicht. Endlich rührte sich Terra. »Abgemacht. Wir fahren geradeswegs zu Lili. Du mußt leben.«

Worauf Mangolf schnell, ganz schnell nach seinem Arm griff. Schweigend gelangten sie aus der Stadt. Dort sagte Terra. »Hier draußen habe ich das Automobil Deines Herrn Schwiegervaters stehen gelassen. Es schien mir richtig, die Stadt ohne auffallendes Geräusch zu betreten. Wir besprechen so zarte Dinge.«

Um ihr Vorgehen gleich zu entwerfen, kehrten sie um, verließen aber auch den Domplatz nochmals. Wieder zurück ins Freie gelangt, sahen sie den Tag dämmern. »Ich bin nicht müde«, sagten sie, »es war so anregend. Aber ich habe Hunger.«

Sie frühstückten ausgiebig, gleich darauf bestiegen sie das Auto Mangolfs; vor der Stadt schickte Terra das seine fort. Zuerst noch langsam rollten sie durch das neu erhellte Blühen, durch ein Land von zwitschernden Gärten. Solche Frische, solche Nähe der Erde war unbekannt noch kürzlich, als nur die Bahn fuhr. Das Duell war abgetan, sie atmeten, sie lobten die Unabhängigkeit ihrer Reise, die unerhörte Bewegungsfreiheit des Reichen in seinem Auto, dieser neuen Erfindung zugunsten der einträglichen Berufe. »Ich mag ein Schurke sein«, sagte Terra, »daß ich mich verkauft habe an Deinen Herrn Schwiegervater. Aber das Autofahren lohnt es« – indes er gemessen grüßte in die anderen Autos, die vorbeijagten. »Alles Industrie«, erklärte Terra, laut und angeregt. »Wir sind jetzt immer unterwegs. Die Straßen beherrschen nur wir. Unsere Autos, die aneinander vorbeijagen, bringen uns unwiderleglich zur Anschauung, daß wir eines Tages auch das Land beherrschen könnten. Erledigt die Ritterschaft. Die bürgerliche Macht der Industrie überrennt sie im Auto – und mit der Flotte.«

Mangolf, Aufschrei des Stolzes: »Tolleben kein Problem mehr, wo ende ich dann?«

Hier mußten sie stoppen. Wildbewegtes Durcheinander von Menschen und Geräten: ein Auto, ein Mistwagen ineinander gefahren, herzugelaufenes Bauernvolk unterstützte den wütenden Mistfahrer, zwei bedrohte Reisende drangen gegen soviel Geschrei nicht durch. Da riesige, von Mist bedeckte Gabeln zugriffen, sprangen sie auf ihren Sitz, machten Schwimmbewegungen in ihren großen Brillen und Mänteln, heulend nach ihrem Chauffeur. Der war fort. Kritische Minute, zuletzt blitzte in einem Herrn die Rettung. »Prinz Heinrich!« rief er. »Wir sagen es Prinz Heinrich! Hier ist überhaupt eine bekannte Autofalle. Das bekommt euch schlecht. Unser Präsident ist Prinz Heinrich.«

Das Bauernvolk stutzte. Schwerlich kannten sie den Prinzen, aber je dunkler die Drohung, umso wirksamer, die Gabeln senkten sich. Auto und Mistwagen wurden getrennt, Mangolf schickte seinen Chauffeur zu Hilfe, jetzt kam auch der andere zum Vorschein. Die Herren demaskierten sich, welche Überraschung: Doktor Mörser! Graf Haunfest! Das schmutzfarbene Gesicht und das geschminkte.

Man plauderte, man rauchte Zigaretten, indes durch Geld bezähmt das Bauernvolk hilfreich den Mist vom Auto putzte. Hackenschlagen, Händedruck, zwischen bewundernden Spalieren startete man nach zwei Richtungen.

»Du siehst,« sagte Terra, »Graf Haunfest fährt sogar mit nach Knackstadt.« Das sei Freundschaft, erklärte Mangolf. Worauf Terra: »Der Knacksche Neffe hat vornehme Passionen. Gestehen wir es unumwunden ein! Unsereiner muß wohl von Klasse sein, wenn Knacks Neffe sich Grafen hält. Die Industrie folgt ihren Zwecken. Das alleinige, unverbrüchliche Recht, zu beurteilen, ob von den Herzensbeziehungen des Herrn Doktor Mörser die Firma ihren Vorteil hat, liegt bei Herrn Geheimrat Knack.« – »Von Knack«, betonte Mangolf.

»So ist es erreicht?« Terra rieb eifrig die Hände. »Eine große, aber nach meiner unmaßgeblichen Meinung mit wer weiß wie folgenreicher Tätigkeit redlich verdiente Auszeichnung.« Übertrieben im Ausdruck, sofort faßte Mangolf Mißtrauen. »Du bekundetest schon vorhin für die bürgerliche Macht der Industrie ein Interesse, das an Begeisterung grenzt.«

»Was willst Du,« Terra gab sich beruhigend, »ich bin ohne Widerstand gegen Erscheinungen, die ihre Vollendung in sich tragen. Knackstadt, Burg der tausend Essen, wie einstmals Städte ihre Kirchen zählten! Die ganze tätige Intelligenz eines großen Landes, sein Wille zusammengezogen in Knackstadt. Rauchender Wille, dröhnender Wille. Nur ihn bedient das Kapital. Das Rüstungskapital, von Knackstadt drängt es, der Grenzen und Meere spottend, zu den Ländern der Erde; begegnet dem anderen Rüstungskapital, das von dorther drängt, und befreundet sich mit ihm, trotz Feindschaften der Länder.«

»Kannst Du das beweisen?« fragte Mangolf dazwischen. Terra, ernüchtert: »Ich bin Syndikus der Firma. Als reiner Jurist vertrete ich blindlings ihre Interessen, verlaß Dich darauf. Ich sitze in Berlin, ich fahre nach Knackstadt nur zum Vortrag.« Wieder stärker: »Aber ich müßte ohne einen Funken wahren Gottesbewußtseins geboren sein, wenn die geschaffene Welt in ihrem höchstmöglichen Ausdruck mir verschlossen bliebe.«

»Der liegt in Knackstadt?«

»Knackstadt und sein Betrieb tragen das göttliche Mal, sie sind einzig und allein um ihrer selbst willen da.«

Mangolf, verletzt: »Ich dachte, auch die Rüstungsindustrie sei Werkzeug der Politik.«

»Wir alle sind Werkzeuge, aber wessen?« sagte Terra, es klang zu geheimnisvoll. Mangolf zuckte die Achseln. Aber Mißtrauen blieb. Was meinte Terra. Wieviel hatte er erfahren, – und drohte er denn? Knack warnen vor diesem Windungsreichen, Niegefaßten: ganz zwecklos. Mangolf prüfte, – indes Terra unbeirrt weiter in zweideutiger Weise aufschnitt. Er sprach von der Dämonie der Gewöhnlichkeit in Knack und von dem grotesken Grausen, das seine ungeheure Seele bildete, belebte sie die Form seines Geschöpfes Doktor Mörser.

Unheimlich berührt schloß Mangolf die Decke fester um sich, strebt sich zu scheiden von Terra. Wem hatte er sich anvertraut! Bei wem stand nun sein Leben. Stumm versank Mangolf, erbitterte Furcht hatte ihn wieder. Terra erhob die Stimme noch mehr, auch seine Gedanken stiegen zusehends. So kamen sie in Berlin an.

 

Mangolf hatte beschlossen, sich im Auswärtigen Amt blicken zu lassen. »Es ist Mittag«, stellte Terra fest. »Um zwei Uhr sind die Dinge geregelt. Du hörst von mir.« Und er ging zu der Frau von drüben.

»Mein Sohn ist noch nicht aus der Schule zurück?« fragte er dort. Man sagte ihm, daß die gnädige Frau sich ankleide, er wartete. Überaus helles Zimmer in Rosa und Gelb, abgeschafft das Halbdunkel jenes maurischen Kabinetts. Dann ließ sie ihn ein. Sie drehte sich vor dem freistehenden Spiegel, auffallend schlank und in Trauerkleidung. Terra begann, wie immer:

»Ich kann Dir versichern, daß nach meiner heiligsten Überzeugung Deine beste Zeit erst anfängt. Du wirkst jeden Tag mädchenhafter.« Sie sah ihn an, keineswegs dankbar. »Als Frau von Klasse ist man jetzt schlank«, sagte sie, sich weiter drehend über hohen Beinen. Er bestätigte:

»Wir wachsen in ein neues Jahrhundert hinein. Man braucht nur Dich anzusehen und weiß alles.«

»Wem willst Du damit eins geben, dem Jahrhundert oder mir?« Nicht ohne Gereiztheit.

»Habe ich mir schon jemals einfallen lassen, an Dir etwas auszusetzen?«

»Versuch' es mal! Ich spiele Tennis, Polo, Golf, ich chauffiere, ich boxe.«

»Im vorigen Jahrhundert hieltest Du Siesta in verdunkelten Gemächern.«

»Mache mich nicht älter als ich bin!«

»Wie könnte ich? Du bist das unzerstörbare Geschlecht ... Trauer ist das Neueste?« fragte er. »Das trifft sich. Gerade Du wirst in Trauer die ungeahntesten Erfolge haben.«

Hier verließ sie den Spiegel, sie trat vor Terra hin, sie brach aus. »Tu doch nicht, als wüßtest Du nicht, daß Finkenburg tot ist!« – »Gerade deshalb komme ich«, sagte er aus Überraschung. – »Und gratulierst mir die ganze Zeit!« Tränenerstickt.

»Soll ich Dir denn –? Um Gotteswillen, schade Deinen schönen Augen nicht! Jetzt weiß ich, wo ich seinen Namen schon gehört hatte. Er war Dir teuer. Du hast einen fühlbaren Verlust erlitten.«

»Wer bezahlt nun meine neuen Möbel!« seufzte sie, und sie gab sich an Terra wie an den Schmerz, er mochte sie streicheln, ihr heller gewordenes Haar, ihr verjüngtes Gesicht, dies Gesicht des Lebens, das nicht trauert, selbst nicht mit geschlossenen Lidern, erlöschenden Farben und geknickt auf engem schwarzen Stiel. Er fand sie in ihrer neuen Fassung verwandt ihren noch unbezahlten Möbeln, flach, gestreckt, viel Metall, matte Töne – aber hart, die gewagten Ornamente im Grunde exakt wie Maschinen.

»Sprechen wir geschäftlich!« sagte er und zog Stühle her. Sie war sofort bei der Sache. »Mein Kommen«, erklärte Terra, »soll einen neuen Unglücks all verhindern. Du hast den Grafen Finkenburg eingebüßt, es möge Dir erspart bleiben, auch noch die beiden Väter Deines jüngsten Kindes zu verlieren.« Er setzte ihr das Notwendige auseinander. Ihre schriftliche Erklärung, das Kind sei von Tolleben, und alle Beteiligten konnten ruhig schlafen. Niemand schlägt sich gern, sie tat allen den größten Gefallen, zuerst Tolleben. Ihre schriftliche Erklärung kam natürlich niemals ernstlich zur Verwendung. Tolleben wartete nur, daß irgend jemand diesen leichten Druck auf ihn ausübte, damit er aus der Sache kam.

»Das glaubst Du selbst nicht«, wandte sie ein. »Über Kavaliere sind wir uns klar. Ich will Dir nicht zu nahe treten Du bist nie einer gewesen.«

»Deine gesamten Möbelrechnungen würden selbstverständlich auf Heller und Pfennig beglichen werden.«

»Ich bin in den Kreisen, wie Du weißt, intim. Zu Gemeinheiten gegen Herrn von Tolleben kriegst Du mich nicht.«

»Das macht Deinem Charakter nur Ehre. Ich darf Dich freilich daran erinnern, daß Du ihm ein falsches Kind aufbindest.«

»Das hat nichts damit zu tun«, behauptete sie, und ohne erkennbaren Zusammenhang: »Dein Mangolf zahlt doch auch nichts.«

Als er dringlicher ward, kleidete sie ihre Weigerung in Spott und Hohn. »Du kommst von Deinem Freund. Was Du mir vorerzählst, kann nicht stimmen, der Raffinierte ist in der Sache Dein Freund, und jetzt möchte er kneifen. Das kann ich verstehn, Herr von Tolleben schießt blendend.«

»Aber unser Freund Mangolf hat Glück«, sagte Terra mit Bedeutung. »Schon mußte ein unbeteiligter Herr, nur weil er Zeuge war, daran glauben.«

Sie zeigte Unwillen. »Willst Du mich dumm machen? Graf Finkenburg wäre sowieso von seinem Burschen erschossen worden.«

Was blieb noch übrig. Terra stand auf, er sagte, die Worte scharf auseinander haltend: »Du willst nicht? Gut. Dann handle ich selbst. Ich bestelle Tolleben zu Dir, und so wahr der Himmel mich hört, von mir kriegt er die Kugel.«

»Hier bei mir?«

»Hier bei Dir.«

Sie sah ihn lange an, ob es ernst sei. »Gewissermaßen imponierst Du mir«, – worauf sie vorschlug, sie wolle Tolleben zum Verhandeln bringen. »Schließlich hat er wohl auch nichts dagegen, man tut ein gutes Werk. Ich hole ihn gleich her, Du kannst mit Deinem Freund kommen. Aber ohne Revolver.« Als dies zugesichert war: »Und die Möbel?«

Wenn alles gut gehe, würden sie bezahlt werden, versprach Terra. Seinerseits begab er sich zu Heckerott. Kurzweg und mit der Miene eines hohen Vorgesetzten erklärte er dem General, das Duell sei unerwünscht. Es störe geschäftlich, es greife störend in die Beziehungen des Hauses Knack zur Reichsregierung ein, das sei im nationalen Sinne unerwünscht. Der Alldeutsche Verband werde unfehlbar die Folgen spüren.

Die Knackschen Zahlungen drohten auszubleiben? Das wirkte augenblicklich auf den Ersten Vorsitzenden des Verbandes. Auch ihm sagte er, seien inzwischen Bedenken gekommen. Er hatte sogar die Vertreter Tollebens ihnen nicht unzugänglich gefunden, besonders im Hinblick auf das rasche Ende seines ersten Sekundanten. Ein Glück, Tolleben war abergläubischer als die Frau von drüben! Terra vermutete überdies, daß Alice die Sache richtig zu sehen anfange, sie bildete scheinbar kein Hindernis mehr. Heckerott sah überhaupt keins. Er dankte ausdrücklich Herrn Terra für einen Schritt, der vom privaten wie vom öffentlichen Standpunkt fraglos geboten gewesen war. Gerade die Ehre verlangte, daß zwei deutsche Männer wie Doktor Mangolf und Herr von Tolleben Arm in Arm gingen. Eine persönliche Zusammenkunft der beiden Gegner, wie Herr Terra sie vorschlug, war der geradeste, daher der deutsche Weg. Der General übernahm es, Tolleben durch seine Zeugen ohne Zeitverlust zur Fürstin Lili zu schaffen.

Terra ging selbst hin, als die Verhandlung begonnen haben mußte. Die Dame des Hauses war mit drinnen. Zwei Zimmer entfernt fand Terra seinen Sohn Claudius über einer Briefmarkensammlung. »Dein Freund macht glänzende Geschäfte mit Dir«, sagte der Vater nach Prüfung der Tauschobjekte. »Aus Deinem Aufsatzhefte entnehme ich, daß auch Dein Klassenlehrer Dich für einen ausgemachten Esel hält. Das läßt sich vermeiden, der Dümmste kann es. Lerne Dich einfach so auszudrücken, daß nicht Du, sondern er seine Freude daran hat. Bleibe das eine für Dich, sei das andere für ihn, so ist das Leben. Du kannst nicht einer Welt, die auf alles andere eher gefaßt ist, dauernd Dein besseres Selbst an den Kopf werfen, das führt zu Bankrott und Selbstmord ... Von dem Gesicht, das Du jetzt machst, liest jeder schlankweg ab, wieviel an Dir zu verdienen ist! Du bist elf Jahre alt, und Du trägst meinen Namen. Ich muß anfangen Dich einzuführen.«

Wobei er mit brennendem Ernst die klaren grauen Augen, die fliehen wollten, festhielt. Zwei Zimmer weiter erhoben sich Stimmen. »Bei Deiner Mutter«, erklärte Terra, »sind zwei Herren, um einander etwas abzuhandeln, nämlich das Leben. Kriegt jeder das Seine vom anderen heraus, verdient Deine Mutter. Du mußt wissen, daß es die anständigste und seltenste Art des Verdienens ist, Leben zu vermitteln. Die Meisten sind Makler des Todes.«

Noch sprechend, ahnte der Vater: »Was tue ich. Immer nur Mißtrauen lehren, Einblicke verschaffen, immer nur Bekämpfung weicher Gefühle: so meine ichs nicht, hier geschieht ein Irrtum. Man sollte sich näher kommen.« Der Knabe aber begriff. Er preßte den Mund wie der Vater, da wurde ihm klar, der Vater sei weich und liebe ihn. Sofort erschloß er sich. Augenblick des Vertrauens; an diesen ernsten, rätselhaften Vater wagte man doch in solchen Augenblicken Fragen, die bei der so viel umgänglicheren Mutter sich verbaten. Gerade ward, zwei Zimmer entfernt, die Stimme der Mutter laut wie im Zorn. Der Knabe sagte schmeichlerisch: »Bitte, Papa, warum heißt Mama Fürstin?« – »Weil sie das Recht hat, so zu heißen«, sagte Terra mit Nachdruck. »Sie trägt einen vollgültigen Namen, ich habe sie nie anders gekannt.«

Der Knabe dachte hierüber nach. Er dachte mit äußerster Kraft, der Körper litt darunter und stand schwächlich da. Dann nahm er die Brauen auseinander, da entdeckte er seinen Vater erst wieder. Sah zu ihm auf, die Unschuld selbst:

»War meine Mutter noch bei dem Fürsten, als ich zur Welt kam?« fragte er. Helle Stimme, klare graue Augen; vielleicht steckte nichts hinter der Frage, außer kindlicher Gedankenlosigkeit. Oder aber sie hätte vielversprechende Aussichten eröffnet. Terra versuchte ihren Sinn herauszubekommen. »Deine Mutter«, sagte er, »ist aus einer höheren Welt nur zeitweilig ausgeschieden. Sie macht Prüfungen durch. Da sie aber, wie Du weißt, sich unentwegt als schöne und großartige Dame erhält, kann es nicht ausbleiben, daß ihr hoher Gatte, der Fürst, sie eines schönen Tages wieder in den gewohnten Glanz zurückholt. Möchtest Du mit?«

Dies kam plötzlich, der junge Claudius zuckte leicht, schluckte auch erst hinunter. »Nein, Papa.«

Inzwischen umfaßte Terra seine Schulter, eine schwächliche Schulter, die unter seiner Berührung ein wenig nach vorn wich ... Der Knabe senkte den Kopf, sein Vater hatte nur die Stirn vor sich, gewöhnliche Stirn von richtigen Maßen, so undurchdringlich wie jede fremde. Dies Kind ward einst gezeugt mit so stürmischem Sehnsuchtsdrang, daß es selbst vielleicht keinen mehr übrig hatte, oder nur falschen? Wieviel Widerstreitendes in dem Anfänger, worauf kam es später hinaus? Der Vater küßte ihn in die Haare. Zwischen den Strähnen von verschiedenem Blond senkte er das Gesicht tief ins Dunkle.

Hier schlug eine Tür, gleich darauf drang die Mutter ein. Sie hielt kurz an. »Was erzählst Du ihm wieder? Mir ist es immer verdächtig, wenn ihr munkelt. Siehst Du, er schämt sich, er läuft.« Denn der Knabe machte, daß er hinauskam.

»Übrigens kannst jetzt Du selbst den beiden Irrsinnigen das Leben retten, ich rühre keinen Finger mehr, man platzt vor Wut.« Tatsächlich sah sie erhitzt aus. »Noch ein kleiner Ruck!« verlangte Terra. Aber sie schalt lauter. »Die beiden haben ihre Ehre in die falsche Kehle gekriegt. Rate, wer jetzt der Verrückteste ist! Dein Freund, er will durchaus Blut sehen, er läßt den anderen Idioten nicht aus dem Vertrag!«

Worüber auch Terra sich geräuschvoll erzürnte. Man solle sich hüten. Wenn die beiden darauf beständen, einander totzuschießen, werde es unabsehbare Folgen für sie haben. Mit seinem Geräusch erreichte er, daß sie kalt wurde. Sie brachte einen Gedanken vor. »Alle beide sollten sich ihre Gemeinheiten schriftlich geben, dann hat die liebe Seele Ruh'.«

Wie sie das meine? Sie ward deutlicher. Auch Tolleben hatte es schließlich nicht nötig, sich über den Mangolf'schen Angriff auf seine Gattenehre übermäßig aufzuregen. Schließlich kam er immer noch her, an ihm lag es nicht, wenn kein Kind da war – Hand vor den Mund und auf den Stuhl fallend, denn hatte sie jetzt sich nicht ausgeliefert? Er beruhigte sie.

»Nach dieser neuen Wendung der Dinge«, äußerte er gelassen, »hinge es wohl nur noch von mir ab, dem Protokoll die Fassung zu geben, die ich im Interesse meines Klienten vorzuschlagen die Ehre hatte. Bei reiflicher Überlegung halte ich es indes für zweckmäßiger, wenn jeder der beiden Gegner dem andern etwas gegen sich selbst in die Hand gibt. Mein Klient legt schriftlich nieder, daß er vermittelst abgefeimter Briefe eine nicht vorhandene Eheirrung im Hause Tolleben vorzutäuschen bestrebt war. Herr von Tolleben bezeugt ausdrücklich, daß er, nicht zufrieden, von der rühmlichst bekannten Fürstin Lili eine Tochter zu haben, den Verkehr mit der Dame auch während seiner Ehe und bis zum heutigen Tage fortgesetzt hat. Nun, mein Kind, die Welt erwartet, daß Du Deine Pflicht tust. Geh'!« Dies in einem gewissen Ton. Sie ging augenblicklich.

Terra allein geblieben, horchte auf. Nichts rührte sich, – plötzlich alle Stimmen durcheinander. »Das glaube ich«, sagte Terra laut. »Die Scham ist noch mehr verletzt, wenn Beide gestehen müssen, als wenn nur einer sich in der Lage sieht. Der eine findet doch seinen Trost an der Intaktheit des andern. Die Übereinkunft, wir seien anständige Menschen, bleibt halb gewahrt, solange nur ich selbst der Schuft bin.«

Das Stimmengewirr verzagte, es gab klein bei. Stille; nur Terra für sich allein: »Schreibt, meine Freunde! Schreibt Euren Lebenslauf, widmet ihn einander! Es ist das einzige Mittel, den Ehrgeiz solcher Personen wie Ihr seid, in Schranken zu halten. Ihr beide wenigstens werdet Gründe haben, einander zu schonen – und damit uns alle. Hätte jeder den Lebenslauf des andern im Safe, vielleicht käme kein Krieg!«

Er sprach tönend, er durchschritt das Zimmer mit geschüttelten Fäusten, in seinem Gesicht arbeiteten Leidenschaft und Hohn. Schritte kamen, er hörte nicht. Wie schon die Tür sich bewegte, erkannte er, wessen Schritt. Terra konnte nur noch zum Fenster treten und den Rücken wenden. War Tolleben vom Gehabten mitgenommen genug, daß er die Begegnung übersah, indes er hindurch und abging? Es war nicht zart, ihm zu begegnen, – »obwohl wir beide nun schon gewohnt sein könnten, uns jedesmal gerade im peinlichsten Augenblick zu begegnen.«

Dann kam auch Mangolf, der Freund ging mit ihm. Im halbdunklen Flur lief das kleine Mädchen herbei: »Papa!« rief es – hielt aber an und schwieg. Es erkannte seinen Vater in keinem von beiden.

»Ich bringe Dich nach Hause«, sagte Terra, kaum daß er draußen das Gesicht des Freundes sah. Aber Mangolf bat, mitkommen zu dürfen, sie fuhren zu Terra. Da saß er, totenbleich mit gelben Schläfen; die Brauen sträubten sich schwarz über dies verfallene Gesicht hinaus. »Wir sollten auf zwei, drei Tage fortgehen«, schlug Terra vor.

»Ich kann viel länger fortgehen«, sagte Mangolf. »Ich bin fertig;« – und dies Gesicht war das Leiden und die Tiefe; Augen, worin die Bosheit des Lebens mutlos niederbrach, ein Mund, der sich schloß, begierig, nicht mehr zu wissen.

»Dann wäre auch Tolleben fertig«, sagte Terra. »Er ist von Dir abhängig, wie Du von ihm.«

»Ihn entehrt es nicht«, sagte Mangolf, übermenschlich stolz.

Pause. Dann Terra, die Augen gesenkt: »Ich habe für Dich getan, was ich konnte.«

»Niemand beschuldigt Dich. Alles liegt wieder normal wie nur je. Ich muß mich nicht erschießen lassen. Tolleben als Schwiegersohn wird Staatssekretär, dann Kanzler. Das hätte ich haben können ohne dies Abenteuer.« Mangolf kam in Erregung, er arbeitete sich ab auf seinem Stuhl. »Der Unterschied, nach dem Abenteuer, ist nur, daß jetzt kein Ausbrechen mehr erlaubt ist, ich bin nun ohnmächtig gegen die glatte Mittelmäßigkeit. Was denn! Stützen muß ich sie! Aus Furcht, aus Furcht werde ich immer mit Tolleben gehen müssen!«

»Wie er mit Dir«, wollte Terra einwenden, aber es war kein Einwand. Er sah dem Unglücklichen zu, wie er aufsprang, wie er tobte. »Schieß mich nieder! Wozu hast Du mir das Leben gerettet, schieß mich nieder! Einem Feigling soll man die einzige Gelegenheit, gut abzugehen, nicht nehmen. Ich bin feige, Du hast es heraus. Fast hätte ich das Duell zuletzt noch erzwungen, aus Furcht vor meiner Feigheit. Ich habe mich satt.«

Er warf sich auf den Diwan, Gesicht ins Kissen, er stöhnte: »Lüge, Lüge, ich gehöre nicht dorthin, wo ich stehe, es ist der mir feindlichste Geist. Ich darf nicht Erfolg haben, mein Erfolg wäre das Ende von allem. Ich, der ich mich verkauft habe an den Erfolg! Ich muß weiter, muß weiterleben für den Erfolg. Auch jetzt noch, begreifst Du das?«

Zehnmal dasselbe, allmählich stiller im Schmerz: »Begreifst Du das? Du hast es heraus, mein sträflichster Stolz ist meine äußerste Selbstverleugnung. Kann ich mich an die Spitze nicht mehr kämpfen, werd' ich hinaufkriechen. Werde mich prostituieren. Werde die Schande laut eingestehen. Werde enden in Schimpf und Schande.«

Er lag ohne Regung, er wimmerte nur noch manchmal. »Ich habe mich satt. Warum mußtest Du mir das Leben retten. Du wirst es bereuen.« Dann war er eingeschlafen.

Terra, der davor saß, erkannte, daß vor allem diese Stunde bereut werden würde vom einen wie vom andern. Sie würde nie erwähnt, aber auch nie vergessen werden. »Eines Tages läßt er mich redlich büßen für diesen seinen Nervenzusammenbruch, bis dahin wird er selbst ihn büßen. Unsere Freundschaft ist seit heute noch unerbittlicher.«

 

»Und Alice?« sagte er sich auch. »Wie kann ich ihr noch unter die Augen treten.« Er sah wohl, daß er bei einem Namen die Fassung verlor, wie als Knabe, konnte es aber nicht ändern. Er hatte sie noch nie verraten. Man werde sich auch hieran gewöhnen müssen, sagte er sich. »Vier Fünftel meiner Bekannten sind Leute, gegen deren Interessen ich tue, was ich kann. Im Grunde gehört zu ihnen auch Alice Lannas. Nur daß ich sie gerade noch persönlich schonte. Aber sie kam auf den Gedanken, den ältesten Widersacher meiner ganzen Existenz aus der Welt zu schaffen. Ihn brauche ich, da mußte ich einschreiten.«

Er hatte zynisch zu sein als Geschäftsmann gelernt, noch nicht als Liebender. Wochen, dann Monate vergingen bei Entwürfen zu Erklärungen, bei Plänen, wie alles vor ihr abzutun wäre mit ungeahnt leichter Hand. Aber da das Herz immer schwerer ward, versprach es ihm auch keine leichte Hand mehr. Von Alice nichts, kein Zeichen, er dürfe wiederkommen. Schon drohte das endgültige Gesicht der Dinge, Entfremdung, Vergessen ... Als ob es sein könnte! Mitten in geschäftlichen Verhandlungen lehnte er sich auf gegen den unsinnigen Verlust. Menschliche Zusammenhänge, die so weit her kamen! Unentbehrlichste Prüfungen, an denen er wuchs!

Er ward dann zusehends schärfer gegen Vertragsgegner, die ihn mehr fürchteten und weniger leicht aufgaben, als jene Frau. Schlimm genug, daß dies wohltat. Sich einfühlen in solche Menschen, lenkte nur zu wirksam ab von dem nie ganz erkannten Wesen, das inzwischen verloren ging. Sie schien ihm rätselhafter aus der Ferne, vom Sinn des Schicksals, das mit uns schaltet. Zu werden wie die Vertragsgegner, brauchte es nur Willenskraft. Vielleicht half auch, daß eben sie nicht zusah. Vertragsgegner wie Vertragsfreunde gewöhnten sich sichtlich, ihn für voll zu nehmen. Dahin die ironische Hochachtung für den Intellektuellen und seine verdächtigen Ansprüche. Terra redete nichts Schwieriges mehr, er verklausulierte nicht. Fast war ihm zu trauen. Massig, klotzig und unbeirrt aufs Geld los, er gehörte dazu.

Schon kam ein neues Jahr. An einem Morgen des Mai sah er im Tiergarten eine Reiterin. Vor sechs Uhr, erste Straßenbahnen, nur Arbeiter, – aber die Dame trabte munter dahin. Aus Schreck blieb er stehen, klopfend wartete sein Herz. Ja, schon kehrte sie um.

Sie hielt bei ihm an, sie sagte: »Auch Sie so früh? Warum nicht zu Pferd? Waren Sie denn immer in Berlin?«

»Eins nach dem andern, meine gnädigste Gräfin«, – wobei er staunte, denn gleich hatte er wieder den Ton von früher, die ausdrucksvolle Sprechart, die Seinesgleichen nicht zustand. Er schloß daher: »Ich lebe in einer ganz besonderen Welt ... Sie waren den Sommer in Norderney?« begann er wieder. »Den Winter in Italien?«

»Ich habe weniger Zeit als Sie denken«, sagte sie sachlich. »Sie konnten wohl das ganze Jahr nicht fortgehn aus Ihrer besonderen Welt. Bewegung können Sie sich wohl nur um fünf Uhr morgens machen.«

»Tag und Nacht Auto«, sagte er genau so knapp. Dann mit aufzuckendem Gesicht: »Niemand weiß so bestimmt wie Sie, meine gnädigste Gräfin, daß es Zeiten gegeben hat, da ich einzig und allein Karussell fuhr.«

»Adieu«, sagte sie in die Luft, grüßte und ritt weiter. Noch über die Schulter: »Mein Vater fragt, warum Sie fortbleiben.«

Er ging beschleunigt nach, um sie vom Pferd steigen zu sehen vor der kleinen Tür in der Mauer, neben dem Brandenburger Tor. Durch die kleine Tür war er, wie lange, lange schon, zu jener Frau geschlichen, wie zu einer geheimen Geliebten. Man hätte es glauben können, er selbst hätte es glauben können. Vorbei, er machte Kehrt, sein Fuß stieß an welkes Laub, indes es droben neu grünte. Da fühlte er, immer sei, in entscheidenden Stunden mit ihr, welkes Laub an seinen und ihren Füßen hängen geblieben.

Er eilte; sein Geschäftshaus stand, neu erbaut, im neuen Westen. Aus. Nach dieser Begegnung sah die Reichskanzlei ihn nicht wieder, erst jetzt ganz sicher nicht. Wie? Sie trafen sich, die Herzen voll von Vorwürfen, von Scham und Rachsucht, – aber kein Wort, und gleich den Ton wie je. Dies war unheimlich. Wie mußten ihre Seelen mittlerweile einander verderbt haben, daß Verstellung prompt kam wie Natur!

Er eilte stärker ... Dabei war er drauf und dran gewesen, zu glauben, endlich würden sie beide tapferer und wahrer. Nur der Fall Mangolf habe sie unterbrochen auf Wegen, die möglichenfalls zu höchsten Dingen führten. Sie empfing ihn nach ihrer Verheiratung so oft allein zum Tee aus bloßem Freiheitsdrang. Er kam, weil er nun auch ihren Mut lieben konnte. Sie behauptete offen vor ihrem Gatten das Recht, den zu kennen, den er haßte, mochte folgen was immer.

»Aber was konnte schon folgen,« sah erst jetzt der Läufer im Tiergarten, »wenn eine Ehrgeizige sich durchsetzte gegen den ungeliebten Mann. Scheidung war ausgeschlossen, solange die Interessen noch gleichliefen. Ich? Ich –« sprach Terra laut aus, »trennte sie nicht. Ich schloß sie enger. Natürlich hat sie den Mann umso besser beraten; er mußte ihr glauben, ich sei nicht ihr Geliebter.« In sich hinein: »Sie hat ihn überzeugt, er glaubt es nicht.«

Was den Liebhaber demütigte. Er merkte nachträglich: alles seit ihrer Heirat zielte auf seine Demütigung ab. Ihre Sinne, durch die Ehe gereizt und nicht befriedigt, verlangten von ihm Entschädigungen, die nichts kosteten ... Bei dem Gedanken nahm er ein Auto, noch schneller fortzukommen.

Dennoch traf gleich nach ihm ein Diener mit Blumen ein. Hätte Terra die Livree nicht gekannt, er wußte doch, aus welchem Garten die Blumen kamen. Wie sicher mußte sie sein, die dankbarere Rolle zu haben! Sie verzieh, sie gewährte. Er durfte zurückkehren, zwecks neuer Prüfungen. Hatte er es sich gewünscht? War er toll genug gewesen?

Er änderte die Richtung seines frühen Spazierganges, aber schon am übernächsten Morgen war sie wieder da. Diesmal hatte sie hinter sich einen Lakaien, bemerkenswerte Abstufung. Sie hielt nicht, sie ließ ihr Pferd nur Schritt gehn; der Mann hinter ihr blieb, gut gezogen, noch etwas weiter zurück. Zu Terra, der neben ihr fußgehn mußte: »Sie sind nicht gekommen, trotzdem bin ich nett, ich sage Ihnen: Papa wird Fürst. Die andern erfahren es noch nicht.« Nicken, trab trab, Terra stand und sank in den lockern Boden.

Meldung an Knack war unvermeidlich, seine Stellung bei der Firma beruhte auf seinen Geheimkräften noch mehr als auf den sichtbaren. Darauf im Telephon die Stimme aus Knackstadt: »Blendend, wir sind Erster am Ziel. Morgen bin ich selbst da. Sie aber verlieren keine Minute!«

 

Terra freilich verlor den ganzen Vormittag, er glaubte, aus Widerstreben. Erst, als er um zwei Uhr hinging, ward ihm klar, er habe so lange gezögert, einzig um Lannas allein zu finden mit seiner Tochter. Er kannte den Tag des Reichskanzlers. Zwei bis drei war darin die Insel. Er gab Unterschriften in der Bibliothek, Alice versah ihn mit Kaffee.

»Herr Abgeordneter, wenn nicht Sie es wären –« sagte der Amtsdiener Söchting. »Heute darf ich in die Bibliothek niemand 'reinlassen. Heute ist ein Tag.« Sonderbar betont, Söchting wußte! »Na gehn Sie man solange in sein Arbeitszimmer, ich frage ihn. Bei Ihnen kann ich es ja machen.«

»Was Sie aus dem Menschen hier machen, Herr Söchting, das ist er. Sie dienten schon unter Bismarck.«

»Nee. Erst unter dem Nächsten.« Söchting öffnete die Tür zur Bibliothek, er ließ Terra im Arbeitszimmer, zwischen Gruppen gedämpfter Prunkmöbel und dem reichen Ofen. Goldbrauner Schimmer, worin Kaiserbilder an alte Meister stießen. Die Büste des Herrn mit Adlerhelm hielt den Schreibtisch im Auge. War er darum so wohl geordnet? Je sechs gespitzte dicke Bleistifte lagen in gleichen Abständen rechts und links vom Tintenfaß. Vor der Zeichnung des Kaisers »Völker Europas, wahret eure heiligsten Güter!« ein Kinderbildnis, Alice Lannas, gemalt und gewidmet von der Kaiserin Friedrich. Wieder blickten Augen ihn an, die einst in seinem lebensflüchtigsten Zeitpunkt ihm zuerst erschienen, ihn herausforderten, retteten, verurteilten zu dieser Welt. Noch Kinderaugen, und sprachen schon sein Geschick aus ... Da trat sie ein.

»Kommen Sie nur«, sagte sie. Er machte gleich hinter der Tür eine tiefe Verbeugung. »Durchlaucht –«. Keine Antwort, erstaunt ging er näher. Ach so, der Fürst schlief. »Söchting wollte ihn schon aufwecken. Wozu. Er hat einen harten Abend vor sich. Nennen Sie ihn übrigens nicht Fürst, er ist es noch nicht ganz. Aber anders bekam ich Sie nicht her.« Dann erst ließ sie den Erstaunten ihre Hand küssen. Sie schüttelte den Kopf. »Meinetwegen wären Sie nicht gekommen. Ihre Neigung für Papa ist viel ernster. Er macht mir Sorge«, sagte sie, bevor Terra antworten konnte. »Dieser Fürstentitel ist Überspannung, ich würde ihn nicht gewollt haben.« Aufstampfend, um über die Lüge hinwegzukommen.

Sie setzten sich beim Kamin, die Wärme drang durch schmiedeeiserne Ranken. Alice hing besorgt am Vater. Er lag recht eingesunken in seinem hohen Sessel, beim Tisch voll Akten unter der Bücherwand. Terra verglich ihn mit der Figur des jungen Ritters auf dem großen Mitteltisch, zwischen den Prachtbänden. Das Ideal des Systems war jener junge Ritter, aber zu vertreten hatte es der zusammengefallene Zweifler dort.

»Schließlich –« der Blick der Tochter war starr, »hätte er den Fürsten ganz und gar nur auf Grund von Mißerfolgen.« Verwahrungen Terras lehnte sie ab. »Natürlich nennen wir es nicht Mißerfolge. Weder die Entente cordiale, noch das spanisch-französische Marokko-Abkommen. Auch nicht den afrikanischen Aufstand, wovon dem Kaiser nicht gesprochen werden darf; und erst recht nicht die Niederlage Rußlands durch Japan. Aber wenn es keine Mißerfolge wären, warum hätte der Kaiser ein so unabweisbares Bedürfnis, sie aus der Welt zu schaffen dadurch, daß er seinen Kanzler zum Fürsten macht?«

»Die Eigenart des Kaisers,« meinte Terra, »die kaiserliche Eigenart.«

»Der Kaiser hat die Ernennung vollzogen, zu ihrer Veröffentlichung fehlt ihm einzig der offizielle Anlaß. Der fände sich doch sonst alle Tage, und grade jetzt muß er fehlen! Der Kaiser ist gereizt und mit Recht, man könnte an unserer Geschicklichkeit zweifeln. Wie? Kein Anlaß, Fürst zu werden?« sagte Alice Lannas, selbst erbittert, – worauf beide dem Atem des Fürsten lauschten. Er wurde hörbarer.

»Gräfin! Ich vertraue dem Genie Ihres durchlauchtigsten Vaters«, sagte Terra mit Nachdruck.

»Unterstützen Sie nur seinen gesunden Menschenverstand! Von wem hängt er ab?« Pause. Dann plötzlich mit Falte der Brauen: »Von einem schwachen und furchtsamen Monarchen, der Ruhm will. Sollte er seinen Kanzler jetzt auch für nichts fürsten, früher oder später muß wirklich etwas geschehen. Zum Beispiel in Marokko. Wir müssen von uns reden machen.«

»Wenn nicht am Ende des Redens Krieg wäre.«

»Sie denken doch nicht! Man spielt schon so lange, man wird nur weiter spielen. Überlegen Sie auch, daß diese Affäre, für die wir längst arbeiten, Herrn von Tolleben zum Staatssekretär machen wird. Ich spreche offen; schulden Sie mir nicht Genugtuung?« Der Gläubiger trug das lockendste Lächeln. »Wohin kommen wir?« fühlte Terra. Den Tod im Herzen sagte er: »Die haben Sie. Mein Freund Mangolf ist in die Unmöglichkeit versetzt, jemals wieder den Interessen Ihres Gemahls entgegenzuwirken.«

»Wie schön«, sagte der Gläubiger. »Alle wären wir einig. Haben schließlich nicht auch Sie darauf verzichtet, sich Kriegsgefahren in den Weg zu stellen? Sie sind bei der Schwerindustrie.« Ganz verändert. Dies war Rache, erklärte Rache für seinen Verrat. Um dieses Wortes willen hatte sie ihn hergezogen! Es saß; er war bei der Schwerindustrie ... Aufspringend stieß er seinen Stuhl gegen das schmiedeeiserne Kamingitter, das rasselte. Lannas erwachte.

Lächeln des Genusses war das Erste. Er hatte sich erinnert, er sei Fürst. Dann Sorgenfalte, bei dem Gedanken an den Vorwand. Die Tochter reichte ihm schon die Kaffeetasse. Er befahl, die Stimme noch schleimig, den Hofrat zu sich, wegen der Akten.

»Durchlaucht, es ist nur meine Wenigkeit.« Terra zeigte sich, er sagte das seine her. »Sind Sie schon länger da?« fragte der Fürst. »Ich war so beschäftigt.« Die Stirn in erzwungenen Wolken: »Nun wollen Sie, daß ich mich freuen soll. Ach! wenn Sie wüßten. Ich darf mit Bismarck sagen: Nie konnte ich mich eines Erfolges richtig freuen. Immer kam gleich die nächste Sorge.« Bekümmert, aber aus den Grübchen brach unaufhaltsam das Glück.

»Durchlaucht werden auch noch Herzog«, sagte Terra überzeugt. Lannas murmelte.

»Der Herzog hat meinem großen Vorgänger kein Glück gebracht« – mit fragendem Blick nach dem Kamin. Dort herrschte ein Wappen: wahrhaftig das Wappen Bismarcks. Nicht sein eigenes hatte der Reichskanzler angebracht in seinem innersten Zimmer; er lebte unter den Augen eines andern.

»Wir sprachen gerade von Deinen Sorgen«, sagte Alice, sie bediente auch Terra. Auf eine Frage des Vaters: »Natürlich von Marokko. Dein bewährter Freund Terra ist meiner Meinung. Papa, dies Marokko mußt Du einem Staatssekretär übergeben, den der Kaiser vorläßt. Deiner hat kein persönliches Verhältnis zum Kaiser, Du schiebst ihn viel besser in eine Botschaft. Der neue Staatssekretär setzt hinter Deinem Rücken den Kaiser in Gang. Du bremst. Steigt die Sache doch und mißlingt sie, fällt einfach der Staatssekretär.«

»Der Dein Mann ist.« Lannas schmunzelte, aber der Blick war scharf. »Du rechnest also kaum damit, daß er fällt, sondern daß er Erfolg hat.« – »Worauf Deine Standeserhöhung sofort amtlich bekannt gegeben wird«, warf sie schnell dazwischen. Lannas aber, unbeirrt: »Meine Pflicht ist, weiter zu blicken. Der Kaiser ist kein Philister; wenn ihr Glück habt, erklärt er gleich den Krieg ... Im Ernst –« Strenge Miene sogar. »Ihr könntet etwas zuviel Erfolg haben – für das Wohl des Reiches«, schloß er. Aber es hieß so deutlich »für mich, für mich«, daß die Tochter, wie ertappt, die Stirn senkte. Die Miene des Vaters blieb streng bis in die Augenfalten; aber aus den Augen, die matter blickten, stahl sich Verlegenheit, ja Schmerz.

Unterbrechung durch den Hofrat. Der Unterbeamte mit dem wichtigen Titel, von Söchting eingelassen, blieb auf der Schwelle stehen; der Raum, obwohl dämmernd goldgrün, schien ihn zu blenden. Auf Anruf des Reichskanzlers marschierte er vor, in seinem schwarzen Rock mit weißer Kravatte. Sein Blick ging starr geradaus, auf die Dantebüste über den Büchern. Der Reichskanzler sagte: »Lieber Polzow, Sie kennen doch meine Tochter. Hier ist Herr Abgeordneter Terra«, – worauf der Unterbeamte erst zu sehen wagte. Sogleich war er die Geschmeidigkeit selbst, nahm auch Kaffee an. Er mußte nur wissen, wie er dran war. Man trat doch hier wie in einen glänzenden Familienkreis, und dabei war es Amt. Keine streng geschiedenen Bereiche; hier versah die Geschäfte noch ein großer Herr, voll Wohlwollen für die von ihm noch erhaltene Welt.

»Warum lächeln Sie?« fragte Lannas. Der Hofrat, der absichtlich, nur um gefragt zu werden, lächelte, sagte: »Ich kann nichts dafür. Wenn ich so das alte Bild sehe und dann gegenüber das andere alte Bild, na, sollen Madonnen sein: dann muß ich allemal dran denken, was wir Beamten über die beiden Kinder sagen.« Was sie denn sagten, fragte Lannas, der Unterschriften gab. »Das eine Kind hat Windeln, das andere nicht. Da nennen wir nun das mit den Windeln das irdische und das ohne, das himmlische Kind.« Am Schluß des Scherzes ward er verlegen aussehen, aus Furcht, der Scherz könnte nicht einschlagen. Aber Lannas unterstützte das bescheidene Gemüt.

Terra inzwischen folgte der Tochter zum Mitteltisch. »Gräfin verjüngen sich zusehends, ich weiß nicht, wo das enden soll. In diesem schönen Pariser Kleid, das ich schon einmal geträumt haben muß, sind Sie nur der Hauch einer Frau, man fürchtet stark aufzutreten.« Er sagte es, weil der Gedanke ihm gekommen war, sie könne schwanger sein, so ungewohnt langsam war sie im Augenblick, so verzogen war ihr Gesicht. Sie erwiderte aber: »Ich hab' es mit Papa falsch angefangen. Wie widerwärtig dies alles! Sind wir einander zur Strafe hier?«

Sie nahm nicht den Sessel, den er hinschob. »Fangen Sie es richtiger mit ihm an! Ich warte auf Sie im Garten, bei meiner Pergola.« Sie ging, der Blick des Vaters folgte ihr lächelnd, bis sie fort war; dann lächelte er durchdringend auch noch Terra an. War es wirklich der armselige Beamte, der Lannas erheiterte? Lannas hatte bei seinem Anblick Hintergedanken, er dachte an die Zukunft seines Schwiegersohnes. Wenn die noch jugendliche Bulldogge einst alterte, wahrscheinlich verfiel sie in der Art dieses abgenutzten Beamten, verkümmerte, ward papieren, wie dieser kleine Mann. Gleichheit des Typus war unverkennbar; der Charakter stimmte, nur verdienstlose Unbesiegtheit hielt einen Bismarck noch aufrecht, wo ein Polzow schon vordrängte. »Er muß doch auch mal Mißerfolge haben«, dachte Lannas. Hofrat Polzow stand in Gunst bei Lannas, denn er eröffnete ihm willkommene Ausblicke. »Was sagen also Ihre Kollegen von mir und Bismarck?« fragte der Reichskanzler.

»Daß Sie, Exzellenz, einen leiseren Schritt haben.« Der Hofrat zögerte. Erst auf nachdrücklichen Blick: »Wer genug Forsche hat, sagt, Sie können Seil tanzen. Ich werde mich hüten.«

»Warum wollen Sie sich hüten? Bismarck hieß Jongleur. Erzählen Sie das weiter. Auf Wiedersehn, lieber Polzow«, – was dienstlich klang. Der Mann, sich zusammenreißen und abmarschieren. Lannas stand auf; in dem Augenblick hatte er seine echt besorgte Stirn, ihre Falten verwirrten sich angestrengt. Die Hände auf dem Rücken, kam er an Terra vorbei. »Sagen Sie, was Sie denken«, bat er. »Woher soll ich in meiner Stellung die Wahrheit über mich wissen.«

Terra, an seiner Seite das Zimmer durchmessend: »Im Jahre 1902 erklärte Eure Durchlaucht einem Pariser Journalisten, die Marokkofragen berührten Deutschland weniger, es freue sich der Einigung der andern. Die andern ließen es sich nicht zweimal sagen; zwei Jahre nach Ihrer Erklärung unterzeichneten Frankreich und England ein Abkommen über Marokko. Es war im April dieses Jahres. Darauf eröffneten Eure Durchlaucht ohne langes Besinnen dem Reichstag, unsere merkantilen Interessen müßten und würden wir schützen. Wozu bemerkt werden darf, daß wir merkantile Interessen in Marokko nicht hatten. Sie werden seitdem erst geschaffen – von der Industrie.«

»Es liegt im Zuge der Zeit, daß die Industrie uns zu führen versucht.« Seufzen des Staatsmannes. Aus Drang nach Erleichterung: »Ich sprach im Reichstag sogar gewisse Worte, die Sie nicht erwähnen und die als leise Warnung an die vertragschließenden Mächte aufgefaßt werden konnten. Sie wollen mir mit diesen scheinbar widerspruchsvollen Erinnerungen zu verstehen geben, ich wisse nicht was ich wolle, sei lenkbar und schwankend, Seiltänzer und kein guter.«

»Davor sei Gott!« beteuerte Terra. »Ich bin tief erschüttert, Zweifel beiwohnen zu sollen, die Eure Durchlaucht hoffentlich doch nur zu meiner Irreführung verlauten läßt. Ich halte ganz im Gegenteil Eure Durchlaucht für den Mann der unverwüstlichsten Nervenkraft, wie kämen Sie sonst noch immer heil hindurch zwischen dem Wahnsinn, der Sie von allen Seiten bedrängt.«

Lannas blieb stehen, er nickte. »Deutschland will Erfolg sehen. Es ist heute das Land, dessen einziger Maßstab Erfolg ist. In einer Sache nicht dabei zu sein, ist Mißerfolg. Soll ich ihn zugeben? Ich muß drohen, dann bin ich doch mit dabei. Auf den Tisch schlagen ist, in Anbetracht dieses Landes, noch die kleinere Gefahr für den Frieden. Nicht dabei sein ist die größere. Man weiß nicht, was ich alles verhindere. Wir brauchen Frieden.«

Sie sahen sich an; Frieden, sie beide brauchten ihn, einer wie der andere. Wer aber brauchte ihn noch? Jeder von ihnen dachte an seine Welt, Terra an Knacksche Niederlassungen in Marokko und ihre Zwecke, Lannas an munter herausfordernde Worte, die der Oberadmiral von Fischer und sein englischer Kollege Pizzter einander über das Wasser zuriefen. »Wahrend wir Krieg zur See doch die ganzen nächsten zehn Jahre noch nicht führen können«, sagte er aus seinen Gedanken.

»Während Ihr System, das einzige, das unter den nun einmal waltenden Umständen Recht hat, niemals Krieg, auch in zehn Jahren nicht Krieg verträgt.« Terra sprach mahnend; er war überzeugt, er drücke das wirkliche Wissen Lannas' aus; sah aber, wie Lannas erstaunte. »Mein System ist das schöne Gleichmaß«, sagte er schnell bedacht.

Im Gefühl, dies sei kein ausreichender Gegengrund, trat er stumm vor das Fenster. Terra ließ ihn, er hörte ihn murmeln: »Gehetz und Nichtigkeit von halb acht morgens bis in die Nacht, nur zwei bis drei ist Insel. Wie hat Bismarck es gemacht, groß zu denken, indes er fast immer klein reden mußte? Weltgeschichte machen, Polizeibericht leben!«

Wenig lauter: »Ich stärke künstlich die Landwirtschaft gegen die Industrie, denn von Industrieprodukten könnten wir im Kriegsfall nicht leben. Ich bilde mir nicht, wie die Freihändler, den ewigen Frieden ein. Denke ich darum ernsthaft an den Kriegsfall?« Pause, strenge Selbstschau. »Er könnte eintreten gegen alle meine Voraussicht. Wäre ich altpreußisch nur für Landwirtschaft, hätte ich ihn vorbereitet. Ginge ich neudeutsch mit der Industrie, hätte ich ihn sicher. Allein das Gleichmaß kann ihn aufhalten. Ich bin der, der immer rüstet, aber nie kämpfen wird. Mein Feld ist das Ergebnislose.«

Wobei er die Schultern fallen ließ. Terra trat an seine Seite. »Ihr System, Durchlaucht, spricht für sich selbst. Die Nachwelt wird es geradezu verehren.« Wobei er sich zweimal versprach.

Hier sah aber Lannas seine Tochter hinter ihrer neu angelegten Pergola hervorkommen und wartend heraufspähen. Sogleich war er erheitert. »Sie werden erwartet, lieber Freund.« Mit Seitenblick, Terra erbebte darunter, sagte Lannas Wort für Wort: »Warum nicht. Ich bin für das Ergebnislose.«

Damit schienen die Minuten der Selbstschau, zu denen er genötigt worden war, ihm hinlänglich vergolten, er trat fort. Terra erbebte noch immer von dem Seitenblick. Der Seitenblick hatte mitwissend ihn wahrscheinlich von jeher begleitet. Lannas, der einst von Terra verlangt hatte, er solle ihn vor dem Schwiegersohn Tolleben bewahren! Bewahren, wie? ... Dieser Lannas, auch jetzt noch hatte er nichts einzuwenden, wenn der Liebhaber dazwischenkam gegen die gefährliche Tochter. Welche Tiefe, welch ein Vater! Minister des sechzehnten Jahrhunderts konnten nicht abgründiger handeln, und dieser hieß flach.

 

Lannas ließ sich beim Kamin nieder. Handbewegung; und als Terra, die Faust auf einer Stuhllehne, vor ihm stand: »Natürlich sind wir nicht à la merci d'une défaite, wie Napoleon der Dritte. Wir wurzeln tiefer. Es hinge einzig von unserer Auffassung staatlicher Größe ab, Krieg zu wollen. Aber wir wissen, daß Eroberungen uns nicht mehr wirklich größer machen können. Das glaubt nur die Industrie.«

»Wie wahr«, sagte Terra; er fragte sich ausschließlich, ob der Mitwisser in seinem ungläubigen Wohlwollen ihn vielleicht festhalte, weil die Tochter wartete.

»Es ist eine junge Schicht. Von unserer Skepsis hat sie noch nichts.« Der Fürst verzog den Mund. »Sie glaubt unbedingt an ihr Geld, – während wir schon nicht mehr ganz an unsere Macht glauben.« – »Mein Gott –« fühlte Terra, der von einem Fuß auf den andern trat.

»Für den Wettkampf der Völker der Erde«, so lehrte der Staatsmann, »ist die wirtschaftliche Stärke von hervorragender Bedeutung, die letzten Entscheidungen aber bringt sie nicht. Welche Ideen vertritt die Industrie?« fragte er. »Die im Alldeutschen Verband organisierten?« Noch tiefer sinkende Mundwinkel. Terra sagte: »Erlauben Eure Durchlaucht mir, Sie daran zu erinnern, daß die Zeit Eurer Durchlaucht –«

Handbewegung, Lannas ging weiter. »Ich verdenke es den Leuten, daß sie so viel Geld ausgeben, damit wir eine Mehrheit für die Flotte haben. Ich liebe kein bezahltes Nationalgefühl. Wie steht es? Wir wollen die Flotte für unsere Geltung. Sie bauen sie sich für ihr Geschäft.«

»Gut formuliert«, – Terra horchte auf. Lannas, durch Anerkennung befeuert: »Sie reizen England nicht nur durch ihre laute Agitation. Sie verfeinden uns die englische Industrie, die sie unterbieten im eigenen Land. Hier dagegen, für deutsche Mitbürger, sind sie teurer. Welch eine Moral! Lassen Sie diese Leute nur erst zur offenen Herrschaft kommen und Sie werden ein Weltbild erleben. Nur noch Magen. Man wird an uns zurückdenken, wie an gütigste Weise. Industrie-Absolutismus, Demokratie genannt, ist Krieg in Permanenz.«

Er sah die Ungeduld seines Zuhörers fast besiegt, er lächelte mit allen Grübchen. »Ich vergesse nur, zu wem ich spreche. Sie vertreten Herrn von Knack. Sie wollen mich zweifellos nötigen, in Marokko loszugehen wie ein Schrapnell.«

»Richtig,« sagte Terra, »soweit ich Vertreter Knacks bin.« Einen Augenblick zögerte er noch, sich aufzuschließen. Lannas konnte morgen ein Herz mit Knack sein, – je genauer er ihn kannte. Gefährlich, zwei Gegner einander kennen zu lehren. »Mich aufschließen dem abgründigen Vater, – und Alice wartet?« Aber er begann.

»Und ich vertrete Herrn von Knack nicht ohne Eifer, darf ich sagen.« Laut und klar: »Ich leite sein Spionage- und Bestechungsbüro.« Das Zucken Lannas' sah er nicht. »Eine Tätigkeit, anregend wie wenige. Man sieht in die Eingeweide der Welt. Ich verteile Geschenke an die Mitglieder der militärischen Abnahmekommissionen.«

»Der ausländischen«, ergänzte Lannas streng. Terra, eifrig: »Der ausländischen. Natürlich der ausländischen. Der ausländischen selbstverständlich. Sagte ich es nicht? In Deutschland ist das Bestechen noch so billig, daß es nicht in mein Ressort fällt. Übrigens kennen Eure Durchlaucht das übliche Hinüberwechseln von Staatsbeamten in die Privatindustrie. Kann der Scharfsinn Eurer Durchlaucht es für etwas anderes halten, als das Ergebnis schon geleisteter Dienste?«

Der Blick des Reichskanzlers verschleierte sich. Dies waren die unvermeidlichen Zugeständnisse an eine sich langsam verschiebende Ordnung der Dinge. »Auch die Arbeiter gewinnen tatsächlich Einfluß«, sagte er, die Schultern hebend.

Augenblicklich Terra: »Auf internationalem Wege sogar, durch schöne Reden auf Kongressen. Wer könnte etwas einwenden, wenn auch die Schwerindustrie in ihrer Art international vorginge? Auf dem Umweg über die Rüstungsindustrie unserer Verbündeten ist die Firma Knack beteiligt an der feindlichen.« Laut und klar. Pause. Dem Reichskanzler waren die Arme von den Lehnen gefallen. Ein Auge ward kleiner, wie bei plötzlichem Nervenschmerz; sonst regungslose Miene. Terra wiederholte ausdrücklich: »Wir sind beteiligt an Putois-Lalouche. An unseren auswärtigen Unternehmungen wieder ist Putois-Lalouche beteiligt.«

»Unmöglich«, sagte der Reichskanzler, er stand auf. »Was hieße dann Krieg?« Ausschreitend machte er Entdeckungen. »Krieg hieße, daß diese Leute gemeinsam auf alle Fälle verdienen. Sie sind beieinander rückversichert. Beide Völker können untergehen, beide Firmen werden blühen.« Er wandte eine schweißbedeckte Stirn her. »Wie haben Sie's herausgebracht?«

»Ich habe anderes herausgebracht, worüber ich noch schweige – selbst bei Eurer Durchlaucht. Tatsachen aber, die die ganze Börse kennt, und nur der Staat nicht?«

Gramvoll, daher mit häßlicher Stimme fragte Lannas: »Was wollen Sie dagegen tun?«

Terra setzte sich, indes der Reichskanzler stand. Er setzte sich, weil der große Augenblick da war; weil es um ungeheuren Nutzen ging und jetzt verhandelt ward. Verhandelt aber ward üblicherweise in Sesseln. Lannas mit seinem furchtbaren Gram wunderte sich nicht.

»Errichten Sie das Kohlenmonopol!« verlangte Terra ruhig und gelassen. »Das Monopol des Staates auf Erz- und Kohlenförderung, – was Kontrolle über die Industrie heißt.« Er war jetzt breiter als der erschreckte Lannas; er war im Vorteil. »Sie müssen sich entscheiden, ob Sie der Industrie die Macht nehmen; das ist Kohle und Erz; oder ob Sie abdanken. Kein Staat hat heute noch die Macht, der nicht die Kohle hat. Die Wirtschaft beherrscht, wer die Kohle hat. Krieg entscheidet, wer die Kohle hat. Die Idee Ihres Staates, Fürst Lannas, lebt von der Gnade der Kohlenbesitzer – ja, auch Ihre Klasse.«

Er sah scharf hin, aber Lannas ward von der Aussicht auf den Sturz seiner Klasse nicht merklich stärker berührt. Wärmer sagte Terra: »Sie sind Staatsmann. Ihr Volk ist Ihnen das, was leben soll. Räumen Sie mit denen auf, die nur ganz allein leben wollen! Tun Sie es, so lange Zeit ist, Sie haben hierfür nicht mehr lange. Errichten Sie das Kohlenmonopol!«

Lannas rührte sich, er war ganz schwer vom Stillstehen und Lauschen. »Jetzt habe ich aber doch Ihre alte Stimme wiedererkannt«, äußerte er. »Damals, lieber Freund, als Sie das erstemal von mir die Abschaffung der Todesstrafe verlangten.« Womit er in den Sessel fiel. »Sie sind ideenreich«, murmelte er. Versuch, die Oberhand zu gewinnen. »Dies ist schon Ihre zweite Idee. Werden Sie auch an diese wieder ein Jahrzehnt wenden?«

»So lange haben wir nicht«, sagte Terra. Auf diesen Ton verstummte Lannas und schloß die Augen.

Als er sich gesammelt hatte: »Diesmal ist es das Ei des Kolumbus. Das Kohlenmonopol; aber selbstverständlich, es muß kommen.«

»Es muß sogleich kommen, sonst kommt es in Menschenaltern nicht«, sagte Terra.

»Gewiß, lieber Freund.« Lannas begütigte. »Unser Gespräch führt weiter als vorgesehen. Aber bei dem alten Vertrauensverhältnis, das zwischen uns nun einmal besteht –. Lieber Freund, mir konnten Sie Ihre Idee tatsächlich ohne Gefahr enthüllen«, – nicht ohne freundlichen Spott für den, der sich ihm ausgeliefert hatte.

Dann ernst und beflissen: »Überlegen wir! Der Boden, die Bodenschätze: eine tief im Volksempfinden verankerte Anschauung hält sie eigentlich von jeher für rechtmäßiges Gemeingut ... Dies wären freilich nicht nur die Gruben, es wäre die bebaute Fläche«, – mit Stirnrunzeln. »Da hätten wir gegen uns die Landwirtschaft mit dem Einwand des Sozialismus.«

»Erinnern Eure Durchlaucht sich des Staatsmonopols auf Eisenbahnen! Jetzt ist die Reihe an den Gruben – noch nicht am Landbesitz. Über zeitgemäße Staatsnotwendigkeiten gehen wir nicht hinaus.«

»Seit wann stehen Sie im Wirtschaftsleben?« fragte Lannas. »Vergessen Sie doch nicht die vorgeblich so viel leichtere Verwaltung der Bahnen, – die aber, gerade in Ihren Kreisen, auch schon für ungeschickt gilt.«

»Eure Durchlaucht bringt die Einwände des Gegners. Verhandelte ich so, die Firma Knack würde mich fristlos entlassen.«

Lannas stutzte; war dies zu viel? Dann sagte er nur, mit Blick: »Sie sind der merkwürdigste Vertreter eines schwerindustriellen Grubenbesitzers, der mir noch vorgekommen ist.«

»Ich will den Herren nur nehmen, was ihre Zuständigkeit überschreitet: die Macht im Staat. Noch haben sie die Macht erst heimlich, noch sind sie zu treffen. Mögen sie Leiter der verstaatlichten Unternehmen bleiben. O! sie werden nicht nein sagen, das sind Finten. Schwindelnd hohe Gehälter, samt Beteiligung am Gewinn, alles sei ihr. Eigentümer aber sei der Staat. Ihr eigenes Wohlergehen verlange die Größe des Staates. Heute verlangt es nur, daß er vor ihnen kuscht. Heute hetzen sie zu Katastrophen, in denen nicht sie selbst untergehen würden, nur, wenn es hoch kommt, der Staat.«

Lannas sah den, der gesprochen hatte, entrüstet an, und gleich fort. Dies war zuviel, denn es war schlagend. Plumpheiten waren erträglich; nicht aber, recht zu haben gegen ein ausgewogenes System, gegen alle Kunst des Möglichen. »Der Ideologe bleibt es auch als Syndikus«, dachte er. »Der will nicht nur die Kohlenbarone untergraben. Er untergräbt von Natur, was besteht. Auch mich.« – »Wir kennen uns doch«, sagte er laut.

Hierdurch auch wieder wohlwollend gestimmt: »So viel ist sicher: unser Meinungsaustausch war niemals ohne Nutzen, ich hoffe, auch für Sie nicht. Ich schmeichle mir. Sie mit auf den rechten Weg gebracht zu haben. Könnten Sie ahnen, welch abseitiges Phänomen Sie darstellten, einst in Liebwalde. Persönlich interessierten Sie mich schon damals, sachlich mehr heute.«

Terra bedachte, daß jene frühe Szene in Liebwalde mehr ihn selbst erregt habe, diese neue beinahe mehr Lannas. Einst war er schweißbedeckt, halb blind daraus hervorgegangen, er konnte nicht lesen, was die Uhr zeigte! ... Er sah auf die Stutzuhr, es las sich glänzend. Wie man reifte, also stumpf ward! Lebensziele, gesetzt, es seien welche, wurden einfacher Verhandlungsgegenstand. »Ich ward Geschäftsmann.« Scharf betont: »Der Ideologie entwöhnt, halte ich mich an mein wohlerworbenes Wissen. Mein höchster Ehrgeiz ist einzig, es Eurer Durchlaucht zu unterbreiten, damit Sie es zulassen oder verwerfen. Eure Durchlaucht auf Ihrem Gipfel wird so viel sicherer als ein eng begrenzter Geschäftsmann entscheiden, ob Sie in Marokko intervenieren sollen, wenn die uns nunmehr bekannte Kriegsindustrie es wünscht.«

Lannas, als ob er die starke Sprache nicht hörte: »Aber auch ich habe mich seit damals bescheiden müssen, fast nur noch Geschäftsmann zu sein. Mein Gott, es ist die Forderung der Epoche. Hören Sie mich noch philosophieren? Ich erinnere mich, daß ich Ihnen einst den Zusammenhang von Demokratie und Flotte erläuterte. Der Kaiser als Förderer beider! Mein Gott, wohin kommt man. Kaum daß ich hastig noch eine Seite Goethe lese. Sie sahen damals mein Tagebuch. Wollen Sie mir glauben, daß ich es seit zwei Jahren nicht geöffnet habe?«

Söchting erschien. »Die beiden Herren warten schon«, sagte er und verschwand wieder.

Der Reichskanzler erhob sich seufzend. »Sie sehen: nur zwei bis drei war Insel, ich muß mich wieder in die Brandung stürzen. Adieu, lieber Freund.«

Aber er ließ den Gast nicht gehen; er hatte alles gehört. »Sie dürfen mich nicht verleiten wollen, das Vernünftige und Gebotene zu unterlassen, nur weil etwa auch mein Feind es wünscht.« Er wiederholte »mein Feind« – ergriffen vom Gedanken, wer alles sein Feind war und daß auch sie es war. Gefaßt: »Marokko: – tue ich nichts, kriegen die andern den Kaiser. Das wollen Sie selbst nicht, raten Sie mir lieber! Diesmal muß der Kaiser etwas haben, etwas Sichtbares, Geräuschvolles; immer kann ich es nicht verhindern. Ich muß es sinnlich schlagender machen als die anderen es machen würden, das muß ich. Bildhafte Wirkung, woher nehmen!« Schräge Stirnfalten; dann gleich wieder Grübchen, vertrauensvoller Griff. »Findet sich. Nur erst den Kaiser, der noch nicht den Mut seiner Neigung hat, herumbringen, sonst bringen Pfuscher ihn herum.« Er wiederholte den Gedanken noch mehrmals; ein anderer, unausgesprochener lag zwischen den Wiederholungen. »Da habe ich den Anlaß! Meine Ernennung kann heraus!«

Terra sagte schließlich: »Eine internationale Gefahr schaffen – trotz besserem Wissen?«

Darauf das Schlußwort Lannas', gesprochen mit Kraft: »Gefahr oder nicht, wichtig ist nur, daß ich bleibe.«

Verbeugung, stumm ging Terra ab. Durch die geöffnete Tür wurden zwei Herren sichtbar, dort hinten bei der Treppe. Lannas, im Rücken Terras, flüsterte: »Sehen Sie?« Tasse und Heckerott dahinten machten keinen Schritt, der Reichskanzler sollte sie holen, er sollte sich entschuldigen. Söchting, auch flüsternd: »Im Botschafterzimmer wollten sie nicht warten. Ins Arbeitszimmer hab' ich sie lieber nicht 'reingelassen.«

»Gut,« sagte Lannas noch, »daß Sie mich gerade heute auf das Kohlenmonopol gebracht haben.« Schon in Bewegung, schon mit Empfangslächeln: »Jetzt kann ich denen damit drohen.«

 

So war er, so erkannte Terra, im Hinuntergehen, ihn wieder. Mit dem Guten drohte er nur. Was helfen konnte, war ihm Mittel, bloß die Lage zu erhalten. Er bediente sich der Ideen, er verwirklichte sie nicht.

Feinde seiner Klasse störten ihn nicht, der Fürst war hinaus über seine Klasse. Unter seinen eigenen Feinden freilich übersah er auch die Tochter nicht, – »die jetzt immer unausweichlicher auch mein Feind wird«, dachte Terra, den Garten betretend.

Es war lau und lind noch über die Jahreszeit, stark duftete der Garten. Terra blickte die Pergola entlang, in den Gang zwischen gemauerten Pfeilern und hängendem Laub. Wie konnte sie noch immer auf ihn warten. Wahrscheinlich war sie beleidigt; mochte sich übrigens denken, er habe sie schon wieder verraten. Besser umkehren, auf der Straßenseite fortgehen und nochmals ein Jahr lang Alice nicht wiedersehen.

Dennoch schritt er den Laubgang ab, die Hände auf dem Rücken, als Spaziergänger. Von draußen Geräusche der Stadt, ihr Krampf; hier stilles Blühen. Das lebhafte Volk draußen vertraute fest, hier werde gewacht über sein Gedeihen. Nun, auch das. Aber vorher die eigene Haut und einander rücklings abtun: »Lannas jetzt mich, ich vorhin Knack. Ich auch Alice, sie wieder den Vater, – den alle jederzeit rücklings abtäten. Der Mann hat recht, in Monarchien niemand zu lieben als sich selbst.«

Was den Wandelnden getragen stimmte. »Wie mag erst mein Freund Wolf sich abzappeln, gefesselt wie er sich weiß an den Dummkopf Tolleben! Ach! zum Verrat wird auch der nicht zu dumm sein, – da das einzige hier, womit die vertrauensvolle Nation dort draußen in jedem Fall rechnen kann, die Dummheit ist. Politik geht über Falschheit, Triebhaftigkeit und Dummheit, Dummheit zu Zielen, die den Handelnden unbekannt waren und manchmal besser sind als sie.« Da stand er vor Alice.

Beide bogen gleichzeitig um die Ecke der umrankten Villa, die Auswärtiges Amt hieß. »Ich komme von droben«, sagte Alice Lannas. »Sie sollten Gubitz hören. Die Pythia war ein Waisenkind.« Hier fiel ihr ein, daß sie gewartet hatte; sie verzog das Gesicht wie ein Kind. »Haben Sie mir zu Liebe Papa zugeredet?«

»Ihnen zu Liebe«, sagte er, sein Herz schlug auf wie je. »Meine heiligste Überzeugung ist, daß aus Marokko eine Weltsensation wird. Ich bringe sie Ihnen dar, meine gnädigste Gräfin, auf diesem Kissen.« Er riß Blätter aus dem Laub, pflückte Veilchen vom Boden, er bot ihr die Blumen in den Blättern auf seinen offenen Händen.

»Es ist gerade,« sagte sie, »als ob ich meine Pergola Ihretwegen gebaut hätte. Wenn sie nicht dastände, würde jetzt mein Mann Sie gesehen haben. Sein Platz ist dort oben neben dem Fenster.«

Schnell trat er vollends in Deckung. Sie lachte; ein Streifen ihres Armes an seinen gebot ihm, weiterzugehen. Wie leicht ihr Arm, der Schritt wie schwerelos! Wo blieb die Frau aus der Bibliothek, so entstellt von Ehrgeiz und Reue, daß er noch lieber auf Schwangerschaft schloß. Da war sie wieder, die zeitlose Liebe seines ganzen Lebens!

Gesichter einander zugewendet –: o geistreiche Augen unverzagter Jugend, euer ironischer Blitz taucht unter in Zärtlichkeit. »Sie sind dick geworden, armer Freund.« In ihrem Lachen dehnte sich die Frau, die sich geliebt sieht. Er sagte brennend: »Meine Augen blieben stets auf Sie geheftet und ich verschlang in langen Zügen das süße Gift der Liebe ... Hören Sie, daß ich spreche wie tausendundeine Nacht? Es sind schon so viel mehr Nächte, daß ich vergebens mich sehne.«

»Nicht übertreiben, mein Lieber. Wir fangen schließlich bald an, ältere Leute zu werden.« Worauf er ihre Hand nahm und, sie küssend, ihr so lange in die Augen sah, bis sie auch die Lippen neigte. Sie küßten sich auf den Mund, das erstemal im Leben. Nur ganz schnell hatten sie das umgebende Laub geprüft, ob es genügend decke.

Leichte Trauer der Gesichter, die sich trennten. Wie war dies geschehen? Bedeutete ein Kuß heute schon nur noch so wenig, daß sie ihn wagen konnten? »Damals mit siebzehn«, fühlte sie, »dieser Kuß, und ein ganz anderes Leben war mein.« Er dachte: »Hätte ich bei ihr nur je den unwiderstehlichen Tatendrang gehabt, der mich als blutigen Anfänger in den Besitz der Frau von drüben setzte! Warum bei ihr nicht?«

»Weißt Du noch?« sagte er; – und Erinnerungen kamen. Liebwalde! Sie sagte: »Damals wolltest Du mich rauben. Du wolltest mich töten!« Mit Schmerz: »Beide waren wir grausam. Wir flohen uns, aus Haß auf unsere schöne Liebe.« Groß aufblickend: »Aber wir waren doch glücklich?«

»Ob wir glücklich waren!« Er hob die Hand, als wollte er die Arme ausbreiten. »Der Himmel Liebwaldes war von einer Bläue, nie wieder hab' ich sie gesehn.«

»Was sprichst Du? Er war steingrau.« Seine Hand nehmend: »So wateten wir durch verfaultes Laub.«

»Welcher Tag war's doch?«

»Der letzte im Jahr. Es fing zu schneien an, als Du gingst.«

»Ich sehe nur Blüten regnen.«

Nach Schweigen: »Du hast recht, Lieber. Es waren Blüten.«

Die Köpfe gesenkt, gingen sie den Laubgang zu Ende. Draußen lag Sonne. »Wirklicher Frühling ist aber erst jetzt?« sagten sie. Frage der Wehmut, damit traten sie hinaus. Zwei Schritte, schon sprangen sie zurück: am Fenster droben! Tolleben!

Er sah nicht, in dem Augenblick nicht. Aber seine Miene sagte, daß er sie hier wußte und nach ihnen suchte. Terra fand den alten Haß, jenen natürlichen Urhaß, nur widerwillig der Gesittung aufgeopfert, noch einmal in voller Kraft dastehen. Die Frau dachte: »Er hat doch noch Mißtrauen. Werde ich niemals ganz mit ihm fertig werden?« Beide aber erinnerten sich, daß er zu ihrem Glück die Hände gebunden habe. Sein Vertrag mit Mangolf band ihn. Mangolf war Verleumder, Eheirrung gab es nicht. Stieß Tolleben dies um, brach er sich nach allem Vorhergangenen den Hals. Er war wehrlos. »Wir könnten ungestraft tun, was wir wollen«, – den Gedanken las jeder dem andern vom Gesicht ab.

»Es dennoch nicht tun zu dürfen«, fühlte Alice. »Im Grunde weiß niemand, warum ... Von dem dort oben aber hören zu müssen, er wolle Vater sein. Auch das noch, ich versage ihm den Erben! Meine Pflicht wäre, noch unglücklicher zu sein«, – mit lautem Seufzer.

Warum sie seufze? Mit Tolleben sei nicht leicht zu leben. Plötzlich: »Nicht wahr? Er hat ein Kind?« Ganz veränderter Ton, Brauenfalte. »Sie haben keinen haltbaren Grund, mich im unklaren zu lassen. Ist es ein Sohn?«

»Eine Tochter«, gestand Terra.

»Also auch kein Erbe«, – sie lachte auf. Dann leise und streng: »Wie ist es möglich, Sie haben Ihren Sohn von derselben Frau.« Worauf sie weiter ging im Laubgang. Er stand angedonnert: sie wußte. Natürlich, längst wußte sie. Nur wußte sie nicht genug. Ihr nach! »Sie irren, meine gnädigste Gräfin. Die vorgebliche Tochter des Herrn von Tolleben ist keineswegs von ihm.«

»Wie? Die Fürstin Lili –« sie unterbrach sich. »Die sogenannte Fürstin Lili betrügt ihn?«

»Es ist ihre Sendung hienieden«, sagte Terra.

»Sie aber sind damit nicht entschuldigt. Von wem ist die Tochter der sogenannten Fürstin?«

Dem Ton widerstand man nicht. »Sie können doch befehlen in der Familie«, dachte er. Er sagte: »Mein Freund Mangolf hatte die Ehre.«

»Ich konnte es mir denken, mit ihm teilen Sie auch Ihre Geliebte.«

Er sagte stark: »Ich war zwanzig Jahre alt, als ich sie liebte. Übrigens war es schneller vorbei, als wir beide, gnädigste Gräfin, nur brauchen, um in falschen Verdacht zu geraten und das Leben mehrerer Unbeteiligter zu gefährden.« Als sie schon getroffen den Kopf senkte, noch stärker: »Seien Sie versichert, meine Gnädige, daß von allen Gaben des Lebens die einzige ungetrübte der Sinnengenuß ist.«

Sie hörte ihn laut atmen vor Wut. Erst als er ganz still ward, sagte sie sehr weich: »Sie müssen Ihren Sohn unendlich lieben.«

Er strahlte, er rief mit Feuer: »Sie sollten ihn sehn! ... Wenn es auch nur denkbar wäre«, stammelte er, seine ganze Person erbat Verzeihung. Sie sagte einfach: »Warum nicht. Ich wünsche mir's längst. Bei Ihrer Schwester Lea, wollen Sie?«

»Haben Sie es überlegt?«

»Ich kenne Ihre Schwester. Seit kurzem, durch die Gräfin Altgott. Sie wäre keine arrivierte Schauspielerin, wenn nicht die Altgott sie zum Tee hätte. Nächstens sage ich mich bei Ihrer Schwester an.«

»Sie werden eine stattliche Zahl Herren vorfinden«, erklärte der Bruder.

»Ich komme mit Bella Mangels. Sie kommen mit Ihrem Jungen. Wie heißt er?«

»Claudius.«

»Claudius«, sagte sie ihm in die Augen, in den Mund. Sie standen schon außerhalb der Laube, vielleicht sah jener sie jetzt. Er mußte gehört haben, was sie so laut vorhin sprachen. Gleichviel, Alice fragte: »Sie kommen doch mit hinauf ins Auswärtige Amt? Gubitz muß inzwischen auf der Höhe sein.« Er hörte aber: »Ich verleugne Dich nicht, wir treten ihm entgegen.«

Sie gingen in das Haus. Die Zimmer taten sich vor ihnen auf, nun wußten sie wieder: hier war es, hier zuerst waren sie einander wahrhaft begegnet. Andere Möbel; sie suchten den Fleck am Boden, wo ihre Füße gestanden hatten, als jenes Wort fiel, als dieser nie vergessene Blick kam.

In dem Raum dort, jetzt verlassenes Arbeitszimmer, hatten sie einst, noch am Anfang aller Wege, zusammen bei Tisch gesessen ... Da erschrak Terra: nebenan aus einem großen Sessel mit Ohrenklappen stieß ein greises Profil, Hakennase, Hakenkinn, – gleich zuckte es zurück. Gubitz! Am selben Platz wie einst, als hätte er ihn nie verlassen. Noch heute brachte er es fertig, den Sessel nirgends zu überragen und mit dem Schatten eins zu sein. Zischen entstand.

»Teuflische Pläne, Tolleben! Ich bin ihnen auf der Spur. Sie kreisen mich ein!« Zischen, daß es stob; aber vergebens, Tolleben dahinten rührte sich nicht vom Fenster. Er kehrte den Rücken her, er spähte, er horchte. Für ihn gingen Alice und Terra noch immer im Garten spazieren.

»Sie kreisen mich ein!« zischte Gubitz, sein bebendes Profil schoß vor und schrak zurück. »Ich spüre auf, ich baue vor seit Jahrzehnten. Ich habe ihre geheimen Gänge ausgehoben, habe Felsen davorgewälzt. Habe gearbeitet wie ein Zyklop, wie ein Maulwurf. Es geht nicht weiter.«

Hier klappte er vor mit dem schwarzen Leibrock, der gleich auf mageren alten Rippen lag; klappte aus dem Schutz des Sessels vor: der weiße, gequälte Kopf ward aufgefangen von zwei verrenkten Händen. »Ein Hirn gegen die Welt! Hören Sie mich. Tolleben?« Aber Tolleben war befangen im eigenen Wahn.

»Ich bin der Mittelpunkt«, zischte der Greis in den Boden, worüber er tiefer sank. »Um mich legt der Gegner konzentrische Kreise. Die Peripherien sperren zuerst unsere Grenzen ab, dahinter die Kontinente, die Meere. Ich, der Mittelpunkt, kann nicht mehr durch. Luft!« Er sprang auf.

Hinter den Schatten des Nasenhöckers erblichen die wimpernlosen Augen von dünnen, scharfen Gesichten. Die beiden Personen, die ihn anstaunten, sah er nicht. Leibrock, rasiert, korrekter Scheitel, aber er krallte Prophetenhände in die Luft. »Ein Anfall«, flüsterte Alice. Terra flüsterte: »Es ist ein vorgeschrittener Zustand.«

»Den Wurf! Gebt mir den Wurf, der alle ihre Kreise zerschmeißt! Erfinde ihn, Wirklicher Geheimer!« röchelte der Wirkliche Geheime Legationsrat. »Was siehst Du?«

Er sah etwas, es leuchtete um ihn, er konnte soviel mit allen seinen Gliedern nicht packen. »Blaues Meer! Weißes Schiff! Mein feuerspeiender Automat ist drauf mit Adlerhelm. Ihr sollt Euch wundern!« Worauf der Greis die steifen Beine hob, als begänne jetzt Derwischtanzen.

Er hielt sich zurück. »Es knallt!« zischte er durchdringend. »Tolleben, hören Sie es knallen?« Tolleben blieb taub, Gubitz mußte bucklig hinstolpern und ihn umdrehen. »Hören Sie nichts im Garten?« fragte Tolleben. »Hören sie es knallen?« fragte Gubitz. »Ich schmeiße Minen, da soll es nicht knallen?«

Sie sahen sich an, keiner verstand den andern. Alice winkte Terra, schnell aus der Tür zu weichen. Leise schloß sie. »Haben Sie das verstanden?« fragte sie ernst, ja erschüttert.

»Wie könnte ich. Es ist Irrsinn.«

»Wir haben die Weltsensation.«

»Ich will verdammt sein –.«

»Keine Komödie!« sagte sie ungeduldig. »Seit einem Augenblick kennen wir die Handhabe in Sachen Marokko. Wer weiß, was wir wissen, macht das Rennen.«

»Machen Sie's – gegen Ihren Vater!« sagte er klipp und klar.

Erblassen. Abwesender Blick. Dann fragte sie: »Haben Sie ihm wirklich geraten, in Marokko zu handeln?«

»Meine Wenigkeit war jedenfalls Zeuge, daß er nach einem Griff suchte, um vorzugehn. Etwas Geräuschvolles für den Kaiser, ein Sinnenschmaus für's Publikum. Eben das, was der Kanzleidämon drinnen vor unseren Ohren soeben erfand. Beeilen Sie sich, Gräfin, es dem Fürsten wegzuschnappen!«

Da sah er Tränen in ihren Augen. Bevor er sich faßte, war sie aus dem Hause. Er eilte nach. Soeben kam Lannas den Weg entlang. Die Tochter, schnell hin, ganz nah' an ihn. »Kein Wort, Papa, und gleich zum Kaiser! Der Kaiser muß nach Marokko. Ich lasse Dein Auto vorfahren. Lauf, sonst ist ein anderer früher da.«

»Ich kann Dir doch noch danken, Kind?« Der Vater schob die Hand unter den Arm der Tochter. Terra zog sich hinter die Ecke des Auswärtigen Amtes zurück. Er ging. So langsam er ging, die Stimme Lannas' ward bald leiser.

»Ich anerkenne, daß Du es mir, nicht Deinem Mann sagst. Dafür verspreche ich Euch das Staatssekretariat. Gehe ich aus dieser Sache, woran wir nicht zweifeln wollen, befestigt hervor, wird Herr von Tolleben Staatssekretär.«

»Nur Du werde Fürst, Papa!«

»Weine nicht, Liebling! Du warst in Versuchung: wir kennen das. Ehrgeiz durchkreuzt alle menschlichen Beziehungen, sogar die unseren müssen wir sorglich vor ihm behüten. Uns aber wird er nicht entzweien. Du gegen mich Dich mit der Dummheit verbünden? Es wäre ein schwerer Irrtum – nicht nur Deiner Kindesliebe, auch Deines Ehrgeizes.«

»Wieso, Papa? Ich kann ihn lenken.«

»Das meinst Du. Man meint, die Dummheit beherrschen zu können. Sie aber ist die stärkere; diese Erkenntnis ist der Gewinn meines Lebens. Glaube Deinem Vater, der sich Erkenntnisse aus Gefahren holt.«

Ihr Schweigen, sein etwas fettes Seufzen; dann: »Es lohnt sich nicht. Abhängigkeiten, Nackenschläge, und selbst der Schein der Macht noch täglich neu zu behaupten. Wir sollten fortgehen: zusammen nach Liebwalde oder auf eine Weltreise ... Aber Marokko, das muß ich noch machen.«

Sich ablösend, schon unterwegs: »Das kann nur ich!«


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