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Zweites Kapitel.
Salon Altgott

Terra brauchte den Besuch bei Lannas nicht erst zu überlegen, schon ward er dringend hingebeten.

Seine Absicht war, eine amtliche Berührung mit der Reichskanzlei zu vermeiden; er trat nicht von der Wilhelmstraße ein. Wie früher durchschritt er die kleine Pforte neben dem Brandenburger Tor, ging aber vorbei an der romantischen Villa, die Auswärtiges Amt hieß, ging durch den Garten nach jenem größeren Baudenkmal der Macht, dem neuen Sitze Lannas'. Stolz und zierlich stand es im Grünen, von hier weit eher Gartenschloß als Amtsgebäude; hatte Ranken zwischen den hochgewölbten Fenstertüren, den Schatten alter Bäume auf seinen langen Flügeln; aber hell hervor stieg die Hauptfront, gereckte Pfeiler und schlanke Fenster. Aus runden Luken unter geschweiftem Dach blickte ein anderes Jahrhundert.

Festen Schrittes ging Terra auf die Mitte zu, entschlossen, sich durch Feierlichkeit nicht schrecken zu lassen. »Der Herr Reichskanzler erwartet mich«, rief er schon von fern, als eine Fenstertür aufging. – »Wenn auch nicht von dieser Seite«, sagte ein beliebiger Herr, der nicht ohne Wohlwollen den Gast hineinließ. »Geheimrat von –« verstand Terra. Er erklärte: »Da ich aus durchaus persönlichen Gründen herzitiert bin, hielt ich es für angezeigt, ohne Umwege das Kabinett des Grafen zu betreten.« Denn er sah einen Schreibtisch.

»Das Arbeitszimmer des Reichskanzlers ist nicht mehr hier«, berichtete der Geheimrat. »Hier war es unter Bismarck, wegen der bequemen Nähe der Büros, die alle in dieser Front liegen. Bismarck konnte Tyras hineinschicken, Zucht mußte sein, dann kamen die Beamten gelaufen.«

Der Geheimrat gab sich offen und beflissen, wahrscheinlich hatte er den Auftrag, den Gast zu unterhalten. Da dieser nur ein umso anspruchsvolleres Gesicht machte, bemühte er sich weiter. »Nach Bismarck arbeitete nur noch der nächste Kanzler hier. Der ließ nun aber vor den Fenstern die schönsten Bäume abschlagen. Für Bismarck war er damit gerichtet: ein Slave!«

»Hoch merkwürdig«, sagte Terra und senkte die Mundwinkel.

»Sie interessieren sich mehr für alte Bilder?« fragte der Geheimrat. »Der jetzige Chef hat einige aus den königlichen Museen entliehen.« Mit Hilfe der Bilder lotste er den anspruchsvollen Gast durch ein Zimmer mit papageienbunten Möbeln und hinauf in die Eingangshalle. Dort übergab er ihn, aufatmend, einem Amtsdiener. Mit dieser schweigsamen Person gelangte Terra, gleichfalls aufatmend, nach dem ersten Stock.

In einem Vorraum stand ein anderer Diener, dieser mit Schnüren auf der Brust. »Herr Söchting,« sagte der Begleiter Terras, »ist wer drinnen?« Söchting antwortete: »Bei Exzellenz ist niemand drinnen, Exzellenz ist selbst nicht drinnen.« – »Wo ist er denn?« – »Er ist im Erinnerungszimmer«, sagte Söchting.

Vor der Tür auch dieses Arbeitszimmers kehrte Terra um. Es ging durch einen ungeheuren Saal von der Höhe zweier Stockwerke, der Breite des ganzen Hauses und reichlich vergoldet. »Der Kongreßsaal«, sagte der alte Diener mit Nachdruck, indes er sich plötzlich umwandte. Terra verbeugte sich anerkennend.

»Ob er nun will, daß Sie 'reingehen –« meinte der Mann und zögerte vor der Tür, die jetzt kam. Zu seiner Überraschung klopfte der Gast einfach selbst und trat auch gleich ein.

Es war um einen Augenblick zu früh, der Reichskanzler war mit der Haltung, die er wünschte, noch nicht ganz fertig. Altpreußisch schlicht und steif saß er zwischen dem Fenster und einer Art von Badeofen in einem großen Lehnstuhl mit Ohrenklappen, Depeschen lesend. Hinter einer Hornbrille, die Lippen zusammengekniffen, sah er langsam auf. Ein Zeichen, sich zu setzen, – der Nachfolger Bismarcks las weiter. Endlich, knapp und allwissend:

»Herr Rechtsanwalt, ich muß Sie warnen. Sie werden sich selbst gefährlich. Arbeiter, die andere Arbeiter zum Streik aufgereizt haben, vor dem Zuchthaus zu retten, sollten Sie Ihren Kollegen, soweit sie sozialistisch sind, überlassen.«

»Eure Exzellenz bitte ich gehorsamst, bemerken zu dürfen –.« Aber Lannas fiel ihm in die altpreußische Rede. »Bemerken Sie zuerst, daß wir das Gesetz einer allerpersönlichsten Anregung Seiner Majestät verdanken.«

»Eure Exzellenz bitte ich gehorsamst, bemerken zu dürfen,« wiederholte Terra unverdrossen, »ich habe die mir angetragene Verteidigung der Arbeiter einzig und allein in dem Pflichtbewußtsein des königstreuen Mannes übernommen. Mein Gewissen versichert mir, daß diese schlichten Arbeiter, die jederzeit für ihren König und Kaiser sterben würden, das Gesetz nicht verletzt haben.«

»Ob sie sterben würden? Nun, man würde ihnen helfen«, – Lannas nahm die Brille ab, da konnte er seinem Gesicht die verbohrte Altersweisheit, die er seinem Besucher und sich selbst vorgeführt hatte, nicht ganz bewahren. Ein wenig vom Grübchen erschien, die Art zu sein ward leichter, auch die Sprache. »Was Sie sich auch immer dabei gedacht haben, lieber Freund, daß Sie die Genossen verteidigen, vielleicht übrigens haben Sie sich garnichts gedacht: wir können der Sache eine geschickte Wendung geben. Es kommt nur auf Sie an ... Herrgott!« rief er in der Fistel. Er sprang, alles vergessend, auf seinen Ohrensessel und langte gierig nach der Wanduhr. Sie gehörte freilich eher in eine Küche, sie tickte so laut wie ein Wecker. Der Reichskanzler bemühte sich, sie zu öffnen. »Jedesmal dasselbe«, murrte er. »Aus Pietät für die großen Tage Bismarcks, die sie gesehen hat, lasse ich sie immer wieder gehen, und dann halte ich es doch nicht aus.«

Mit der Uhr beschäftigt, erklärte er weiter. »Ich habe den großen Mann hier mumifiziert. Sein Schreibtisch, schauerlich geschnitzt, man sieht die ganzen Siebzigerjahre. Aber Sie spüren elektrische Schläge, wenn Sie ihn berühren.«

»Tatsächlich«, bestätigte Terra.

»Mit der Ehrfurcht des Herzens alles zusammengetragen aus den bescheidenen Stätten seines titanischen Wirkens, sowohl Akten- wie Streichholzständer! Noch echtes Schreibpapier des Gewaltigen!« Da war es ihm gelungen, die Uhr abzustellen; er kehrte auf den Boden zurück. »Lieber Freund!« Er bewegte sich wieder um vieles leichter durch das Zimmer. Jemandem, der anklopfte, nahm er selbst in der Tür das Schriftstück ab. »Da haben wir's,« sagte er außerhalb des Zusammenhanges, »das Geschäft stimmt, Sie können sofort in den Wahlkreis reisen.«

»Wahlkreis?« wiederholte Terra.

»Ich habe Ihnen ein freigewordenes Mandat für den Reichstag zugedacht. Sie müssen für jetzt weder widersprechen noch zustimmen.«

»Welche Partei wählt mich?«

»Die Reichspartei, auch freikonservative Partei genannt. Die Fraktion war in Verlegenheit um eine geistige Potenz. Gewisse Personen erinnerten sich Ihrer.« Da er Terra sich tief verbeugen sah: »Nicht ich.« Er faßte Fuß hinter dem Schreibtisch, unter dem Bismarckbild in ganzer Figur, von Lenbach. Mit staatsmännischer Stirn: »Ein Reichskanzler geht auf die Personalien der Parlamente nicht ein, er steht über den Parteien.« Da Terra sich hievon in übertriebener Weise durchdrungen zeigte: »Jetzt denken Sie: darum redet er hier und schanzt seiner Lieblingspartei die Leute zu, die ihm passen. So steht es aber nicht, ich sorge einzig und allein für Ihr Bestes.«

»Eure Exzellenz,« sagte Terra, die Hand auf der Brust, »haben mich, solange ich denke, mit unverdienten Wohltaten überhäuft. Kein menschliches Herz kann so übervoll des Dankes seinem hochgestellten Freund und Gönner entgegenschlagen.«

Lannas blieb sachlich. »Es wird Sie kein Opfer kosten, sich in gleicher Dosierung frei und konservativ zu zeigen.«

»Und wenn es ein Opfer wäre!« – hingebungsvoll.

»Innere Reservate billige ich Ihnen zu. Je häufiger wir zusammenarbeiten, desto mehr werden sie schwinden.« Lannas kam um den Tisch, er setzte sich mit Terra auf das Sopha, Knie an Knie.

»Verstehen Sie mich, lieber Freund, in den einzelnen Fraktionen muß ich meine Freunde sitzen haben, sonst verliere ich den Boden.«

»Eure Exzellenz befinden sich über den Parteien und über dem Boden, der sie trägt«, bemerkte Terra mit kühler Achtung.

»Aber sie sollen für mich stimmen. Niemand stimmt gern für einen Minister, den er nicht kennt, der Seinesgleichen nicht sein will und ihm noch nicht einmal imponiert.« Tief verärgert und mit der häßlichen Stimme, die er im Ärger bekam, sagte der Reichskanzler: »Nicht jeder kann in Uniform mit schwefelgelbem Kragen der Opposition in den Weg treten und gegen sie von seinen Wasserstiefeln Gebrauch machen.« Den Blick auf das lebensgroße Bild hinter dem Schreibtisch.

Pause. Dann Terra mit Vorsicht: »Ganz ohne Zweifel liegt es an meinem beschränkten Fassungsvermögen, wenn ich aus den Darlegungen Eurer Exzellenz den Eindruck gewinne, daß unter solchen Umständen der Minister den schrankenlosesten Parlamentarismus begrüßen müßte wie eine Gnade von Gott.«

»Wem sagen Sie das.« Lannas seufzte – aber weder lange noch tief. Sogleich hielt er sich wieder an die Tatsachen. »Ich brauche Freunde, denn Gegner habe ich sowieso: selbst in der Reichspartei!« Dieser Seufzer war tiefer. Dann: »Sie, Herr Rechtsanwalt Terra, sind ein Intellektueller von besonders moderner Prägung. Die Ziele des Geistes sind Ihre Sache nicht weniger, als das Wesen der Dinge. Ich plaudere mit Ihnen schon seit Ihren empfänglichsten Jugendjahren, ich schmeichle mir, daß Ihrer erfreulichen Entwicklung mein Einfluß nicht fremd geblieben ist.«

Blick. Terra verbeugte sich.

»Damals in Liebwalde warfen Sie sich unbedenklich auf die Seite des idealistischen Anarchismus. Heute wissen Sie, daß gerade der Idealist es besonders notwendig hat, auch Geschäftsmann zu sein.«

»So ist es«, sagte Terra überrascht. Er öffnete die Augen, er wartete im Ernst, was noch käme. Es kam: »Sehen Sie, Ihre Streikhetzer! Ein Sozialist bespricht im Reichstag den Fall, schon aus. Nun Sie!.. Sie haben am Tage vorher eine große Rede zur vorurteilslosen, uneingeschränkten Würdigung meiner gesamten Politik gehalten. Sie sind, wie ich, im Sozialen äußerst vorsichtig. Im Kulturellen denken Sie frei. Daß wir uns verständigt haben, wird vermutet. Wenn ein Mann wie Sie sich der Streikhetzer annimmt, wie wird es wirken?«

Blick. Terra behielt den Mund offen.

»Die Wirkung ist, daß die in Ihrer Fraktion sitzenden Großindustriellen«, betonte Lannas, »an die Wand gedrückt werden. Auf Ihre Rede hin könnte sogar das ganze edle Zuchthausgesetz ernstlich ins Wackeln kommen, wenn es nicht zufällig die persönliche Leistung Seiner Majestät wäre«, schloß Lannas beruhigt. Terra sah mit Entzücken: er wurde gegen Knack geschickt.

»Teufel. Der Einfall könnte von mir sein.« Im offenen Munde rollte Terra die Zunge, sein ganzes Gesicht zuckte verteufelt. »So begaunert man ehrliche Leute, die der Zuversicht lebten, sie verständen das Betrügen allein.«

»Hören Sie sich an! Sie schmettern dies durch die Nase.« Lannas fragte milde: »Darf ich Sie auf einige Äußerlichkeiten aufmerksam machen? Was Sie da sagten, könnte noch weit gewagter sein: schlimm wird es erst durch Ihr ausdrucksvolles Schmettern, Ihre überdeutliche Mimik. Werden Sie farbloser, werden Sie Geschäftsmann auch in Ihrem Stil!«

Dies im Ton eines beiläufigen Nachtrages zum beendeten Gespräch. Terra begriff, er erhob sich. Die Finger verschränkend und lösend in seiner Betroffenheit:

»Selbst in Ihrem allerweltschmerzlichsten Augenblick werden Eure Exzellenz noch barmherzig genug sein, mich nicht für den hoffnungslosen Esel zu halten, der hier irgend etwas mißversteht. Ich habe nichts weiter gehört und behalten, als daß Sie mir die hohe Ehre erweisen, mich der parlamentarischen Vertretung des deutschen Volkes, das Ihrer unvergleichlichen Obhut anvertraut ist, für würdig zu erachten.«

»Unter vier Augen weiß ich Ihren Kurialstil zu schätzen«, sagte Lannas versöhnlich. Er gab die Hand zum Abschied. »Der Vorstand Ihrer Fraktion erwartet Sie.«

Er rief den Abgehenden noch wieder zurück.

»Sie sind garnicht neugierig, wer mich so rechtzeitig an Sie erinnert hat?«

Welch ein auffallendes Lächeln! Verschmitzt, verlegen, ein wenig vorwurfsvoll und von oben, aber im Grunde dennoch erfreut. Terra stutzte. Darauf Lannas:

»Nun, es war im Salon Altgott. Übrigens ein politischer Kindergarten; versäumen Sie nicht, sich darin umzusehen. Kommen Sie aber außerdem zu uns. Meine Tochter erwähnte kürzlich, wie lange wir Sie nicht gesehen haben.«

»Sollte Mangolf es sein?« sagte Terra, ohne zu wissen, daß er es sagte. Die Miene Lannas sagte, daß er eine andere Frage erwartet hatte. Dann ward sie mitleidig. »Ihr Freund Mangolf hat in letzter Zeit ausnahmsweise an sich selbst gedacht. Die Heirat, dann der Unterstaatssekretär. Ich werde ihn wohl ernennen müssen, sein Schwiegervater tut es nicht anders.« Sehr nachdenklich.

»Ich kenne meinen Freund Mangolf«, behauptete Terra mit Nachdruck. »Seine Streberei entspringt der wirklichsten, tiefsten Bescheidenheit.«

»Ganz schön, aber er zwingt mich schon wieder.« Verärgert: »Zu allem was ich für ihn tue, zwingt er mich. Passen Sie auf, das rächt sich.« Da Terra besänftigend die Hand aufrichtete: »O Sie! Sie bilden sich die Demokratie ein. Aber gerade Sie sind der Edelmann, sitzen in Ihrer Burg und melden sich nicht. Wer Sie haben will, muß Sie holen, wie Posa. So geben Sie mir ein Gefühl, als machte ich mich wer weiß wie sehr verdient, daß ich Sie hole. Ihr Freund Mangolf dagegen: wollen Sie wissen, was ich ihm für ein Ding drehe?«

»Eure Exzellenz spenden aus der Fülle Ihres Geistes niemals ohne Nutzen für mich.«

»Ich muß ihn zum Unterstaatssekretär machen, gut, einverstanden. Aber wen mache ich zum Personalreferenten? Das ist, ohne besonderen Titel, eine viel mächtigere Stellung, und wem gebe ich sie? Seinem Feind Tolleben. Da hat er es.« Der Reichskanzler erfaßte den künftigen Abgeordneten an der Schulter. »Einer erledigt immer den Andern: das ist Staatsweisheit;« – und unter munterem Lachen schob er ihn endlich aus der Tür des Erinnerungszimmers.

In seinem Wahlkreis hatte Terra mit Reden, die ein jeder hätte halten können, den Erfolg, der feststand.

Den Reichstag machte der Abgeordnete Terra vorerst nur in der mildesten Form auf sich aufmerksam, durch technische Anmerkungen. Sie waren klug, vor allem kurz, sie überschritten in nichts die Schranken einer staatserhaltenden Partei. Seine hauptsächliche Wirksamkeit verlegte er in den Schoß der Fraktion; sein Zweck war einzig, zu beruhigen über seine Natur. Zum Redner bestimmt aus einem mehr grundsätzlichen Anlaß, ging Terra mit sich selbst die Wette ein, er werde kein eigenes Wort sagen. Er zitierte Bismarck; den Abgeordneten Schwertmeyer, jeden Redner, der jemals das Ohr des Hauses gehabt hatte. Er zitierte auch Knack, der niemals sprach. Sein eigentlicher Gegenstand war die Widerlegung des wesenlosen, verwirrenden und schwächenden Begriffes der Freiheit, der politischen Freiheit. Er sagte darüber mit Goethe: »Nur das Halbvermögen möchte seine beschränkte Besonderheit –« alles, wie Lannas, einst in Liebwalde, es ihm unvergeßlich eingeprägt hatte, und er schrieb es Lannas zu, nicht Goethe.

Lannas, auf seinem Platz am Bundesratstisch, war ganz Schmunzeln. Er ließ den Abgeordneten zu sich bitten, er beglückwünschte ihn, wie ein einfacher Kollege. Auch erinnerte er ihn an den nächsten parlamentarischen Abend in seiner Wohnung, Terra dürfe nicht wieder ausbleiben.

Terra blieb aus, weil sein Leben, alles was er tat, sprach, vorstellte und selbst die eigene Person ihn noch niemals auch nur annähernd so grauenhaft geekelt hatten, wie jetzt. Von Achtung, ja Auszeichnung umgeben, gedachte er der schlimmsten Demütigungen seiner dunklen Jugend als himmlischsten Taues. Damals begegnetest Du in jedem beliebigen Gedränge Blicken der Abneigung und des Hohnes. An Menschen der Masse, die auf Deiner Stirn ein Zeichen lassen, gebrach es Dir nie. Heute sind sie nicht ganz betrogen, aber gebändigt. Du genießest Ruf und Schutz. Deiner Stellung, Deiner Gunst bei dem Reichskanzler müssen wohl Leistung und Kraft entsprechen, – denken die, die überhaupt fragen, warum sie einen Mann tiefer grüßen. Für solche Wesen kleidest Du Dich korrekt, machst Dir ein glattes Gesicht. Dennoch erschrickt manchmal Einer: Deine Maske hat sich verschoben. Sieh Dich vor! Auf der Tribüne vorhin warst Du versucht, die Zähne zu fletschen, und Ungeheuerlichkeiten hinauszuschmettern.

Sie würden sie schlucken, dies ist das Übelste, solange Du der Macht näher zu sein scheinst, als die Meisten von ihnen. Dein Sturz wäre zweifellos eine besondere Erleichterung, ihr Instinkt berät sie noch immer richtig. Solange Du aber Dich hältst, ist es Übereinkunft, daß Du vorgibst, einer der Ihren zu sein, und daß sie es glauben. Das Wenigste wäre noch ihre Korruption. Du läßt sie einfach gelten, ja, tust, als seiest Du beteiligt. Der Abgeordnete Schwertmeyer hat niemals von seiner liberalpatriotischen Beredsamkeit leben können, wohl aber von den Trinkgeldern der großen Industriellen, denen er das Kleinbürgertum einfing. Auf ihren Plätzen finden die Abgeordneten Prospekte – einen Prospekt über eine neue Art Masten für Kriegsschiffe. Sie sind, nach der ausdrücklichen Verheißung des Anbietenden, teurer als die bis jetzt verwendeten, auch werden sie schneller ersetzt werden müssen. Wer beteiligt ist, verdient öfter. Kindereien! Nicht ihretwegen bist Du verzweifelt. Verdienenlassen gehört zum System selbst. Lannas erwägt einen Plan, der aus den Diäten der Abgeordneten etwas wie Bestechungsgelder macht. Niemand wird es auch nur bemerken. Alle hier getätigten Geschäfte sind vertraulich; verboten sind sie nicht. Es wäre falsch, anzunehmen, daß gesellschaftlich bestimmte Personen, die ihre gegenseitige Achtung haben, sich nicht auch selbst achten.

Der Einzige hier, der seine Rolle fragwürdig findet, bist Du. Denn Du bist gekommen, die anderen zu betrügen. Ideen auf lange Sicht gedenkst Du den harmlos in den Tag Lebenden heimtückisch anzuhängen. Dafür heuchelst Du, lügst, schmeichelst, trägst Maske, versagst Dir nach Kräften den letzten Rest von Selbstbehauptung. Als man Dich anspie, warst Du Deiner sicherer. Du hast eine Niederlage erlitten in Deinem Lebenskampf um die Menschenwürde. Erhebe wenigstens unverzüglich den Preis Deines Selbstverrates!

Terra nährte in einigen Mitgliedern seiner Fraktion das Gefühl, man könne ein Übriges tun und dem alltäglichen Betrieb einen Abglanz höherer Welten beibringen, einen Funken, der zündele unter den Menschen, und zwar zugunsten gerade unserer Partei. Er überlegte mit ihnen. Am meisten war bei den Massen, dies lehrte die geschichtliche Erfahrung, mit den Ideen der Menschlichkeit zu machen, – wenn wir absahen von ihrem genauen Gegenteil, den nationalistischen Ideen, mit denen dasselbe zu machen war.

Entschieden wir uns für die Ideen der Menschlichkeit, so nur, weil der Fall Dreyfus sie gerade zeitgemäß machte. Die Gründe der allgemeinen Begeisterung für den französischen Unschuldigen waren verwickelter und dunkler Art. Sogar Gerechtigkeitssinn spielte mit, wenn er auch. Gottlob, in eigener Sache niemals weiter gegangen wäre, als er ohne Schaden der Autorität gehen konnte. »So entartet sind wir Deutschen noch nicht!« behauptet Terra unter Beifall.

Um nun eine vorhandene öffentliche Gemütsstimmung praktisch auszuwerten, brauchte man eine größere Gesamtheit lebender Wesen, die, ohne daß es uns selbst an die Tasche ging, von irgend einem Druck befreit werden konnten. Wer war geeigneter? Die Landarbeiter? fragte Terra seine Kollegen, die Industrielle waren. Er antwortete selbst: die Sozialdemokratie hatte ihre Rechte in Pacht. Die Rekruten, die Unteroffiziere? Nicht daran rühren, schloß er sofort. Aber die Menschen schlechthin? Wo sitzt der Druck, den sie entbehren können? Als fände er es endlich: die Todesstrafe!

»Ihre Abschaffung wäre erreichbar – gerade darum, weil Niemand daran denkt. Die Sozialdemokratie natürlich hat auch diese Nummer in ihrem Programm, welche hätte sie nicht; aber doch nur für alle Fälle und mehr platonisch. Von uns ausgehend, wäre die Forderung weniger billig. Sie würde wirken, als schleuderten wir laut eine Milliardenziffer unter die jauchzende Menge. Hohe Zahlen wirken begeisternd, wie die Herren schon selbst bemerkt haben.«

Die Herren schwiegen erstaunt; undeutliche Kundgebungen erlaubten sich nur die von Terra entfernt sitzenden. Nahe und abwartend saß Knack. Vielleicht steckte der Reichskanzler dahinter? Mit Absichten, die noch unerkennbar waren? Vorsicht! dachten Knack und die anderen. Der Kollege Terra hatte ein Gesicht aufgesetzt, als wüßte er allerhand. Es zuckte darin mehr als gerissen. Tatsächlich sagte er:

»Die Herren können natürlich nicht auf einmal überblicken, was die Abschaffung der Todesstrafe für ein Ding ist. Meine Herren! Sie ist eine Goldgrube bei den Wahlen, eine Attrappe, wenn sie käme. Wir hätten die Stimmen umsonst. Die Todesstrafe kann nämlich nicht abgeschafft werden – zuerst, weil wir alle sterben müssen. Außerdem hoffe ich zu unserer Ehre, daß wir sämtlich auf das Innigste überzeugt sind von der Unvermeidbarkeit des kommenden Krieges, der das herrlichste Erlebnis unseres Volkes werden muß«, schmetterte Terra, aufsteigend von seinem Sitz. Die Zuhörer, samt Knack, wurden hiedurch zu beifälligem Gemurmel verpflichtet.

Unversehens hatte der Kollege wieder seine übertrieben abgefeimte Fresse. »Nun sehen Sie mal nach, Verehrteste, was von der Abschaffung der Todesstrafe praktisch übrig bleibt. Daß eine Handvoll Mörder in den Zuchthäusern verschwindet, anstatt geköpft zu werden. Schön. Geht keinen Menschen etwas an. Dafür aber, meine Herren, stehen wir in dem weithin spürbaren Geruch der Humanität, infolgedessen kann noch auf hundert Jahre Niemand uns zumuten, daß wir für Abrüstung, Schiedsgericht, Völkerfrieden auch nur eine Träne haben.«

»Stimmt«, war zu hören.

»Der Hineingelegte aber ist die Sozialdemokratie, die es, wie gewöhnlich, nicht merken wird. Sie hat nicht viel Sinn für politisch-ideelle Taten, unsere brave Sozialdemokratie.

Man kann nicht an alles denken. Wer immer vollauf damit beschäftigt ist, den Arbeitern Lohnzulagen zu verschaffen, vergißt leicht, daß ein Krieg im Handumdrehen mit den Löhnen auch die Arbeiter frißt. Über den Krieg aber entscheiden, Gott sei Dank, noch immer wir.«

»Bravo!«

Terra ließ das Gespräch in Sarkasmen über die Sozialdemokratie auslaufen, er selbst ging bald. Er hatte unverkennbar gewirkt, mußte freilich sehen, wie die, denen er die Hand gereicht hatte, sie verstohlen in der Tasche abwischten. Er war naß und erschöpft, als hätte er stundenlang Holz gehackt. Das Furchtbarste: die Trugschlüsse, die er vorgebracht hatte, erschütterten seinen eigenen Glauben. So und nicht anders verlief es wohl gar, gemäß der Unlogik des gemeinen Lebens?

Drinnen hörte er sie noch lachen; er wußte beiläufig, was sie einander sagten. »Verfluchter Jesuit, der Kollege! Was hilft es ihm aber, wenn jeder es auf hundert Schritte sehen kann? Das sind meistens die Naivsten. Woher hat er es also? Wirklich von Lannas?«

Ihm war grundsätzlich alles zuzutrauen. Vielseitig und geschäftig genug war er, um auch noch die Todesstrafe abzuschaffen, in dem Augenblick, da er alle Hände voll zu tun hatte, sich der englischen Bündnisangebote zu erwehren. Es war so weit gekommen, daß der Reichskanzler, die bewährte Übung der geheimen Verhandlungen durchbrechend, sich genötigt fand, vor aller Welt, im Reichstag, die Zettelungen Englands zu enthüllen. Hätte er es nicht gewollt, die Presse der Alldeutschen hielt gute Wacht, sie wußte alles. So bekannte der Reichskanzler, daß seit bald drei Jahren die Gefahr einer Annäherung ständig gewachsen und heute ein ernstes Problem sei. Er nannte nicht alle die furchtbaren Folgen, denen die Freundschaft Englands uns ausgesetzt haben würde, bei Namen: wie begreiflich von dem leitenden Staatsmann. Genug, zu wissen, daß nach den Absichten Englands auf ein deutsches Kriegsschiff künftig fünf englische kommen sollten. Dies war das Verhältnis freilich schon jetzt; gestanden wir ihm aber Dauer zu, dann lebewohl freie Machtentfaltung, lebewohl Flotte, gemeinsame Lieblingsschöpfung des Kaisers mit dem Bürger!

So lag es, da hatten wir das Glück, daß ein englischer Minister öffentlich und abfällig einige geschichtliche Tatsachen, unser Heer angehend, aussprach. Fertig, Schluß, wir waren aus dem Dicksten. Die Rücksichten durften enden, Kälte und Hohn unserer Öffentlichkeit hinsichtlich des werbenden Englands wurden auf einmal ersetzt durch erlösende Ausbrüche. Wut brach aus gegen den Heuchler, der sich vergaß und frech ward; Erbitterung über einen nichtsnutzigen Schlucker, dessen tückische Versöhnlichkeit uns lahmlegen wollte – uns, die wir bestimmt waren, ihn abzulösen in seiner überalterten Weltherrschaft!

Als ganz Deutschland wochenlang getobt und jedermann im Reich seine Meinung wie aus Gußeisen im Kopf hatte, ward endlich auch der Reichstag berufen, die Dinge zur Kenntnis zu nehmen. Ein großer Tag stand bevor, man sah es, gleich beim Betreten des Sitzungssaales, an der ungemeinen Gehaltenheit jedes Einzelnen: als ob alle vor einander Angst hätten. Beobachte jeder, dem sein politisches Leben lieb ist, noch mehr sich selbst als den Nachbarn! Heute bringt es Gefahr, ein eigenes Wort zu verlieren, ein eigenes Gesicht zu verraten. Dies ist der Tag des bewußtlosen Aufgehens im nationalen Empfinden. Dem Redner dort oben zwingt es seine unpersönlichen Sätze gebieterisch in den Mund. Atme im Takt oder ersticke! Der Redner spricht aus hunderttausend Lungen, er redet den Tritt der Regimenter.

Reihenweise nach vorn geworfen Leiber, Arme, offene Gebisse: »Hört! hört!« »Unerhört!« – und Gegenbewegung ist einzig der eigensinnige Haufen der Sozialisten, der rückwärts strebt, nach irgend einem rettenden Strand. Jetzt besteigt einer der ihren die Tribüne. Sie erkühnen sich, sie reizen das Haus. Aufzischen, Vorrollen der gepeitschten Masse, Schaumköpfe schlagen bis an die Tribüne.

Der Sprechende, ein greifender Mann, ist national Erregten sogleich verdächtig, er hat einen beträchtlichen Teil seines Lebens im Ausland verbracht, er sieht nicht mehr alles nur deutsch. Politischer Anglist, Freundschaft mit England ist sein Spezialfach. Alle fühlen: wäre die Falle, in die wir gelockt werden sollen, nicht von England schon gestellt, er selbst würde ihre Aufstellung betreiben. Hochverrat ist nicht fern; das Haus wittert, zum Sprung bereit. Ein gewagtes Wort, der Mann würde fortgerissen ... Aber er arbeitet mit Zahlen, mit volkswirtschaftlichen Tatsachen; wenn sie nichts entscheiden können, sind sie doch eine Verlegenheit. Man will nicht hören, man bekundet geräuschvolle Ungeduld. Seine Zahlen, die niemand mitrechnet, enttäuschen am Ende den Redner selbst. Er will sich steigern, er nötigt sich Pathos ab. Es klingt nicht zuversichtlich, es klingt wie ermüdende Rufe aus Angst und Not. Erbittertes Geheul verschlingt sie. Vorgeschleuderte Arme befehlen »Stirb!« Da tritt er ab, den schweren, schweren Mißerfolg auf der Stirn und den gebeugten Schultern, tritt ab unter Hohn und Gelächter.

»Dies war ein Leben«, sieht Terra. »Es ist falsch angewendet worden, denn es war begründet auf eine Rechnung mit der menschlichen Vernunft. Mit ihr ist nicht zu rechnen. Wer das seine besser anwenden will als dieser Sozialist, stellt in seinen Plan den menschlichen Drang nach dem Chaos ein, das menschliche Gesetz der Katastrophe. Nur mit List und Tücke kann ich sie vielleicht noch um ihre ersehnte Metzelei betrügen.« An dem Abtretenden vorbei, steigt er selbst nun hinauf – entschlossen, hunderttausend Lungen zu haben. Im Anblick der Entscheidung aber bemerkt er, daß sie ihm fehlen. Das Beispiel des Abgetretenen beschämt und lähmt ihn. Er will mit der Lungenkraft aller die Sätze zum Anschwellen bringen, in die alle schon hineingeblasen haben, ihm aber zerplatzen sie. England sucht den Frieden aus Furcht! ... Wir aber versagen ihn aus Übermut? denkt er. England fühlt sich als Stärkeren! Und einem Stärkeren mögen wir nicht Freund sein? denkt er. Verzweifelter Stand des Patrioten, den Logik aufhält!

Terra sah seitwärts auf Lannas, der, die Arme verschränkt, seinem Kampf mit der Logik folgte. Lannas trug Mienen voll Festigkeit und Hoheit, sie sagten: der Weltkreis empfängt seine Geschicke von diesem Tisch und Stuhl der Gewalt, man rede übrigens logisch oder nicht ... Sein Scheitel spiegelte, er hielt ihn hoch.

Terra pries Lannas glücklich um seiner Klarheit willen, ihm selbst stiegen Dunst und Dampf der nationalen Erregung bis weit über den Kopf, sie erreichten die Tribünen der Zuschauer samt den vornehmen Logen. Da fand er in einer der Logen ein Gesicht, das lächelte. Es war weiß, länglich, es hatte unter dem großen Federhut ganz schmale Augen, woraus dunkle Strahlen drangen, diese waren Lächeln. Terra sah hinein. Das Gesicht der strahlenden Augen sagte ihm: »So neu bist Du noch? Läßt Dir den Sturm der Elemente vormachen und siehst die Regie nicht?«

Darauf erkannte er wirklich, wie es gemacht war. Die Wetten, die aufzischten, hingen an Fäden, und jede einzelne blieb darauf bedacht, es richtig zu befingern. »Nun wollen wir mal!« sagte der unbezwingliche Drang vorwärts. Auf entfesselten Leibern schäumende Köpfe, und dennoch, wenn man es nur überraschte, ein ganz nüchternes Auge, das gleichgültige Gesicht längst enttäuschter Parlamentarier, einer Nation von Wählern ihre Hochgefühle vorführend. Triste Comparsen, die guten Rollen haben andere, euch ist heute nicht einmal die gewohnte Ablenkung durch häusliche Sorgen erlaubt, ihr dürft keine Briefe schreiben. Eure Drahtzieher wachen, sie sind die Aufgewecktesten hier, es sind Leute, die Geld zu verlieren und zu gewinnen haben. Inmitten seiner Fraktion, die Kälte selbst, befehligt die Handlung Knack.

Unter soviel Betrug würde selbst die Wahrheit zum Schwindel. Entweihe sie nicht! Sogleich bekam Terra seine beste Stimme, unbedenklich wiederholte er, durch die Nase schmetternd, alles was gegen England heute schon geleistet war. Nichts schreckte ihn. »England braucht uns wegen der Buren!« Aber im gleichen Atemzug: »Es denkt, wir seien die Buren!« Jemand in der Diplomatenloge, ein Herr mit überhängendem Schnurrbart, stieß zuletzt einen Fluch aus, hier endete Terra, auf seinem Höhepunkt.

Der Reichskanzler winkte ihn auch diesmal zu sich. Nach einigen schmeichelhaften Worten verlangte er dringend den Besuch Terras für nachher. »Ich habe Ihnen etwas Peinliches zu sagen«, wobei er zwinkerte.

Der Präsident sagte: »Der Herr Reichskanzler hat das Wort«, Lannas stand auf inmitten seines großen Stabes von Regierungsvertretern. Unterstaatssekretär Mangolf schüttelte noch schnell dem Abgeordneten Terra die Hand. »Du beurteilst die Lage durchaus wie wir«, bemerkte er geschäftsmäßig, indes er eilfertig seinem Chef ein letztes Papier hinlegte.

Der Reichskanzler sprach im Gegensatz zu den Abgeordneten, die es versäumt hatten, von der deutschen Friedensliebe. Er holte es ausdrücklich und eingehend nach. Das Verhalten Deutschlands auf der vorjährigen Friedenskonferenz im Haag habe keine richtige, mit weniger Höflichkeit würde er gesagt haben: keine ehrliche Beurteilung gefunden. Die Beschränkungen der Rüstungen zu Lande waren gleichfalls an unserem Widerstand gescheitert, gewiß – wie jetzt die zur See; aber hatte nicht England seitdem den Angriff auf die Buren vollführt? Noch mehrere der im Haag vertretenen Mächte befanden sich heute im Krieg, nur Deutschland nicht! Nur Deutschland nicht! ... Um ein Wort stärker zu betonen, stieß der Reichskanzler mit Kraft seinen Bleistift auf den Tisch, einen Bleistift Bismarck'schen Formates. Seine behagliche Art zu sein, ward beim Rechthaben unnatürlich schroff, die fette Stimme krächzte, er sah verärgert aus. Warum waren wir gegen jede Beschränkung unserer Rüstungen? Aus Friedensliebe. Nur Rüstungen erhielten ihn. Si vis pacem, para bellum. Sogar der Bleistift mußte aus Eisen sein, er wäre sonst zerbrochen. Terra sah zu jener Loge hinauf. Das vereinzelte Gesicht unter seinem großen Federhut war verschleiert jetzt, ein ungewisser Schimmer, planend hinter den Dingen.

Der Reichskanzler inzwischen bekam es mit seinem wahren Gegner zu tun, dem englischen Minister. Er reckte die verdickte Gestalt wie auf einem Sockel. Die Hand an der ausladenden Hüfte, dramatisch blickend hielt er den Gegner, der so und nicht anders auf seinem Londoner Sockel stand, im Auge. O einzige Genugtuung, von gleich zu gleich mit einer alten Weltmacht zu sprechen! O Wollust der hervorgekehrten Wahrheiten! Rausch, zu drohen! Der ganze Reichstag atmete höhere Luftschichten.

Kaum ahnte Terra dort oben das ganz in Schatten zurückgezogene Gesicht. Er selbst suchte den Ausgang.

 

Diesmal ging Terra amtlich und von vorn hin. Aber Söchting, der ihn dem Reichskanzler in seinem Arbeitszimmer gemeldet hatte, kam sogleich zurück. Seine Exzellenz bitte um den Vorzug, den Herrn Reichstagsabgeordneten in seiner Wohnung empfangen zu dürfen. Ein Diener in heller, bestickter Livree stand schon bereit, ihn hinzuführen – jenseits des Kongreßsaales durch Zimmer in verschiedenen Farben.

Wieder gingen Türen vor ihm auf, wieder fiel in die Zimmer, die er durchschritt, das Licht aus herbstlichen Gärten: aus denselben wie einst. Gärten, deren Weite und Unbegangenheit sie ausschied aus der Stadt, so sehr sie in bewegter Mitte lagen; und verstreut durch Gärten, wohlbedacht auf romantische Vornehmheit, die Ämter. Terra, der den Spuren einer Frau vormals in das eine der Ämter gefolgt war, durchschritt heute ein anderes, auf eben den Spuren. Andere Räume, er selbst ein anderer: dennoch wiederholte sich ein längst versunkener Augenblick. Denselben Gang hatte er vor Jahren gemacht – und hatte zurückgeblickt auf Arbeit unter Entbehrungen. Das Fräulein dahinten in dem letzten der zu öffnenden Zimmer wußte auch damals nicht, daß er nahte. Sein Nahen war Rache und dennoch Hingabe. Es war der glückdurchbrauste Augenblick nach stockenden Jahren. So kam es wieder nun, kam alles wieder so. Das Leben bringt das uns Gemäße nach der Reihe noch einmal, solange als wir es tragen.

Nur sein Herz setzte aus, die letzte Tür aber wich ohne Zögern, dahinter saß das Fräulein. Sie sah ihm entgegen, ihre Augen schlossen sich fast, jenes Strahlen, das Lächeln war, verbarg sich fast. Das Licht aus den Vorhängen blühte in ihren Haaren, es löste den Umriß ihres Nackens auf.

Er nahm die Hand, die sie wollte, daß er nehme; er berührte sie, wie gewünscht, mit den Lippen. Den Stuhl, den sie bezeichnet hatte, zog er für sich herbei. Kaum saß er aber, stand sie selbst auf. Sie öffnete die Vorhänge ganz, alle Vorhänge, es ward hell wie im Garten. Er hielt es für eine Verteidigung, eine Absage; sein Herz ward traurig. Da wendete sie sich her, er sah: sie war nahe dem Weinen, und es war Freude.

Auch er stand auf, sie betrachteten sich stumm und reglos, alles Leben in den Augen. Sie suchten einer in des anderen Zügen nach den Spuren von Erlebtem, den unbekannten Jahren, nach dem Gewesenen auch, dem Wissen um einander, dem Gefühl von einst. Sie bebte, ob sie sähe, daß sie ihm Ziel und Zeichen geblieben war in allem, die lange Zeit. Er rief ihr Herz auf, ob es gewartet habe. Auf einmal senkten beide die Stirnen, es sei gewährend oder weil sie nicht wußten, – und begannen zu sprechen.

Sie sagten einander ihre Eindrücke aus der heutigen Reichstagssitzung, aber sie sprachen leise, unaufmerksam, mit einem halben Lächeln: damit jeder wisse, nicht dies sei gemeint.

»Ihr Vater hatte einen seiner besten Tage.«

»Er übernimmt sich als Redner leicht – wie beim Essen«, sagte sie unaufmerksam ... Da sahen sie beide zugleich den, von dem sie sprachen, sich durch den Garten entfernen, er ging zur Linken eines Herrn in Uniform: – des Kaisers.

»Der ganz große Erfolg!« bemerkte Terra, mit dem halben Lächeln. Sie erwiderte nur das Lächeln, so ging auch er über die Sache hin, sprach wieder von sich. »Ich bringe aus dem Herd der nationalen Begeisterung eine unendliche Traurigkeit mit. Aber es ist fruchtbare Traurigkeit.«

Sie träumte, die Brauen still gewölbt, seinen Worten nach – vielleicht nur seinem Ton: lässiges Träumen. Er inzwischen versank im Anschauen ihres Ebenmaßes, ihrer federnden Schmalheit, reinen Farben: mädchenhaft alles wie je – und, schwebend auf der Melodie des Körpers, der unberührte Geist der Augen. Namenlose Dankbarkeit hob sein Herz, weil sie so geblieben war.

»Ich sah Sie auf jener Hochzeit von fern. Dachten denn Sie daran, daß ich da sein konnte?« Gepreßt, aus versagender Kehle. Dann sie, und ihre Stimme flog unsicher auf, als sollte sie alsbald hinsinken, ersterben. »Im Salon Altgott war die Rede von Ihnen.«

Da wußte er, wer seinen Namen aufgebracht, für ihn geworben hatte.

Sie sagte noch: »Sie haben auf sich aufmerksam gemacht. Jetzt wäre der Zeitpunkt für Sie, in den Reichsdienst einzutreten.«

Als Antwort hierauf er: »Schon längst wollte man wissen. Sie würden sich bald verloben. Ich habe es nie geglaubt.«

Nun stockten beide, auf einem Weg zu Ende. Drunten sahen sie Lannas mit dem Kaiser zurückkehren auf dem Gartenweg. Der Kanzler umgab seinen Herrn mit Arabesken der Zartheit und Heiterkeit, wie ein werbender Mann die Dame, die unentwegt durch blauen Himmel schreiten soll. Der Kaiser nahm angeregt und fröhlich alles hin ... Sie war es, die wieder anfing, mit bestimmterer Miene und dem Ton der Erwachten. »Einmal wird es dennoch geschehen müssen.«

»Warum?« fragte er aufgeschreckt. »Ich finde Sie wieder, wie Sie nur immer waren, kein Haar liegt anders.«

»Sie meinen die Maske. Dahinter, ich versichere es Ihnen, ist viel geschehen. Ich habe mich nicht ganz so stolz erhalten können, wie Sie mich kannten. Ich habe mit Menschen zu tun bekommen.« Weite Augen, sie hielten seine fest. »Man lernt an Zugeständnisse denken«, sagte sie noch; – und unvermittelt: »Ein Vetter Tollebens ist persönlicher Adjutant des Kaisers geworden.«

Er erschrak heftig, – plötzlich begriff er, er war in letzter Stunde gekommen. Vor Schrecken ward er nur stark, anstatt warm. »Befehlen Sie!« Er stand auf, der größeren Eindringlichkeit wegen. »Ich trete in den Reichsdienst. Ich werfe alles hin, was mein war. Ich trete über und bin nur noch der Ihre.« Sie prüfte sein arbeitendes Gesicht, er aber verschränkte und löste die Finger. »Bei dem heiligen Namen Gottes flehe ich Sie an, bezweifeln Sie nicht meinen tödlichsten Ernst! Ich bin ohne jede Frage kapabel, es zu etwas zu bringen, ich kann eines Tages eine genau so viel versprechende Hochzeit feiern, wie die war, auf der wir uns das letztemal erblickten.«

Merkwürdig schroff sagte sie: »Hüten Sie sich. Sie könnten beim Wort genommen werden. Sie glauben, Sie bekämen mich unter keinen Umständen. Sie irren. Mein Vater nimmt lieber Sie als Herrn von Tolleben. Viel lieber – sobald Sie nur Geheimrat sind. Aber die Geschäfte meines Vaters besorge ich nicht. Hören Sie?«

»Nur zu gut.« Sofort erwiderte er ihre Herausforderung. »Sie wollen herrschen. So kenne ich Sie. Als Gatte kommt für Sie nur in Frage, wer nach Ihrem Herrn Vater Reichskanzler werden kann. Mich fürchtet er nicht, ich komme für Sie nicht in Frage. Mein Kompliment, Gräfin, ich stehe nach einer Lehrzeit, die sich gewaschen hat, noch heute als ein so ausgemachter dummer Junge vor Ihnen wie je.«

Er schnob vor Zorn, bei dem jähen Begreifen. Der wohlwollende Vater mit seinen Anträgen! »Erst kürzlich erwähnte meine Tochter –.« Und die Tochter! Anstatt ihn zu heiraten, drohte sie wahrscheinlich, mit ihm durchzugehen. Diesmal war die Entführung kein Jugendstreich, es hatte Hand und Fuß. Nach der Rückkehr bekam sie ihren Tolleben. Er schnob: »Die Großen der Erde scheinen mich in ihre Ränke verstrickt zu haben. Ich werde verdammt die Fäuste rühren müssen, um meine Haut in Sicherheit zu bringen.«

Sie sah in seinem Zorn die Angst, diesen Kampf um die Seele. Sie neigte sich vor, sie drückte ihn an der Hand in den Sessel nieder. »Quälen Sie sich nicht! Ich weiß, daß Sie nichts für mich tun dürfen. Daher war ich ganz aufrichtig. Seien auch Sie es. Unter Ihren öffentlichen Erfolgen verbergen Sie eine geheime Wirksamkeit, sie ist die eigentliche. Sie haben nur die eine wahre Leidenschaft.«

Er überhörte ihre Eifersucht. »Nur die eine Leidenschaft«, wiederholte er. »Es ist mein Verzweiflungskampf gegen die Todesstrafe. Ich bin kein Politiker, mein Leitstern ist einzig die lebenfördernde Vernunft, ich will dem Tod, der überall lauert, ein Bein stellen.«

»Ich weiß, was Sie wollen«, sagte sie, immer mit weiten Augen, im Ton einer ihr fremden Kindlichkeit. »Sie sind gegen uns.«

Er tat erschreckt. »Mit keinem Wort hat Ihr verehrter Vater meine Agitation gemißbilligt.« Und er sah hinaus. Noch immer kreiste der Vater um den Monarchen. Sie folgte seinem Blick. »Aber er kennt ihren Zweck« – mit einer Bewegung, daß es gleich sei. Sie biß sich auf die Lippe, stumm sagte sie ihm gleichwohl das Letzte, ihr Fremdeste: sie gebe sich auf; sie sei es, die übergehe – zu ihm. Er möge nur gegen ihre Klasse arbeiten, gegen ihren Vater, gegen sie selbst: sie wolle ihn dennoch. »Und Sie haben mir mißtraut!« – ganz ohne Ironie im Auge.

Er ward jäh ergriffen, er stürzte vor sie hin. »Nun gut!« gestand er und faßte an seine Brust, als risse er sie auf. »Ich habe gegen die Ihren etwas vor. Sie sind die Einzige, die ich nicht täuschen kann. Jetzt muß es zwischen uns aus sein.«

Die Stirn in ihrer Hand, wartete er, – aber nichts kam. Als er aufsah, trug sie den Ausdruck der Verzweiflung. Es war entschieden, sie brachte das Opfer so wenig wie er. Aus dem Garten waren Kaiser und Kanzler verschwunden. Sogleich mußte ihr Vater eintreten. Da stellte er sich breit auf, zog auch sie zu sich heran, und beide Hände hingegeben, atmeten sie hörbar, jeder in das geliebte Gesicht. »Wir sind Feinde: so wird es immer wieder sein. Umsonst! Umsonst!« sagten ihr Atem, ihre fassungslosen Augen. Schon erhoben sich Arme, die umschlingen sollten; Unwiderrufliches stand bevor, da ging eine Tür. Sie hörten Stimmen, lautlos wichen sie auseinander.

Es ward geöffnet, indes sie stumm dastanden und hinsahen. Der Reichskanzler ließ Frau Bella Mangolf hinein, er brachte einen Arm voll Zeitungen mit.

»Ich mußte Dir unbedingt heute noch sagen, daß die Rede Deines Vaters ein ganz großes Erlebnis für mich war, etwas Einmaliges«, sagte Bella und küßte Alice. Dann war es an dem Vater. Er ging auf die Tochter zu, beide Arme geöffnet, mit einem Lächeln, das das Herz brach. Es sagte: »Liebling, noch ist mein Erfolg der Deine, verzeih' ihn mir also!« Um sie zu küssen, beugte er sie in seinem Arm nach hinten und richtete sie leichter Hand wieder auf. Kraft und Güte, »vertrau' mir, hüte Dich!« – und so verstand sie es. Aus ihrem geschlossenen Lid rann eine Träne. Sie öffnete es und sagte: »Du bist ein so großer Mann. Ich bin so stolz auf Dich.« Verweintes Lächeln, wie Abschied. Seines herzbrechend ...

»Ich wurde dringend aufgehalten«, sagte Lannas, die Brauen erhoben, und Terra verneigte sich ehrfurchtsvoll. »Der Kaiser ist so bedeutend!« rief darauf Lannas; er konnte augenscheinlich nicht an sich halten. »Genial und klar, er trägt mich hoch über alle Kleinigkeiten und bleibt selbst nüchtern. Mein Herz hängt an ihm.« Gleich weiter: »Haben Sie die Zeitungen schon gelesen? .. Seien Sie froh! Es ist ein Tiefstand.«

Hier sah Terra, wie Alice Lannas die Brauenfalte bekam, die ihrer offenen Stirn Beschränktheit aufdrückte. Der Blick ward kurzsichtig, so ließ sie sich von Bella huldigen und hörte ihren Vater über die Presse klagen. Die Presse hatte die Großartigkeit, die weltgeschichtliche Bedeutung seines Duells mit dem englischen Minister nicht voll begriffen, er fand sich unzulänglich gewürdigt. Terra dachte an das Album mit Ausschnitten, ungebeten sprach er den Artikel, den er selbst geschrieben haben würde. »Schreiben Sie ihn, es ist noch Zeit!« rief Lannas, völlig entzückt. »Das Beste wird sein. Sie lassen die guten Sachen mich selbst sagen.«

Auf einer Tischecke schrieb Terra demgemäß. Bella Knack-Mangolf störte ihn mehrfach, sie behauptete für die Kultur der Form in den Reden Terras ein entwickeltes Organ zu haben. Ihr Unglück hatte sie zu einer von Grund aus neuen Haltung bewogen. Kraushaar und Springinsfeld lagen dahinten, sie zeigte sich abgeklärt, vornehm, in allem auf ästhetische Worte bedacht. Ihre Arme bewegten sich rechtwinklig nach oben, sie sprach ausschließlich aus einer gewissen Höhe und mit einem Schnäuzchen, das sie zu schonen schien.

»Wie meinen Sie das eigentlich?« fragte sie Terra. »Sie haben Arbeiter verteidigt, die zum Streik aufgehetzt hatten, wie meinen Sie das eigentlich«, wiederholte sie gereizt.

»Die Leute sind freigesprochen.«

»Nun ja. Aber sie hassen uns nun mal« – Armbewegung nach oben – »einfach, weil wir schönere, besser gepflegte Menschen sind. Es ist ein unvermeidliches Unglück für sie, daß sie so armselig häßlich sind und uns hassen müssen.« Schnäuzchen.

Terra schrieb in sein Protokoll: Gans mit Doppelbetrieb. Die geborene Knack, die daneben stand, las es, sie verschwand empört.

Er war fertig, die Einleitung verfaßte der Reichskanzler mit eigener Hand: »Dem Reichstagsabgeordneten Terra ward die besondere Auszeichnung zuteil, von dem Herrn Reichskanzler in mehr als einstündiger Unterredung die persönliche Auffassung des leitenden Staatsmannes über die durch seine heutige hochbedeutsame Reichstagsrede geschaffene Lage zu erfahren.« Dies mußte Terra unterschreiben. Lannas behielt das Schriftstück da, um es selbst in die Öffentlichkeit zu leiten.

Hierauf verabschiedete sich Terra. Die Komtesse Lannas las das Protokoll, sie hatte das ganze Gesicht ihres Ehrgeizes. Beide grüßten ohne Nebensinn, als hätten sie niemals anderes als Geschäfte des Ehrgeizes, Masken weltlichen Treibens von einander gesehen.

Frau Bella Mangolf hob gnädig den gebogenen Handrücken bis unter seinen Mund. Beleidigungen offen nachzutragen, verbot ihr der Geschmack für ausgeglichene Form.

Bei der Tür fragte Terra noch: »Eure Exzellenz hatten heute Vormittag die Güte, mir eine peinliche Eröffnung in Aussicht zu stellen.«

»Jawohl. Ich muß Sie auf die Ordensliste setzen.« Lannas legte die Hand in seinen Arm. »Lieber Freund, ich kenne Sie, und ich neige auch hierin zu der gleichen Meinung wie Sie. Aber legen Sie den Orden an! Tun Sie es für mich! Bei meiner Freundin Altgott ist die beste Gelegenheit. Für Ihre Einladung sorge ich.«

Und Terra schloß die Tür – zornig versichert er schließe sie über Gestalten des Unvermögens. Eine davon hatte seine Geliebte nicht sein können. Er hatte sie auch diesmal nicht an sich gerissen. So sollte es hundertmal noch verlaufen, und die Schuld war bei ihr, die sich schon zurücknahm, wenn sie sich erst noch versprach. Hingabe vermochte sie nicht; sie versäumte damit zu viel im Kampf der Eitelkeiten.

Welche Entlarvung, diese Freundin! »Erst die Freundin klärt vollends auf über sie. Für nichts in der Welt hätte ich es versäumen wollen, sie neben der Freundin zu sehen.« Zugleich bemerkte er die Möbel der Zimmer, durch die er ging. Großer Prunkspiegel im Grünen Zimmer, großer Prunkspiegel im Gelben – nicht anders als in dem Roten, aus dem er kam. Sophas, Konsolen, Tische in alten, übergroßen Formen, immer wiederholt; Format, Menge und Wiederholung erzwangen den Glauben an Glanz und Größe des Hauses. Sein Alter ward beglaubigt von den historischen Formen, den großen silbernen Schilden an der Wand, die Wachskerzen hielten; von den Wappen fernliegender Familien an den Prunkkaminen. Der rote Salon, worin sie ihn empfangen hatte, enthielt eine Art Altar, mit Kostbarkeiten überhäuft; und die Sessel, zwischen denen ihre Liebe gespielt hatte, waren wie für alte Kardinäle bestimmt. Ach ja, die besagte Millionenerbschaft war gemacht, in historischer Vermummung glänzte ein frischer Reichtum. Auch hier der deutsche Aufschwung, samt entsprechender Denkart, samt Gehabe und Getue.

Umso besser! Das Mädchen, um dessenwillen ihm das Leben hinging, hatte nicht mehr nötig, Wucherer mit falschen Kolliers anzuschmieren – ganz so, wie einstmals die Frau von drüben den gewissen Mohrchen anschmierte. »Mir geht das Leben schon um eine Sorte Frauen hin!«

Er war draußen, rauchte, und stieß mit dem Rauch seine Wut aus. Sich ernüchternd, fragte er, was denn geschehen sei. Hatte er in irgend einem Winkel denn geglaubt, heute werde Verlobung sein? Ach! Verlobung sollte wohl niemals sein, und gleichwohl waren sie einander bestimmt für das Leben: für alles Verlangen und Versagen, für die Begierde, den Haß und das Liebenmüssen eines Lebens ... Er sah im Gehen zu Boden, er fühlte ihre Arme, die sich nicht um ihn geschlossen hatten, sich schließen. Aber selbst in seinem Traum trennten sie sich sogleich, er erblickte die Geliebte wieder, wie sie beim Abschied dastand, von ihrem Ehrgeiz wie von einer Krankheit befallen, in einer Haltung, als friere es sie, der Haltung ihres armen Bruders: erblickte sie wieder so und liebte sie auch dafür.

 

Er war nicht überrascht, nach den nationalen Hochgefühlen der Reichstagssitzung bei seiner Fraktion einem leichten Rückschlag zu begegnen. Man entsann sich halbwegs der vergessenen Tatsachen; der an die Wand gemalte Krieg mit England war nicht sogleich wieder wegzuwischen und erregte den Ernüchterten Unbehagen.

Kein grundloses; denn was geschah? Dieses England verriet alsbald, daß es das Bündnis uns keineswegs aus wahrer Liebe angetragen hatte. Es war so wenig deutschfreundlich, daß es nunmehr Verabredungen mit Frankreich traf. Was hieß dies? Man suchte noch die Erklärung. Inzwischen schien es rätlich, der Stimmung im Lande, die von der Weisheit des Geschehenen nicht voll überzeugt war, eine Ablenkung zu gewahren.

Was tun. Ausdrücklich handelte es sich um ein Entgegenkommen für den Teil der Nation, der weder von schwerindustriellen Interessen, noch von alldeutscher Begeisterung lebte. Es war bis jetzt der größere Teil, wenn auch keineswegs der beträchtlichere. Vorübergehende Bedeutung verlieh ihm der bevorstehende Sieg der Unschuld Dreyfus'; ihr Sieg ward immer wahrscheinlicher.

So ging die Fraktion zu vertraulichen Besprechungen mit den benachbarten Fraktionen über, wegen einer Vorlage zur Abschaffung der Todesstrafe. Vertraulichkeit schien geboten durch die Furcht der Fraktionen vor einander. Das tollkühne Unterfangen konnte jede der anderen verdächtig machen. Jede sah ihre Entschuldigung einzig in der vorläufig schweigenden Zustimmung des Reichskanzlers. Wann war der Zeitpunkt da, an ihn heranzutreten? Offenbar erst dann, wenn er selbst einen Wink gab.

Terra in seiner Ungeduld suchte den Wink herbeizuführen. Er kannte wohl Lannas: es hätte nur außerhalb seines Wirkungsfeldes, nicht außerhalb seiner Natur gelegen, sich zu verlieben in die Sache eines unschuldig Verurteilten. Er hätte sie zu der seinen machen können, wenn auch frühestens in dem Augenblick, als Erfolg so gut zu erwarten war wie Mißerfolg. Von wem in seinem Wirkungsfeld konnte auch nur soviel gesagt werden? Freilich, den Entschluß zu etwas Gutem, das er wohl gewollt hätte, entrang nicht die Sache selbst ihm leicht, und auch kein Einzelner. Aber das Drängen Vieler, in aller Öffentlichkeit? Stimmen aus jener Schicht maßvoller, wohlbehüteter Geisteskultur, der seine Neigungen den Reichskanzler zuwiesen? ... Der Abgeordnete der Reichspartei Terra überzeugte mehrere hochstehende Gelehrte, daß es dem Volksganzen und seiner sittlichen Entwicklung wie andererseits auch ihnen persönlich und ihrer Laufbahn nur förderlich sein könne, wenn sie sich äußerten. In den vornehmen Zeitschriften, die ihrer Natur entsprachen, äußerten sich die Gelehrten. Vorsichtig erwogen sie das Für und Wider der Abschaffung, mit vorsichtiger, immerhin fühlbarer Hinneigung zum Für.

Andere Gelehrte antworteten ihnen im Sinn des Wider – und diese viel lauter. Auch das Für bekam hierauf seine Streiter: umso entschiedenere, je mehr sie ohne amtliche und bürgerliche Geltung waren. Schon berührte der Kampf die Tagespresse, wenn auch nur im Feuilleton, da sagte der Abgeordnete Schwertmeyer, und sein Fuchsgesicht lächelte blaß: »Verehrter Kollege Terra, Sie sind abgekämpft, nehmen Sie Erholungsurlaub!«

Da Terra nicht verstand, machte Schwertmeyer noch spitzere Augen. »Jeder praktische Vorschlag, der auf das Geleise der Kulturdebatte gerät, läuft sich tot. Man hat Auffassungen geklärt, da muß nichts mehr geschehen. So ist es hierzuland, hatten Sie es noch nicht bemerkt?«

»Herr Doktor Schwertmeyer, ich glaube an mein Volk!« sagte Terra herausfordernd. Der Liberalpatriot versicherte schleunig: »Und ich erst!«

Hier hielten die Dinge, da las Terra in dem einflußreichsten Blatt des Regimes, im Lokalanzeiger: »Was verbirgt sich denn eigentlich hinter einer so leidenschaftlichen Hochschätzung des menschlichen Einzellebens? Die Furcht, zu sterben, Herr Terra! Und, sollten Sie auch dies noch nicht wissen: die Abneigung mit der Waffe zu kämpfen, die ungermanische Furcht! Aber sie wird erfolglos bleiben – trotz aller Augenblickserfolge des Abgeordneten Terra.« Bei dieser persönlichen Note horchte Terra auf, er las alles noch einmal. Wer hatte die Todesstrafe wirklich abgeschafft? Ein romanisches Land; und in dem zweiten kam die Frage nie zur Ruhe. Nur eine fremde Geistesart konnte den Deutschen ausreden wollen, was sie vor aller Welt adelte: ihre germanische Geringschätzung des bloßen Lebens, ihren germanischen Stolz, das Leben heldenhaft fortzuwerfen. Alarmruf: »Hier überredet jemand euch zur Entartung. Für wen?« Die zwei Worte gesperrt. »Dies soll sich auch der Herr Reichskanzler schon fragen.«

Wie kundig, eingeweiht und merkwürdig tiefblickend! Wie intim im geistigen Haß! Der Ungenannte sprach noch von Affen und anderen Südländern, die freilich Niemanden hinrichteten, dafür aber auch die vorausbestimmten Unterlieger seien in dem bevorstehenden Krieg der germanischen Herrenrasse gegen eine unkriegerische Zivilisation. Längere Verherrlichung dieses Krieges, – obwohl es nicht darauf, sah Terra, seinem feindlichen Vertrauten ankam. Nur er selbst war hier zu treffen, bloßzustellen, zu entwurzeln. Sein Erfolg ward im voraus untergraben, seine Person verdächtigt als fremd im Wesen und, wollte man so lesen, als bestochen.

Terra sah: das war das öffentliche Leben. Auch der vertraute Feind im Geist, einstmals so feinnervig durch seinen Haß, nie feinnervig genug für sein Gewissen, mußte nun vergröbern und drauflügen, es hätte für greifbare Zwecke sonst nicht gereicht. Erfolg, nichts weiter! wollte das öffentliche Leben. Du oder ich!

Er machte sich, seinem Versprechen gemäß, eines Abends auf den Weg nach dem Salon Altgott – aber gesenkten Kopfes. Die Gefahren von morgen schienen unvergleichlich mächtiger als die von gestern, – und drohten sie nicht schon heute? Diesen selben Abend, in dem Hause, auf das er zuging, konnte es geschehen. Alice war dort; sie blieb nicht fort heute, denn jemand ward erwartet, ein beliebiger Herr, der sich neben ihr festsetzen und nie wieder fortgehn sollte. Der Geängstigte sah jenen sich vorneigen mit seinen dünnen Haaren, seinem riesenhaften Oberkörper. Ein beliebiger Herr, den hielt nichts ab, zuzugreifen, wenn Alice Lannas ihm die Hand bot, nicht weil sie ihn liebte, sondern damit er und sie durch einander Karriere machten. Den hielt nichts ab.

Terra schnitt Grimassen auf der Mitte des Fahrdammes. Erst als jemand ihn anrief, bemerkte er, daß er am Ziel schon vorbei war. Lannas rief. »Jetzt nehme ich Sie aber gleich mit«, sagte er schmunzelnd. Er kam die wenigen Schritte bis in die Voßstraße zu Fuß. Den Mantel trug er offen bei der Kälte, eine freudige Erregung schien ihn zu erwärmen. Sein Gesicht war wie von ernster Sonne durchleuchtet. Auch hier war Erfolg, ein sichtbarer, sorgenfreier.

»Nun, lieber Freund, was sagen Sie?« fragte der Reichskanzler nachdrücklich, noch bevor sie eintraten. Aufs Geratewohl sagte Terra: »Erlauben Eure Exzellenz mir. Sie auf das allerinnigste zu beglückwünschen.« Im Zweifel, was vorging, beglückwünschte man Lannas.

»Allen Anlaß« – die Hand auf der Schulter Terras. Sein Glück stimmte Lannas teilnahmsvoll. »Sie sehen nicht gut aus, mein Lieber. Unter uns, ich glaube nicht, daß Sie sich noch viel den Kopf zerbrechen müssen; nach menschlichem Ermessen steht Ihre Sache günstig.« Das erste Wort, mit dem er Kenntnis nahm von der Sache, sie anerkannte!

»Dies vom leitenden Staatsmann zu hören –« sagte Terra schnell; und Lannas: »Wenn alle Hindernisse fort sind, leite ich.«

Er wiegte den Kopf. »Vor der öffentlichen Meinung haben Sie noch eine letzte Probe zu bestehen. Wer weiß, heute Abend?.. Bleibt Seine Majestät. Wie der Kaiser entscheidet, ist immer die rollende Glückskugel.« Plötzlich hatte er Sorgenfalten. »Man sagt, durch meine Kunst und Gewandtheit falle sie meistens ins richtige Loch.« Er seufzte auf und ließ sich von entgegeneilenden Dienern den Mantel abnehmen.

Die Diener waren in Goldbraun; die doppelte Treppe führte neben verblaßten Gobelins hin. Ihr gegenüber öffneten sich Salons, soweit das Auge reichte. Hindurchwandelnd bestaunte Terra nach Gebühr ihre Höhe und Einsamkeit, spiegelnde weiße Türen, zartseidene alte Wandbezüge. Einmal stand statt aller Möbel eine Vase inmitten, aber am Rande des leeren Parketts die hohen schmalen Fenster hatten Vorhänge, die aussahen, als hingen sie seit hundert Jahren unbewegt. Gedämpfter Prunk – im Gegensatz zu dem ungedämpften in den Salons der Reichskanzlei. Terra äußerte in starken Worten seine Bewunderung der historischen Dekoration; schmunzelnd nahm Lannas es hin. Der reich gewordene Reichskanzler hatte die Theatergräfin mit vieler Mühe so eingerichtet, wie es zuhause in dem Saal, bei den Eltern Terras, von selbst gewesen war.

»Seien Sie mir wegen Ihres Ordens nicht böse«, bat Lannas nochmals. »Hier haben wir es ausschließlich mit kultivierten Leuten zu tun.«

Dennoch sah Terra, wie sie den vierten und letzten der Räume betraten, mehrere Blicke unverzüglich auf sein Knopfloch fallen, – nur nicht den Blick der Komtesse Lannas. Sie verfolgte genau, was zwischen ihrem Vater und Tolleben vorging. Tolleben hatte neben ihr gesessen, ihr zugeneigt in der Haltung des anerkannten Bewerbers. Er erhob sich beim Nahen seines Chefs. Ein Blick des Vaters bewog ihn sogar, den Platz zu wechseln. Alice Lannas erfaßte ihre Lippe mit den Zähnen und sah nieder – blickte nicht einmal auf, als ihr Vater eigenhändig ihren Freund Terra vor sie hinstellte. Er sagte: »Dein Freund.« Sie gewährte Terra die Hand, zog aber sogleich auch die Hand weg, als sei ein Irrtum geschehen. Nachträglich hob sie nun doch die Augen: ironische Augen. Niemandem entging dies alles. Die Altgott verriet angstvolle Besorgnis, – wodurch wieder die alte Frau von Jerichow aufmerksam ward, die soeben eintraf. Sie verständigte sich sofort mit der Gräfin Beuthin, ihrer Freundin. Da die tauben Alten nicht schreien durften, verständigten sie sich mit den Lippen.

Umso lauter war die Altgott; auch sie beglückwünschte Lannas, wozu nur? Terra bewunderte sie, laienhaft begrenzt wie sie sich ehemals gegeben hatte, – und jetzt plauderte sie in ihrem politischen Salon dem Reichskanzler vom King vor, der im Hotel Ritz mit Clemenceau –. Lannas rückte näher, er konnte nicht genug davon hören, vielleicht war er nur deshalb so früh hergekommen. So oft der King und Clemenceau wiederkehrten, bekam er das Gesicht, mit dem er sich beglückwünschen ließ. Eine Ahnung ergriff Terra.

Bellona Knack-Mangolf indessen ruhte in sich selbst. Kein lebendes Bild bei Hofe, noch irgend eine Bühnenhoheit hatte jemals den Begriff eines gepflegten Zustandes gegeben, den sie gab. Der restaurierte Empiresessel, der sie trug, ward zum Thron ihrer gewählten Gesten und gesättigt schwebenden Mienen. Die Göttin der persönlichen Kultur thronte in Gestalt Bellonas – und dies drei Schritte von Tolleben, der in sich hineingluckste. Die geborene Knack hatte er auf der Hochzeitsreise sitzen lassen, dem Gehirnfatzken spannte er die Braut aus; der alte Lannas, der sich für schlauer als schlau hielt, sollte sich wundern. Reiterstückchen!

Bellona mit ihrem Geld war erhaben über den Reiter, nur Terra war es keineswegs. Er fühlte das Glucksen wie Hiebe mit der Reitpeitsche – und die Ironie der Gräfin Alice als Salz in seine blutigen Striemen. Er stand am Fleck in panischem Entsetzen – innerlich flüchtend, aber immer noch am Fleck, nackt vor allen Blicken und geschändet. »Verdammt, jetzt kommt die Hinrichtung. Mich ritt der Satan, daß ich mit einer jungen Dame der besten Gesellschaft anband, um ihr zu Ehren den sittlichen Zustand des Menschengeschlechtes zu heben!«

Er drückte die Faust vor das Hemd, er raunte, die Zähne fletschend, zu Bellona Knack-Mangolf, die über ihn hinwegsah: »Meine gnädige Frau, Ihr Herr Gemahl hat mich gebrandmarkt, ich bin ein vom Ausland bestochener Schurke.« Die geborene Knack verlor darum noch längst nicht ihren gewählten Ton. »Kaum glaublich. Sie nähmen das Geld. doch lieber von uns«, – sagte sie, wie eine Sprechübung. Unversehens trat Mangolf selbst dazwischen. »Er macht sich über Dich lustig«, sagte Mangolf, leidend und gereizt. Plötzlich streckte er die Hand hin, angstvoll gespannt, ob jener sie nahm ... Er sah nach schlechten Nächten aus, nach innerem Widerstreit und Reue. Die Brauen sträubten sich über die eingesunkenen Schläfen hinweg. Der Haß in den Augen war scheu, Mangolf traf sogar Anstalten, zu lächeln – ein Lächeln der Anerkennung! »Alle Achtung«, sagte er. »Gegen Dich ist heute kaum noch aufzukommen.«

»Lieber Wolf«, sagte Terra stark und herzlich, »ich habe mich unseres ehrlichen Männerkampfes aufrichtig gefreut. Das waren einmal wieder wir!«

Mangolf zuckte mit den Augen, auch seine Lippen zuckten nur, wie gelähmt. Bellona war es, die, schon wieder im Besitz ihrer Erhabenheit, ihn auf den Weg brachte. »Wenn Sie aber kein Geld haben?« fragte sie Terra. »Dann bilden Sie sich nur nicht ein, jetzt könnten Sie Erfolg haben! Ohne Geld hat niemand Erfolg«, erklärte die geborene Knack. Mangolf sagte gepreßt: »Du scheinst erstaunt, mein Lieber. Mußt Du die Anfangsgründe von einer Dame hören? Deine Gegner haben vielleicht nicht Deine geistige Leidenschaft«, – schon gab er sich ironisch. Er wies nach dem Eingang. »Aber sie haben Geld.«

 

Ihren Auftritt vollführten der Oberadmiral von Fischer, grobschlächtig vom Schädel bis zu den gewichsten Stiefeln, am Arm sein weißhaariges Frauchen; in der vordersten Front mit ihm von Heckerott, Generalmajor und Vorsitzender des Alldeutschen Verbandes, aber diesen auf dem Fuß zwei Zivilisten, der eine glatt, der andere wildbewachsen.

Lannas war aufgestanden, er erwartete den Zug in der Mitte. Kopf hoch, beglänzter Scheitel, kraft höchster Berufung in der Mitte, und doch die Hand gewinnend hingestreckt, so erwartete er jene Andersgearteten, die nicht lächelten wie er. Sie drangen vielmehr ein, als sei das Gelände vom Feind zu säubern. Höchstens das Frauchen bewirkte eine Entspannung, es ging unter den Titeln Gemüt und Familie mit hin. Die vier Männer täuschten niemand im Augenblick ihres Auftretens. Überdies ging ein noch unbestimmter, aber warnender Geruch ihnen voraus.

Der Oberadmiral fühlte wohl, daß er zu stark gewirkt habe. »Heute mußte ich ihn mir doch ansehen«, sagte er, gebückt vor der Altgott wie ein gezähmter Bär, und hielt bieder den Reichskanzler in der Pranke.

»Nun, lieber Freund, was sagen Sie!« rief Lannas, von innen durchsonnt, wie Terra ihn heute schon kannte.

Der General von Heckerott knirschte, bevor sein Gebiß aufging. »Gratuliere, Exzellenz haben uns vorgearbeitet«, – Blutzudrang nach der Stirn und nochmals Knirschen.

»Wie ständen wir nun da«, brüllte Fischer und nahm die Damen zu Zeugen, »wenn er – und nicht Frankreich – den Engländern in die Falle gegangen wäre!«

Die Ahnung Terras verstärkte sich, – während Heckerott knirschte. »Unsere Warnung ist nicht umsonst gewesen. Na also.«

Da sagte Lannas tatsächlich: »England hat sich an Frankreich angenähert; wir sehen daraus, wie aufrichtig seine Freundschaft für uns war. Aber, meine Herren, wissen Sie auch, was alles von uns geleistet werden mußte, um die Brüder aus dem Versteck zu locken?« – breiter als sonst, fast vulgär.

Terra erstarrte. Dies war der Erfolg, zu dem Lannas sich beglückwünschen ließ! Freilich, Terra lernte zweifeln an der inneren Besonntheit; die Augen des Reichskanzlers waren abgeschweift, sein gemeiner Ton wollte die hier einfangen. Es gelang nicht einmal ganz; die beiden Zivilisten taten nicht mit im Chor der Bewunderer. Dem Reichskanzler entging es nicht, er führte das behaarte Exemplar in die Mitte, es sollte sich produzieren dürfen. »Mein werter Professor Tasse«, redete er das Exemplar an, »Sie als zweiter Vorsitzender des Alldeutschen Verbandes gehen natürlich konform mit Ihrem General.«

»Ich gähe nie gonform«, erklärte Tasse, und urplötzlich schwenkte er seinen großen weichen Bauch herum, Lannas mußte sich in Sicherheit bringen. »Ich gähe nämlich bloß einig«, schloß Tasse, ein tückisches Schmunzeln in all seinem Gestrüpp.

»Ihr Kollege, Herr General, ist Dialektiker«, sagte Lannas, mußte aber sogleich erkennen, daß seine Doppelsinnigkeit verfehlt war. Von Heckerott zog vor Tasse eindeutig die Absätze zusammen, er wartete, was von Tasse noch käme. Es kam ohne Federlesen.

»Mit dem Herrn General an der Spitze unseres Verbandes möchten wir unsere tadellose Gesinnung gefälligst ausgedrückt haben. Aber was wir zu tun haben, wissen wir alleene.« Dasselbe unvorhergesehene Schwenken; diesmal ward Tolleben fortgeschleudert, er hatte sich der Erscheinung genähert.

»Na ob«, sagte der zweite Zivilist, indes Heckerott stramm stand. Nur der Oberadmiral wagte einen Vorbehalt. »Mein Flottenverein ist auch noch da«, sagte er bieder. Tasse erklärte bündig: »Das sind auch wieder wir.«

Er allein hielt die Mitte. Die Herren samt und sonders hatten sich nach den Wänden verzogen. Der Halbkreis der Damen in Mauve, Blaßgrün, Gelb oder Weiß schimmerte einzig um Tasse und seinen ungebügelten Frack. Jodoformgeruch entströmte ihm, jetzt war es klar.

»Was wollen Sie also, Herr Professor?« fragte Lannas aus gemessener Entfernung.

»Daß wir uns nicht einwiechen lassen!« verlangte Tasse.

»Von den Juden!« krähte der zweite Zivilist herüber. »England ist verjudet, Frankreich ist auch verjudet. Daher finden sie sich gegen uns zusammen.«

»Kollege Pillnitz ist auch nicht dumm«, gab Tasse zu.

»Unser berühmter Orientalist«, erklärte Lannas zuvorkommend. Sofort bekam der Glattrasierte sein berühmtes Gesicht. Tasse strengte sein gequetschtes Organ an, um gegen die Ablenkung durchzudringen. »England ist ä dummes Luder«! rief er. »Es denkt sich: nun Hab' ich mein Fett, und macht sich heran an das zu Lande stillstehende, zur See zurückgehende Frankreich. Da lebt sich's denn nun freilich wohl bequemer, als mit dem in jeder Richtung wachsenden Deutschland.« Tasse erhob belehrend den Finger. »Aber was vergißt das treulose Albion? Daß wir noch da sind.«

»Daß unser Tasse noch da ist!« rief Pillnitz begeistert, Fischer und Heckerott nickten.

»Wenn wir nämlich dereinst mit unserem Erbfeind blutige Abrechnung halten,« belehrte Tasse, »dann machen wir auch gleich Schluß mit England. Da hat es keine Ausrede mehr, ran ans Messer! Nur nicht uns einwiechen lassen! Die Flotte müssen wir haben!« Ausfallend auf dem einen seiner Stiefel, stand Tasse in seinem vollen Ausmaß da und blitzte mit der Brille.

»Heil!« rief Pillnitz. »Stimmt auffallend«, sagten Heckerott und Fischer. Dann blieb es still. Die Lorgnons der Damen waren auf Tasse gerichtet. Tasse schob unbefangen sein Vorhemd, das während der Vorführung gerutscht war, in der Frackweste zurecht und suchte einen Sitz im Nebenzimmer auf, – augenscheinlich hatte er sein letztes Wort gesprochen.

Seine Verbandsgenossen folgten ihm. Kurz nachher trat auch Mangolf hinzu. Tolleben sah zerstreut aus. »Machen Sie der neuen Großmacht den Hof!« riet Alice Lannas ihm, da ging er. Der Reichskanzler erhob sich unentschlossen. »Eure Exzellenz«, bemerkte Terra, »werden sich wohl oder übel abfinden müssen mit dem Phänomen.«

»Früher oder später kommt es«, gab Lannas zu und verfügte sich lieber sogleich hin.

Die vereinsamten Damen rückten enger zueinander.

»Meine liebe gnädige Frau«, sagte die Altgott zu Frau von Fischer, »ich wünsche mir schon ewig lange, mich mit Ihnen einmal auszusprechen. Endlich! Was sagen Sie, mit Ihrer vornehm abwägenden Objektivität, nun zu der Geschichte von dem King, der bei Ritz mit Clemenceau –«

Das weißhaarige Frauchen unterbrach, freundlich, aber streng. »Meine liebe Frau Gräfin, ich weiß auch etwas: in der Markthalle verlangte heute die Person für ein Paar Tauben –«

Die Altgott schnappte nach Luft. Ihr Blick verwirrte sich, sie stieß ein blödes Lachen aus. Dann begriff sie: es war eine Belehrung, und setzte an, sie sich zu verbitten. Dann sah sie nebenan Lannas bei Tasse aushalten und Belehrungen empfangen. Und dann hielt auch sie aus.

Bellona Knack-Mangolf ließ die beiden reden, ob Haushalt oder Politik. Sie folgte, scheinbar unberührt, den Manövern ihrer Freundin Alice Lannas und dieses Terra. Alice war aufgestanden, Terra ihr begegnet. Sie setzten sich nirgends, sie wandelten. Die Entfernung zwischen den beiden Gruppen der Damen und der Herren erlaubte ihnen, wandelnder Weise sich ihre Geheimnisse mitzuteilen; Niemand hörte mehr als, wenn sie vorbeistreiften, ein abgerissenes Wort. Bellona mißtraute ihnen, obwohl sie korrekte Gesichter behielten.

Terra sagte: »Sind Sie zufrieden? Sie haben mich gepeitscht.«

»Gepeitscht«, hörte Bellona, und ihre Phantasie arbeitete im Rücken der Fortgehenden.

»Ich beschwöre Sie, tun Sie nichts Unwiderrufliches! Ich schweige davon, daß Sie mit gesenkter Stirn in Ihr eigenes unausdenkbares Unglück rennen. Ich flehe nur mit aller Kraft, die Sie in Ihrer unerbittlichen Rachsucht mir noch gelassen haben, um mein verfehltes Dasein, das unter mir kracht. Verschließen Sie Ihr reizendes Ohr nicht, ich habe noch niemandem mit Selbstmord gedroht.«

»Heute sind Sie galant. Darum verzeihe ich Ihnen, daß alles, was Sie mir sagten, ein Skandal ist.«

Da waren sie bei den Herren. Tolleben sah ihnen schon entgegen. Er suchte den Blick Terras, um sich an ihm zu messen. Es gelang ihm so wenig wie eine Begegnung mit den Augen der jungen Dame. Die beiden folgten, abgesondert und unzugänglich, ihrem Weg. Gereizt, aber entmutigt hörte Tolleben zu, was sein Chef sagte. Lannas, endlich zu Wort gekommen, erzählte eine Anekdote von Eduard dem Siebenten. Der Schluß war, daß der König von England Lannas mit seinem besonderen Haß beehrte. Der Reichskanzler hob dies hervor; er hatte seinen dramatischen Blick, wie im Reichstag, wenn er von Sockel zu Sockel mit England sprach. Seine Tochter freilich ließ sich nicht täuschen. »Papa empfiehlt sich den alldeutschen Spießbürgern«, stellte sie fest. »Da sehen Sie es, – und ich sollte nicht meine Maßnahmen für die Zukunft treffen? Ich habe keine Lust, herabzusteigen. Sie wissen es.«

Sie betraten das Gesichtsfeld der Damen, Bella Knack-Mangolf sah schnell weg; die Hofdamen Jerichow und Beuthin gaben sich nicht erst die Mühe. Sie verständigten sich mit den Lippen: hier ward gemogelt. Die kleine Lannas betrog den armen Tolleben noch vor der Ehe. Auch der Vater war blind. Die alten Damen verdrehten die Augen. »Gott ich sage!« dies schrie die alte Jerichow verzweifelt heraus. Die alte Beuthin schrie: » Quel Spektakel!«

Terra seinerseits nahm eine Miene an, als sei ein harmloser Scherz gefallen. »Was wir zusammen erlebten, mein Fräulein, war vom ersten Tage an ein Skandal. Heute bereue ich einzig und allein, daß ich nicht schon damals die gesunde Rücksichtslosigkeit besaß, Sie glatt zu kompromittieren. Dann würde die Frage des Herab- oder Hinaufsteigens in diesem Augenblick weder Ihnen noch mir irgend Kopfschmerz machen können. Der Vetter des Herrn von Tolleben wäre dann ganz vergebens persönlicher Adjutant bei Seiner Majestät.«

»Sie zu kompromittieren«, hörte Bellona so angeregt, daß sie nur mit Mühe ihre kunstgemäße Stellung aufrecht erhielt.

Alice sagte, zu den Herren zurückkehrend: »Es ist wohl wahr, mir wurde es nicht an der Wiege gesungen, daß ich an meinem Verlobungstag solche Dinge würde anhören müssen.«

»Sie verhöhnen mein Ende.«

Beide gaben sich den gesellschaftlichsten Ausdruck, denn Tolleben sah her – wenn auch nur unter der Hand und mit dem fühlbaren Entschluß, es sich nicht anfechten zu lassen. Er wußte, was er wollte. Zuerst die Hochzeit, dann der Herr sein und befehlen. Bei den Herren sah Lannas sich geradezu einer Nebenregierung gegenüber, die in den Ämtern Ohren und Hände hatte. Mangolf, auf den sein argwöhnisches Auge fiel, wandte sich eilig fort, er ging seinem Schwiegervater entgegen. Knack kam mit zwei jungen Leuten, er trat wie ein Oberbefehlshaber vor seine Garde hin. »Ihr eßt mein Brot, ihr arbeitet für mich«, sagte sein Schritt. Lannas verkannte es nicht, er hatte nicht einen wahren Freund hier. »Lieber Freund«, begann er, glatt und heiter wie je.

»Wenn Sie es denn nicht lassen können, Alice: warum nur gerade dies getünchte Grab?« fragte Terra flehentlich.

»Sie sind mein Freund«, sagte sie versöhnlich, »Sie dürfen fragen. Ich habe mich unter den Großen des Landes umgesehen. Bei jedem anderen wäre meine Sache noch schlechter aufgehoben als bei dem getünchten Grab. Richten wir uns häuslich darin ein!«

»Ich soll mitkommen?« fragte er frech.

»Sie sagten es schon: was wir taten, war von je nur Skandal. Fordern Sie, ich bin wehrlos.«

Da brach er lautlos in Weinen aus; Bellona sah es.

»Um des barmherzigen Gottes willen, wohin kommt es mit uns!«

Sie beherrschte sich um einen Augenblick länger. »Nehmen wir es, wie es ist«, sagte sie sanft. »Wir leben einer von des anderen Gnade.«

Jetzt aber mußte sie sich setzen. Sie setzten sich eine Strecke voneinander, sahen jeder geradeaus und schwiegen.

 

Für Lannas stand es so, daß diesmal zum Sieg über England nicht er selbst beglückwünscht wurde, sondern Knack. Tasse und Knack verbrüderten sich. »Na? Frankreich und England zusammen in der Falle! Ein schöner Erfolg!« Und Lannas blieb abseits. Er widmete sich der Begrüßung der zahlreich Erscheinenden. Hinter seinem Rücken wisperte Knack: »Hat er nichts verraten wegen Abschaffung der Todesstrafe?.. Grinsen Sie nicht. Tasse, gegrinst habe ich auch. Aber mein Schwiegersohn, Unterstaatssekretär Mangolf, warnt vor der Abschaffung als Mittel der Menschenbehandlung.« Worauf Tasse denn doch laut lachen mußte. »Heckerott, hören Sie das? Pillnitz, Fischer, hören Sie das? Gewisse Leute bilden sich Menschenbehandlung ein. Ausgerechnet Menschenbehandlung, was niemand raus hat wie wir! Wie heißt noch der Herr Abgeordnete? Ein deutscher Name war es nicht.« – »Terra«, sagte Knack, er wiegte zweifelnd den Kopf.

Die beiden jungen Leute aus der Begleitung Knacks hatten sich auf Frau Doktor Schwertmeyer geworfen, sie trennten den Abgeordneten von der interessanten Frau. Die schlanke Rotgefärbte kitzelte beide mit den Augen. Auf ihre Unverschämtheiten erwiderte sie gelassen: »Kinder, ihr bildet euch Schwachheiten ein. Worauf hin? Geheimrat Knack schickt Sie, Herr Doktor Mörser, manchmal zu meinem Mann. Nun und? Sie sind der Neffe des Geheimrats und mein Mann ist ein einflußreicher Politiker. Preußen fängt eben an, interessant zu werden.« Wobei sie dem kleinen Duckmäuser mit den Wimpern die frühe Glatze fächelte, so nahe kam sie ihm. Er feixte sie schmierig an. Der gutgewachsene Sohn des Zeitungskönigs Schellen lachte offen. »Goldene Worte, Gnädigste. Werden beherzigt.« Noch schneidiger: »Ehrenwort als Offizier, morgen hat Gatte bei uns Hymne.« Dies überlegte sich die Schwertmeyer, nach allen Seiten augenspielend. Da sah sie den Schwiegersohn Knacks, Unterstaatssekretär Mangolf, auf ihren Mann hinsteuern, Schwertmeyer schickte ihr sogar einen Seitenblick; und entschlossen wandte sie sich dem Duckmäuser zu, der Reserveleutnant war für heute entlassen.

Nichts hiervon entging den älteren Damen im dritten Salon. Da es voll und laut ward, konnten sie endlich schreien. »Du siehst es und glaubst es nicht«, schrie die alte Frau von Jerichow ihrer Freundin Beuthin in das Ohr. Die alte Gräfin schrie zurück: » C'est la Kanallje.« Dies rief das weißhaarige Frauchen des Oberadmirals auf den Plan. »Wir Bürgerlichen sind gefälligst der Hort von Zucht und Sitte«, schrie sie der Beuthin in das andere Ohr, das sich aber als völlig taub erwies. Gleich darauf triumphierte Frau von Fischer; Rittmeister Graf Haunfest trat auf, verfolgt wie immer von seiner Geschiedenen, der Blachfelder. Er sah aus und bewegte sich wie eine ungesunde Puppe, kein Mann war vor seinem schwärmerischen Augenaufschlag sicher. Dies hielt die Frau des Oberadmirals den alten Hofdamen mit lauter Stimme vor. Sie dagegen legten mehr Nachdruck auf das Treiben der geborenen Blachfelder. Fusselig und mit zerlaufendem Rot fuhrwerkte die reiche Person durchs Gedränge, die Perlen schwappten nur so, sie hatte sich auch schon wieder was abgetreten. Die Altgott tat noch das Beste, was sie als Hausfrau für die Tochter des Kalimagnaten tun konnte, sie brachte sie zum Büfett, in die Seitengalerie, nach der in allen Salons die Türen weit offen standen. »Nun zecht sie glücklich wieder«, bemerkten die älteren Damen und wandten sich vorläufig »ihm« zu.

Graf Haunfest ward sichtlich betört vom Anblick des jungen Schellen, der seinerseits Aug und Ohr nur für die gesonderte Gruppe Lannas-Mangolf-Schwertmeyer hatte. Fiel nicht das Wort »Todesstrafe«? »Bald gibt es Neues«, verhieß der Sohn des Zeitungsringes allen und ließ es sich weitersprechen. Den armen Gardeoffizier und seine zarte Schwärmerei übersah der kräftige Jüngling. Nur der Knacksche Neffe beachtete ihn – so auffällig, daß seine Dame es übelnahm. »Herr Doktor Mörser!« bemerkte die Schwertmeyer, »Sie haben die Ehre, mit mir zu plaudern. Ich bin die Frau, von der man spricht.«

»Was sagt man denn?« fragte er zerstreut und kokettierte heftiger nach Haunfest. Sein schmutzfarbenes Gesicht bedeckte sich bis auf die Glatze mit dünnen Fältchen der Habgier, die Augen wurden trüb vor Angst, auch zuckte eine Schulter, die höhere. Die schöne Schwertmeyer brach aus. »Sie sind eine Mißgeburt, Doktor Mörser! Ich als Frau könnte Sie glatt niederschlagen, und Sie wollen auch noch Besonderes? Weil es schick ist! Weil es aristokratisch ist, Sie Snob! Mißgeburt und Snob!«

Womit sie ihm, aufs äußerste beleidigt, den Rücken zukehrte. Graf Haunfest andererseits war entrückt, all seine Seele umhauchte, von seinem verlassen dastehenden Körper getrennt, den kräftigen Jüngling. Der Reichskanzler, der dem jungen Schellen eigenhändig gewinkt hatte, fragte mit unwillkürlicher Ehrfurcht im Ton nach dem alten Verleger. »Welchen Orden muß ich Ihrem Vater denn noch geben, damit er aus seiner Unsichtbarkeit hervortritt? Kein lebender Mensch hat ihn erblickt, Sie, Herr Schellen, wohl auch nicht. Existiert er? Ist er ein Mythus? Eine Erfindung seiner Blätter?«

»Der Sohn ist umso sichtbarer ... Es soll sich etwas Neues vorbereiten, Exzellenz«, bemerkte bei der Gelegenheit der Sohn der Zeitungen. Sofort bekam der Reichskanzler das witzige Grübchen. »Dies Gerücht ist sogar bis zu mir gedrungen«, – womit er sich schon fortschlängelte. Vor Schellen erschien Graf Haunfest, konnte aber noch nicht sprechen aus Ergriffenheit. Nachdem die Herren sich vorgestellt hatten:

»Sahen Sie nicht den Reichskanzler, Herr Schellen?«

»Bis zu dieser Minute stand er doch bei mir, Graf Haunfest.«

»O Gott! Ich sah nur Sie.« Errötend unter der leichten Kunstfarbe. Der Jüngling lachte kräftig.

»Verzeihen Sie, daß ich Uniform trage!« lispelte der Betörte, wer weiß welchem Zartgefühl zufolge. »Ich bin im Begriff, zur Diplomatie überzugehen, man ist draußen auch freier.« Alles bei der Begleitung des Gelächters, und doch welches unverdiente Glück, sprechen zu dürfen zu dem Schönen! Dieser aber machte Schluß. »Wenn Sie den Reichskanzler suchen, müssen Sie einem Jodoformgeruch nachgehn ... Nein, ihm fehlt nichts; aber wo Politik gemacht wird, riecht es so. Preußen fängt an, interessant zu werden«, setzte er frech hinzu.

Graf Haunfest wagte es, nach der Hand des Erwählten zu tasten, ja, sie zu drücken ... Die Hacken zusammengeschlagen und fort, verschlungen jeder von einer anderen Welle kalter, gleichgültiger Menschen.

Im nächsten Augenblick lief Alice Lannas quer durch den Salon, es fiel auf, sie hatte Herrn von Tolleben glatt stehen lassen. Ein Streit, das fing gut an, oder war es das Ende? Die arme Altgott ward weiß und rot. Welch ein Aufsehn! So stand es nicht mehr für Alice, daß sie Tolleben laufen lassen konnte. Lannas mit seinem guten Herzen beging einen schweren Fehler. Er war gegen Tolleben, weil er fühlte, daß Alice ihn im Grunde nicht liebte. Aber dies Spiel mit dem fragwürdigen Jugendfreund? Es war nicht so harmlos, er hätte es nicht begünstigen sollen! Die fassungslose Altgott kam zu nichts. Sollte sie Tolleben, der preisgegeben dasaß, mit ihrer Person decken? Oder mußte sie, im Sinne Lannas', allem zusehn?

Alice Lannas begann zu tollen. »Nu tollt sie«, schrie die alte Jerichow. »Und mit wem tollt sie? Mit der betrunkenen Blachfelder!« – » C'est le fin de la monde!« schrie die alte Beuthin. Alice Lannas aber durchbrach die drängenden Herren, plötzlich sah sie aus, als kennte sie keine Blachfelder. Ohne alle Tollheit, mit der hochmütigsten Miene trat sie zu Frau Mangolf, die absichtlich an ihrem Gatten vorbeiging und ihm ein Wort hinwarf.

»Ich weiß jetzt einwandfrei, daß Alice und Terra –«

»Weniger als je, Bellona«, sagte Alice und hielt sie einen Augenblick an. »Ich bin sogar vernünftiger als Du. Wenn ich jemand liebte, würde ich ihn mitten in seiner schönsten Karriere nicht heiraten, denn eins würde man einander vorwerfen, die Karriere oder die Liebe. Viel eher, wenn er gar nichts wäre.«

»Das hast Du versäumt«, sagte die Freundin.

Die Salons inzwischen leerten sich in die Galerie, auch die dauerhaftesten Gruppen mächtiger und reicher Herren, die einander für etwas zu benützen suchten, verfielen der Auflösung und ließen gewichstes Parkett zurück. Trotzig verharrten nur die um Tasse. Sie versperrten eine der Türen zum Büfett; sie fingen die Diener mit Gläsern und Flaschen ab. Knack stieß das Knie einem Diener ins Gesäß. Er leistete es sich, es war ein Lakai des Geburtsadels! »An der Quelle saß der Knabe«, bemerkte Tasse hierzu. In gute Laune versetzt, gab der Oberadmiral laut etwas zum Besten, eine Begegnung mit seinem englischen Kollegen.

»Pizzter sagte zu mir: ›Fischer, alter Bursche, ich freue mich auf nichts in der Welt so doll, als wenn es zwischen uns und zwischen Euch mal losgeht!‹ – ›Tu ich ebenso!‹ sag' ich. – ›Werd' Dir aber in die Segel spucken!‹ schreit nun Pizzter ...« Fischer schrie noch mehr als damals Pizzter. »Alter Bursche! schrei' ich, ich bin Feuerfresser. Ich freß Dir Deine Maschinen leer!«

Die vom Büfett Herbeigeströmten lachten, Gläser in der Hand, Beifall. Wohltuende Naivität eines alten Seebären! Inzwischen überzeugte Fischer sich, daß auch Lannas dabei war und daß er sich Witze erlaubte zu seinem Nebenmann, einem gewissen Terra, dem mit der Todesstrafe. Die unter Alkohol gesetzten Augen des falschen Seebären sahen alles mit größter Kälte. »Darum unser allverehrter Reichskanzler Hurra!« schrie er unvermutet; worauf Lannas wohl danken und sich einlassen mußte. Er tat es freilich nur mit Stirnrunzeln und ernstem Nicken bei jedem der Schlagworte, die aus der Bande fielen. Handelsneid Englands, Verständigung macht uns zu Landsknechten, wir sind Sklaven, wenn wir Schiffe nicht bauen wie wir wollen, slawische Gefahr, Erbfeind, gelbe Gefahr ...

»Und die Maul- und Klauenseuche?« sagte das Herrenhausmitglied von Jerichow trocken, mit den Händen in den Hosentaschen. Lannas nickte nur noch ernster, indes Tasse und der Oberadmiral mit ihren Freunden anstießen auf den endgültigen Sieg über alle Gefahren. Knack hatte Zweifel, er sagte hinter der Hand zu dem mächtigen Bankier Berberitz: »Ist das geschäftlich nun eigentlich zu wünschen?« Berberitz antwortete durch Wiegen des Kopfes.

Außer ihnen protestierte jemand hinter Lannas, wenn auch nur mit Zischen, das nicht durchdrang. Gubitz drang nie durch; Lannas neigte das Ohr, der Intrigant des Auswärtigen Amtes zischte hinein: »Keine saubere Arbeit denkbar bei Einmischung solcher Banausen!« – »Unsere saubere Arbeit?« fragte Lannas, tief müde im Ton. Aber der Wirkliche Geheime Legationsrat zischte, eine gekrallte Hand in der Luft: »Vorbauen, Aufspüren, wieder Vorbauen!« Und Lannas: »Ihre indischen Geistesübungen, Gubitz. Vielleicht sind Sie der Letzte.«

Da schnitt eine scharfe Stimme überdeutlich durch den lagernden Rauch der Schlagworte. »Meine Herren, da es nun einmal unerschütterlich feststeht, daß wir gar nicht genug Feinde haben können, gestatte ich mir mit aller gebotenen Entschiedenheit auf eine Lücke hinzuweisen. Rußland hat noch kein Bündnis mit Großbritannien. Die Lücke kann uns verhängnisvoll werden. Ich habe gewarnt.«

Dramatische Überdeutlichkeit, manche lachten, als kämen sie zur Vernunft. Der Abgeordnete Schwertmeyer entfernte sich im Bogen. Die um Tasse blickten auf ihn, bevor sie zugaben, sie hätten verstanden. Tasse warf den Bauch herum, jemand brachte sich in Sicherheit; und er sagte mit ganzer Wucht:

»Sie! Herr Abgeordneter Terra! Wir sind schon mit anderen Leuten fertig geworden. Aber sehr!« schrie er, gesträubt und tückisch. Auf einmal war der Abgeordnete es nicht gewesen. Stumm, aber den Mund vor Schrecken rund geöffnet, suchte er nach allen Seiten zu bezeugen, daß er, Hand aufs Herz, es nicht gewesen sei. Jemand sagte gedämpft: »Gelungener Kollege, – und er sticht Tolleben aus, im letzten Augenblick vor der Verlobung.« War es Knack? Lannas sah sich um. Dabei fand er, daß seine Tochter schon wieder Sitzung mit Tolleben hatte. Es gab keinen Frieden, auf keinem Gebiet! Draußen beim Büfett saßen sie an einem der Tische; der gehetzte Staatsmann nahm sein munterstes Lächeln zu Hilfe, um dazwischenzutreten. Aber Tasse wachte. Beim ersten Schritt, den Lannas tat, schritt Tasse ein, hinfunkelnd aus den schiefen Wülsten seiner Augen.

»Unser Reichskanzler macht seine Sache soweit ganz gut. Leider ist sein Verkehr nicht immer ein gut deutscher.«

»Juden!« krähte der berühmte Pillnitz. Der General von Heckerott knirschte dazu. Tasse schloß:

»Wir passen nun eben Achtung auf die völkischen Belange.«

Lannas, den alle ansahen, entschloß sich zu launiger Überlegenheit. »Völkische – wie sagten Sie? Sind das Wurstwaren? Haben Sie sie in Ihrer Speisekammer?«

Allseitige Heiterkeit, – aber das Funkeln in den schiefen Wülsten sagte: »Jetzt hast Du Dich verraten. Dies wird Dir nie vergessen. Eines Tages bricht dies Dir den Hals.« Lannas begriff; er ward früher ernst als die anderen. Wollte strafend aussehen und behauptete doch nur gerade den Platz. Sein Freund der alte Jerichow half ihm, lang und hager trat er vor den dicken Oberadmiral hin.

Terra wartete den neuen Zwischenfall nicht ab, dort vorn beim Eingang erblickte er eine Erscheinung aus alten Tagen. Bevor er sich aber losgelöst hatte, lag ihm eine Hand auf der Schulter: Knack, der sagte: »Ihr Weizen blüht. Freut mich, Kollege, daß Sie es doch noch zu was gebracht haben.« Terra wandte sich halb um, er musterte Knack höchst aufmerksam: dies endgültige Vergessen der dreisten Späße, die ein noch Namenloser sich einst erlaubt hatte mit dem mächtigen Industriellen, diesen Beschluß, sich vorsichtig anzunähern ... Terra sagte: »Ich war von jeher Ihr besonderer Verehrer. Nur im Hinblick auf Sie, Herr Geheimrat, ist es mir gelungen, doch noch ein brauchbarer und glücklicher Mensch zu werden.«

Der Oberadmiral hatte »Ertüchtigung zur See« gesagt, was dem alten Jerichow mißfiel. »Bei mir sitzt Preußen zu Pferde«, äußerte er durch seine Hakennase. »Reiten, Herr Fischer, erhält Figur. Kahnfahren macht Bauch.« Er betrachtete mit scharfen Schlitzaugen den Bauch des »Herrn Fischer«, und nicht nur seinen, auch Tasse sah sich angezweifelt. Sogleich faßte er Fuß, ganz Wotan. »Herr Kammerherr!« Revolutionär betont. »Herr Kammerherr, ich als Medizinmann sag' Ihnen glatt vorher, an was Sie mal draufgehn.«

Erschrocken wich der Reiter, hierauf war er denn doch nicht gefaßt. Lannas seinerseits verfügte sich näher an den Wotan, in seinen Dunstkreis von Jodoform. Lannas fand es höchst geboten, auszugleichen, Verbindungen zu sichern. »Verehrter Professor, Sie sollten in den Reichstag eintreten«, versuchte er. Tasse blieb ungerührt. »Das möchten Sie wohl. Mein Alldeutscher Verband hilft besser – gegen schlappe Diplomaten.«

Lannas ließ es sich gesagt sein, aufgereckt erstrebte er die Höhe der Tasseschen Energie. »Trotzdem sind wir Kollegen, Professor. Diplomatie ist Arbeit in Menschenfl – fleisch«, bemerkte er entschlossen. Es war von Bismarck. Würde Tasse ihm glauben, es sei von Lannas? Tasse glaubte es. Für den Augenblick war er besänftigt, er gab die rauhe Hand. Den Augenblick benutzte Lannas, zu entkommen. Er wandte sich dem Büfett zu. Unterwegs fiel ihm ein, nun gerade den Abgeordneten Terra mitzunehmen, er winkte ihm.

Terra vollzog einen Händedruck mit Knack, der ihr Gespräch zusammenfaßte: »Wir sollten uns nähertreten, Kollege.« Von fern sah Mangolf dem zu; er hütete sich, zwischen die Mächte Lannas und Tasse zu geraten. Er steuerte sein zerbrechliches Glück auf seine Art ... Dahinten ragte noch immer die Erscheinung aus alten Tagen, Terra wollte hin, da winkte Lannas, er folgte ihm.

Sie nahmen an dem Tisch Platz, den Alice und Tolleben verlassen hatten. Man sah sie noch fortgehn. Lannas sagte: »Ja, die Kinder! Sie haben heraus, was weh tut.« Kein Wort über Tasse. Lannas fürchtete vielleicht die Sorte, aber sicher war, daß er sie verachtete. Er sah der Tochter nach und unterdrückte einen Seufzer, denn die anderen Tische, soeben noch lärmend, dämpften ihre Gespräche, um zu horchen. In zerstreuter Haltung aß er reichlich Rehrücken mit Sauce Cumberland. Da er sich belauscht wußte, verband er politische Gedanken mit der Sauce. Sie war scharf und süß, genau die Mischung, die den deutschen Politikern zu häufig fehlte. Sie wurden unliebenswürdig, sobald sie durchdringen wollten. Kraft ward aber durch Geschmack erst beglaubigt! Nun, dies galt dennoch der Bande. Inzwischen wurden die Gespräche wieder lärmend. Plötzlich begann Lannas:

»Es hat keinen Zweck, lieber Freund, daß ich schweige. Sie sind der Freund meiner Kinder, Sie kennen die Tragödie meines Hauses.« Viele schräge Stirnfalten und die gereizte Stimme, die so häßlich ward.

»Eure Exzellenz dürfen nicht unglücklich sein«, sagte Terra. »Wer es ausbaden müßte, sind wir Deutsche.«

»Es wäre verhängnisvoll. Aber ich bin auch Vater. Ist es nicht natürlich, vor allem Vater zu sein? Wenn Alice ihn wenigstens liebte! Ich habe den Eindruck, sie liebt ihn nicht. Mein Kind – nicht ich, mein Kind wird unglücklich. Wieso ich? Der Abstand zwischen mir und ihrem Auserwählten erregt Gelächter.« Er versuchte zu lachen.

»Dann wäre es eine politische Heirat?«

Lannas sah Terra an, was er wisse. Da er nichts als eine dramatisch bewegte Frage fand, aß er hastig den Krabbensalat zu Ende und befahl nochmals den Rehrücken. Bitteres Auflachen. »Heiratet man in politischer Absicht einen Dummen? Der Mann ist dumm. Die Art Dummer beherrscht man nicht, sie bocken.«

»Mithin eine überwundene Gefahr«, sagte Terra von unten. Wieder die Musterung, aber unaufhaltsam brach es aus dem Staatsmann. »Die Maske! Er hat nun einmal die Maske. Das wäre nichts, aber es wirkt auf den Kaiser. Der Kaiser ist historisch beeinflußbar, am meisten durch Geschichte in Form von Maskeraden.«

Das Gesicht seines Gegenüber sah aus, als hörte er nichts; er hörte aber heimlich von derselben Stimme: »Der Kaiser ist so bedeutend.« Umso ungehemmter sprach der Reichskanzler. »Der Mann mit der Maske kann an meine Stelle treten: das Verhängnis ist nicht auszudenken. Das Verhängnis für Deutschland, für die Welt! Von mir selbst spreche ich nicht. Ich bin gesättigt.«

In der Tat schickte er den Rehrücken endgültig fort, ließ aber Kuchen bringen. »Ich tue meine Pflicht, meine harte Pflicht –« mit einem Mohrenkopf an der Gabel. »Was liegt einem Kulturbestrebten an der Macht, ich bin ihr erstes Opfer. Ich möchte alles hinwerfen, leider bin ich unentbehrlich.«

Zweiter Mohrenkopf, erstes Cremetörtchen, ihm kamen Tränen der Rührung, über sich, über sein Kind. »Es ist mein Kind, das mir Knüppel zwischen die Beine wirft. Was kann ich gegen mein Kind, es entwaffnet mich.«

Terra, zu sich selbst: »Herr General von der Platze ist Flügeladjutant bei Seiner Majestät geworden. Ist Herr General von der Platze nicht der Vetter des Herrn von Tolleben?«

Die Rührung war dem Reichskanzler vergangen. »Das hilft ihm nichts«, sagte er schnell. »Ich war früher da, ich habe beim Kaiser gegen Platze gearbeitet, er hält sich nicht lange.« Und einmal in der Fahrt: »Was wollen meine Feinde tun. Ich bleibe, das ist die Forderung der Stunde, sagt Goethe. Mir hilft alles. Die Alldeutschen, wenn sie mich hassen; denn der Kaiser mag sie nicht. Sie selbst, mein Lieber: wenn es durchaus sein müßte, würden Sie mir helfen.«

Hier senkte Terra die Augen, er glaubte verstanden zu haben. Er hätte die Tochter entführen können: der Gedanke war ihr und auch dem Vater gekommen. Sie hoffte auf dem Wege ihren Kopf durchzusetzen. Der Vater aber machte den Entführer der Tochter zum Geheimrat und gab sie ihm, fertig. Keine Bedrohung seiner Stellung mehr auf der schwächsten Seite, was tat man nicht für die Macht ... Terra zögerte doch, zu glauben, daß man auch dies für sie tue; mit Vorsicht sah er auf. Lannas war sehr rot. Übrigens hatte er alle Kuchen gegessen.

Der Reichskanzler stand auf; Terra bat, ihn verlassen zu dürfen, er sehe einen alten Bekannten, Herrn Hummel. »Der Dichter? Mein Freund?« sagte der Reichskanzler. »Gehen Sie voran! Ich frage nur Jerichow, was die alldeutsche Räuberbande sich inzwischen geleistet hat.«

Ohne Frage war es Hummel, der Mann der Weltwende, er stand, vom Fluß der Menschen stehen gelassen, noch immer allein bei der Vase, inmitten des ersten Salons. Nach seinen Erinnerungen würde Terra ihn nicht erkannt haben, aber das jetzige Gesicht Hummels war oft in illustrierten Blättern zu sehen. Er hatte sich inzwischen rasiert und seine Stirn war gewachsen, auch saß sein Frack vollendet. Näher kommend bemerkte Terra, daß er trotz Falten jünger aussah als der Hummel von einst, der gehungert hatte. Vor ihm angelangt freilich sah er Kniffe um den Mund, dem Zigeuner waren sie so fremd gewesen wie die feierliche Schüchternheit, womit der Berühmte dastand. Terra bezog alles auf sich, er begann mit Verwahrungen. »Sie kennen mich nicht, Herr Hummel, und ich Sie nur als den Meister, den jeder kennt. Als wir vor langer Zeit einige Worte wechselten, waren Sie noch in Wolken gehüllt und ich ein belangloser Wildling. Fürchten Sie keineswegs, daß ich mir Bekanntschaft anmaße! Ich habe für Sie die Verehrung, als seien Sie unmittelbar vom Olymp gestiegen.«

Er wiederholte einige Male mit anderen Worten dasselbe. Hummel lächelte aus falschen Zähnen, die echten waren dem Elend seiner Jugend zum Opfer gefallen. Die Floskeln Terras mißfielen so wenig ihm wie Lannas. »Ich kenne Sie«, sagte er gnädig. Dann: »Welches meiner Stücke lieben Sie am meisten?« Worauf Terra zu stammeln begann. »Wer bin ich, daß ich wählen dürfte? Überall Ihr tiefes Mitleid mit uns Menschen ...? Und wir sind doch wahrhaftig vom Galgen geschnitten –« auf einmal klar und scharf, Hummel erschrak. Indes kam Lannas.

Er ging heiter gebläht durch den vollen Salon, aber in dem leeren sah er enttäuscht und verfallen aus. »Die Leitung eines politischen Kindergartens strengt weit mehr an als die Herren glauben«, er seufzte fett. »Die Geister der Nation liegen mir im Grunde besser als ihre Geschäftsleute.« Zu Terra besonders: »Mit meinem Freund Hummel verbringe ich meine seltenen freien Stunden in meiner Bibliothek.« Aber es ward noch von anderen gehört; eine Staffel Schmeichler begann sich bis in die Nähe des Reichskanzlers zu erstrecken. Man sagte, laut genug für ihn: »Die Gruppe der Persönlichkeiten!« – »Der leitende Staatsmann mit dem ersten Dichter!« – »Solche Freunde hatte Bismarck nicht!« – »Mit dem dritten schafft er die Todesstrafe ab.« – »Der Kanzler der Kultur!« Lannas sagte, gleichfalls laut genug: »Der Kaiser ist gegen die moderne Richtung, wie Sie wissen. Ich nicht – und ich wahre meine Unabhängigkeit. Gerade das gefällt dem Kaiser, er ist kein Philister. Und leise: »Die Leute bekommen Beschäftigung, gleich wird Musik gemacht.«

Wirklich sammelte die Altgott persönlich ihre Gäste in dem zweiten Salon um den Flügel. Aus der Galerie trat ein blutjunges Mädchen mit allen Zeichen starken Selbstbewußtseins und gefolgt von ihrem schönen und gewandten Pianisten. Für den Beifall, den sie empfing, dankte sie wie für etwas Geschuldetes und stimmte ein Lied an. Unter dem Schutze der Musik verriet Lannas seinen beiden Vertrauten Geheimnisse.

»Meinem Freunde Hummel kann ich die größte Sensation nach einer halben Stunde noch einmal erzählen, er hat sie vergessen. Sie aber, Terra, suchen in der Politik etwas anderes, wir verstehen uns. Was ich dem Reichstag verschweigen muß und den hier vereinigten Tiergattungen lieber vorenthalte, zu Ihnen, zwei Menschen, kann ich mich davon erleichtern.« Kleine feierliche Pause.

»Wir sollten gemeinsam mit Frankreich und Rußland in London Vorstellungen erheben wegen der Buren. Wir haben Bedingungen gestellt, die den Schritt vereiteln mußten, und haben England davon in Kenntnis gesetzt. Es weiß, welchen unvergleichlichen Dienst wir ihm erwiesen haben. Wollen Sie, zwei Menschen, unter diesen Umständen England für unseren Feind halten? Die Flottenvereinler werden es nicht fertig bringen, uns mit ihm zu verfeinden. Es gibt in der Politik menschliche Faktoren, die den machtpolitischen die Wage halten. Ein menschlicher Faktor ist die Dankbarkeit.«

Lannas sprach in einem Zuge, es mußte ein gewohnter Gedankengang sein. Terra war erschrocken; Dankbarkeit? Weil man hier einmal die andern an England verraten hatte und nicht England an die andern, wie in Marokko? Er suchte das Gesicht Hummels, aber Hummel hatte einzig Sinn für den reichen Beifall, den die junge Sängerin empfing. Die Kniffe um seinen Mund verschärften sich. Auch Lannas ward abgelenkt; das Zusammensein der Abgeordneten Schwertmeyer und Berberitz zog ihn sichtlich an. Sie standen jenseits des Konzertpublikums, unter der Tür nach dem dritten Salon.

»Ich treibe Machtpolitik«, sagte Lannas doch noch, »und ich treibe sie mit Überzeugung. Aber auch die Humanität hat ihre Politik: die Humanität, denn es gibt nicht nur eine falsche.« Hierüber noch drei oder vier Sätze, Terra war auf dem Sprung, die Abschaffung der Todesstrafe hier einzuschalten; aber Lannas, der es ihm möglichenfalls ansah, nahm eine andere Wendung. »Bismarck konnte nicht schlafen aus Furcht vor feindlichen Koalitionen. Da bin ich anders. Im Grunde glaube ich an die Friedfertigkeit der Völker. Es handelt sich darum, ihnen den Frieden so glänzend, ruhmreich und seelisch bewegt zu gestalten, wie sonst nur der Krieg ist ...« Hier hielt er den Anblick der konferierenden Abgeordneten nicht mehr aus, plötzlich ließ er die Freunde seines Geistes stehen und schlängelte sich im Halbkreis um das Konzertpublikum. Terra, der ihm offenen Mundes nachsah, besann diese gewagte Geistesart. Die Sätze über Menschlichkeit hätten er selbst und sein Freund Mangolf einstmals sprechen können, in der Kammer Mangolfs, mit achtzehn Jahren. Sie freilich hatten sie aus Schamgefühl unterdrückt. Lannas, der eine Flotte bauen ließ und mit der Bande Tasses und Fischers auf den Fersen abwechselnd jede der fremden Mächte gegen sich aufbrachte, erhielt eine Falte seines Herzens so gutgläubig, das sie von selbst zu sprechen begann. Zum erstenmal rührte er Terra.

Hummel hatte eigene Schmerzen. Die junge Sängerin, der an Erfolg nichts mehr zu wünschen übrig blieb, holte aus der Galerie einen grauhaarigen Mann hervor und führte ihn dem Publikum zu. Seine schweren Schuhe wären zu laut auf dem Parkett. Wie er nun dastand in seinem abgetragenen schwarzen Rock, das Geräusch des Beifalls trinkend, zeigte sein leidengewöhntes Gesicht mehr Angst als Glück. Die Stunde des Erfolges, ein Menschenalter erhofft, war da. Endlich waren seine Lieder gesungen. Ein Kind, das schon den Ruhm kannte, machte gnädig auch den Greis mit ihm bekannt. Er verbeugte sich, dabei fielen aus seinen Augen die Tropfen ... Hummel aber, der schon auf allen Bühnen Deutschlands die Sympathie der Welt entgegengenommen hatte, ward entstellt von der Qual dieses Anblicks. Terra meinte: sein berühmtes Mitleid. Da sagte Hummel: »Und wer bin ich? Wenn ein einziges Mal eine glänzende Gesellschaft, reiche Herren, schöne Frauen, zusammenkämen, einzig und allein, um mich glücklich zu machen für eine Nacht!«

»Das muß ich unter ganz anderen Umständen schon einmal von Ihnen gehört haben. Ist nichts verändert seither?«

»Nein! Nichts!« sagte Hummel, als verwahrte er sich.

Frau Bellona Knack-Mangolf trat dazwischen. Sie mußte unbedingt Hummel zur Rede stellen. »Ich verehre Sie, Herr Hummel.« Arme rechtwinklig nach oben, die Handfläche offen hingelegt. »Gerade darum darf ich Sie fragen, wie meinen Sie das. Bei Ihnen haben immer nur die armen Leute alles für sich, wir Reichen aber kommen schlecht weg. Wie meinen Sie das eigentlich?« Von ganz oben mit beleidigtem Schnäuzchen.

Plötzlich stand vor Terra der junge Schellen und sagte, die Absätze zusammennehmend: »Gratuliere. Bin ich der Erste?« Da der Beglückwünschte nur die Zunge rollte: »Nun, die Konferenz des Reichskanzlers mit den Abgeordneten –« Er unterbrach sich. »Was schneiden Sie für Gesichter, Herr Abgeordneter. Es ist ein glatter Erfolg. Sie sind der Held des Abends. Schicken Sie mir ihr Bild für die Zeitung! Erinnern Sie sich gefälligst, daß ich der Erste war.« Schon kamen andere.

Hatte Lannas sich zu der Politik der Humanität entschlossen? Terra ward es heiß und kalt. Die Entscheidung! – und sie kam im verblüffendsten Augenblick, inmitten des größten Durcheinander der Eitelkeiten, der Bosheiten, der Kämpfe und das Falsche, der Kämpfe um nichts. Sie kam zur schlechten Stunde; aber wann je schlug die bessere? Angesichts der Entscheidung bereute Terra, gekämpft und auch, gesiegt zu haben ... Die Konferenz, um mehrere Abgeordnete vermehrt, hatte sich bis in den dritten Salon ausgedehnt. Wer hinhorchte, brachte ein Wort zurück: »Abschaffung der Todesstrafe«, und sprach es aus wie das lang erwartete Schicksalswort. So wirkte es auch. Terra, von Händen, die die seinen schüttelten, in die Mitte gezogen, sah manche Gesichter erbleichen und traf gewisse Augen, die vom Mißerfolg erstarrten. Von fern starr hergerichtet, die Augen Alice Lannas', in dieser Stunde seine Feindin.

Einigen weniger starken Politikern ward es unwohl vor Neid. Knack hingegen informierte sich bei Schellen, ob es wahr sei. »Preußen fängt an, interessant zu werden,« antwortete der Sohn der Zeitungen und zeigte auf Terra, den Damen umringten, die Schwertmeyer, die Blachfelder, »nur das Interessanteste.« Da winkte Knack von fern wie der nächste Freund, der mit dem Helden längst ein Herz ist. Auch Graf Haunfest ging mit dem Erfolg, er machte Terra Augen. Einzig Bankier Berberitz maß ihn mit einem abschätzenden Blick von unendlicher Melancholie. So viel war geschehen, als Mangolf erschien. Er sagte warm: »Wie fühlst Du Dich im Erfolg?« Ein Blick zur Seite, unmerklich verzogener Mund, sie hatten sich verständigt. Der Erfolg war nichts, war entwertet durch alle diese Wesen, die nichts bewegte als eben nur er. Kein Gedanke, kein Mensch, der Erfolg. Nie gestillte Jagd, man ward in sie hineingerissen ... »Einen Augenblick!« bat Mangolf; und als es ihm gelungen war, den Freund abzusondern: »Jetzt fasse Mut, mein lieber Klaus, Dein Erfolg ist ein falsches Gerücht.«

Terra fuhr furchtbar zusammen. »Hart, nicht wahr?« sagte der Freund immer wärmer. »Huldigungen, man kann sie verachten; aber wenn sie, kaum geschmeckt, sich verkehren in – Du wirft sehen, in was ... Wozu der Witz? fragst Du. Ja, so sehen die Witze Lannas' aus. Du bist sein Vertrauter, daher kennst Du ihn nicht ... Wie sollte er an die Abschaffung der Todesstrafe denken, er weiß zu gut, daß in einem Staat wie dieser überhaupt nichts abgeschafft wird. Aber für den Fall einer allerhöchsten Laune setzt er ein unverbindliches Gerücht in Umlauf.«

»Ich verstehe, mein lieber Wolf. In Wirklichkeit erzählt er meinen Kollegen Jagdgeschichten.« – Den Freund focht dies nicht an. »Nein. Er ist kein Jäger. In Wirklichkeit macht er mit Deinen Kollegen ein Geschäft. War das nicht das Nächstliegende? Die Abgeordneten sollen die vollen Diäten beziehen, auch wenn der Reichstag die halbe Zeit Ferien macht. Nenne es nicht Bestechung, es ist ein urbanes Mittel gegen die Opposition, eigenste Erfindung Lannas'.«

»Preußen fängt an, interessant zu werden«, sagte Schellen, der lange Ohren machte.

»Keinen Augenblick, mein lieber Wolf, zweifle ich an Deiner herzlichen Genugtuung, mich auf die rechte Fährte zu bringen«, schloß Terra. Mangolf zuckte die Achseln und ging weiter. Lannas hatte seine Besprechung beendet, ihm war eingefallen, die Altgott müsse singen, seine Freundin durfte nicht zurückstehen hinter dem Erfolg des jungen Mädchens. Alles sah die Altgott plötzlich herdrängen, sie wehrte sich erschreckt; aber ihr inniger Blick suchte Lannas. Nur er fühlte so zart! Sie sang eine Ballade. »Gut erhaltene Stimme, aber sie spricht schlecht aus«, sagte jemand, worauf Schellen den Text angab: »Der King saß bei Ritz mit Clemenceau ...« Terra stand verlassen, auch von Hummel, und nicht einmal mehr Graf Haunfest machte ihm Augen. Die Politiker, denen bei seinem Erfolg unwohl geworden war, sahen ihn neuerdings mit Mißtrauen an, wie einen Hochstapler. Dabei hielten sie schon wieder ihre verdächtigen Zwiegespräche mit dem glatzköpfigen Neffen Knacks. Dieser selbst, ganz Verehrer der Sängerin, wandte den Rücken her. Tolleben würdigte Terra so wenig seiner Schadenfreude, wie er ihm seinen Glückwunsch gegönnt hatte. Ironie in den geistreichen Augen der Komtesse Lannas; und sogar die tauben Hofdamen hatten etwas gehört, sie schrieen einander in die Ohren von einem Charlatan, der das Leben hatte über Gebühr verlängern wollen und natürlich versagt hatte.

Jemand sprach Terra doch an. Ohne sein Erstaunen zu beachten, sagte Erwin Lannas: »Ich bin nur zufällig heute Abend im Frack. Wäre nicht hergekommen, wenn ich gewußt hätte, was hier los ist. Wollte mit meiner Schwester allein sprechen, über eine Idee von ihr, die ich falsch finde. Statt dessen sagen mir hier schon mehrere Leute, die mich nicht kennen, daß die Idee noch heute zur Ausführung kommt, und meine Schwester weicht mir aus. Ich gehe daher. Auch Sie sind unzufrieden, kommen Sie mit? Glauben Sie nur nicht, daß Alice zufriedener ist als wir. Sie aber kann wohl nicht mehr fort.«

»Auch ich will bleiben«, sagte Terra, – und während des Augenblickes, den er an sein Gegenüber nicht dachte, war er entglitten wie das Gegenüber in einem inneren Dialog. Terra war auf einmal entschlossen zu tragen, was noch soeben schwer schien, Unglück, Verlassenheit und den ungewissen Kampf. Er atmete auf. Feinde, die nicht mehr Glück wünschten, wirkten natürlicher, er selbst im Zustand der Erfolglosigkeit war sich vertrauter. Der Kampf, der ihm schon Reue hinterlassen wollte, lohnte wieder. Den Mund so fest verschlossen, daß Knoten aus den Winkeln wurden, wer weiß welche Anzüglichkeiten im melancholisch brennenden Auge, sah man ihn dastehen und war versucht zu glauben, ihm bleibe noch ein Trumpf ... Da brach die Sängerin mitten drin ab, Stühle wurden gerückt.

 

Auftritt von der Platze, Generaladjutant, Lannas ihm schnell entgegen, die Altgott winkt den Dienern schon, wegzuräumen. Alle haben erfaßt: Auftritt von der Platze, Majestät schon im Haus. Damen überstürzt noch vor die Spiegel. »Erlauben Sie, lassen Sie doch mich 'ran, gnädige Frau!« Kennen wir, folgt Generaladjutanten auf dem Fuß, Herren Brust mit Orden raus, dalli ins erste Glied. »Bedaure, Exzellenz. Sehe jeder wo er bleibe!«

Letzte Minute, bleiche Erwartung, Schnaufen der jäh erregten Herzen, eine Dame lacht wild auf. Lannas befördert schnell noch Dichter Hummel. »Lieber Freund, so leid es mir tut –« Hummel trab trab ab, linken Treppenarm. Lannas kopfüber rechten, zu spät, Majestät steigt links. Augen links. Aufmarsch Majestät.

Seine Herren mußten sich in Schwung setzen, so lief er. Dem Reichskanzler ging er durch, an der Altgott war er vorbei, noch saß sie knicksend am Boden. Wer früh genug aufkam aus dem Hofknicks und der großen Rumpfbeuge, sah ihn die Lippe kauen, der Schnurrbart, Spitzen in die Höh', schaukelte bedrohlich. Mit Falten um die Augen stürzte der rote Husar durch die zusammenbrechenden Reihen, nicht anders, als sei im letzten Zimmer der Feind auszuheben. Flüstern und Raten, wo er vorbei war. »Majestät nicht in Form. Pech, hat Hummel gesehen. Rücken hinhalten. Wie Gott will ... Ich? Gehe.« Aber alle blieben, erwarteten die Rückkehr des Herrn, scharrten am Fleck, – und nun er kam, schoben sie sich nach, wohin er seine schroffen Wendungen machte.

Er sprach nun doch die Hausfrau an. »Habe Sie sehr gut noch heulen gehört. Sie heulen. Schlechte Schule.« Die Altgott, unter allen Blicken, die sie restlos verleugneten, stammelte etwas von begreiflicher Bestürzung durch unvorhergesehene allerhöchste Ehrung. Lannas lächelte unbeirrt. Einzig das weißhaarige Frauchen des Oberadmirals griff ein. »Gräfin Altgott hat sich wieder einmal in unser aller Herzen gesungen«, sagte es mit Festigkeit, unangreifbar wie das bürgerliche Sittengesetz. Majestät machte schroff kehrt. Vor sich fand er irgend jemand, es war Knack.

»Die Musik muß andere Wege gehen, nicht so lyrisch, mehr patriotisch.« Knack wußte nicht, wie ihm geschah. »Auch die Literatur!« verlangte Majestät. »Sie tut nichts weiter, als das Elend noch scheußlicher hinstellen, wie es schon ist«. Hiergegen war auch Knacks er stimmte zu. Majestät, noch gereizter: »Versündigt sich am deutschen Volk. Rinnstein. Front machen. Folgen solcher schlappen Gesinnung? Freispruch für Streikende.«

Dies traf den Industriellen ins Schwarze. Die Arme ausgebreitet, verbeugte er sich, ganz Hingabe. Majestät warf den Kopf nur noch höher, Kehlstimme, Augenblitzen über den Gebückten hin. »Habe meinen Staatsanwalt wissen lassen, daß das Urteil Hochverrat ist.« Knack hatte Triefaugen der Dankbarkeit, Majestät bemerkte ihn. »Sie sind mein Freund, der Schild des deutschen Kaisers ist über Ihrem Hause.« Immer noch gereizter. Die Lippen vom Gebiß gezerrt wie bei Katern, nach Beute umblickend, vernichtender Blick ins Auge des nächsten Wehrlosen, der sich krümmte. Man zitterte für den Kaiser, wie für den Wehrlosen.

Man sah den Kaiser schwach und überreizt, aber aufgepulvert wie Kokainsüchtige. Er war brutal nur in der Art von Kranken, einige treue Herzen krampften sich. Lannas allein behielt sein Lächeln, gefaßt und seiner Kraft bewußt. Hinter seinem Herrn gab er Winke, ein leerer Kreis entstand um den Herrn, Lannas drehte sich heran. Er hatte Bewegungen, als erbäte er von einer reichen Erbin den Kotillon. Mit einer Gewandtheit, die an Unbefangenheit grenzte, sagte er etwas, das nur der Kaiser hörte. Darauf veränderte sich der Kaiser, er rüstete sichtlich ab. Lannas, wieder ganz Grübchen, hatte plötzlich die schöne Schwertmeyer zur Hand. Leichte Hand, er trat schon ab, nach gelungenem Streich.

Aufatmen allerseits. Die Schwertmeyer wie immer zu frech und direkt, da kam eine wirkliche Dame nicht mit; aber dafür der Kaiser auf einmal ganz Scharm, entzückend geradezu, noch immer unser herrlicher junger Kaiser! Von dieser sprühenden Laune erhoffte jeder sich heute Abend den Erfolg: eine Anrede, einen Platz im Gedächtnis des Herrn. Auch Terra hoffte.

Sie wechselten die Plätze, taten laut und geschäftig, – indes sie im Ernst nur Schliche suchten, um als Nächste dazustehen, wenn der Herr vorbei kam. Terra, der nicht vom Fleck wich, folgte mit brennenden Blicken jeder Wendung des Kaisers. Terra schwor sich: »Ich bin Monarchist! Erstens schon darum, weil ein Mann, den ehrbarste Damen und Herren achtungsvoll umgeben, im Angesicht aller unentwegt schon seit fünf Minuten Aug' in Auge mit einer Hure steht. Sodann, weil ich lieber seiner Laune die Abschaffung der Todesstrafe verdanken will, als den Ränken der Welt. Jetzt verstehe ich meinen Gönner Lannas. Er war weit entfernt, sich Witze mit mir zu erlauben. Ich sollte es am eigenen Leibe erfahren, daß für die Welt nur Erfolg und Mißerfolg zählen, und keine Idee im geringsten anders, als wegen der Erfolgswahrscheinlichkeiten, die sie jedem bietet. Ich glaubte es zu wissen. Ich weiß es erst jetzt. Und damit habe ich zugleich die Lehre bekommen, daß mehr Sinn in einer Laune des Monarchen liegt, als im Streit von Gelehrten, Zeitungen und Parteien.«

Er traf auf einen Blick des Reichskanzlers, ein ernster Hinweis lag darin. Die Miene Terras entgegnete, daß er sich entschlossen habe, die Entscheidung dort zu suchen, wo sie sei; entschlossen, den Zufall zu meistern oder ihm zu erliegen.

Lannas nahm es zur Kenntnis – und ging mit heiterer Stirn daran, das allerhöchste Zwiegespräch zu stören. Er bat die Majestät um gnädige Erlaubnis, ihr noch einige Personen vorstellen zu dürfen; und so viele Münder wie Fische nach ihm schnappten, so viele leidende Mienen ihm folgten, Lannas holte Tasse vor. Die Bande kam von selbst mit.

Majestät erwartete keineswegs gnädig den Alldeutschen Verband und seinen Zweiten Vorsitzenden, der das Unglück hatte, die schöne Schwertmeyer abzulösen. Was Tasse nicht anfocht. Kaum daß er dem Reichskanzler Zeit ließ, seinen Namen zu nennen, Tasse hielt ihn ohnedies für bekannt; dann stellte er selbst vor. »Herrn General von Heckerott haben wir uns als Ersten Vorsitzenden geleistet, und der da, Majestät, ist Kolleche Pillnitz.«

Der Kaiser sagte scharf: »Wollen Sie mir nicht auch noch meinen Oberadmiral vorstellen? Meine Generäle, bester Heckerott, fuschen mir gefälligst nicht in meine Politik, dieweil sie das nichts angeht.«

»Nu da, die Herren kennen sich«, bemerkte Tasse, – worauf der Kaiser sich nach Lannas umsah. Lannas erwiderte das beleidigte Gesicht seines Herrn mit einem Blick zum Himmel. Aber nicht einmal der Himmel half gegen Tasse.

General von Heckerott knirschte lange bevor sein Gebiß aufging. Er erklärte, daß er nur »Dampf hinter« mache, was unzulänglich schien. Blutandrang nach der Stirn und wieder Knirschen. Jetzt legte Tasse los, völlig ungefragt, »Handelsneid Englands, Verständigung macht uns zu Landsknechten«, – er hielt seine Flottenrede und war nicht aufzuhallen. Der Kaiser schnupperte; er würde wohl einfach den Rücken gedreht haben, aber der Geruch! Mit einem Ruck unterbrach er die Rede. »Haben Sie schon einmal ein Schiff gesehen? Wissen Sie, wo Backbord ist?«

Schweigen Tasses, wild und stier, vergebens soufflierte der Oberadmiral. Da lachte der Kaiser verächtlich auf, roch wieder Jodoform und sagte: »Na gute Besserung«, – womit er wirklich schwenkte. Alle, die unter Tasse geseufzt hatten, lachten weiter, am herzlichsten Lannas. Dafür bekam er von Tasse einen Blick, der sagte: jetzt wir beide! – und der unbedingt zum Schweigen brachte. Die Pause nahm Tasse wahr, schnitt dem Kaiser den Weg ab und sagte vertraulich, nur für ihn und die Nächsten: »Wenn ich auch nicht weiß, wo Backbord ist, weiß ich doch, daß Eure Majestät heimlich so 'ä bischen techtelmechteln mit 'n Zaren.«

Erstarren. Sogar dem Kaiser blieb das Wort aus, er suchte es bei dem Reichskanzler. Der hatte bleich und maskenhaft, nach einer Stütze gegriffen, bekam aber nur ein Glas Wein. Die Bande wußte von dem geheimen Briefwechsel! Was wußte sie nicht? Und diesen teuflischen Tasse hatte Lannas selbst dem Kaiser zugeführt, damit er sich erledige! »Den hast Du weg«, sagte ihm die Miene Tasses, solange der Kaiser fortsah. Als er wieder hinsah, schmunzelte Tasse und tat schelmisch: »Sie, Majestät, wenn das die Engländer hören, bin ich neugierig, wie sie auf den Kalmus piepen.«

»Was haben Sie gesagt?« Der Kaiser lachte, aber diesmal erfreut. »Wie war es?«

»Nu, piepen werden sie doch auf den Kalmus«, – Tasse war die Gutmütigkeit selbst. Er ließ den Kaiser lachen bis er brüllte, und die Gesellschaft auf seine Kosten in Krämpfe fallen. Lannas, der nicht lachte, erkannte den Gegner in seiner ganzen Größe; der Gegner nahm freiwillig von seiner Überlegenheit zurück, was zuviel war!

Der Kaiser klopfte Tasse auf die Schulter. »Sie sind mein Mann.« Und zu Lannas: »Na Leopold, wie wär's. Soll er Ihnen die Last der Verantwortung abnehmen? Ihre Geheimnisse hat er schon 'raus.« Lannas erklärte mit heiterer Würde, er trage die Last, solange Seine Majestät ihn nicht von ihr entbinde, – indes Tasse, die allerhöchste Hand auf seiner Schulter, blutunterlaufene Demut zur Schau trug.

Wolkenlos gelaunt, würdigte der Kaiser irgendwen einer Anrede. »Na Berberitz, jüdischer Mitbürger? Schwertmeyer, haben Sie wieder was gestohlen? Haunfest, mich kriegen Sie nicht 'rum.« In demselben Atem mit den Scherzen die Gnaden. »Erinnern Sie mich, Platze, Herr Schwertmeyer kriegt 'n Orden. Oder lieber ein Armband für Frau Schwertmeyer.« Das Gedächtnis! Er sagte dem jungen Schellen einen Artikel aus der Zeitung auf. Alle staunten. Alle waren unter der Wirkung, die Frauen bezaubert, die Männer verblüfft. Jedem sah er fest in die Augen: »ohne Achtung vor meinem inneren Recht«, wie jeder fühlte. Jeder unterdrückte das Gefühl und erstarb. Murmelte ihm nach: »Persönlichkeit!« Da wurden schon andere dem Fritzenauge ausgesetzt, und wieder andere bekamen die Ansicht des Hohenzollernprofils, das zurückwich und nach dem Halbkreis strebte.

»Persönlichkeit!« – süßestes Beben. Der Kaiser wendete sich hin. »Ha, Haunfest, Tenor, wie? Nehme Sie auf nächste Nordlandreise mit, sollen Abendstern besingen.«

»Des Nordsterns Majestät, die niemals untergeht«, mit hingebendem Lidersenken.

»Dichten auch, Haunfest? Machen Platze Konkurrenz. Was habt Ihr denn?« – da auch Platze keusch die Augen schloß. »Seht beide aus, als ob Ihr Euch verlobt habt.«

Der General und der Rittmeister schwiegen durchdrungen, solange der Kaiser lachte. Er lachte mit Sympathie. Dann Haunfest, durchdrungen: »Wir Freunde haben alle dasselbe Gelöbnis abgelegt –«, die Stimme zärtlich dämpfend, magischer Kreis um die Freunde und den Kaiser. »Für unsern süßen Herrn.«

»Der auch?« fragte der Kaiser, denn neben Platze erschien Tolleben. »Mein Vetter,« sagte der Generaladjutant, »bittet Eure Majestät um Gnade und Schutz in seiner Herzenssache.«

Von unten, den Kopf schief, besah die Majestät den langen Bismarck, sie machte pfiffige Augen. »Weiß schon, mein Leopold will Ihnen seine Tochter nicht geben. Wird gemacht. Wo ich Leopold uzen kann.«

Gewährende Hand, gleich kehrt und auf die kleine Lannas zu. »Komtesse, wir haben Geheimnisse, ein richtiges Komplott. Wollen Sie sich tatsächlich mit Tolleben begnügen? Na ja, mein Platze ist sein Vetter.« Ein langer Blitz aus ihren geistreichen Lidern bestätigte dem Kaiser, sie sei durchschaut. Er gab sich selbst um so offener. »Wenn Ihr heiratet, habe ich an Euch beiden eine Rückversicherung gegen Leopold. Denn Sie, Komtesse, werden Politik gegen den Papa machen. Für den Fall, daß er sich abnutzt. Lachen Sie nur, Sie lachen hübsch. Also heute Abend ich und Sie gegen Leopold. Er will noch nicht 'ran an die Chose, aber er soll.«

Sie lachten zusammen, Alice nicht weniger kokett als er, und er nicht weniger falsch. Man sah: intrigierende Damen. Majestät streckte die Wade, machte die pralle Hüfte rund; Kopf gewiegt von einer Schulter zur andern, und während die rechte Hand sich ausdrucksvoll bewegte, verschwand die verkümmerte Linke, wie sie konnte, in der roten Uniform.

Schon kam ihm ein neuer Gedanke – oder auch nur die Unruhe, als erwartete man ringsum den neuen Gedanken. Eine Wendung, gleich schnappten beglückte Angstmienen, ihm ward übel. Aber er hatte die Stimmung hochzuhalten und für Spannung zu sorgen. Er erriet die Seinen: nichts durfte vorgehn ohne ihn, und wo er war, mußte etwas vorgehn ... Zwei dunkel brennende Augen waren unbewegt auf ihm wie das Gewissen, er traf sie jedesmal wenn er Abwechslung suchte, sie hielten ihn auf, sie wagten fest zu bleiben statt Ersterbens, was verdachten Sie ihm? Eingeschüchtert und gereizt überschlug der Kaiser den Menschen; »Langweiliger Peter, Dir versalze ich es noch;« – und griff Pillnitz auf. »Na, Professor, Sie wollte ich mir schon lange kaufen. Haben sich in polemischer Weise an die Offenbarungslehre herangemacht.«

Pillnitz war nicht der Mann, die Gelegenheit zu versäumen, er verbreitete sich wissenschaftlich, der Kaiser mußte zuhören. Er tat es aktiv wie alles, sein Zuhören war ernste Berichtigung oder wirksame Nachhilfe. Der Gelehrte staunte schließlich selbst am meisten, wohin er gelangt war: es gab dennoch Offenbarung! »Sehen Sie wohl?« sagte der Kaiser; und der erschöpfte Pillnitz strich sich nur noch die weiße Mähne aus der feuchten Stirn. Der Kaiser, umso verantwortungsvoller und fester: »Ich muß den geoffenbarten Gott hinter mir haben, sonst kann ich die Sache nicht machen.« Er sah in den Spiegel an der Wand, die auserwählte Miene sagte, er erblicke im Spiegel nicht nur sich, sondern hinter sich den, den er genannt hatte. Die verstummte Umgebung arbeitete angestrengt, um gläubig und verzückt zu erscheinen. Nur Bankdirektor Berberitz ließ fett vernehmen: »Das ist noch ein Christ. Genial, soll man sagen!«

Die Belohnung kam augenblicklich. »Berberitz, hören Sie zu, was Pillnitz über Jericho sagt! Nein, nicht über Sie, Jerichow, aber Sie können auch zuhören, es ist ulkig.« Worauf noch mehr Herren sich heranmachten, Majestät wünschte Zwanglosigkeit. Der Gelehrte wiederholte bereitwillig, was er auf streng wissenschaftliche Art herausgebracht hatte. Die Mauern waren nicht etwa vom Trompetenblasen eingefallen, wie die Juden behaupteten. Diese hatten die Stadt vielmehr mit Hilfe ihrer Freudenmädchen erobert. »Wird wohl was dran sein«, meinte der Kaiser. »Militärisch schlapp, aber anschlä'je Köppe.« Der Gelehrte bat um die Erlaubnis, die allerhöchste Äußerung der wissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit zu übermitteln. »Um Gotteswillen! Dann erzählt Berberitz mir keine Witze mehr.«

Das Zeichen für Berberitz. Fleischig und mit Würde stellte er sich vor dem Kaiser auf, der saß. Nach jedem Witz warf Majestät sich krachend gegen die Rückenlehne und schlug klatschend zweimal auf den allerhöchsten Schenkel. Er lachte aus weit geöffnetem Munde, stoßweises Gebell, das gierig klang, aber zum erstenmal heute Abend sah man ihn selbstvergessen. Man atmete auf und war dem Bankier dankbar. Übrigens machte er sich nichts daraus. Auch seine Witze erheiterten nur ihn nicht. Auf seinem schweren Körper der schmale Kopf blieb, wenn alle brüllten, unheilbar melancholisch. Er trug ihn hoch, man sah, daß am Hals der wollige Bart so dicht wie im Gesicht war. Die blassen Augen drohten auszufließen, so weit traten sie vor.

Noch glücklicher als Berberitz war Lannas, der ihn ablöste. Es hatte Lannas keine Ruhe gelassen, niemand erzählte jüdische Witze wie er. Der Kaiser hielt sich die Seiten und verlangte Sekt. »Ober! Sekt!« – mit einem Schlag nach dem Oberadmirals der schon lief. Serviette unter dem Arm, Sektkübel präsentiert, kehrte der langbärtige Seebär zurück, schmunzelte und tat gezähmt. Als Majestät bedient war, bekam Tasse; Lannas sah es wohl, die Bundesbrüder verständigten sich.

Lannas war nicht ohne Voraussicht des Kommenden. So viel wie möglich entfernte er Zudringliche aus der Nähe des kaiserlichen Ecksophas. Er bat, Damen in die entlegenen Räume zu führen, er lächelte besorgt. Majestät inzwischen trank ein Glas und wippte den Rest auf den Oberadmiral, der dankte. Zweites Glas und gewippt, – aber Lannas, dem es galt, wich glatt aus, es traf den Generaladjutanten von der Platze. »Platze mitten auf Glatze«, reimte der Kaiser. »Leopold ist mir zu gut geölt. Tasse mag ihn auch nicht. Tasse, die Flotte baue ich.«

Hierbei rückten Tasse und die Bande ganz nahe. Auch Schellen war zur Stelle, Lannas entfernte ihn fast mit Gewalt. Zu dem Kreis, der übrig blieb, sagte der Kaiser, die Hand am Mund: »Wißt Ihr auch, warum ich die Flotte baue?« Nach dem Reichskanzler schielend: »Ich darf es nicht sagen, Leopold erlaubt es mir nicht. Aber wenn ich die Flotte erst habe, fahre ich hin – ich sage nicht wohin, keine Bange, Leopold – und frage die Leute, ob sie wollen oder nicht.«

»Um Gotteswillen!« sagte Terra zu Lannas.

»Bravo!« rief Oberadmiral von Fischer. »Pizzter der alte Bursche soll sich freuen.« – »Einfach wie das Genie!« rief Pillnitz. Die Worte Genie und Persönlichkeit gingen um; einzig Tasse verhielt sich streng und kritisch. Er verlangte schleuniges Handeln, »sonst können Sie was erleben, Majestät, die falschen Luder kommen uns zuvor!«

Lannas, ein Stück entfernt vom kaiserlichen Ecksopha, bewachte die Zugänge. Er antwortete dem Abgeordneten: »Wenn Sie wüßten, was ich noch alles verhindere.«

»Verhindern Sie es denn?« fragte Terra, indes auf Tasse eine neue Stimme folgte. »Ein französischer Abgeordneter hat ein Bündnis zwischen Frankreich, England und Rußland für das diplomatische Ideal erklärt. Der Mann sieht bewundernswert klar in die Zukunft«, sagte die geübte, klingende Stimme in sorgfältiger Aussprache. Der Kaiser sah zu dem Sprecher auf. »Sie wohl auch, Herr Unterstaatssekretär Mangolf?« fragte er überrascht, ohne den gewohnten Ton des Angriffs. Der Unterstaatssekretär verneigte sich leicht. »Ich bitte um gnädigste Erlaubnis, erwähnen zu dürfen, daß auch schon ein englischer Minister für die Annäherung an Rußland wirbt ... Von seinem Standpunkt begreiflich«, setzte er hinzu, während der Kaiser aufstand.

»Darauf stoße ich das nächste Mal mit Pizzter an«, verhieß der Oberadmiral. »Daraufhin kriegen wir alle beide mehr Schiffe, als wir wollen.«

Auch die andern konnten sichtlich durch nichts eher erfreut werden, als durch vorausgesetzte böse Absichten gegen Deutschland. Ernst war nur der Kaiser. Er bewegte sich unbehaglich, wollte schon den Kreis durchbrechen, blieb unentschlossen stehen und fing an: »Das kann aber Krieg geben. Dafür bin ich nicht zu haben. Gar keine Meinung dafür ... Miese Meiße sagt Berberitz«, – was ein schüchterner Versuch war, scherzhaft über die Sache fortzukommen.

»Mein Stichwort!« raunte Terra, zitternd vor Erregung »Exzellenz, das war mein Stichwort, ich darf es nicht versäumen. Stellen Sie mich vor!« Da der Reichskanzler nicht Miene machte: »Ich habe Sie verstanden, als Sie mir Prüfungen auferlegten. Sie waren fürsorglich genug, mich mit den Lehrmitteln der Welt zu erziehen für den letzten Kampf, der jetzt bevorsteht. Geben Sie mir jetzt Gelegenheit, ihn zu bestehen! Sehen Sie in meiner unbedeutenden Gestalt, ich beschwöre Sie darum, die Menschen mit dem furchtbarsten Schicksal ringen. Reichskanzler Graf Lannas, geben Sie mir Gelegenheit!«

Der Kaiser hatte seinen Versuch zu scherzen gleich wieder aufgegeben, niemand lächelte in dem bedrückenden Kreis von Generälen, Verbandsbrüdern und Zivilisten, die anmutlos geartet es bei der Spielerei nicht ließen: nein, sie waren tatsächlich für den Ernstfall! Der Kaiser machte schmollende Lippen, rückte mit den Schultern, – dann beendete er selbst das peinliche Schweigen. »Was wollt Ihr denn von mir. Mehr als das olle Siegen gibt's nicht, und hab' ich das nötig? Ich bin mir schön genug.« Schweigen, – da straffte er sich zu feierlichem Ernst. »Überhaupt bin ich meinem Gotte verantwortlich.« Damit hatte er sie. Sie konnten nur seufzen.

 

Der Reichskanzler stellte fest, daß eine Ablenkung seinem Herrn erwünscht sein würde, er packte Terra bei der Schulter, er schob ihn vor. »Eure Majestät begegnen dem tiefsten Verständnis und der feurigsten Verehrung gerade bei den Jungen«, sagte er ebenso erbaulich wie fein. »Eure Majestät werden dies schwerlich bedauern. Im Faust unseres Goethe steht: Am meisten lieb' ich mir die vollen frischen Wangen, für einen Leichnam bin ich nicht zu Haus.« Anzüglich nach den unbequemen älteren Herren hin. Von keinem hatte Lannas zu fürchten, daß er ihm auf den Kopf zu sage: Mephistopheles!

Der Kaiser lachte befreit, dafür nahm er sogar den langweiligen Peter hin, der ihn den ganzen Abend angestarrt hatte wie das Gewissen. Bevor Terra, die Hand auf dem Herzen, aus seiner tiefen Verbeugung aufkam, hatte Lannas den Kaiser noch wissen lassen, daß der Abgeordnete und der Unterstaatssekretär Schulfreunde seien. »Eure Majestät haben hier die leibhaftigen Zeugen, daß unter Ihrer Regierung und in unserem wohlerwogenen System jedes Talent hinaufgelangen kann. Unter den Vorläufern Eurer Majestät war vielleicht nur Ludwig der Vierzehnte König genug, so voraussetzungslos seine Diener zu wählen.«

Die Haltung der beiden Herren, des Monarchen und des leitenden Staatsmannes, trug das Gepräge eines historischen Vorganges. Man mußte ihn gesehen haben; die von Lannas letzthin Beseitigten machten sich wieder heran. Bei allen herrschte angestrengte Feierlichkeit. Auch die Herren der näheren Umgebung, die vorhin die jüdischen Witze belacht hatten, wurden einer nach dem andern zu Gestalten aus amtlichen Gemälden.

Der Reichskanzler sprach Worte für die Nachwelt, die Majestät ward gnädiger anzusehn bei jedem Wort. Nach dem letzten senkte sie den Blick auf den gebeugt verharrenden Abgeordneten. »Von Ihnen weiß ich allerlei«, – schroff, aber nicht ohne Nachsicht. Terra, die Hand auf dem Herzen: »Eure Majestät wollen gnädigst geruhen mich anzuhören. Niemals, Gott ist mein Zeuge, unterfing ich mich irgend einer Meinung oder Tat, die nicht den einzigen, unentwegten Sinn und Zweck gehabt hätten, an Ruhm und Größe Eurer kaiserlichen Majestät für meinen geringfügigen Teil mitzuwirken.« Die Stimme anschwellend von unaufhaltsamem Herzensdrang und in tiefste Demut zurücksinkend. Der Kaiser schien immerhin betroffen von Technik und Worten. Er wartete auf mehr.

»Schuldbewußt gestehe ich Eurer Majestät, daß ich mich einst verleiten ließ, streikende Arbeiter zu verteidigen. Mein Herz war rein. Mich verleiteten meine Jugend und der geistige Hochmut, der nur zu oft dort auftritt, wo dem Wissen nicht auch Besitz und Rang entsprechen. Eure Majestät sehen in mir den unwürdigsten Ihrer Jünger: kein streikender Arbeiter hat auch nur die allergeringste Aussicht, von mir jemals wieder verteidigt zu werden.«

Hier folgte ein kaiserliches Nicken. Der Weg war frei, Terra griff aus. »Dank dem unbeirrbaren Weitblick der Politik Eurer Majestät hat Deutschland heute den unermeßlichen Vorteil, durch kein englisches Bündnis am Ausbau seiner Flotte gehindert zu sein.«

»Bewilligen Sie mir die Mittel, Herr Abgeordneter!«

»Dafür lebe und webe ich. Eure Majestät brauchen aber nicht allein Geldmittel. Eure Majestät bedürfen für den Bau Ihrer Flotte der erhabensten sittlichen Kräfte.«

Der Kaiser straffte sich, er sah in den Spiegel. Hinter ihm und seiner roten Uniform stand Gott. »Genie! Persönlichkeit!« murmelte man. Das angesammelte Publikum verbrauchte übermenschliche Seelenkräfte, von der Majestät bemerkt zu werden. In diesem Augenblick kam Knack. Sein kahlköpfiger Neffe hatte ihn aus weittragenden Geschäften mit Abgeordneten gerissen, er atmete beschleunigt, vom Laufen und weil dies Geschäft hier noch weittragender war. Leise auftretend, vom verhaltenen Keuchen stark gerötet, drängelte Knack, bis er beide richtig im Sehfeld hatte, den Kaiser halb seitlich, den Abgeordneten Terra ganz von vorn.

Der Abgeordnete faßte die äußersten Mittel ins Auge, um die allerhöchste Aufmerksamkeit an sich zu raffen; man sah es seiner Miene an, die ehern ward. »Eure Majestät!« rief er. »Der Deutsche Kaiser ist berufen, Sieger zu bleiben über die höllischsten Gewalten dieser wie jener Welt – und ohne Kampf!«

»Wieso?« fragte der Kaiser. Jähe Wendung, er sah dem Abgeordneten in die Augen. »Wie meinen Sie das. Erklären Sie mal schnell, was los ist!«

»Schaffen Sie die Todesstrafe ab!«

»Nanu?«

»Das ist neu, das ist schlagkräftig und modern, das sichert den Erfolg. Soll noch irgend jemand behaupten, Eure Majestät planten Angriff! Selbst der teuflischste Lügner macht der Welt nicht mundgerecht, daß Sie Luft auf allgemeines Völkermorden haben, der Sie nicht einmal Verbrecher hinrichten lassen!«

Erstes Befremden – dann hatte der Kaiser begriffen. Er sah sich um: überall Verblüffung. Er hatte früher begriffen; die Sache gefiel ihm.

»Die Sache hat was für sich«, sagte der Kaiser. »Aber machen Sie sie mal den Leuten klar!«

»Sie ist in aller Mund. Den tiefsten Sinn freilich erfassen nur Auserwählte –« Verbeugung, Hand am Herzen: »Wahrscheinlich nur der Auserwählte.«

Der Kaiser, lebhafter Einfall: »Ach ja, stand drin, Sie kriegten Geld von England. Unsinn, glaub' ich nicht.«

Terra, von Grund aus erbebend in der letzten Anspannung vor dem Ziel: »Ich arbeite für Gotteslohn. Ich will in der gesamten Menschheitsgeschichte Eure Majestät als das erhabenste, unvergleichlichste Werkzeug Gottes verehren dürfen. Wo bleiben noch Hammurabi, Moses und sogar –« Der letzte Name fallen gelassen. Neuer Aufschwung, die Hand gereckt: »Eure Majestät sind im Handumdrehn der humanste Fürst. Eine zeitgemäße Propaganda, Sie werden zum Erlöser! Das ist neu, das ist schlagkräftig und modern, das sichert den Erfolg!«

Brauenrunzeln der Majestät. »Wieso human?«

»Wirkliche Humanität, politisch rentable!«

»Ich dachte schon, falsche.«

Der Kaiser sah umher, ob jemand Einwände habe. »Die Sache läuft merkwürdig glatt«, – zwischen den Zähnen. »Keinem fällt was ein. Euch kann ich brauchen.« Der Oberadmiral von Fischer hatte dennoch einen Gedanken. »Das Volk hängt nun mal an seiner Todesstrafe.« – »Wir hängen es ab«, entschied der Kaiser. »Ich bin ein moderner Mensch ... Wie sehen denn Sie mich an, Lannas. Soll ich vielleicht kein Mensch sein? Bin ich doch aber, auch mir kann was passieren. – Ach so.«

Er war erschrocken, was hatte er? Nochmals jedem in die Augen, Bewegungen wie aufgezogen, dann schroff zu Terra. »Sagen Sie mal, hinrichten gibt es dann nicht mehr – auch Mörder nicht? Ganz gleich, wen einer um die Ecke bringt? Mich zum Beispiel? ... Aha! Da springen Sie. Haben mich fangen wollen.« Drohend.

Aber Terra hatte sich zurückgeworfen wie von jäh gespaltenem Abgrund, woraus Flammen ihn anfauchten. Seine Mienen waren Grauen, seine plumpen Hände preßten einander flehend. Unter unerhörten Qualen schien er sein Stammeln hervorzubringen. »Ich war mit Blindheit geschlagen! Ich bin ein Ungeheuer an Gottverlassenheit!«

»Stimmt«, sagte der Kaiser. »Na, beruhigen Sie sich, mir ist es gerade noch eingefallen.« Zu der Umgebung: »Kam mir gleich komisch vor, wie die Sache klappte.« Wieder zu Terra, da mußte er lachen, »der Kunde macht's immer doller«, und die Nächsten lachen mit. »Wollte Todesstrafe abschaffen! Mordskerl – aber dämlich.« Schlag auf den Schenkel, das Zeichen für die weiteren Kreise, mitzulachen. Der Kaiser, zwischen dem Gelächter: »Todesstrafe abschaffen! Attentäter hätten gedacht, ich bin meschugge. Und wenn ich nun mal von Dir 'ne Backfeife kriege, Platze? Wat denn, machste nicht Harakikeriki?« Der Generaladjutant beruhigte die Majestät über den Punkt, sie lachten zusammen weiter.

Terra, am Boden verwurzelt, fühlte, er fliehe, aber eine Springflut von Gelächter überhole ihn, sie werfe ihn hin. Ein dünnes Stimmchen, alles durchdringend: Tolleben. Er hatte die Vorsicht aufgegeben und lachte. Was hatte er noch zu fürchten von diesem Gegner. Alice war nicht zu sehen. »Sie hat nicht einmal lachen wollen. Das ist das Ende.« Da trafen seine, um den Rest der Menschenwürde ringenden Blicke in ein Gesicht, das ernst war wie der Tod, somit erwünscht wie er. Das Gesicht gehörte Knack. Der Industrielle verständigte ihn wortlos, beide lösten sich aus dem Schwarm. Niemand hinderte Terra; ihm ward klar, daß sie nicht ihn meinten, wenn sie lachten. Sie meinten den Kaiser. Der Kaiser sollte sie lachen sehen, wie er sie »Genie!« sollte sagen hören. Sie lachten im Schweiße ihres Angesichts.

Knack und Terra verfügten sich einzeln und im Zickzack nach hinten, wo es leer war. Deckung suchend auf dem leeren Parkett drückte Terra sich an den Pfeilern hin, beim Eingang zum letzten Salon. Schon war er vorbei, da zwang etwas ihn, umzusehn. Er traf geradezu in zwei Augen, sie standen voll Qual des Abschieds, voll unvergänglichen Herverlangens. Die Gestalt suchte, die Finger gekrümmt, Halt an glatter Wand. Es gab keinen; der vorbeiging, konnte sie nehmen und fortziehen, in dieser Minute wäre sie geflohen mit ihm! Eben in der Minute seiner Niederlage! Als er dann vorbeiging, schluchzte sie auf. Er sah sie wehrlos, allen Irrtümern ihres Ehrgeizes entrückt und fluchtbereit sein eigen, – so lange das Schluchzen währte. Schnell ging er.

Auch Knack war angelangt. Kein Mensch hier, dies genügte noch nicht, Knack öffnete eine Tapetentür. Nach ihrem Eintritt ließ er sie halb offen, aus Furcht, überrascht zu werden. Es ergab sich, daß sie im Teezimmer der Hausfrau waren. Teppiche und die vielen Kissen dämpften. Zu Boden starrend sagte Terra:

»Die Rechnung war falsch.«

»Ssst«, machte Knack. »Ich will Sie nicht trösten, aber sprechen Sie sich leise aus!«

Terra: »Mich stieß die menschliche Gesellschaft einst als unbrauchbar aus ihren Kreisen aus. Ich ging nicht zugrunde, kam zurück und bot ihr wieder meine Dienste an. Mehr als einmal«. Augen der Verzweiflung aufschlagend.

»Aber diesmal nicht umsonst. Gleich werden Sie es sehen.« Womit der Industrielle ihm ein Glas Wasser reichte. »Trinken Sie! Dann setzen Sie sich! Sie haben etwas geleistet.«

Terra, in Kissen sinkend: »Ich verhehle mir nicht, daß ich ein erledigter Faktor bin, in aller Welt nichts anderes mehr als eine überwundene Gefahr. Hätte nicht die Lächerlichkeit mich getötet, ich müßte an dem Bewußtsein meiner eigenen abgrundtiefen ideologischen Tölpelei verrecken. Ich habe dem Kaiser gesagt, was ich dachte. Ich bin dem frevelhaften Wahn erlegen, auf den alleräußersten Fall passe die Wahrheit. Das verzeiht das Leben mir nie.«

»Es gibt Entschuldigungen für Ihren Irrtum. Und die falsche Rechnung einmal anerkannt, war Ihr Auftreten meisterhaft.« Eine Handbewegung des Industriellen schlug jeden Einwand nieder. »Ich sage nicht zuviel: meisterhaft. Seine Majestät schöpft Verdacht, Sie aber biegen die Spitze ab und erregen Gelächter. Das soll Ihnen einer nachmachen! Der kaiserliche Verdacht konnte glatt Ihr Ende sein. Was tun Sie? Sie lassen sich auslachen, Sie wirken erheiternd, – was Tag für Tag unser aller einziges Ziel ist. Eine Glanzleistung! Ruhen Sie sich aus!«

Terra im Gegenteil sprang auf. »Sie setzen die Verhöhnung fort. Mein Herr Geheimrat! So tief bin ich vor mir selbst noch nicht gesunken, daß ich Spott und Schande grade besten einzustecken gedenke, dem ich in meiner nie wieder gutzumachenden Unschuld seine Geschäfte besorgt habe.«

»Das ist es gerade. Ich biete Ihnen eine Stellung als Syndikus und Direktionsmitglied meiner Gesellschaft an.« Der Geheimrat setzte sich.

Terra war wieder in Kisten versunken; er hatte es diesmal nicht gewollt, nur seine Knie versagten. Erst dies war die Katastrophe! Ihre Vollständigkeit und ihre Unabänderlichkeit machten, daß ohneweiteres sein Geist sich abkühlte. Er überwand auch den Widerstand des Körpers, richtete sich auf, sagte kaltblütig: »Ich bitte um Ihre Motive.«

»Die liegen auf der Hand. Ihrer Tüchtigkeit konnte ich beiwohnen. Daß Sie meine Geschäfte besorgt haben, ist Ihnen bewußt. Aber weder Sie noch ich können wissen, ob es beim nächsten Anlaß genau so verläuft. Sie sind nicht erledigt. Jedesmal, wenn die menschliche Gesellschaft Sie als unbrauchbar aus ihren Kreisen ausstieß, haben Sie sich für erledigt gehalten, kamen aber zurück. Ich muß daher erwarten, daß Sie eines schönen Tages wieder da sind und mich bedrohen. So wahrscheinlich es nun auch ist, daß Sie auch dann unfreiwillig wieder nur meine Geschäfte besorgen: ich will die Gefahr, die Sie bilden, in Rechnung stellen und mache Ihnen den erwähnten Vorschlag, in meine Gesellschaft zur Erzeugung von Kriegsmaterial einzutreten. Ihre pazifistische Gesinnung stört mich so wenig, wie Sie selbst sich daran stoßen dürfen.«

Der Industrielle zögerte leicht, die Miene Terras forderte ihn auf, zu beenden.

»Umsomehr als der Eintritt bei mir in leitender Stellung doch wohl der eigentliche Zweck Ihres ganzen Unternehmens war. So viel Sinn für Tatsachen muß ich einer Intelligenz wie der Ihren unbedingt einräumen.« Dies war alles, Knack lehnte sich zurück. Das Schlimmste: er sah keineswegs wie der Sieger aus, er machte nicht mehr aus dem Geschäft, als es wert war. Die Beteiligung, die er bewilligte, war nicht niedrig, er hatte nur gerade seinen anständigen Nutzen. »Ich bin der größere Gauner«, sah Terra. »Dies das Ende meiner Geisteskämpfe!« – »Haben Sie nichts gehört?« raunte er. »Man horcht.«

»Das ist unerwünscht.« Knack entfernte den Vorhang von dem nächsten der Altgottschen Privaträume. »Ich weiß den Ausgang, bleiben Sie hier, Vertrag geht Ihnen zu.« Er war fort.

Terra blieb stehen, wo Knack abgefahren war, er ließ die Zugschnur des Vorhanges durch die Hand gleiten, er fragte laut: »Wird sie halten? Wie macht man es, geschmackvoll dazuhängen?« Nur technische Erwägungen lohnten sich noch ... Da faßte Jemand ihn an: Mangolf.

»Du bist wieder einmal pünktlich. Wie bestellt.«

Mangolf beantwortete den hochfahrenden Ton gedämpft und mit unbezwingbarem Zittern der Stimme: »Klaus! Nur das nicht!«

»Lieber Syndikus bei Deinem Herrn Schwiegervater?«

Auch den Hohn ließ Mangolf unerwidert. »Ich finde mich damit ab.«

»Aber ich nicht!«

Auf diese gesteigerte Gereiztheit ward Mangolf noch stiller in seinem Drängen. »Was ist geschehen? Nichts, was Dich im Innern abgefertigt hatte. Mißerfolg!« Achselzucken. Mangolf, und Achselzucken bei »Mißerfolg«. Terra hörte nur noch den Freund. »Du wirst bleiben was Du warst«, sagte der Freund, »und denen, die Dich lieben, eine Verlegenheit sein. Wenn Du nur lebst, werden sie es tragen.«

»Muß ich denn leben?« fragte Terra unsicher.

»Es ist die Bedingung dafür, daß ich selbst noch mittue.« Welch unbekannter Klang! Das Herz, ganz freigelegt, klang drängend herauf und so zart. Terra war ergriffen. Furchtbare Reue, er erkannte: »Du bist mitblamiert von mir. Lannas hat im Geiste der Majestät uns beide unauflöslich mit einander verkettet.«

»Sind wir es nicht in unseren eigenen Geistern?«

»Das sagt Dein unverwüstliches Herz, mein lieber Wolf. Ich aber in meinem blinden Eigennutz sah nicht, daß Lannas mich durchgehen ließ, damit ich Dich umwürfe!«

»Du fängst zu lernen an. Aber glaube mir, Klaus, ich leide mehr um Dich als meinetwegen.«

»Ich sehe es«, sagte Terra, »und ich Schurke bleibe gerade darum am Leben.«

»Wir sind keine Schurken, Klaus. Ich war der unglücklichste Mensch, so oft Du Erfolg zu haben schienst. Aber während der Minuten, die jetzt hinter uns liegen, war ich noch viel unglücklicher.« Er faßte die beiden Hände des Freundes. »Laß Dich ansehn, ob Du Dich wenigstens nicht lustig machst. In schwarzen Stunden halte ich Dich für ein sogenanntes Original, dem die Befriedigung eigener Eitelkeit höchstes Ziel ist. Bekehre mich, Du machst mich glücklich.«

Terra, die Hände in den Händen. »Geständnis gegen Geständnis, Wolf. Meine schwachen Augenblicke verleiten mich, Dir Deine sogenannte zweite Naivität, vermittelst deren Du Dich der Dummheit der bestehenden Gesellschaft gewachsen zeigen möchtest, kurzweg zu glauben und Dich für genau so dumm zu halten wie die Mitwelt. Belehre mich eines Besseren!«

Jeder zog den andern weiter, aus dem Halbdunkel des Zimmers nach dem Eingang und seinem grellen Licht. Nur Reue, nur Vertrauen fand Jeder bei dem Andern, fand sie durch Tränen, die das befreundete und das eigene Auge trübten ... Hier aber fuhr ein Kommando dazwischen.

»Alle 'rankommen!« rief draußen die Kommandostimme. »Zuhören! Freudige Nachricht!«

Sie hörten zu. Es war der Kaiser, er verkündete die Verlobung. »Habe es selbst übernommen, auf daß allen vor Augen geführt wird, wie nahe die Familienereignisse im Hause meines Reichskanzlers mich angehn.« Dem Vater nahm er durch Überfall die Sache aus der Hand und machte sich noch Reklame daraus!

»Er versteht sein Geschäft,« bemerkte Mangolf; sogleich aber: »Um Gotteswillen!« Denn Terra hatte sich losgerissen von seinen Händen, wich rückwärts wie gehetzt: dasselbe Gesicht, mit dem der Freund ihn getroffen hatte. »Ich weiß,« sagte Mangolf. »Aber sei froh, daß alles auf einmal kommt.« Er trat ganz nahe neben ihn, wartete still, daß der Krampf seiner Brust sich löse und sah nur immer auf seine Hände. Sie suchten an seinem Körper, sie ballten sich, – nun blieben sie hilflos offen.

Sie standen im Dunkeln hinter der Tür, der glänzende Festakt draußen vollzog sich unsichtbar. Aber das Anschwellen eines Wirrsals von Stimmen ließ Vieles ahnen: die Beflissenheit vor dem Erfolg, ihre Huldigungen an die Macht, gegebene und künftige; die Eifersucht jedes auf jeden, der ihm zuvorkam im Angesicht des Kaisers; die wilde Angst, ihr gekrümmtes Bild könnte fehlen im Auge Derer, die gewährten, verliehen, beförderten. Welches Gesicht machte Lannas ... – indes er Hände drückte? Die Kommandostimme: »Jugendlicher Liebreiz der Braut! Hünengestalt meines Halberstädters!« Und angeregt durch so viele Bekundungen des Entzückens: »Den habt ihr euch gemerkt, falls ihr ihn mal unter meinen Paladinen in der Weltgeschichte wiederseht!« Ah! und Hallo! Die Bismarck-Maske! Aber welches Gesicht machte Lannas? Sie klatschten sogar in die Hände. Und Lannas?

»Er ist der Mann, dem falschen Bismarck um den Hals zu fallen,« sprach Terra vor sich hin. »Hört sein Urteil und hat das ganze Gesicht voll Grübchen. Wir sind zur gleichen Zeit besiegt. Wie denkt nun er über Sein und Nichtsein?« Murmelnd: »Und die Tochter, unser beider geliebter Henker? Abgründe, Exzellenz!« Terra im Dunkeln sah sie. Gerufen von seinem Verlangen und ferner tiefen Angst tritt sie vor, todbleiche Erscheinung, allen Irrtümern ihres Ehrgeizes entrückt, mit Augen voll unvergänglichen Herverlangens. Keine Zweifel mehr! Ihr entgegen! Da stößt er an, fort ist die Erscheinung ... Sein Arm ward umspannt: der Freund. Die Freunde waren allein.

Ächzen und ungleiche Schritte, es kam von dort hinten, aus den Privatzimmern. Terra sah fragend auf Mangolf: auch wieder Täuschung? Aber Mangolf bestätigte mit Nicken, dies sei Wirklichkeit. Der, den sie beide erkannten, war angelangt hinter dem verhängnisvollen Vorhang, er riß daran. Er ächzte stärker, den Vorhang fortzuschieben gelang ihm nicht. Plötzlich fiel er hindurch, fiel hin wie aus einem Stück, es plumpste. Da lag er auf seinem dicken Arm, die Brust hatte im Fall den Hemdknopf gesprengt, erschlafft hingen die Wangen. »Exzellenz!« murmelten die Erschreckten. Aber seine Augen blieben geschlossen.

Terra legte den Finger an die Lippen. »Die Ohnmacht hat er sich redlich verdient. Einen Tasse hatte er schon hinter sich, als sein Lieblingskind mit dem untrüglichen Instinkt des Herzens den rechten Augenblick abpaßte, um ihm den Rest zu geben.«

Mangolf aber, gespannt spähend: »Er lebt doch? Er darf mir nicht sterben, ich brauche ihn. Er und der Tolleben, der ihm auf den Fersen ist, müssen sich an einander abnutzen. Dann habe ich sie beide gleichzeitig überwunden.«

»Leopold!« rief die Kommandostimme.

Da erst bemerkten sie, daß eine ganze Gesellschaft im Gefolge des Kaisers vorne den letzten Salon betreten hatte, sie bewegte sich gleich vor der halboffenen Tapetentür. Ja, der Kaiser selbst machte Miene, hereinzukommen, mit seinem Generaladjutanten, er gab Befehle, denen Jener nicht gehorchte!

»Wo ist Leopold? Leopold soll mir beistehen.«

»Majestät halten zu Gnaden.« Der Generaladjutant wand sich in tiefer Not. »Der Wille Eurer Majestät ist mein einziges Gesetz.«

»Das wollen wir hoffen,« grollte die Majestät.

»Aber die Schwertmeyer? Es geht zu weit, Majestät halten zu Gnade.«

»Platze, hüte Deine Glatze!«

»Ich kann die Verantwortung nicht tragen, bitte untertänigst sie dem Reichskanzler übertragen zu wollen. Eine Dame vom Ruf der Schwertmeyer, hierbleiben im kleinen Kreis, wenn das Publikum den Platz räumt! Als treuer Diener meines Herrn müßte ich die Konsequenzen ziehen.«

»Deine Konsequenzen kenn' ich, Platze. Dich werd' ich nie wieder los. Tu mir nichts, ich tu Dir auch nichts.« Der Herr hielt die Hand hin. Der Diener knickte rechtwinkelig ein und küßte sie.

Sie gaben die Tür frei. Mangolf und Terra einigten sich wortlos dahin, daß denen, die dies mitangehört hatten, nur schleunige Flucht erübrige. Um den Daliegenden herum wichen sie bis hinter den Vorhang. Vorn erschien grade die Altgott. Sie zog heftig die Luft ein, der Schrecken stieß sie vor die Brust. Geistesgegenwärtig trotz allem wollte sie die Tür schließen, aber bevor es gelang, schob noch die alte Jerichow sich hindurch. »Liebste, das lassen Sie man Niemand sehen!« sagte sie und sah es sich an. »Besonders Majestät nicht! Majestät ist man bloß für das Rotbackige. Zustände nimmt er ungnädig auf ... Was ist es denn?«

Die Altgott kniete bei dem Verunglückten. »Er hat nur wieder zuviel gegessen«, beteuerte sie. »Jerichow, schreien Sie nicht so, halten Sie die Tür zu, daß die Fischer nicht hereinkommt! Sowieso spioniert sie. Helfen Sie mir doch, Jerichow, er muß in mein Schlafzimmer.« Aber die alte Hofdame gab nur Ratschläge.

»Da ist nun bloß eins gut, Liebste. Das ist, wenn die Kiepke betet. Wohnt ja'n bischen weit, Papestraße, aber hinschicken sollten Sie. Alraunwurzel tut es manchmal auch. Kriegen Sie bei Tietz, fünfzig Pfennig mit Glassturz.«

Auf sich allein angewiesen, fand die Altgott die ganze Kraft der Liebe. Sie hob, Edith Schwanenhals auf dem Schlachtfeld von Hastings, den Liebsten vom Teppich, ohne Wanken trug sie ihn hinter den Vorhang. Terra und Mangolf wichen, wie sie nahte, in ein nächstes Zimmer, dann noch durch mehrere, bis zu Ausgang und Treppe.

Noch immer zögerten viele Gäste, den Platz zu räumen. Was versäumte man alles! Majestät blieb im kleinen Kreise, nichts zu machen. Aber die Schwertmeyer? Zerflossene Gesichter, die wahnsinnige Überanstrengung der letzten Stunden in Blicken, die zusammenbrachen, – aber angeklammert wie Verzweifelte. »Herr Schellen!« Graf Haunfest holte ihn, Aufnahmen machen. »Kann man nicht mit draufkommen? Majestät hat mich heute ausgezeichnet. Wie? Nur Majestät und das Brautpaar? Mit Familie? Und die Schwertmeyer! Ist Familie?«

Durch den Sklavenaufstand brachen die Freunde sich getrennte Bahnen. Die Mäntel und fort, jeder für sich, ohne nur mit den Augen zu winken: Mitwisser vieler Dinge.


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