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Berkeleys »Alciphron oder der philosophische Kleinmeister«
Zweiter Dialog, § 4 und 5

Crito. Ich kann Euch die Lehre des Lysicles durch Beispiele erläutern, aus denen ihre Wirkungskraft zu ersehen ist. Cleophon, ein philosophischer Kleinmeister, widmete der Erziehung seines Sohnes grosse Sorgfalt und führte ihn zeitig in die Grundsätze seiner Sekte ein. Callicles – so hiess sein Sohn – machte als gut begabter Jüngling bemerkenswerte Fortschritte, insofern er, noch ehe er erwachsen war, seinen alten habsüchtigen Vater durch Kummer und Verdruss tötete und das Gut, das jener hinterliess, verwüstete, – oder mit anderen Worten: machte es der Allgemeinheit zum Geschenk, indem er den von seinen Vorfahren gesammelten schnöden Mammon unter das Volk brachte und so aus dem einen übergrossen Vermögen eine Reihe kleiner Gütchen für erfindungsreiche Männer schuf, die von den Lastern der Grossen leben. Telesilla war zwar eine Frau von Geist und Rang, sie spielte aber solange keine grosse Rolle, bis sie durch ihren Ehegemahl in den Lehrsätzen der philosophischen Kleinmeister unterwiesen ward, von denen dieser klüglich annahm, dass sie sie abhalten würden, etwas für barmherzige Zwecke auszugeben. Von der Zeit an erging sie sich in kostspieligen Vergnügungen, namentlich in hohem Spiel, wodurch sie schnell einen beträchtlichen Teil ihres Vermögens an einige scharfsinnige, in jenes Geheimnis eingeweihte Männer übertrug, die es nötiger brauchten und es schneller in Umlauf setzten, als ihr Gemahl getan hätte, der dafür seinerseits einen Erben seiner Güter erhielt, nachdem er vorher nie ein Kind gehabt hatte. Dieselbe Telesilla, die zu nichts zu gebrauchen war, solange sie an ihren Katechismus glaubte, glänzt nun als eine elegante Weltdame an allen öffentlichen Orten und hat durch ihr übertriebenes Prunken mit Spitzen und mit feinen Kleidern in anderen Damen einen Drang zum Geldausgeben erzeugt, sehr zum Gewinn des Ganzen, doch freilich auch zum Verdruss gar manches sparsamen Ehemannes.

Während Crito diese Tatsachen mit ernster Miene vortrug, konnte ich mich des Lächelns nicht erwehren. Als Lysicles dies bemerkte, sagte er: Oberflächliche Geister mögen in solcher Darstellung vielleicht etwas Lächerliches finden; alle aber, die im wahren Denken Meister sind, müssen unbedingt sehen, dass jene Grundsätze, deren Nutzen allgemein und deren Schaden nur für Einzelpersonen und Familien von Belang ist, in einem weise geordneten Staatswesen unterstützt werden sollten.

Ich für meinen Teil, sagte Euphranor, gestehe, durch Euren Gedankengang eher verwirrt und geblendet als überzeugt zu sein, der, wie Ihr selbst bemerkt, durch sein Zusammennehmen vieler entfernten Punkte ein umfassendes Denken zu seinem Verständnis erfordert. Ich muss Euch daher bitten, mir meine Schwäche nachzusehen; erlaubt mir, dass ich in einzelnen Stücken nehme, was zu gross für mich ist, um es auf einmal zu empfangen. Und wo ich mich Euch nicht zur Seite halten kann, da lasst mich Euch Schritt für Schritt folgen, so geschwind ich kann.

Lysicles. Ihr sprecht ganz vernünftig. Nicht jeder kann eine lange Gedankenkette mit eins in sich aufnehmen.

Euphranor. Eure verschiedenen Argumente scheinen darin zu wurzeln, dass das Laster das Geld in Umlauf setzt und den Gewerbefleiss anspornt, wodurch ein Volk zur Blüte gelangt. Ist es nicht also?

Lys. Gewiss.

Euph. Und der Grund dafür, dass das Laster diese Wirkung hervorbringt, ist, weil es einen gewaltigen Verbrauch von Waren verursacht, was für die Fabrikanten den grössten Gewinn bedeutet, da deren Förderung in einer starken Nachfrage und einem hohen Preise besteht.

Lys. Richtig.

Euph. Daher betrachtet Ihr auch einen Trunkenbold als höchst vorteilhaft für den Brauer und den Winzer, da er einen starken Verbrauch von Getränken verursacht, sofern er mehr als andere Menschen trinkt.

Lys. Ohne Zweifel.

Euph. Sprich, Lysicles, wer trinkt mehr, ein kranker Mann oder ein gesunder?

Lys. Ein gesunder.

Euph. Und wer ist gesünder, ein nüchterner Mann oder ein Trunkenbold?

Lys. Ein nüchterner Mann.

Euph. Ein nüchterner und gesunder Mann also dürfte wohl mehr trinken als ein Trunkenbold, wenn er krank ist?

Lys. Er dürfte wohl.

Euph. Was meint Ihr, wird ein Mann in einem langen Leben oder in einem kurzen mehr essen und trinken?

Lys. In einem langen.

Euph. Ein nüchterner, gesunder Mann dürfte also in einem langen Leben durch Essen und Trinken mehr Geld in Umlauf setzen, als ein Schlemmer oder Trunkenbold in einem kurzen?

Lys. Nun und?

Euph. Nun, es scheint, er dürfte gerade durch dieses Verhalten im Essen und Trinken der Allgemeinheit mehr Gewinn bringen.

Lys. Ich werde nie zugeben, dass Mässigkeit der richtige Weg zur Förderung des Trinkens ist.

Euph. Aber Ihr werdet zugeben, dass Krankheit das Trinken verringert und der Tod ihm ganz ein Ziel setzt? Das gleiche Argument wird, soviel ich sehen kann, für alle anderen Laster Geltung haben, die des Menschen Gesundheit schädigen und sein Leben verkürzen. Und falls wir dieses einräumen, wird es nicht mehr so klar ersichtlich sein, dass das Laster der Allgemeinheit Nutzen bringt.

Lys. Wenn man aber auch einräumt, dass manche Handwerker und Kaufleute durch mässig lebende Menschen ebensosehr wie durch lasterhafte gefördert werden könnten, – was sollen wir von denen sagen, die ganz auf Laster und Eitelkeit angewiesen sind?

Euph. Falls es solche gibt, könnten sie nicht, ohne Verlust für die Allgemeinheit, anderweitig beschäftigt werden? Sage mir, Lysicles, liegt etwas in der Natur des Lasters als solchem, was es zu einem allgemeinen Segen macht, oder ist es lediglich der Verbrauch von Gütern, den es veranlasst?

Lys. Ich habe ja bereits gezeigt, wie es der Nation durch den Verbrauch ihrer Waren nützt.

Euph. Und Ihr habt zugegeben, dass in einem langen und gesunden Leben mehr verbraucht wird als in einem kurzen und kränklichen; und Ihr werdet nicht leugnen, dass Viele mehr verbrauchen als Einer? Im ganzen also, rechnet Euch aus und sagt mir, wer wird voraussichtlich den Gewerbefleiss seiner Landsleute mehr anregen, ein tugendhafter verheirateter Mann mit einer zahlreichen gesunden Nachkommenschaft, der die Waisen in seiner Nachbarschaft speist und kleidet, oder aber ein vornehmer Nichtstuer und Lebemann? Ich möchte wohl wissen, ob das Geld, das auf ehrliche Weise ausgegeben wird, nicht ebensogut zirkuliert wie das auf einem lasterhaften Wandel ausgegebene; und wenn dies der Fall, ob es nach Eurer eigenen Regel der Allgemeinheit nicht ebenso zugute kommt.

Lys. Was ich bewiesen habe, habe ich ein für allemal bewiesen, und es ist unnötig, noch mehr Worte darüber zu verlieren.

Euph. Ihr scheint mir aber gar nichts bewiesen zu haben, ausser wenn Ihr dartun könnt, dass man sein Geld unmöglich auf ehrliche Weise ausgeben kann. Ich dächte doch, das öffentliche Wohl eines Landes besteht in der Menge und der glücklichen Lebenslage seiner Bewohner. Habt Ihr hiergegen etwas einzuwenden?

Lys. Wohl nicht.

Euph. Was würde nun zu diesem Ziele am ehesten hinführen, die Beschäftigung von Menschen in freier Luft und kräftigender Körperarbeit oder in einer mit vielem Sitzen verbundenen Tätigkeit im Hause?

Lys. Jenes erste, denke ich.

Euph. Scheint es also nicht so, dass Bauen, Garten- und Landarbeit mehr Menschen zum Nutzen der Allgemeinheit beschäftigen würde, als wenn die Schneider, Barbiere, Parfumeure, Destillateure und dergleichen Künstler vermehrt würden?

Lys. Alledem stimme ich bei; aber es beweist gegen Euch. Denn was veranlasst den Menschen, zu bauen und zu pflanzen, wenn nicht Eitelkeit, und was ist Eitelkeit, wenn nicht ein Laster?

Euph. Wenn aber jemand dies zu seiner Bequemlichkeit oder seinem Vergnügen und im Verhältnis zu seinem Einkommen täte, ohne törichtes Gepränge oder Überschätzung des berechtigten Wertes dieser Dinge, so würden sie doch keine Wirkung des Lasters mehr sein. Und woher wisst Ihr, dass dies nicht der Fall sein kann? –

Crito. Eines weiss ich: dass, um jene Zweige des Gewerbes zu beleben und Zimmerleute, Maurer, Schmiede und alle solche Handwerker zu beschäftigen, dass hierzu das beste Mittel wäre, der willkommenen Anregung eines berühmten philosophischen Kleinmeisters zu folgen, der durch gründliches Nachdenken entdeckt hat, dass das Einäschern Londons gar keine so schlechte Tat wäre, wie dumme, voreingenommene Leute vielleicht denken mögen; insofern es nämlich ein schnelles Zirkulieren des Eigentums bewirken würde, seine Übertragung von den Reichen auf die Armen und die Beschäftigung einer grossen Anzahl von Handwerkern jeder Art. Dies wenigstens kann nicht geleugnet werden, dass es dem Denken unserer Brandstifter, aus denen die Allgemeinheit seit kurzem Nutzen zieht, ganz neue Wege gewiesen hat.

Euph. Ich kann diesen sinnreichen Einfall nicht genug bewundern.


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