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Wie Manito die Vöglein schuf.

Einstmals, an einem köstlichen Frühlingstage, stieg Kitschi-Manito, der große Geist, von seinem Felsensitze auf dem unerforschten Gipfel der Rocky-Mountains herab auf die noch unfruchtbare kahle Ebene, die sich längs des Felsengebirges hinzieht, und siehe da – wo immer die Füße des großen Geistes den Erdboden berührten, dort sproßten und grünten Gras und Blumen hervor.

Wo eben noch dürftige Flechten und Moosarten zwischen rauhem Gestein und Trümmern ihr kümmerliches Dasein fristeten, dort erschienen üppige, grüne Matten und Wiesen, denen dunkelglühende, weiße und gelbe, vielgestaltige Blüten einen buntfarbigen Schimmer verliehen.

Im Vorwärtsschreiten betrat Manito den Wald, doch kahl und leer ragten die Gipfel der schlanken Bäume in die von Sonnengold erfüllte Luft.

Kitschi-Manito erhob segnend beide Hände und faßte nach den kahlen Zweigen, über die er leise, zärtlich schmeichelnd hinstrich, und, o Wunder, an jeder Stelle, die seine heiligen Hände berührten, da schwollen Knöspchen an, sie reckten und dehnten sich im Sonnenschein, und alsbald entwickelte sich aus ihnen das frische, grüne Laub der Waldbäume.

Alltäglich, bei seinen Wanderungen, erfreute sich Manito an dem Wachsen der Blätter, an dem Gedeihen des Waldes, der wie ein dichter, grüner Gürtel den Fuß der Rocky-Mountains umschloß.

Als später im Hochsommer die Sonnenstrahlen glühend heiß herab auf die Wipfel der Bäume sengten, da färbten sich ihre Blätter und zogen ein buntes, vielfarbiges Herbstgalakleid an.

Goldbraun in allen Schattierungen bis hinauf zu dem purpurleuchtenden Rot färbten sich die Blätter.

Mit unendlichem Wohlgefallen betrachtete Manito den buntschimmernden Wald; aber kurze Wochen später rasten und tobten wilde Stürme von den Bergen herab. Sie zerrten und rüttelten an den bunten Blättern, rissen sie von den Zweigen und jagten sie im wilden Spiele vor sich her, bis die armen Blätter verdorrt, zerflattert und zerstückelt am Erdboden liegen blieben.

Unendliches Mitleid mit dem herben Los der schönen bunten Blätter beschlich das Herz des großen Geistes, und er sann auf ein Mittel, den bunten Blättern eine längere Lebensdauer zu sichern.

In tiefes Nachdenken versunken verharrte Manito einen Tag und eine Nacht, dann erhob er sich von seinem Felsensitze, sein schöpferischer Geist hatte einen Ausweg ersonnen.

Vorsichtig las er die herabgefallenen bunten Blätter vom Erdboden auf, hauchte sie leise an, und alsbald belebten sie sich und hoben sich flatternd und schwebend hoch empor in die klare Herbstluft.

Frei schwebend, nicht mehr ein Spiel der wilden, ungebärdigen Winde, umkreisten sie das Haupt ihres Schöpfers. – – –

So wurden die Vögel geschaffen.

Aus den rostbraunen Baumblättern wurden zierliche, bräunliche Rotkehlchen, der farbenprächtige Kardinal entstand aus den Blättern eines Ahorns. Die goldgelben Weidenblätter verwandelten sich in Goldammern.

Nun gab es im Walde noch eine Anzahl schlichtbrauner, grünlichgrauer Blätter. Aus ihnen formte Manito Lerchen, Schwalben und Nachtigallen. Aber weil ihnen ihr Schöpfer kein buntschillerndes Gewand schenken konnte, so hauchte er ihnen als Entschuldigung für ihr schlichtes Kleid eine köstlich reine und klare Stimme ein.

Mit ihrem melodischen Gesange entzückt die schlicht befiederte Lerche, die farblose Nachtigall noch heute die Herzen der Menschen.

Und weil die Vögel aus den Blättern der Bäume entstanden, so hegen sie noch heute eine große Vorliebe für den Wald und bauen ihre Nester am liebsten in die Kronen oder dichtbelaubten Zweige der Waldbäume.

 

Ende

 


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