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Der Zwietrachtsäer.

Hart an der Grenze zwischen Italien und der Schweiz erhebt sich der Monte Rosa. Er ist, obschon ihn der Montblanc um 172 Meter überragt, dennoch der gewaltigste, massigste Gebirgsstock der Alpen.

Nach dem Kanton Wallis senken sich seine mächtigen, eisgepanzerten Felsenmauern fast senkrecht herab, und seine Schroffen und Schründe, seine Eisfelder und Gletscherarme schlingen sich weit hinein in das an malerischen Landschaftsbildern so überreiche Vispertal. Besonders der silberglänzende Gornergletscher streckt seine Ausläufer bis hinab auf die immergrünen Matten von Zermatt.

Vor vielen, vielen Jahren breitete sich am Fuße des Monte Rosa, hart an der Grenze des ewigen Schnees, ein fruchtbares, üppig prangendes Tal aus.

Glückliche, zufriedene Menschen bewohnten das von allen Seiten durch himmelhohe Felsen eingeschlossene Paradies. Die niedern Anhöhen und Berglehnen waren mit Rebstöcken besetzt, riesige, weit ausladende Obstbäume, an deren Zweigen die köstlichsten Früchte reiften, standen in den Gärten, die gleich einem grünen Kranze die versteckt liegenden Gehöfte umgaben.

Auf den Vorbergen badeten edle, bläulich schimmernde Tannen und frisch-grüne Fichten ihre schlanken Wipfel im Sonnenschein, während auf den Matten Butterblumen und Tausendschön, schlanke Glockenblumen, tiefblaue Vergißmeinnicht und purpurne Steinnelken erblühten.

Von den Eisfeldern, die im Strahle der Sonne glitzerten und blinkten, rieselten silberhelle Bächlein herab, deren melodisches Rauschen sich mit dem Gesang arbeitsfroher Menschen mischte.

Auf einem Saumpfade, der bald zu schwindelnder Höhe emporkletterte, bald hinab an das Ufer des wildschäumenden Bergbaches führte, konnte man dieses Tal, dessen Bewohner sich schon in frühester Zeit zum Christenglauben bekannten, erreichen.

Eine zierliche, aus Holz erbaute Kirche, deren schlanker Turm ein weithin sichtbares Kreuz krönte, stand mitten im Tale auf einer Anhöhe. Dicht daneben das Haus des »Talherrn«. Diesen schönen Namen führte der Geistliche, in dessen treuer Hut auch die Sorge für das irdische Wohl der Talbewohner lag.

Diese waren fleißig, genügsam und bescheiden; durch weise Sparsamkeit wuchs ihr Besitz von Jahr zu Jahr.

In brüderlicher Eintracht war manches Jahr dahingeschwunden, als eines Tages ein fremder Mann im Ort auftauchte.

Niemand wußte, wie der Fremdling in das Tal gekommen, niemand kannte seine Heimat, seine Abstammung.

Er nannte sich Hyoschgâmus und führte in seinem Felleisen mancherlei getrocknete Kräuter und wunderliche Sämereien mit sich.

Hausierend zog er von Hof zu Hof.

Mit glatten Worten verstand er die Vorzüge seiner Waren anzupreisen, so daß er aufmerksame Zuhörer und willige Käufer fand.

Sein Felleisen ward von Tag zu Tag leichter, sein Beutel, den er an einem Riemen um den Leib trug, schwerer.

Ungestört betrieb der wunderliche, schwarzäugige Geselle sein Handwerk; niemand bemerkte, daß in jedem Hause, sobald der Fremde sein Geschäft vollendet und den Rücken gewendet, Hader und Zank ausbrach.

Väter und Söhne erzürnten sich, Mütter und Töchter vertrugen sich nicht länger, niemand wollte mehr gehorchen, sondern jeder nur befehlen und herrschen.

Mit Kummer und Herzeleid bemerkte der Talherr, wie Zwietracht und Streit unter seinen sonst so friedlichen Schutzbefohlenen immer weiter um sich griffen, ja, letzten Samstag hatte der ehemals friedfertige Matterbauer seine Tochter, das blauäugige Roserl, von Haus und Hof verjagt.

Weinend und klagend war Roserl zum Talherrn gelaufen und hatte ihm ihr Leid »verzählt« und dabei ganze Ströme von Tränen vergossen.

Der greise Talherr schüttelte sein ehrwürdiges Haupt, rückte das Käppchen hin und her, dann ermahnte er Roserl mit beweglichen Worten, heimzugehen und den Vater um Verzeihung zu bitten.

»Weshalb warst so streitig, Dirndl?« fragte der Greis.

Schuldbewußt senkte Roserl den hübschen Kopf.

»Hochwürden, ich weiß halt gar nicht mehr, was über mich kommen ist. Ich mußte streiten, dem Vater widersprechen – aber – jetzt fällt mir's wie Schuppen von den Augen und – ich sehe mein Unrecht ein,« erwiderte sie kleinlaut.

»Dann – so geh' heim und sei ein braves, folgsames Kind.« Während noch Roserl dem Talherrn die Hand zum Abschied küßte, erschienen Scharen von Anklägern, die alle den Schutz und die Gerechtigkeit des Talherrn anriefen.

Mit verstörter Miene lauschte der Greis ihren heftigen Worten. Seltsam, ihre Klagen glichen denen Roserls auf das Haar.

Das friedliche Tal war zum Herd der Zwietracht, des Aufruhrs geworden. Kampf und Streit, wohin man blickte. Aus jedem Hause schallten zornige, böse Worte – aber – – wunderbarer Weise ebneten sich, ganz wie bei Roserl, die Wogen der Erregung, sobald die Zankenden ihre Häuser verließen. Doch da man nicht unter Gottes freiem Himmel ausdauern konnte, so erneuerten sich auch bei der Rückkehr unter Dach und Fach die Feindseligkeiten.

Es war, als sei ein böser Geist in das friedliche Dorf eingezogen.

Verzweifelt rang der Talherr die Hände, ungehört verhallte seine Stimme; selbst die Kirche blieb leer – man hatte keine Zeit, das Gotteshaus zu besuchen, es galt, sich daheim zu zanken und zu streiten.

Nur einer beteiligte sich nicht an Hader und Zank – das war der Fremde, der mit hämisch lächelnden Mienen von Haus zu Haus eilte, sich die Hände vor Behagen rieb und die Zwietracht noch teuflisch grinsend schürte.

Bei der allgemeinen Unruhe beobachtete niemand den fremden Gesellen, der eine geheimnisvolle Geschäftigkeit entwickelte.

Von der herabdämmernden Nacht beschützt, empfing er bärtige, wildblickende Männer. Kleine schwarzäugige Gesellen, die, ihrer Kleidung und Sprache nach, tief unten im heidnischen Süden daheim waren.

Auf leisen Sohlen schlichen sie daher, mit begehrlichen Blicken betrachteten sie das blühende Tal. Sie flüsterten mit dem Fremdling, dann verschwanden sie wieder, geheimnisvoll wie sie gekommen, im Dunkel der Nacht.

Wochen gingen ins Land.

Aufgerieben und gehetzt von dem täglich sich erneuernden Streiten erschlaffte die Tatkräftigkeit, die Energie der Talbewohner.

* * *

Da – in einer sternenhellen Nacht zogen, Leib an Leib geschmiegt, eine Schar waffentragender Männer in lautloser Stille durch den Engpaß ins Tal.

Immer neue Gestalten quollen aus der Dunkelheit des Engpasses hervor, geräuschlos überschwemmten sie das Tal. Erst als sie sich festgesetzt, störten sie durch wildes Schreien und Waffengerassel die Schläfer aus dem Schlummer empor.

Halb bekleidet, mit wirren Mienen und verstörten Gesichtern ließen sich die durch die vorangegangenen wüsten Streitereien entnervten Männer fesseln, die Weiber und Kinder wurden in eine Scheune gleich Schlachtvieh getrieben und eingeschlossen. Eine helle, schimmernde Flamme lohte zum Nachthimmel empor. Die heidnischen Eindringlinge hatten die Scheune an allen vier Ecken in Brand gesteckt. Wimmern und Klagen schallten aus dem lichterloh brennenden Gebäude.

Die dem Feuertode preisgegebenen Weiber und Kinder suchten einen Ausweg aus den Flammen; doch hohnlachend stießen die Unholde sie wieder zurück.

Durch eine wunderbare Fügung war der Talherr dem allgemeinen Gemetzel entgangen. Er rettete sich in die Kirche. Vor dem Altar mit dem Bilde des gekreuzigten Heilands lag er auf den Knien. Er betete voll Inbrunst zu seinem Gott und Herrn. In heiligen Andachtsschauern versunken, bemerkte er nicht, daß aus der Dunkelheit des Fremden wild verzerrtes Antlitz neben ihm auftauchte. Gewaltsam riß er den frommen Gottesmann empor. Auge in Auge standen sich nun die beiden Männer im flackernden Schein der ewigen Lampe gegenüber, hohnlachend im Gefühl seines sicheren Sieges der Fremde, der Talherr vertrauend auf die Hilfe des Heilandes. Einen Augenblick blieb es still, dann lachte der Fremde gellend auf.

»Nun, Christ?« fragte er triumphierend, »wer hat den Sieg davongetragen? Unsere Götter oder dein schwacher Christengott? Unsere Götter sind stärker, sie haben –«

»Nein, du allein hast die Talbewohner mit ruchloser Hand, mit verbrecherischen Mitteln überlistet.«

»Das Kräutlein der Zwietracht ihnen ins Haus getragen. Toren, die sich selbst zerfleischen. Den Samen und die Blätter des goldgelben Bilsenkrautes, das nur auf verpesteten Stellen, unter den sengenden Strahlen der Sonne des Südens gedeiht, die haben sie auf meinen Rat hinter dem heißen Ofen geborgen und so seine gefährliche Wirkung vervielfältigt. Mit den vergifteten, geistig und körperlich geschwächten Menschen wurden wir heute nacht leicht fertig. Nun gehört das schöne, fruchtbringende Tal unserm Stamme.«

»Halt –« rief der Talherr, »halt ein, Vermessener! Einen Gegner hast du in deinem Hochmut vergessen: Gott, den allmächtigen Herrn des Himmels und der Erden, ohne dessen Willen kein Grashalm sprießt, der mit gewaltiger Hand das ganze Weltall umspannt hält.«

»Hohoho – er soll sich mir nur zeigen! Ihn fürchte ich nicht – diesen unsichtbaren Gott,« schrie der Fremde.

»So wirst du ihn fühlen lernen,« erwiderte sanft, doch fest der Talherr.

Mit hoheitsvoller Miene trat der Greis vor den Altar, und seine Hände erhebend, rief er mit lauter, weithin schallender Stimme: »Herr! Herr, mein Gott! erhöre mein Flehen! Zeige, daß du der Herr des Himmels und der Erde bist! Strafe diese Ungläubigen, die gekommen sind, deine fromme Christengemeinde zu vernichten, lasse Feuer und Wasser vom Himmel regnen, diese Heidenschar zu vernichten.«

Noch während der Talherr betete, erklang ein Rauschen und Raunen durch die Stille der Nacht. Von den Bergen donnerten Lawinen, der Erdboden schwankte, das Portal des Kirchleins sank in sich zusammen. Nun lag der Monte Rosa in seiner gewaltigen Ausdehnung vor den Blicken der beiden Gegner.

Der Fremde erzitterte, er verbarg sein Antlitz in den Falten seines schwarzen Mantels. Wild, angstvoll stöhnte er auf, seine Augen starrten nach dem Gipfel des Monte Rosa. Von dort herab ergoß sich ein im Mondenlicht silbern glitzernder Strom. Er ward breiter und breiter, Felstrümmer trug er mit sich fort. Er überflutete die hohen Tannen, die schlanken Fichten, deren mächtige Stämme er gleich Strohhalmen zerbrach. Die schmucken Gehöfte, die wogenden Felder, die fruchttragenden Obstgärten – alles, alles verschwand unter dem kristallhellen Strome, der sich direkt nach dem Hügel, auf dem das kleine Gotteshaus stand, einen Weg bahnte.

»Der Gletscher kommt! Das Eismeer des Monte Rosa ist in Bewegung!« schrie der Fremde, an allen Gliedern zitternd.

»Gott, mein Herr, du bist gerecht und groß! Dein Name sei ewig gepriesen,« betete der Talherr.

Sein Antlitz leuchtete in hehrer Glaubensfreudigkeit. Mit froher Zuversicht auf ein besseres Leben nach dem Tode sah er seinem nahenden Untergang entgegen, während der Heide zitternd und jammernd nach einem Ausweg aus der eisigen Umarmung des Gletschers suchte.

Vergebliche Mühe! Schneller als ein Vogel fliegt, flutete der Eisstrom daher, sein kalter Odem erfüllte die Luft. Alles Leben vernichtend, die Heidenscharen und das blühende Dorf unter seinen Eiswogen begrabend, erfüllte er das weite Tal.

* * *

Tief hinab in das Tal von Zermatt erstreckt sich heute der Gornergletscher. Unter seinen klar schimmernden Eismassen liegt die Vergangenheit begraben, und nichts ist von ihr übriggeblieben als diese Sage.


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