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Wälty.

Eingebettet zwischen mächtigen, zum Himmel emporragenden Felsen lag ein lieblicher See. Blau, wie der Himmel, der sich auf seiner leicht gekräuselten Oberfläche widerspiegelte, waren seine Fluten, über die buntfarbige Schmetterlinge und goldglänzende Libellen gaukelten. Sie wiegten und schaukelten sich auf den hellen Sonnenstrahlen, die bis tief hinab in die kristallhelle Flut eindrangen.

Nur an einer Seite traten die Felsen weiter zurück, um einer saftig grünen Rasenfläche, die sich bis hinab zu dem steilabfallenden Ufer erstreckte, Platz zu gönnen.

Hier stand ein Hüttchen.

Fischernetze hingen auf hölzernen Gestellen vor den schmalen Fenstern. Die grün angestrichene Haustür stand weit offen, doch niemand zeigte sich auf der Schwelle, keines Menschen Stimme erklang durch die tiefe, feierliche, sonntägliche Ruhe, die über See und Hüttchen ausgebreitet lag.

Und dennoch war das Hüttchen nicht unbewohnt. Draußen auf dem See wiegte sich ein kleiner Kahn, und in ihm saß ein schöner, schwarzlockiger Knabe.

Wohl war sein Gewand armselig und fadenscheinig, wohl trug er weder Schuhe noch Strümpfe, aber dennoch war der Fischerwälty, wie man ihn im nahen Dorfe nannte, der hübscheste Knabe weit und breit.

Dunkle krause Locken quollen unter der abgegriffenen Mütze hervor, und aus seinen schwarzen, wie Diamanten blitzenden Augen sprach so viele Herzensgüte. Unerschrockenheit und Mut, daß ihm jedermann von Herzen zugetan sein mußte.

Leise glitt das Boot über das sonnenbeschienene Wasser. Ein Netz lag neben Wälty; doch der sonst so fleißige Knabe hielt heute die Hände müßig auf den Rand des Botes gestützt und schaute, eifrig forschend, hinab in den See.

Was gab es dort unten in der unergründlichen Tiefe zu sehen? Weshalb leuchtete es so wunderbar in des Knaben dunklen Augen auf?

Wälty war ein Sonntagskind, und Sonntagskinder sehen bekanntlich viel mehr als andere Menschenkinder.

So auch hier.

Tief unten auf dem Grunde des Sees erblickte der Fischerknabe eine herrliche Stadt. Prachtvolle Kirchen erhoben unter dem Wasserspiegel ihre schlanken Türme, so daß Wälty oft fürchtete, der Kiel seines Bootes berühre die mächtigen, goldenen Kuppeln und Knäufe, in welche die Turmspitzen ausliefen. Auch schöne Gärten, in denen seltsam geformte Bäume und eigenartig buntglänzende Blumen standen, bemerkte er. Sie umgaben ein weitläufiges Schloß, dessen Wände aus weißen Marmorsteinen gebildet waren. Marmorstufen führten zum Portale empor, über die goldgewirkte Teppiche gebreitet lagen.

Wälty staunte, aber was war alle diese Pracht gegen den wunderbaren Anblick, der sich nun seinen Augen darbot.

Zwei silberweiße Schwäne erschienen in der glitzernden Flut. Langsam, leise schwebten sie zur Oberfläche des Sees herauf. Lichtblaue Bänder umschlangen die schlanken Hälse, ein goldener Nachen war daran befestigt. Dieser war mit feinen lichtblauen Stoffen bekleidet, und in ihm ruhte ein schlummerndes Mägdelein.

Lange, blonde, goldigglänzende Locken umrahmten das liebliche Antlitz. Ein Kleid aus schwerer Seide umhüllte ihre zarte Gestalt. Sie schlummerte. Ein holdseliger Traum mußte sie umschweben, denn ein leises, liebliches Lächeln zitterte um ihre Lippen, die, halbgeöffnet, zwei Reihen der schönsten Zähnchen sehen ließen.

Wälty hielt seinen Nachen an und betrachtete voll Staunen das Wunder, das sich vor seinen Augen erschloß.

»Wer mag das holde Mädchen sein? Woher ist sie gekommen?« flüsterte Wälty leise vor sich hin. »Ob es eine Prinzessin ist? Ein Königskind? Sie ist so fein und zart und schön. Gewiß, sie muß eine Prinzessin sein; ach – wenn sie nur erwachen wollte,« dachte der Knabe weiter, »wie gerne möchte ich ihr in die Augen schauen, sie sind gewiß so schön blau wie der liebe Himmel droben.« Der von den Schwänen gezogene Nachen schwebte dem westlichen Ufer des Sees zu. Hier fielen die steilen Felsen fast senkrecht ab.

Obgleich Wälty ein Gericht Fische für die Mutter zum Mittagsmahle fangen wollte, so folgte er doch unwillkürlich dem Wunderkahne.

Dicht neben einem steil ins Wasser abfallenden nackten Felsen hielt der Kahn still.

Seltsam, der Fischerknabe, der so manches Mal beim Fischen hier vorübergefahren, hatte noch niemals die große, tief in den Felsen eingesprengte Halle bemerkt, die sich urplötzlich seinen erstaunten Blicken darbot. Nach dieser Halle zu schwammen die Schwäne, und in demselben Augenblick, wo der Schnabel des Kahnes das Ufer berührte, trat eine wunderlich gekleidete Frau aus der Steinhalle hervor. Ein grellrotes Gewand hüllte sie vom Kopf zu den Füßen ein. Unter dem roten Mantel streckte sich ein langer dürrer Arm hervor, und mit einer Kraft, die Wälty dem alten, dürren Weibe niemals zugetraut, zog sie den Kahn völlig ans Ufer. Knirschend stieß er auf den Ufersand, und sofort tauchten die silberweißen Schwäne hinab in die Fluten.

Wältys Herz begann angstvoll zu klopfen. Sein Gefühl sagte ihm, daß der holden Schläferin Gefahr drohte. War das rote Weib ihre Feindin?

»Ich will wohl acht haben, der schönen Prinzessin darf kein Leid geschehen! Ich will sie schützen!« Mit gesteigerter Aufmerksamkeit verfolgte der Fischerknabe die Bewegungen der Alten. Diese neigte sich tief und tiefer über den Rand des Kahnes, dabei glitt ein schadenfrohes, höhnisches Lächeln über ihr runzelvolles Gesicht.

Die Schläferin bewegte sich nicht. Wältys Angst stieg. Was führte die Alte im Sinne?

Nun erhob sie ihre knöchernen Arme und bewegte sie langsam, wie beschwörend, über Gesicht und Brust des Mädchens. Jetzt wichen Wältys letzte Zweifel, die Alte war eine Hexe, und dem Königskinde drohte Gefahr.

»Wie gut, daß ich alles beobachten kann, ich werde die Prinzessin gegen die Heimtücke und Ränke des bösen Weibes beschützen,« gelobte sich der mutige Knabe. Staunend bemerkte er nun, wie die Hexe unter ihrem Mantel einen hellblitzenden Gegenstand hervorzog und diesen behutsam auf die Brust der Schläferin legte. Mit zufriedener Miene beobachtete sie ihr Werk, darauf verschwand sie in der Felsenhalle. Wälty wartete; dann, als alles still blieb, ruderte er vorsichtig nach der Felsenhalle zu und stieg leise, bedächtig die Stufen zur Felsenhalle empor. Staunend blickte er umher. Die Halle war tief, tief in die Felsen hineingesprengt. Ganz in der Ferne, klein wie ein Stecknadelknopf schimmerte es rot und gelb, wie der Schein eines Feuers.

Seine aufsteigende Furcht bekämpfend, schritt Wälty nach der Stelle, wo die blonde Schläferin noch immer still und sanft schlummerte.

Wie schön sie war, so lieblich wie Tausendschön, von der ihm sein Mütterchen an langen Winterabenden erzählte, wenn draußen auf dem See die entfesselten Elemente heulten und brausten.

Von Neugierde getrieben, faßte Wälty nach dem seltsam geformten Geschmeide, das die Alte auf die Brust der Schläferin gelegt hatte.

Es war ein großer Rubin. Gleich einer Feuerflamme strahlte er in blutigrotem Scheine auf.

Da, als der Knabe den Stein hob, bewegte ein schwacher Seufzer die Brust der Schläferin. Sie bewegte das Köpfchen und fragte freundlich: »Suleima, bist du bei mir?«

»Suleima ist nicht hier,« erwiderte der Knabe, »ich bin es nur, der Fischerwälty vom See. Meinst du das alte Weib, das diesen schönen Stein auf deine Brust legte?«

Aufmerksam lauschte die blonde Kleine; doch zu Wältys unaussprechlichem Staunen schlug sie auch beim Sprechen die Augen nicht auf, sondern die langbewimperten Augenlider lagen fest geschlossen, wie vorher, auf den rosig angehauchten Wangen.

»Sahst du das alte Weib im roten Mantel nicht,« fragte Wälty verwundert.

»Ein altes Weib? Was ist das? Und ein schöner Stein? Ich verstehe dich nicht, gib ihn mir, damit ich ihn fasse.«

»Schlage deine Augen auf, dann wirst du ihn sehen!«

»Sehen? Wie meinst du das? Du redest von rätselhaften Dingen. Was ist sehen? Kann man es anfassen, oder schmecken?« fragte das Mädchen mit erwachender Neugierde.

»Sehen, hm, was das ist?« wiederholte Wälty, eigenartig berührt. »Nun, sehen kann man den Wald, die Blumen, den See, die Schmetterlinge und Libellen, die im hellen Sonnenschein dich umgaukeln!« antwortete er lebhaft bewegt.

Betrübt ließ die Kleine ihr Köpfchen hängen; der Ausdruck ihres Angesichts verdüsterte sich; dann schüttelte sie bekümmert das Haupt.

»Noch immer kann ich den Sinn deiner Worte nicht fassen! Was ist sehen? Ich kann nur das begreifen, was meine Hände berühren, halten. Siehe, das ist Seide, sie ist so fein und zart und glatt – das ist mein Haar, es ist voll und weich. Neige dich zu mir, damit ich dein Gesicht fühlen kann. Deine Stimme gefällt mir, sie ist so sanft wie das Rauschen einer Quelle.«

Unter leisem Beben gehorchte Wälty. Die Worte des Mädchens waren ihm unverständlich und befremdlich.

Weich und lind strich ihre kleine Rechte über sein Gesicht, dann lächelte sie: »Ach – du bist lieb, du mußt auch gut sein, ich fühle es an deinem Gesicht. Spiele mit mir! Willst du?«

Unter der leisen Berührung ihrer Hand erwachte wie ein Blitz ein furchtbarer Gedanke in des Knaben Seele.

Das blonde Mädchen war blind.

Sie sah die Welt nicht in ihrer Zauberpracht, sie sah nicht den Himmel mit Sonne, Mond und Sternen.

Der Knabe seufzte tief auf, und eine Träne, von innigem Mitleide erpreßt, perlte über seine Wange. Sie rollte auf die Hand der Blinden.

»Du weinst? Bist du traurig? Soll ich dir etwas schenken? Mein Vater ist ein mächtiger Fürst, er besitzt Gold und Kostbarkeiten, und viele Diener gehorchen seinen Befehlen; dennoch ist er oft sehr betrübt. Freilich, ich kenne die Ursache seines Kummers nicht.«

»Sie ist blind!« dachte Wälty, »und, o Gott! sie ahnt ihr Leiden nicht. Ach, könnte ich ihr helfen, ihr das Licht der Augen wieder –« durch den Klang einer schrillen Stimme wurde Wälty aus seinen Gedanken aufgescheucht. Die Stimme schallte aus der Felsenhalle hervor. Unwillkürlich trat Wälty einen Schritt näher, lauschend bog er sich vor; da vernahm er klare, deutliche Worte.

»Prinzessin Edda schläft! Zur Vorsicht habe ich ihr den Geisterschmuck auf die Brust gelegt, nun kann sie nicht erwachen. Verbanne alle Furcht, unser Plan muß gelingen. An diesen einsamen See verirrt sich so leicht kein Wanderer, und Suleima, der Prinzessin Wärterin, habe ich mit Gold bestochen; auch ließ ich die königliche Schläferin durch verzauberte Schwäne nach der Felsenhalle bringen. Nur noch drei Tage, dann ist die Zeit, in der ihre Erlösung geschehen konnte, verstrichen, dann ist der Zauberspruch nicht mehr zu erfüllen, dann bleibt Edda auf ewig blind und wird meines Sohnes Gemahlin. Schon rüste ich alles zum Empfang der holden Braut des Geisterfürsten. Hahaha, niemand kann den Zauberbann lösen, wir triumphieren, woher sollte ein Retter kommen!« Voll hämischen Triumphes wurden die letzten Worte wiederholt. Die unsichtbare Sprecherin besaß ja keine Ahnung davon, daß Wälty jedes ihrer Worte verstanden hatte.

»Zur rechten Zeit bin ich gekommen!« flüsterte Wälty. »Ich will der Retter sein, ich will Prinzessin Edda erlösen,« gelobte sich der tapfere Knabe. »Doch, was soll geschehen?«

Im selben Augenblicke hob Edda ihr Köpfchen, schon öffnete sie die Lippen, um den plötzlich verstummten Gefährten anzureden, als dieser, schnell entschlossen, den geheimnisvollen Rubinstein ihr wieder auf die Brust legte. Sofort fiel sie, von tiefem Schlaf umfangen, auf ihr Lager zurück.

Es war höchste Zeit. Oben in der Halle erschien das rote Weib. Wälty blieb knappe Zeit, sich hinter einen Felsenvorsprung zu verbergen.

Schadenfroh kichernd kam die Alte herbeigewackelt. Ihr kunstvoll angelegter Plan war bisher gelungen, sie glaubte, ihre Beute in sicherer Hand zu halten. Langsam humpelte sie die Steinstufen herab und umschlich mit wunderlich grotesken Bewegungen das Lager der Schlafenden. Dabei sang sie mit eintöniger Stimme: »Schlaf', Prinzeßchen, schlafe! Erwache nicht eher, als bis die Zeit abgelaufen ist. Schlafe den Geisterschlaf hier in öder Felsenhalle. Niemand wird dir nahen, niemand den Bann brechen, der dich umfängt. Sind die letzten drei Tage verstrichen, so mußt du die Gemahlin meines Sohnes, des einäugigen Fürsten dieser Berge, werden. Schlaf', Prinzeßchen, schlafe. Kein Retter wird dir erscheinen, denn niemand kennt deine Geschichte, niemand kennt das Mittel, das deine Fesseln lösen und dich sehend macht. Jetzt bist und bleibst du in meiner Gewalt: du, deine Reichtümer und Schätze.«

Die alte häßliche Hexe lachte höhnisch auf, dann nickte sie wohlgefällig vor sich hin und fuhr geheimnisvoll, gleichsam zu sich selbst sprechend, fort:

»Fern, fern im Ungarnlande, hinter dem großen, reißenden Strom, zwischen himmelhohen Bergen liegt ein verfallenes Bergwerk. Wer dort die siebenfachen Höhlen zu durchklimmen vermag, der gelangt an einen unterirdischen See, dessen Wasser schwarz wie die Nacht ist. Dreimal müßten Prinzessin Eddas Augenlider mit dem Wasser dieses Sees benetzt werden, ehe sie sich heben. Doch das Licht der Augen bringt es noch nicht.« Die häßliche Alte schwieg einen Augenblick, dann fuhr sie in ihrem Selbstgespräch fort:

»Dicht neben dem See führt ein Schacht senkrecht in das Innere der Erde. Eng ist sein Schlund, mühsam die Fahrt hinab in die Unterwelt. Er mündet in die todbringenden Schwefelhöhlen; dort, wo das ewige Feuer glüht. Tödlicher giftiger Dampf erfüllt diese Höhlen.

In der mittleren Höhle träufeln alle Stunden zehn Tropfen einer durch Schwefeldünste geläuterten Flüssigkeit herab in ein azurblaues Becken. Die Tropfen schimmern silberhell, und schon ihr Anblick belebt den Kühnen, der alle Hindernisse überwand. Diese Tropfen sind wertvoller als alle Edelsteine der Welt, denn sie verleihen, sobald das Auge eines Blinden damit genetzt wird, diesem das Licht seiner Augen. Könige und Fürsten würden ihre liebsten Schätze für solche kostbaren Tropfen opfern, doch – wer auch alle Gefahren bis hierher glücklich überwand, der ist noch nicht Herr dieses köstlichen Heilmittels. Nur wer rein von Herzen ist, des Seele weder Neid, noch Mißgunst, noch Habsucht kennt, der darf die kostbaren Tropfen mit sich nehmen.«

Gellend lachte die Alte auf, dann schüttelte sie ihre Knochenarme gegen die blinde Schläferin und fuhr fort: »Niemand wird dir diese Heilmittel bringen, du bleibst blind und in meiner Macht; denn jener Spruch der Fee gibt mir nur solange Gewalt über dich, als du blind bleibst. Sobald du das Augenlicht gewinnst, sind mein Sohn und ich den bösen Geistern, den Dämonen der Schwefelhölle verfallen; in deren Dämpfen ein qualvoller Tod unser wartet. Deshalb, schlaf', Prinzeßchen, schlaf', bis die Zeit verstrichen ist. Schlaf', mein Prinzeßchen, schlafe!« So sang die Alte.

Wälty stockte der Herzschlag, als er vernahm, welches grausame Schicksal der schönen blinden Königstochter drohte.

»Ich muß versuchen sie zu retten!« dachte er. »Jene Gefahren hoffe ich siegreich zu überwinden, wenn der liebe Gott mir beisteht und mir Mittel und Wege zeigt, das herrliche Ziel zu erreichen.«

Andachtsvoll faltete der fromme Knabe seine Hände, ein wortloses Gebet stieg empor zum Throne des Herrn, und siehe da – auf einmal durchleuchtete ein Gedanke des Knaben Sinn.

Vor Jahren, in einer rauhen Herbstnacht, hatten die Wellen des sturmgepeitschten Sees ein altes Buch an den Strand gespült. Seltsame, geheimnisvolle Worte standen auf seinen Blättern verzeichnet. Ob Wälty nicht versuchen sollte, diese Zeichen zu deuten? Er war ja der beste Schüler in der Klasse gewesen.

»Ich werde es versuchen, gewiß steht der Weg nach dem Ungarlande im Buche aufgezeichnet!«

Geduldig wartete Wälty in seinem Versteck, bis sich die alte Hexe in ihre Felsenhalle zurückgezogen, dann schlich er sich vorsichtig und behutsam bis an Prinzessin Eddas Lager.

»Schlaf', Prinzeßchen, schlaf,« flüsterte er ihr leise ins Ohr. Fürchte dich nicht, ich rette dich aus den Schlingen der Hexe und bringe dir die köstlichen Tropfen aus dem azurblauen Felsenbecken.«

Darauf eilte er heim in sein Hüttchen.

Wohl staunte seine Mutter, als ihr sonst so fleißiger Sohn ohne das versprochene Fischgericht heimkehrte; doch sie schwieg, und obgleich sie sein Tun nicht verstand, so ließ sie ihn gewähren, als er das alte Buch vom Schüsselbort nahm und eifrig darin las. Voller Ungeduld überflog er Seite auf Seite, und je weiter er las, desto heller wurde seine Miene. Endlich schlug er das Buch zu, sprang auf und rief voller Jubel: »Ach – nun kenne ich den Weg, jetzt will ich das Bergwerk schon finden. Mütterchen, ich muß dich verlassen, frage mich nicht, was ich vorhabe, aber ängstige dich auch nicht um mich. Ich habe ein heiliges Gelübde abgelegt, das muß ich erfüllen. Und mit Gottes Hilfe werde ich es erfüllen. Er leitete meine Schritte und lehrte mich die furchtbare Gefahr kennen, die einem lieblichen, hilflosen Menschenkinde droht.«

»Mein Sohn, ich verstehe dich nicht, seltsame Worte spricht dein Mund. Erzähle mir, was willst du beginnen?«

»Ich darf es dir nicht sagen, aber in drei Tagen bin ich zurück, dann sollst du aller erfahren. Lebe wohl, mein Mütterlein, mache mir den Abschied nicht schwer. Mich ruft eine heilige Pflicht, ihr gehorche ich.« Bei diesen Worten nahm er seines Vaters Wanderstecken zur Hand, winkte noch einmal der Mutter zu, dann begab er sich auf die Reise.

Lange, lange schaute seine Mutter ihm nach. Als Wälty über die Rasenfläche dahinschritt, da schien es ihm wunderbarer Weise, als berührten seine Füße den Erdboden nicht, sondern als schwebte er, getragen von unsichtbaren Gewalten, über die Erde dahin.

* * *

Berg und Tal, Wald und Wiesen, Städte und Dörfer sah Wälty wie im Fluge an seinen Blicken vorübergleiten, nie fühlte er eine Ermattung, obgleich er mit schier übermenschlichen Kräften vorwärtsstrebte.

Am zweiten Tage, als die Sonne schon hoch im Mittag stand, erreichte Wälty endlich den reißenden Strom, von dem die Hexe gesungen hatte.

Suchend flogen des Knaben Blicke die Ufer entlang, nirgends war ein Kahn zu entdecken, der ihn hinüber auf das jenseitige Ufer brachte, und dabei flog die Zeit pfeilgeschwind dahin. Schon war die Hälfte der drei Tage verstrichen, und noch besaß der Knabe keines der Wundermittel, deren geheimnisvolle Kräfte die Prinzessin aus den Händen der Zauberin retten sollten.

Angstvoll sank Wälty am Ufer auf seine Knie, und seine Hände bittend gen Himmel hebend, rief er vertrauensvoll: »Hilf mir, Herr im Himmel, hilf mir die arme blinde Königstochter zu erlösen.«

Kaum hatte er voll heiliger Inbrunst diese Worte geflüstert, als ein Nachen ans Ufer stieß. Ein Greis mit Silberlocken bewegte das Ruder.

Erfreut eilte Wälty zu ihm hin und fragte bescheiden: »Könnt Ihr mich hinüberrudern?«

»Gewiß – aber – sag', wohin führt dich dein Weg, du junges Blut?«

»Ich suche das verfallene Bergwerk,« erwiderte der Knabe ehrerbietig.

»Hast du auch bedacht, daß Gefahren dich dort erwarten?«

»Ich kenne sie wohl, und dennoch will ich versuchen hinabzudringen, es gilt ein Menschenleben zu retten; deshalb bringt mich hinüber, ehrwürdiger Vater, schnell, ehe es zu spät wird.«

Der alte Ungar nickte.

»Du gefällst mir! Aus deinen Augen leuchtet Mut und ein reines Herz. Seit fünfzig Jahren habe ich keinen Fahrgast mehr über den Strom gesetzt, niemanden gelüstet mehr, sein Leben in den unterirdischen Höhlen aufs Spiel zu setzen. Deine Bitte erfülle ich gern, komm, folge mir.«

Bald lag der Strom hinter Wälty. Am anderen Ufer angekommen, zog der Fährmann ein Fläschchen und eine Binde aus seiner Rocktasche.

»Hier, nimm das! Ich erkenne, dich treibt nicht Eigennutz, sondern dein hilfsbereites Herz in die Schreckenshöhle. Dieses Fläschchen enthält eine Flüssigkeit, die dich vor dem Erstickungstode schützen wird. Feuchte damit diese Binde und schlinge sie fest um Mund und Nase, sobald du der Schwefelhöhle nahe kommst. Atme so selten als möglich, damit die todbringenden Dämpfe dir nicht dennoch schaden. Hier am Ufer will ich deiner warten. Kehrst du bis Sonnenuntergang nicht zurück, dann bist du ein Opfer deines Wagemutes geworden; aber ich hoffe dich zurückkehren zu sehen.«

Wälty sprach dem eisgrauen Alten noch seinen Dank aus, dann eilte er flüchtigen Fußes durch ein hohes Felsentor, das nach dem verfallenen Bergwerk führte.

Wohl schüttelte Furcht und Entsetzen den Knaben, als er das Tor durchschritt.

Schrecklich war, was er hier sah.

Vom Blitz zerschmetterte Felsblöcke, angekohlte, halbverbrannte Balken und Holzstücke erblickte er in dem gespenstischen Halbdunkel, das die Höhle erfüllte. Zitternd nur wagte der Knabe vorwärtszudringen; aber da vergegenwärtigte er sich im Geist die schlummernde blinde Edda und das teuflische Weib, das voll höllischen Triumphes dieses ahnungslose Kind schon als willkommene Beute betrachtete. Neuer Mut belebte Wältys Seele, rüstig schritt er vorwärts, den schmalen Stollen entlang, der in das verfallene Bergwerk hineinführte.

Endlich erreichte er den See.

Schwarz wie eine sternenlose Nacht war sein Wasser. Wälty neigte sich hinab, um das mitgebrachte Krüglein zu füllen; doch seltsam, so oft er sich auch hinabneigte zum Wasserspiegel, so oft wich dieser zurück, und der Knabe zog den leergebliebenen Krug zurück.

Ein Notgebetlein zum Himmel sendend, versuchte er wieder die schwarze Flut zu schöpfen. Da – ein eigenartiges dumpfes Stöhnen schien vom Grunde des Sees emporzudringen, das Wasser wich nicht mehr zurück, und der Knabe vermochte sonder Mühe sein Krüglein zu füllen.

Nachdem er es mit einem Stricke um seinen Leib befestigt, schickte er sich an, den Schacht hinabzuklimmen. Dieser war sehr eng. Steile, glatte Wände umschlossen ihn. Bei jedem Versuch rutschte der Fuß des mutigen Knaben an der glatten Fläche ab – er fand keinen Halt.

Angst und Sorge für das Gelingen seines Werkes zogen in sein Herz ein; da gedachte er seines alten Buches. Hastig schlug er es auf, ein befriedigtes Lächeln überflog sein Antlitz.

»So muß es gehen! Hier finde ich Rat und Hilfe!« Sein scharfer Blick bemerkte ein zusammengerolltes Seil in einer Ecke der Höhle. Freilich, der Zahn der Zeit hatte es teilweise zernagt; nur ein Ende war noch haltbar.

Nach einem zweiten Einblick in sein Buch befestigte Wälty das beste Ende des Seiles an einem hervorspringenden eisernen Haken, der wohl schon oft zu diesem Zwecke gedient hatte; dann schwang sich der Knabe, nachdem er sein Leben Gott befohlen, über den Rand des Schachtes.

Und siehe da – nachdem er eine bange Minute in schwebender Pein gehangen, erfaßte sein tastender Fuß einen Halt. Längs des Schachtes waren von Zeit zu Zeit schmale Einschnitte in der Felsenwand angebracht. Sie rührten wohl aus jener längst vergangenen Zeit her, als Bergleute hinabstiegen, um aus der Tiefe der Erde kostbare Erze und edele Gesteine an die Oberwelt zu fördern. Wälty fand, mit Hilfe des Buches, diese natürliche Leiter. Vorsichtig arbeitete sich der Knabe von dem einen Absatz zu dem anderen hinab. Oft mußte er, von Schmerzen fast betäubt, ausruhen. Unter sich in schwindelnder Tiefe die Schwefelhöhle, über sich die schon durchmessene Höhe des Schachtes. Je tiefer Wälty hinabstieg, desto heißer, glühender wurden die Felsenwände. Das unterirdische immerwährende Feuer der Schwefelhöhlen erhitzten sie. Dazu quoll ein betäubender Dunst aus der Tiefe empor, der sich dem Knaben fest und schwer um Brust und Kopf legte. Sobald ihm eine Ohnmacht nahte, spornte das Bild der blinden Edda den mutvollen Knaben immer wieder zu seinem gefahrvollen Unternehmen an.

Als der Knabe beinahe den Boden der Höhle erreicht hatte, gedachte er der Worte des alten Fährmannes; er band sich die mit der Flüssigkeit getränkte leinene Binde fest um Mund und Nase. Nun ging es leichter abwärts. Bald fühlte Wälty festen Boden unter seinen Füßen.

Taumelnd vor Schwäche lehnte er sich an das Gestein. Hier unten konnte man sich in der Hölle wähnen. Aus der mittleren Schwefelhöhle drangen giftige Dämpfe hervor, hochlodernde Flammen versperrten den Eingang. Mutig drang Wälty bis hierher vor – durch die Flammenglut blitzte es silberhell auf, die Flammen sanken zusammen, und der Knabe erblickte das azurblaue Becken, sowie einen hellleuchtenden Tropfen, der in dasselbe hinabrieselte. Dieser Anblick belebte den Knaben, mutvoll drang er durch die wieder aufsteigenden Flammen.

»Dort – dort winkt Hilfe für Edda!« flüsterte er hinter seiner Binde. Siegesfreude blitzte aus seinen Augen, schon erhob er seine Rechte, um die kostbaren Tropfen aufzufangen, als der Erdboden sich dicht vor seinen Füßen spaltete und eine schwefelgelbe Flamme aus der Oeffnung hervorloderte. Sie umhüllte den Knaben, und hätte dieser nicht die Schutzbinde getragen, so wäre er rettungslos erstickt. So hielt er den Atem an und drang durch die giftige Lohe, und jetzt – o Wonne – stand er dicht neben dem azurblauen Becken, dem eine balsamische Kühle entströmte, die dem halbverschmachteten, von Rauch und Dampf fast betäubten Wälty wie Himmelsodem dünkte.

Rasch kniete er zur Erde nieder und fing die silberhellen Tropfen in einer Phiole auf. Und siehe da – sobald er den ersten Tropfen gewonnen, da versanken und versiechten die Flammen und giftigen Dämpfe.

Wälty atmete auf. Er fühlte sich neu belebt. Vergessen war die übermenschliche Anstrengung, vergessen Hitze und Todesangst.

Selbst die Umgebung war mit einem Schlage wie durch ein Wunder verändert. Dort, wo ihm vom Rauch geschwärzte Steinmassen entgegengestarrt, dort glänzte es nun wie Gold und Purpur.

Buntfarbig leuchtete das Gestein, und kostbare Edelmetalle flammten zwischen den Steinadern hervor.

Wie das schimmerte und blitzte, wie das glänzte und leuchtete. Wälty vermochte sich kaum satt zu schauen an all der Pracht.

Inzwischen war die Phiole mit den hellglänzenden Tropfen gefüllt. Rasch erhob sich Wälty und wendete sich nach dem Schachte zurück. Doch – o Wunder – auch dieser war verschwunden; ein langsam aufsteigender Pfad führte zur Oberwelt zurück. Der Fischerknabe traute seinen Augen nicht, er wähnte zu träumen; doch noch neue Wunder sollten sich ihm enthüllen. Kaum schickte er sich an den Pfad zu betreten, da fühlte er sich von Fittichen gehoben und getragen. Ohne zu wissen, wie ihm geschehen, fand sich Wälty am Eingang des Felsentales wieder.

Hier trat ihm der greise Fährmann entgegen. Froh bewegt klang sein Gruß.

»Heil dir, mein Sohn, dir ist ein großes Werk gelungen; die Reinheit und Lauterkeit deines Herzens, dein edler Sinn, deine teilnahmvolle Menschenliebe haben dir zum Siege verholfen. Schon viele Jünglinge und kraftvolle Männer sind hinabgestiegen, das kostbare Augenwasser zu holen; doch sie alle sind elendiglich in der Schwefelhöhle zugrunde gegangen. Da nur Eigennutz und Gewinnsucht sie geleitet, so blieb ihnen das kostbare Wasser versagt, ja, sie büßten ihren Frevel mit dem Tode. Ziehe hinaus, mein Sohn, in die Welt, und gebrauche dieses kostbare Wasser zum Segen für die Menschheit.«

Nachdem er Wälty über den Strom gesetzt, verabschiedete sich der Greis.

Der Knabe eilte rüstigen Schrittes seine Straße heim. Schon war im Westen die Sonne in ihr Wolkenbett gesunken, und der milde Mond samt seinem Gefolge von tausend und abertausend Sternen erschien am Himmelszelte.

Die ganze Nacht wanderte Wälty unaufhaltsam weiter. Seit er die silberglänzenden Tropfen besaß, eilte er wie auf Windesflügeln dahin; aber seine Straße war weit, sein Weg war lang. Schon stieg die Sonne zum dritten Male am Himmelsbogen auf, und noch immer wurde der heimatliche See nicht sichtbar.

Endlich, nachdem er den Morgen gewandert und die Sonne schon hoch im Zenit stand, da bemerkte Wälty in blauer Ferne die Felsen, die den stillen See umgrenzten, und kurze Zeit darauf stand er neben der Felsenhalle an dem Ruhelager der Prinzessin.

Glücklicherweise war das alte Weib nicht zu erblicken. Wälty neigte sich über das schlummernde Königskind und schleuderte mit einer Gebärde des Abscheus das blitzende Zauberamulett zu Boden. Sofort atmete Edda leise und bewegte ihre Hand.

Wälty öffnete das Krüglein, welches das schwarze Wasser enthielt. Vorsichtig netzte er die geschlossenen Augenlider der Schläferin, und siehe da – schon beim zweiten Male zuckte Edda, und als nun zum dritten Male die geschlossenen Augen sich von dem schwarzen Wasser feuchteten, da hoben sich die schweren Lider; doch tot und starr blickten die tiefblauen Mädchenaugen. Noch vermochte Edda nicht zu sehen.

Wälty war so eifrig mit Edda und seinem Samariterwerke beschäftigt, daß er das Kommen der bösen Hexe nicht bemerkte. Anfangs war sie sprachlos vor Staunen, als sie den Fremden sah, aber bald erriet sie, was dort drüben geschah. Mit hocherhobenem Arm stürzte sie sich auf Edda, und der Knabe bemerkte mit Entsetzen, daß die Zornbebende ein spitzes Dolchmesser in der erhobenen Rechten hielt; sie versuchte dem Königskinde die Augen zu blenden.

Blitzschnell warf sich Wälty zwischen die Wutschäumende und ihr Opfer. Mit schnellem Griff öffnete er dabei das zweite Gefäß und träufelte in jedes Auge der Blinden einen helleuchtenden Tropfen. Da kreischte die böse Hexe laut auf. Der blitzende Dolch entsank ihrer Hand, und sie stürzte dröhnend auf den Erdboden nieder. Im selben Augenblick flog ein jäher Windstoß über den See, die Wellen türmten sich hoch auf und überfluteten die Stelle, wo die Hexe, sich in Qualen windend, lag. Ein gewaltiger Donnerschlag erschütterte minutenlang die Felsen in ihren Grundvesten. Dann glätteten sich allmählich die aufgepeitschten Wogen – schaudernd sah Wälty die Stelle leer – die Hexe war verschwunden.

Aber auch der See war nicht mehr. Wo noch vor kurzen Augenblicken seine blauen Fluten geplätschert, dort stand nun eine prachtvolle vieltürmige Stadt; aus deren geöffneten Toren ein glänzender Zug hervorschritt – geradeswegs auf Edda und Wälty zu.

An der Spitze des Zuges schritt der König mit Krone und Hermelinmantel. Mit weitgeöffneten Armen eilte er auf Edda zu, die bald auf ihn, bald auf Wälty blickte.

»Meine Tochter, meine geliebte Tochter!« rief der Herrscher freudig bewegt aus. Fest, als wollte er sie nimmer aus seinen Armen lassen, schloß er die wiedergeschenkte Tochter an sein väterliches Herz und küßte sie.

Als dann der erste Wonneschauer vorüber, zog Edda ihren Retter, der sich bescheiden zur Seite geschlichen, an der Hand hervor: »Schau, geliebter Vater, dieser hier hat mich aus der Gewalt der Zauberin gerettet! Ihm danke ich Leben, Licht und Freiheit.«

Aufmerksam betrachtete der König den Knaben; dann zog er auch ihn an sein Herz.

»Komm, mein Sohn, folge mir,« sagte er freundlich. »Ich will dich lieb haben, und wie mein eigen Kind will ich dich halten. Du sollst der erste an meinem Throne sein; denn du hast nicht nur meiner Tochter das Augenlicht geschenkt, sondern du hast mich und mein ganzes Volk aus den Händen der bösen aber mächtigen Hexe erlöst. Tief unten auf den Grund des Sees hatte sie mein Reich gebannt; aber nun sind Leid und Trauer verschwunden.«

Mit Wonne gehorchte Wälty dem Befehl des gnädigen Königs, denn nun durfte er ja für alle Zeiten bei der lieblichen blonden Edda bleiben. Als Sohn des mächtigen Königs zog der Fischerknabe und mit ihm seine glückstrahlende Mutter in dasselbe stolze Marmorschloß ein, das er einst tief unten am Grunde des Sees gesehen hatte.

So wurde Wältys braves Herz und reiner Sinn schon auf Erden belohnt.


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