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Das Märchen vom See ohne Fische.

Wer hätte nicht schon von Wilhelm Teil, von Werner Stauffacher und Arnold von Melchthal gehört! Auch jene Versammlung des schwer bedrückten Schweizervolkes auf dem Rütli in der Nacht vom 7. zum 8. November im Jahre 1307 ist wohl allgemein bekannt. Nahe jener dadurch berühmten Bergwiese liegt ein See, der Seelisbergsee genannt.

Vor langen, langen Jahren, ehe an jene Helden der Befreiungskämpfe zu denken war, lebte dort ein Fischer mit Weib und Kindern. Die kleine Familie lebte von dem Ertrage des Fischfanges; sie waren heiter und frohen Mutes, denn der See lieferte ihnen gute Nahrung. Tausend und aber tausend silberglänzende Fische tummelten sich in den dunkelgrünen Fluten. Besonders wenn die goldenen Sonnenstrahlen über der Oberfläche des Sees zitterten, dann kamen die Fischlein aus der unergründlichen Tiefe, aus allen Felsenspalten und Verstecken hervor. Lustig spielten sie in dem hellen Sonnenschein und ließen sich von den leichtgekräuselten Wellen schaukeln und wiegen. Dann saßen die Fischerknaben am Ufer und ergötzten sich am Spiele der munteren Tierchen.

Jahre ungetrübten Wohlseins waren ins Land gezogen. Da, eines Abends, Frühlingsstürme fegten über den See, sie zausten an den Baumkronen der frischbelaubten Waldbäume und wühlten im Schilfe am Seegestade, da klopfte es an das schmale Fenster der Hütte.

Der Fischer erhob sich, verwundert, daß bei so schlimmem Wetter sich ein Wandersmann in das selten besuchte Nebental verirrt habe.

»Schiffer! Schiffer, öffne! Ich habe Eile, spute dich!« erklang draußen eine harte, befehlende Männerstimme.

»Ich komme schon, habt nur Geduld,« tröstete der Fischer, seinen dicken Flauschrock überstreifend.

»Schnell! Ich habe Eile – große Eile,« mahnte die Stimme noch einmal. Da öffnete der Fischer die Tür, die hinter ihm mit lautem Krach ins Schloß fiel. Draußen stand ein breitschultriger Mann, ein langer schwarzer Mantel verhüllte seine Gestalt; auf den Armen trug er ein umfangreiches, schweres Bündel.

»Habt Ihr Euren Kahn zur Hand? Macht Euch bereit, mich über den See zu rudern!«

»Herr, heute nacht geht es nicht! Es stürmt und weht, ich komme nicht über den See.«

»Hilft nichts, ich muß hinüber, und es soll dein Schade nicht sein. Hier, dieses Geld nimm zum Lohne.«

Im fahlen Dämmerschein sah der Fischer einige Goldstücke glänzen; soviel Geld hatte er Zeit seines Lebens nicht beisammen gesehen, deshalb schritt er schnell zum Seeufer, band seinen Nachen los und legte die Ruder zurecht.

Stumm folgte der Fremde; er stieg ein, und der Nachen stieß vom Ufer. Im selben Augenblick schallte leises Weinen aus dem Bündel; überrascht schaute der Fischer auf.

»Kümmere dich nicht um das, was geschieht,« sagte der Fremde, »rudere uns hinüber; aber hüte dich, irgend welche Frage zu tun, sonst versinkt das Schiff in die Tiefe des Sees.«

Der Fischer erschrak. Er zwang sich, seine ganze Aufmerksamkeit auf seine Ruderstangen zu richten, doch ein neuer schmerzlicherer Klage laut zwang ihn, nochmals aufzublicken.

Warnend hob der Fremde seine Hand; der Fischer schwieg, heftiger ruderte er dabei. Schwer hatte er gegen Wind und Wellen zu kämpfen.

Da, zum dritten Male erschallten die Klagetöne; den Fischer überlief es heiß und kalt; er wollte nicht aufschauen, doch eine Gewalt, die stärker war als sein Wille, zwang ihn, die Augen zu heben. Da – eben brach ein heller Mondstrahl durch das dahinjagende nächtliche Gewölk – erblickte der Fischer, daß sich zwei weiße Arme und eine lange blonde Haarflechte aus dem Bündel loslösten.

»Was birgt jenes Bündel?« forschte er angstbewegt. Die Warnung des Fremden war vergessen. In diesem Moment erdröhnte ein Donnerschlag, die Wellen des Sees peitschten hoch auf, der Nachen schwankte und sank! Mit einem gellenden Fluch versank der Fremde, und die Wellen schlugen über ihm zusammen. Das Bündel trieb, als bewegten es unsichtbare Hände, dem Ufer zu. Auch der Fischer fühlte sich unwiderstehlich dem Ufer zugerissen. In demselben Augenblicke, wo er es erreichte, schwebte eine schlanke, weiße Gestalt vor ihm her und verschwand lautlos zwischen nickenden Schilfhalmen.

Mühsam nur fand der Fischer in der Dunkelheit seinen Weg zur Hütte zurück. Er faßte in seine Tasche, das Geld war verschwunden, nur einige glatte Kieselsteine fanden sich vor. »Der Fremde hat mich betrogen; doch was nützte mir hier in der Einsamkeit sein Gold, morgen fange ich uns ein Gericht Fische,« so tröstete sich der Genügsame; aber wie staunte er, als er am andern Morgen, trotzdem er seine Netze fleißig ausgeworfen hatte, kein einziges Fischlein fing!

Traurig saß der Fischer am Gestade; womit sollte er Weib und Kinder ernähren? Schwarz und trübe lag die Zukunft vor ihm. »Gräme dich nicht, Fischer.« Diese Worte weckten den Betrübten aus seinem Hinbrüten. Er schaute auf, eine liebliche Jungfrau stand vor ihm. Ein blondes Flechtenkrönchen schmückte ihr Haupt, in ihrer rechten Hand hielt sie einen leinenen Beutel. »Gräme dich nicht, Fischer, zwar hier am See ist deines Bleibens nicht länger. Kein einziges Fischlein lebt mehr in diesen Fluten. Der Unhold, der letzte Nacht hier versank und aus dessen Gewalt du mich gerettet, hat mit seinem zornigen Wüten das Wasser dieses Sees vergiftet.« Der Fischer war keines Wortes mächtig; noch verstand er den Sinn der Worte nicht. »Du staunst? Ja, durch List hatte mich der Unhold geraubt. Mein Schicksal war solange in seine Gewalt gegeben, bis jemand nach dem Inhalte seines Bündels fragen würde. Um dieser Frage aus dem Wege zu gehen, wählte der Unhold den Weg durch dieses einsame Tal. Als du, von Mitleid getrieben, die Frage aussprachest, lösten sich die Zauberbande, mit denen er mich gefesselt hielt, er selbst versank, für alle Zeiten hinabgebannt, in die Tiefe des Sees. Die silberglänzenden Fische fielen seinem ungebärdigen Zorn zum Opfer.«

Während die Jungfrau sprach, begann es im See zu sieden und zu brausen. Wellen stiegen auf, höher, immer höher peitschten sie die unterirdischen Gewalten, bis sich endlich ein grausiges Ungeheuer aus den gärenden Fluten emporrang. Ein Menschenkopf saß auf seinem schuppigen Leibe. Deutlich konnte der Fischer die Züge des Fremden wiedererkennen.

»Er – er selbst,« stammelte er erschrocken.

»Ja – er selbst! Du darfst hier nicht bleiben, seine Rache könnte dich verderben. Du hast mich aus Todesgefahr gerettet; deshalb nimm hier diesen Beutel mit Gold. Ziehe hinab in die nächste Stadt, kaufe dir ein Heimwesen und erziehe deine Knaben zu guten, mitleidsvollen Menschen, dann wird reicher Segen auf deinem Hause ruhen.«

Noch ehe der Fischer seinen Dank stammeln konnte, war die Gestalt in Nebel zerflossen; doch der Fischer beherzigte die Worte der Jungfrau. Er zog hinab in das Tal, kaufte sich ein Haus und lebte dort mit Weib und Kindern in Frieden.

Der See aber beherbergt bis zum heutigen Tage kein einziges Fischlein mehr. Vielleicht wird der Zauber auch einmal gelöst. Doch wie – wer mag hier Antwort geben?


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