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Der Untergang der Insel Atlantis.

Noch zu Anfang dieses Jahrhunderts stand auf der Insel Teneriffa ein uralter, mächtiger Drachenbaum. Alexander von Humboldt, der berühmte Naturforscher und Weltreisende, sah ihn noch im Jahre 1799. Erst 1868, als ein furchtbarer Orkan über die Insel fegte, ward dieser vieltausendjährige Riesenbaum ein Opfer des Sturmes. Nach Angabe Alexander von Humboldts hatte der Stamm des Baumes, einen Meter über dem Erdboden, noch vierzehn Meter im Umfange. Wahrlich ein Riese unter den Bäumen des Waldes! An diesen Baum knüpft sich eine alte Sage.

In altersgrauer Zeit bildeten die Kanarischen Inseln, Man rechnet jetzt zwölf Inseln dazu, sieben davon sind bewohnt. die heute vereinzelt im Weltmeere liegen, ein großes, mächtiges Festland, dessen Bewohner auf einer hohen Kulturstufe standen. Deshalb ward es auch »das glückliche Land« genannt.

Steile Berge, deren Gipfel bis hoch in die Wolken ragten, schützten das Land gegen verheerende Nordwinde. So weit das Auge reichte, traf es auf fruchtbare, fleißig bestellte Felder, hochragende Wälder. Auf den niederen Berghängen waren Rebengärten angelegt, denen sich Dattel- und Kokospalmenhaine anschlossen. Ein ewig blauer Himmel breitete sich über der paradiesischen Gegend aus. Vom wolkenlosen Himmel leuchtete die Sonne, und unter ihren belebenden Strahlen erblühten die schönsten Blumen. Das ganze Land war so recht ein Garten des Glückes.

Aber auch Handel und Wandel blühten. Von fern her, aus allen Teilen der Welt liefen schwerbeladene Schiffe in die heimischen Häfen ein, sie brachten reiche Güter, die Erzeugnisse und Erträge fremder Zonen und Länder. Hochgetürmte Paläste zeugten in den Städten vom Reichtum, aber auch von der Prachtliebe der Einwohner. Kunst und Wissenschaften gediehen, Maler, Bildhauer, Gelehrte, sie alle fanden freundliche Aufnahme und Gelegenheit, ihre schönen Künste zu üben.

Aber, aber – je mehr Reichtum, Macht und Ansehen wuchsen, desto herrschsüchtiger und gottloser wurden die Bewohner jenes reich gesegneten Landes.

Unweit der Hauptstadt, auf einer Anhöhe, stand ein Tempel. Er war Apollo, dem Gotte des Lichtes, geweiht. Weiß schimmerten die Tempelmauern, sie waren aus dem köstlichsten, fleckenlosen Marmor aufgeführt. Schlanke Säulen stützten den Vorbau. Das Dach des Tempels leuchtete in grünschillerndem Scheine. Seitwärts des Tempels zog sich ein heiliger Hain hin, den schlank emporragende Drachenbäume einfaßten. Das dunkele Grün der Blätter hob sich malerisch von dem schneeigen Weiß des Tempels ab, zu dessen Eingang eine breite Freitreppe führte. Das Innere des Tempels war reich geschmückt. Der Apollotempel war hochberühmt, von weit her kamen Pilgerscharen gezogen, um hier zu beten und ihre Opfergaben niederzulegen.

Ein goldenes Gitter schloß das Allerheiligste. Hier thronte in hehrer Einsamkeit die Statue des Gottes. Im lockigen Haar trug Apollo einen Lorbeerkranz, während seine Rechte eine Leier hielt. Man verehrte in Apollo auch den Gott der Töne, des Gesanges. Rechts und links der Statue brannten immerwährende Opferfeuer, mit Ambra- und Myrtenholz genährt. Balsamischer Wohlgeruch entströmte den Opferschalen.

Sechzig Priester verrichteten die heiligen Handlungen. Meistens waren es altehrwürdige Herren mit schneeweißem Haar und Barte, nur Lysander war noch jung; dunkelgelocktes Haar umgab seine Schläfe.

Der junge Priester war ein frommer Mann. Mit tiefer Wehmut sah er, wie sein Volk, von Eitelkeit, Prachtliebe und Uebermut gestachelt, seinem Verderben entgegentaumelte. Er allein erkannte die Gefahr, die über dem Volke, dem ganzen Lande schwebte, er fürchtete den Zorn der Götter, den die Nichtsahnenden in ihrer tollen Laune herabbeschworen. Schmausereien, denen sich wüste Tanzgelage anschlossen, füllten ihre Tage, und sie, die früher gearbeitet und nach Vollkommenheit gestrebt, sie eilten von einem Genuß zum andern. Mit Rosen bekränzten sie ihre Häupter, die köstlichsten Stoffe verwandten sie zu ihren Gewändern und schmückten sich mit Gold und Edelgestein. Von Tag zu Tag steigerte sich ihre Ueppigkeit und Vergnügungslust. Wohl eiferte Lysander dagegen und versuchte, sie von der Bahn des Verderbens abzubringen – doch vergebens.

»Gehet in euch! Gehet in euch, sonst strafen euch die Götter. Schon sehe ich über dem Gipfel des hohen Pico eine gefahrdrohende Wolke gelagert, sie wankt und weicht nicht von hinnen, ja, sie nimmt täglich an Ausdehnung und Dichtigkeit zu.«

So sprach der fromme Priester; doch seine Ermahnungen fielen auf unfruchtbaren Boden. Ja, die Uebermütigsten schalten Lysander einen Feigling und Spielverderber. Ohne sich zu sorgen, lebte man in Saus und Braus – bis ein Ende mit Schrecken kam.

Die schwarze Wolke, deren Erscheinen Lysander beunruhigt, verdichtete sich und senkte sich langsam zur Erde nieder. Schon war der Gipfel des hohen Pico nicht mehr zu sehen. Trotzdem sich die Sonne hinter Wolken verborgen hielt, war es drückend heiß und schwül. Kein Windhauch kühlte die steigende Hitze. Bewegungslos, wie Schemen, standen die Bäume, verschmachtet hingen die Blumen ihre Blütenkronen. Da, plötzlich erhob sich ein zum Orkan anwachsender Wind. Wild fegte er über Feld und Flur, gewaltsam schüttelte er die Wipfel der Bäume, donnernd heulte er die Straßen entlang. Aus den schwarzen Wetterwolken züngelten gelbrote Blitze, das ganze Firmament schien in Flammengluten getaucht, die Erde wankte – die Paläste erbebten in ihren Grundvesten, und ein Schrei höchster Todesangst zitterte durch das Brausen der empörten Elemente.

Im Innern des Pico wurde es lebendig; Flammen lohten gen Himmel. Glühende Steine wirbelten hoch in der Luft, um alsbald gleich Hagelschauern herab zur Erde zu prasseln. Im Apollotempel flüchteten sich die Priester in das Allerheiligste; doch selbst hier waren sie nicht sicher, die Erde spaltete sich, und zu ihren Füßen entstanden Abgründe und Klüfte. Ueberall wohin sie schauten, starrten ihnen Tod und Verderben entgegen. Von der Stadt herüber tönte der Todesschrei sterbender Menschen.

* * *

Lysander wandelte im Haine. Seine Gedanken wurden Gebete, die empor zu dem Throne der himmlischen Götter stiegen. Da – er vernahm ein Sausen und Brausen in der Luft, Lysander sah, wie die Wolken sich spalteten, und Tod und Verderben aus ihnen auf die eben noch blühende, lachende Erde herabschmetterten. Stürzende Baumstämme und aus der Luft herabwirbelnde Felsstücke hemmten des Priesters Weg. Vorwärts konnte er nicht mehr. Da blitzte ein Gedanke an Rettung in ihm empor. Zwei Schritte vom Wege stand ein uralter Drachenbaum. Sein Stamm war teilweise hohl, ein Altar war darin errichtet. Hierher flüchtete der Priester. Betend, die Hände zum allmächtigen Zeus erhoben, sank er auf die Knie, und siehe da, eine eigene Beruhigung beschlich und sänftigte seine Seele. Wohl vernahm Lysander das Stürmen und Donnern, wohl sah er feurige Flammenzungen aus dem Gipfel des Pico hervorbrechen; gelbrot und bläulich-violett flammte es auf. Feurige Zungen huschten die Bergesabhänge hinab, mit rasender Eile näherten sie sich der Stadt.

»Zeus, allmächtiger, starker Gott, erbarme dich deiner Geschöpfe,« betete der Priester. Mit einem Schrei sank er zusammen, seine gefalteten Hände lösten sich, Todesangst kroch durch seine Glieder. Lysander sah, wie der Tempel des Apollo, der weiß und hehr durch die eingetretene Dunkelheit leuchtete, sich bewegte. Wie die schlanken Marmorsäulen, als seien es schwache Gerten, zusammenknickten. Mit einem donnerähnlichen Getöse stürzte der Apollotempel in sich zusammen, unter seinen Steinmassen begrub er die Priesterschar. Wie gebannt von dem Schrecklichen, das sich vor seinen Augen abspielte, stand Lysander; aber noch war das Maß des Verderbens nicht erfüllt. Der Aufruhr der Elemente steigerte sich.

Unbeweglich stand der Priester auf der Anhöhe; zu seinen Füßen lag die Stadt, dahinter breitete sich das Meer in unermeßlicher Weite aus. Plötzlich, Lysander glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen, erhob sich das Meer; hoch bäumte es sich auf, eine breite, mächtige Welle schnellte empor, bis zum Himmel spritzte der weiße Gischt, dann wälzten sich die entfesselten Wassermassen gegen die Stadt. Unaufhaltsam, gleich einer ehernen Mauer, rückte das Meer gegen die Stadt vor. Lysander wagte kaum zu atmen, er lebte im Banne dieses schrecklichen Naturereignisses.

Das Wasser stieg, stieg stetig und rasch. Schon sah Lysander beim grellen Schein der Flammen, die aus dem Pico und den nächstgelegenen Bergen emporlohten, wie sich gleißende Wasserarme durch die Straßen drängten.

Die Bewohner, die sich erst schutzsuchend in die Häuser geflüchtet, strömten in hellen Scharen, nach Rettung jammernd, auf die Plätze und Straßen hinaus. Getrieben und geschoben stürzten sie vorwärts; schon reichten an vielen Stellen die schwellenden Fluten ihnen bis an die Knie, doch sie achteten es nicht.

Wie blind liefen sie durcheinander. Alle Banden der Sitte, des Gesetzes, waren gelöst. Mensch kämpfte gegen Mensch. Instinktiv folgte jeder nur dem Gebote der Selbsterhaltung – doch umsonst – umsonst. Immer neue Wassermassen drängten herbei.

Hier und da stürzte ein Haus, ein Palast in sich zusammen. Zwischen dem Brausen der Wogen, dem Getöse einstürzender Gebäude vernahm Lysander das Wehegeschrei der Unglücklichen.

»Zeus, Zeus, starker Gott, erbarme dich, gehe nicht mit ihnen ins Gericht!« flehte Lysander.

Umsonst, das Ohr des Gottes war verschlossen, die Zerstörung nahm ihren Lauf. Lysander sank dicht neben dem alten Drachenbaum zur Erde.

* * *

Am andern Morgen erwachte Lysander aus einem todesähnlichen Schlummer. Es war still, unheimlich still um ihn her. Betroffen schaute er auf, die Wasser hatten sich verlaufen, eine schlammige, aufgeweichte Masse bedeckte Weg und Steg. Golden, wie immer, stand die Sonne am glänzend blauen Himmel. Sie beleuchtete ein Trümmerfeld.

Auf dem Hügel, obschon hier die unterirdischen Wasserfluten nicht verderbenbringend gehaust, sah es schreckenerregend aus. Steine und Trümmer bedeckten den Erdboden, dazwischen ragten die Wipfel schlanker, vom Blitzstrahl gefällter Palmen hervor, und dort – dort auf dem Vorsprung des Hügels, wo der Apollotempel gestanden, dort türmte sich ein Chaos von Steintrümmern und Marmorblöcken auf. Ein Teil der Blöcke war berußt und geschwärzt, hier hatten die gefräßigen Flammen ihr Zerstörungswerk versucht, andere waren gewaltsam tief in den Erdboden eingedrückt.

Lysander schauderte, ein Gefühl der Verlassenheit überkam ihn – er sehnte sich nach Menschen, nach Aussprache. Er versuchte den Hügel abwärts zu klimmen, es war ein schweres Stück Arbeit. Hindernisse aller Art drängten sich ihm in den Weg. Ausruhend hielt er inne – seine Blicke schweiften über die Ebene. Er strich sich über die Augen, wachte er – träumte er – hatte nicht hier eine mächtige Stadt gestanden? Wo war sie hingeschwunden? Keine Spur einer menschlichen Ansiedelung war zu erblicken. Verschwunden waren die Paläste, die Tempel, verschwunden Gärten und Felder – eine Wasserwüste breitete sich dort aus, wo gestern noch die stolze Stadt gestanden.

Entgeistert schaute Lysander bald gen Himmel, bald hinab in die leise auf und ab rollenden Fluten.

»Bin ich allein gerettet? Verschonte der Zorn der Götter allein mein Haupt? O, meine Brüder.« Er brach in Schluchzen aus. »Ihr schrittet vereint zur Pforte des Todes! Euch nahm der Hades auf. Nur ich lebe – atme!«

Lysander war tief erschüttert; doch ergebungsvoll faltete er seine Hände und sprach: »Ich erkenne euer Walten, ruhmreiche Götter. Ihr habt mich ausersehen, die Ereignisse der letzten Nacht niederzuschreiben Herodot erzählt, daß schon zu König Davids Zeiten die Israeliten aufgerollte Bücher aus Tierhäuten besaßen. – ich will es tun; diesem Werke und frommen Betrachtungen will ich mein Leben weihen.«

Der fromme Priester hielt Wort. Im Stamme des hohlen Drachenbaumes, dort, wo er in der Schreckensnacht Schutz vor dem Unwetter gefunden, dort weilte er. Honig und Früchte dienten ihm zur Nahrung, seinen Durst stillte er aus einer nahen Felsenquelle. Lysander begann hier in der Einsamkeit das große Werk seines Lebens. Mit glühenden Farben schilderte er das paradiesische Land, über das nun die Fluten des Ozeans dahinrollten. Er sprach von dem Emporblühen großer Städte, von der geistigen Größe seines Volkes, vom Handel und Wandel, die es geübt, von den Wissenschaften und Künsten, die es gepflegt, – bis endlich Uebermut und Genußsucht an Stelle weiser Selbstbeschränkung traten, und dadurch der Zorn der Götter auf das mißleitete Volk herabgerufen ward.

Jahre vergingen, Lysander wurde alt und schwach, täglich wuchs seine Sehnsucht, Menschen zu sehen. Umsonst – die Jahreszeiten wechselten, doch nicht das Einerlei seiner Tage.

Nach jener Schreckensnacht war ein neuer Pflanzenwuchs erstanden. Neben ausgebrannten Kratern wuchsen schlanke Palmen und seltsam geformte Kakteen hervor. In den Erdrissen und Sprüngen, die teilweise von grauer Lava angefüllt waren, siedelten sich blühende Gewächse an, und über der toten Aschenschicht, die den Boden bedeckte, keimte junges, neues Leben. Die Welt verjüngte sich, nur der einsame Mann schritt unaufhaltsam seinem Untergange entgegen.

* * *

Jahrhunderte waren dahingerauscht, als eines Tages mehrere Boote am Gestade der Insel landeten. Wohlgebildete, schlanke Männer entstiegen den Booten. Aus ihren olivenfarbigen Gesichtern blitzten dunkle, feurige Augen, und langes seidenweiches Haar umrahmte ihre Schläfen.

Mit staunender Verwunderung betrachteten die Ankömmlinge das fruchtbare Land. Sie durchstreiften die Insel nach allen Richtungen; dann beschlossen sie, zu bleiben und sich hier eine Heimat zu gründen. Bis zu Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts waren diese Fremdlinge (Guauchen) Herren der Insel. Erst durch die Spanier und deren siegreiches Vordringen verloren sie die Herrschaft über die nun verstreut im atlantischen Ozean liegenden Kanarischen Inseln.

Die Aufzeichnungen des gelehrten Apollopriesters hatte das auf einer ziemlich niedrigen Kulturstufe stehende Hirtenvolk der Guauchen wohl aufgefunden, doch wenig beachtet. So kam es, daß, als die Spanier ins Land drangen, ein großer Teil jener Aufzeichnungen verloren gegangen war. Nur der uralte Drachenbaum, der schon den Untergang jenes sagenumwobenen Volkes überdauert – er stand und trotzte der Zeit. – Er war der letzte Zeuge einer glorreichen Vergangenheit. Nun hat auch ihn das Verhängnis getroffen, ein Sturm hat den alten Riesen gefällt. Doch, ob er auch verschwunden, das Sagen und Singen von der im Ozean versunkenen Atlantis wird nimmer aufhören.


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