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XVI. Der Ölzweig

Buchschmuck

Buchschmuck Vergessen wir nicht, dass wir in einer fruchtbaren und ausschlaggebenden Zeit leben. Wahrscheinlich werden unsere Nachkommen uns um die Morgenröte, die wir unbewusst durchschreiten, ganz so beneiden, wie wir die Zeitgenossen des Perikles, der schönsten Zeiten altrömischen Ruhms und einiger Stunden der italienischen Renaissance beneiden. Der glänzende Staub, der die grossen Gebärden der Menschen umkleidet, leuchtet nur in der Erinnerung, aber die, welche ihn aufwirbeln und einatmen, blendet er; er verbirgt ihnen die Richtung des Weges, ja den Gedanken, die Notwendigkeit oder den Instinkt, der sie leitet.

Es ist wichtig, sich darüber klar zu werden. Das Gewebe des täglichen Lebens bleibt sich fast in allen Jahrhunderten gleich, wo das menschliche Leben eine gewisse Mühelosigkeit erreicht hat. Wenn aber die Oberfläche dieses Gewebes, die von den glücklichen oder unglücklichen Ereignissen eingenommen wird, merklich die gleiche bleibt, so wird es doch heller oder dunkler nach dem Grad seiner Durchsichtigkeit, je nach dem leitenden Gedanken des Geschlechtes, von dem es gewirkt wird. Und dieser Gedanke, welches auch seine Gestalt oder Verkleidung sei, läuft in letzter Linie immer auf eine gewisse Weltauffassung heraus. Die äusseren Glücks- oder Unglücksfälle des Einzelnen oder der Gesamtheit sind nur von vorübergehendem Einfluss auf das Glück oder Unglück der Menschen, solange ihre allgemeinen Gedanken über die Gottheit, das Unendliche, das Unbewusste, den Welthaushalt, die ihre Erleuchtung und Nahrung sind, nicht dadurch berührt werden. Hier und nicht in den Kriegen oder sozialen Wirren liegt die Antwort auf die Frage, ob ein Geschlecht in Licht oder Finsternis, in Trübsal oder Freude gelebt hat; hier finden wir den Schlüssel dafür, warum manches Volk trotz vieler Schicksalsschläge zahllose Zeugnisse der Schönheit und Heiterkeit hinterliess, während manches andere, das die Natur mit Glücksgütern gesegnet hat, oder das oft siegreich war, uns nur Denkmäler eines finsteren oder verängstigten Daseins vermacht hat.

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Wir verlassen – um nur von den drei oder vier letzten Jahrhunderten der gegenwärtigen Kultur zu reden – jetzt die grosse religiöse Epoche, in der das menschliche Leben trotz aller Jenseitshoffnungen einen ziemlich düsteren und bedrohlichen Hintergrund hatte. Allerdings rückte dieser Hintergrund mehr und mehr in die Ferne und die tausend kleinen veränderlichen und buntfarbigen Vorhänge der Kunst und Metaphysik schoben sich ziemlich ungehindert zwischen die letzten Menschen und seine verblichenen Falten. Man vergass fast, dass er vorhanden war. Er trat nur in den Stunden der grossen Spaltungen wieder in die Erscheinung. Trotzdem war er immanent vorhanden; er gab der Luft und Landschaft eine gleichmässige Färbung und dem Leben eine verworrene Bedeutung, durch die den allzu drängenden Fragen eine vorläufige Geduld auferlegt wurde.

Heutzutage hängt dieser Hintergrund in Fetzen. Was wird an seinen Platz treten und dem Horizont eine sichtbare Gestalt, eine neue Bedeutung verleihen?

Der illusorische Mittelpunkt, um den sich die Menschheit zu bewegen wähnte, ist plötzlich verschwunden, und die ungeheure Fläche, welche die Menschen trägt, hat noch einige Zeit in unserer erregten Einbildungskraft nachgezittert, um dann ruhig ihre Drehung um den wirklichen Mittelpunkt fortzusetzen, der sie immer in der Schwebe gehalten hat. Nichts hat sich geändert, als eines jener unerklärten Worte, mit denen wir die unverstandenen Dinge belegen. Bisher wähnten wir, der Mittelpunkt der Welt bestände aus geistigen Kräften; heute sind wir davon durchdrungen, dass er sich aus rein materiellen Energien zusammensetzt. Wir schmeicheln uns, eine grosse Revolution im Königreich der Wahrheit vollzogen zu haben. Aber in Wahrheit fand in der Republik unserer Unwissenheit nur eine Vertauschung von Beiwörtern statt, ein Staatsstreich mit Worten; denn die Ausdrücke »Geist« und »Materie« sind nur die vertauschbaren Attribute der gleichen unbekannten Grösse.

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Aber wenn diese Beiwörter auch an sich nur einen literarischen Wert haben sollten, da sie beide wahrscheinlich ungenau gefasst sind und die Wirklichkeit nicht besser versinnbildlichen, als die Beiwörter »Atlantischer« oder »Stiller« Ozean diesen Ozean selbst wiedergeben, so haben sie doch, je nachdem man sich ausschliesslich zu dem ersten oder zu dem zweiten bekennt, einen eigentümlichen Einfluss auf unsere Zukunft, unsere Moral und folglich auch auf unser Glück. Wir irren um die Wahrheit herum, ohne einen anderen Führer als die Hypothesen, die gleich Fackeln ein paar luftige, aber magische Worte erleuchten; und diese Worte werden für uns bald zu lebendigen Wesenheiten und zu geistigen Leitern unserer körperlichen, geistigen und moralischen Handlungen. Wenn wir glauben, der Geist lenke das Weltall, so konzentrieren sich alle unsere Nachforschungen und Hoffnungen auf unseren eigenen Geist oder vielmehr auf seine Gabe, Worte und Vorstellungen zu bilden, und wir huldigen der Theologie und Metaphysik. Sind wir hingegen überzeugt, dass des Rätsels Lösung in der Materie zu suchen ist, so streben wir ausschliesslich danach, sie zu befragen, und haben nur noch zu den experimentellen Wissenschaften Zutrauen. Inzwischen geht uns die Einsicht auf, dass Materialismus und Spiritualismus nur zwei entgegengesetzte, aber identische Ausdrücke sind für unsere Angst und Ohnmacht, zu verstehen. »Der Grundsatz meiner spekulativen Philosophie,« sagt Huxley, »ist der, dass Materialismus und Spiritualismus nur die beiden Pole der gleichen Absurdität sind, die darin besteht, uns einzureden, dass wir etwas von dem, was Geist und Materie betrifft, erfahren können.« Nichtsdestoweniger führt uns jede dieser beiden Methoden in eine Moralwelt, die einem ganz anderen Planeten anzugehören scheint.

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Aber lassen wir die Folgen aus dem Spiel. Der grosse Vorzug der spiritualistischen Welterklärung ist der, dass sie unserm Leben eine Moral, ein Ziel und einen Sinn leiht, die zwar imaginär sind, aber weit höher stehen als die, welche uns unsere ungebändigten Instinkte anraten. Der mehr oder weniger ungläubige Spiritualismus unserer Tage erborgt sich sein Licht noch vom Widerschein dieses Vorzuges und erhält einen tiefen, aber freilich recht gestaltlosen Glauben für die schliessliche Suprematie und den unbestimmten Sieg des Geistes wach.

Die andere Welterklärung dagegen bietet uns keine über den Instinkt erhabene Moral, kein Ideal, kein Ziel ausser uns und keinen anderen Horizont als das leere Nichts. Oder vielmehr, wenn sich eine Moral ableiten lässt aus der einzigen synthetischen Theorie, die hervorgegangen ist aus den zahllosen Bruchstücken der Experimentalforschung, deren imposante, aber stumme Masse das Ergebnis unserer wissenschaftlichen Eroberungen bildet, nämlich aus der Entwicklungslehre, so wäre dies die furchtbare und ungeheuerliche Moral der Natur, d. h. die Anpassung der Art an das Milieu, der Sieg des Stärkeren und all die notwendigen Verbrechen des Kampfes ums Dasein. Nun aber würde diese Moral, die in Erwartung einer anderen Gewissheit die grundlegende Moral alles Erdenlebens zu sein scheint, – denn sie beseelt die Handlungen der veränderlichen und vergänglichen Menschen ebenso, wie die langsamen Bewegungen der unsterblichen Kristalle, – diese Moral würde der Menschheit sofort verhängnisvoll werden, wenn sie bis zum Äussersten befolgt würde. Alle Religionen und Philosophien, die Ratschläge der Götter und Weisen haben kein anderes Ziel gehabt, als das eine: diesem allzu glühenden Dunstkreis, der, wenn er rein und unvermischt wäre, wahrscheinlich die Auflösung unserer Art zur Folge hätte, Bestandteile beizumischen, die seine Giftigkeit abschwächen. Es waren dies namentlich der Glaube an gerechte und furchtbare Götter, die Hoffnung auf ewigen Lohn und die Furcht vor ewigen Strafen. Dazu kamen die neutralen Stoffe und die Gegengifte, denen die Natur mit recht seltsamer Voraussicht einen Platz in unserm eigenen Herzen vorbehalten hat, ich meine die Güte, das Mitleid, den Rechtssinn.

Derart ist dieses unduldsame, exclusive Milieu, das für uns das natürliche und normale sein sollte, nie rein gewesen und wird es vermutlich auch nie sein. Jedenfalls gewährt sein gegenwärtiger Zustand einen seltsamen und beachtenswerten Anblick. Es gärt und brodelt, es schlägt sich nieder wie eine Flüssigkeit, in die der Zufall einige Tropfen eines unbekannten Reagens fallen Hess. Die Prinzipien der Religion, die ihm die Wage hielten, verdampfen und verflüchtigen sich allmählich nach oben hin, während sie sich nach unten zu einer dicken und trägen Masse verdichten. Aber in dem Masse, wie sie verschwinden, gewinnen die rein menschlichen Gegengifte an Einfluss, wiewohl sie durch den Ausscheidungsprozess der rein religiösen Elemente stark oxydiert sind, und zeigen das Bestreben, die Mischung aufrecht zu erhalten, durch die, dank einer dunklen Vorsehung, unsere menschliche Art geläutert wird. In Erwartung von Hilfskräften, die sich noch in Geheimnis hüllen, behaupten sie das Feld, das die verflüchtigten Kräfte verliessen.

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Ist es nicht vor allem erstaunlich, dass trotz der Abschwächung des religiösen Empfindens und dem Einfluss, den diese auf die menschliche Vernunft haben müsste, da die Vernunft ja nun kein übernatürliches Interesse mehr hat, Gutes zu tun, und das natürliche Interesse, es doch zu tun, sehr anfechtbar ist, – ist es da nicht erstaunlich, dass die Summe der Gerechtigkeit und Güte und der Wert des öffentlichen Gewissens keineswegs geringer geworden sind, sondern vielmehr unstreitig sich gehoben haben? Ich sage unstreitig, obgleich es ausser Zweifel ist, dass man es bestreiten wird. Um das zu beweisen, müsste man die ganze Weltgeschichte durchgehen, oder wenigstens die der letzten Jahrhunderte, müsste die Lage der Unglücklichen von früher mit derjenigen der Unglücklichen von heute vergleichen und die Summe der einstigen Ungerechtigkeiten neben die derer von heute setzen, den Zustand des Sklaven, des Leibeigenen, des Bauern und Handwerkers alter Regierungsformen dem unseres Arbeiters gegenüberstellen, müsste man die Gleichgültigkeit und Bewusstlosigkeit, die ruhige und harte Ruhe der Besitzenden von ehedem an dem Mitgefühl, der vorwurfsvollen Unruhe und dem Zögern der heutigen Besitzenden messen. Dies alles würde sehr lange Einzelstudien erfordern, aber ich glaube, dass ein aufrichtiger Geist ohne Mühe zugeben wird, dass es heute nicht nur in den menschlichen Wünschen, wo es erwiesen scheint, sondern auch in der Wirklichkeit – trotz alles wirklichen und zahllosen Unglücks – ein wenig mehr Gerechtigkeit, Solidaritätsgefühl, Sympathie und Hoffnungen auf Erden gibt …

Welcher neuen Religion, welchen neuen Gedanken und Elementen soll man diese Verbesserung unseres moralischen Dunstkreises zuschreiben, die doch aller Logik zuwiderläuft? Es ist schwer, hierüber etwas Bestimmtes zu sagen; denn wenn es auch feststeht, dass diese Kräfte sehr merklich zu wirken beginnen, so sind sie doch noch zu neu, zu gestaltlos und zu wenig festgestellt, um sie zu bewerten.

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Versuchen wir trotzdem, einige Anzeichen klarzulegen, und stellen wir zuvörderst fest, dass unsere Weltanschauung sich von Grund aus und sehr merklich umgewandelt hat, und namentlich, dass sie das Bestreben zeigt, sich immer schneller umzuwandeln. Ohne dass man sich dessen bewusst wird, verändert sich durch jede der so zahlreichen wissenschaftlichen Entdeckungen, – sei es in der Geschichte, der Anthropologie, Erdkunde, Geologie, Medizin, Physik, Chemie oder Astronomie usw. – unser gewohnter moralischer Dunstkreis und ein wesentlich neuer Zug tritt zu dem Bilde, das wir noch nicht deutlich erkennen, das uns jedoch überragt, das den ganzen Horizont einnimmt und dessen ungeheure Grösse wir ahnen. Seine Züge sind unzusammenhängend wie bei nächtlichen Illuminationen. Ein Giebel, eine Säulenreihe, eine Kuppel, ein Portikus erscheinen vereinzelt und plötzlich am Himmel. Man weiss nicht, was sie bedeuten und wozu sie gehören. Sie hängen widersinnig im unbeweglichen Äther; es sind unbeständige Träume am ruhigen Firmament. Doch mit einem Mal schiesst eine kleine Lichtschlange in das Blau hinauf und verknüpft für eines Blickes Frist die Kuppel mit den Säulen, den Portikus mit dem Giebel, und das Bauwerk steht unerwartet da, als hätte es die Maske der Finsternis abgeworfen, und man versteht seinen Zusammenhang trotz der Nacht.

Diese kleine Lichtschlange, diese ausschlaggebende Bogenlinie, dieser allgemeine, ergänzende Feuerstrich fehlt noch in der Nacht unseres Verstandes. Aber man fühlt, er ist da, er ist vorhanden, mit Schatten in die Finsternis gezeichnet, und ein Nichts, ein Funke aus ich weiss nicht welcher Wissenschaft genügt, um ihn zu entflammen und unseren grenzenlosen Vorahnungen und zerstreuten Kenntnissen, die sich ins unerkennbare Nichts zu verlieren schienen, einen untrüglichen und bestimmten Sinn zu verleihen.

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Einstweilen bevölkert sich dieses Nichts, – das Ruhelager unserer Unwissenheit, – das nach Verschwinden der religiösen Vorstellungen so grausig leer schien, allgemach mit unbestimmten, aber riesenhaften Gestalten; und jedesmal, wenn sich eine dieser Gestalten neu erhebt, erweitert sich der unermessliche Raum, in dem sie sich bewegt, in ebenfalls unermesslichen Verhältnissen, denn die Grenzen des Unermesslichen verschieben sich in unserer Einbildungskraft unaufhörlich. Gewiss waren die Götter einiger positiver Religionen sehr gross. So war der christliche und jüdische Gott unermesslich und begriff alle Dinge in sich; seine ersten Attribute waren Ewigkeit und Unendlichkeit. Aber das Unendliche ist ein abstrakter und finsterer Begriff und gewinnt nur dadurch Leben und Klarheit, dass man seine Grenzen mehr und mehr ins Endliche rückt. Es setzt einen gestaltlosen Raum voraus, von dem wir einen Begriff nur durch einige Erscheinungen gewinnen können, die in immer grösserer Entfernung vom Mittelpunkt unserer Vorstellungskraft stattfinden. Von Wirkung ist es nur durch die Vielheit der Gesichter des Unbekannten, die es uns in seinen Tiefen offenbart und die sozusagen fassbar und real sind. Begreiflich und fühlbar wird es uns, wenn es Leben und Bewegung annimmt und an den verschiedenen Horizonten des Raumes Fragen aufflammen lässt, die sich mehr und mehr von unseren Gewissheiten entfernen und ihnen immer fremder werden. Wenn unser Leben an dem seinen teilhaben soll, so muss es uns unablässig Fragen stellen und uns unablässig unsere unermessliche Unwissenheit vorhalten, welche das einzige sichtbare Gewand ist, unter dem sein unermessliches Dasein sich erraten lässt.

Aber die unermesslichen Götter stellten keine solchen Fragen, wie sie uns unablässig jene Macht stellt, die von ihren Anbetern noch heute das Nichts genannt wird und die in Wahrheit die Natur ist. Ihnen war es genug, in einem leeren Räume zu herrschen, der ohne Ereignisse und Bilder war, folglich auch unserer Phantasie keine Anhaltspunkte bot und auf unser Denken und Fühlen nur einen unveränderlichen und unbeweglichen Einfluss hatte. Auf diese Weise erstarb in uns der Sinn für das Unendliche, welcher die Quelle aller höheren Betätigung ist. Will unser Verstand in seinen eigenen Schranken leben, wo sich sein höchster Beruf vollzieht, will unser Denken den ganzen Raum unseres Hirns einnehmen, so bedarf es fortwährend neuer Anregungen von Seiten des Unbekannten. Sobald es nicht täglich und gebieterisch durch irgend eine neue Tatsache zur Aufbietung aller Kräfte angefeuert wird, – und im Reiche der Götter gibt es keine neuen Tatsachen, – so schläft es ein, schrumpft zusammen, wird schwach und siecht dahin. Nur Eins vermag alle Fasern unseres Hirns in allen seinen Teilen gleichmässig zu erweitern: das ist die tätige Vorstellung, die wir uns von dem Rätsel machen, in dem wir leben. Läuft man Gefahr sich zu täuschen, wenn man behauptet, dass die Tatkraft dieser Vorstellung nie so gross war wie heute? Nie, weder in der Blütezeit der indischen, jüdischen oder christlichen Philosophie, noch in den Tagen, da die deutsche oder griechische Metaphysik alle Kräfte des Menschengeistes in Anspruch nahm, ward unsere Weltauffassung belebt, befruchtet und erweitert durch gleich unverhoffte, gleich geheimnisvolle, gleich tatkräftige, gleich wirkliche Beiträge. Bisher nährte sie sich gleichsam mit indirekten Nahrungsmitteln, oder vielmehr nährte sie sich illusorisch von sich selbst. Sie blies sich mit ihrem eigenen Atem auf, tränkte sich mit ihren eigenen Wassern und nur wenig kam ihr von aussen zu. Heute beginnt die Welt selbst in die Vorstellung, die wir uns von ihr machen, einzudringen. Der Haushalt unseres Denkens ist ein anderer geworden. Was unser Geist erwirbt, nimmt er von aussen und fügt er seinem eigenen Wesen zu. Er entleiht anstatt zu leihen. Er strahlt nicht mehr seine eigene Grösse um sich aus, sondern er absorbiert die Grösse seiner Umgebung. Bisher führten wir Zwiesprache mit unserer schwachen Logik oder unserer müssigen Einbildungskraft; jetzt, wo wir die Behausung unseres Inneren verlassen haben, suchen wir zu dem Rätsel selbst in Beziehung zu treten. Es stellt uns Fragen, und wir stammeln, so gut wir können, die Antwort. Wir stellen ihm Fragen, und zur Antwort entschleiert es bisweilen eine lichtreiche und grenzenlose Perspektive in dem ungeheuren Ring der Finsternisse, in dem wir leben. Wir waren wie Blinde, die sich in der Tiefe eines verschlossenen Gemaches einen Begriff von der Aussenwelt machten. Jetzt sind wir zwar noch immer blind, aber ein allzeit schweigsamer Führer geleitet uns hinaus in den Wald, in das Blachfeld, auf die Berge und an den Meeresstrand. Unsere Augen sind noch nicht geöffnet, doch unsere zitternden und begierigen Hände können die Bäume betasten, die Ähren fühlen, eine Blume oder Frucht pflücken, auf dem Grat eines Felsens staunen oder die Frische der Wogen spüren, während unsere Ohren das tausendfache wirkliche Lied der Sonne und des Schattens, des Windes und Regens, der Blätter und Fluten unterscheiden lernen, ohne dass sie es zu verstehen brauchten.

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Wenn unser Glück, wie ich oben sagte, von unserer Weltauffassung abhängt, so ist dies, weil unsere Moral zum grossen Teil davon abhängt. Und diese hängt weit weniger von der Natur als von der Grösse dieser Auffassung ab. Wir sind grösser, edler und moralischer im Schoss einer Welt, die als unmoralisch erwiesen ist, aber als unendlich aufgefasst wird, als inmitten einer Welt, die die Vollkommenheit des menschlichen Ideals besässe, uns aber begrenzt und ohne Mysterien erschiene. Worauf es ankommt, das ist, dass die Stätte, an der sich alle unsere Gedanken und Gefühle entwickeln, so gross wie möglich ist, und diese Stätte ist keine andere, als die, wo unsere Weltanschauung sich bildet. Wir können uns nur in der Vorstellung bewegen, die wir uns von der Welt machen, in der wir uns bewegen. Von ihr geht alles aus und hängt alles ab, und unsere sämtlichen Handlungen werden – oft ohne unser Wissen – beeinflusst von der Höhe und Ausdehnung dieses ungeheueren Kraftbehälters, der auf dem Gipfel unseres Bewusstseins liegt.

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Man kann, glaube ich, sagen, dass dieser Behälter nie grösser war noch höher lag als heute. Gewiss ist die Vorstellung, die wir uns von der Organisation und der Herrschaft der unendlichen Gewalten machen, weniger deutlich als ehedem; aber das liegt an dem ehrlichen und vornehmen Nichtzulassenwollen von Grenzen, deren Deutlichkeit nur illusorisch ist. Sie gibt uns keine feste Moral mehr, keinen Trost, keine Versprechen, keine gewissen Hoffnungen. Sie ist nackt und fast leer, weil nichts darin übrig bleibt, ausser dem gewachsenen Fels einiger primitiver Tatsachen. Sie hat keine Stimme und keine Bilder mehr, ausser um ihre Unermesslichkeit zu bekunden und zu versinnbildlichen. Darüber hinaus sagt sie uns nichts mehr, aber diese Unermesslichkeit, die ihr als einziges gebieterisches und unwiderrufliches Attribut blieb, ist an Energie, Vornehmheit und Beredsamkeit allen Attributen, allen Tugenden und Vollkommenheiten überlegen, mit denen wir bis auf diesen Tag unser Unbekanntes bevölkert hatten. Sie erlegt uns keinerlei Verpflichtung auf, aber sie erhält uns in einem Zustande der Grösse, der uns gestatten wird, alle die Pflichten, die uns an der Schwelle einer nahen Zukunft erwarten, desto leichter und hochherziger zu erfüllen. Indem sie uns unserer wahren Stellung im Weltsystem näher bringt, mehrt sie unser geistiges und unser allgemeines Leben um alles das, was sie unserer materiellen und individuellen Bedeutung nimmt. Je mehr sie uns unsere Kleinheit begreifen lässt, desto grösser wird das in uns, was diese Kleinheit begreift. Ein neues Wesen, das selbstloser ist und dem näher kommt, was sich eines Tages als die letzte Wahrheit enthüllen wird, tritt allmählich an die Stelle des ursprünglichen Wesens, das sich unter dem Druck der veränderten Auffassung auflöst.

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Dieses neue Wesen hält sich selbst und alle Menschen, die es umgeben, nur für einen Punkt in der Unendlichkeit der ewigen Kräfte, der durch seine Winzigkeit nicht mehr genügt, um seine Aufmerksamkeit und Teilnahme zu fesseln. Unsere Brüder, unsere Nachkommen und sichtbaren Nächsten, alles, worauf sich unsere Teilnahme bisher beschränkte, räumen nach und nach einer schrankenloseren und höheren Wesenheit das Feld. Wir sind fast nichts, aber die Art, der wir angehören, behauptet einen Platz, der sich im grenzenlosen Lebensmeer wohl erkennen lässt. Wenn wir nichts mehr gelten, so erlangt die Menschheit, der wir angehören, die Bedeutung, deren wir uns entkleiden. Dieses Gefühl, das sich in der gewöhnlichen Atmosphäre unserer Gedanken und unseres Unbewussten erst Bahn bricht, macht sich auf unsere Moral bereits geltend und bereitet hier ohne Zweifel Umwälzungen vor, die ebenso gross sind wie die der welterschütterndsten Religionen. Es wird nach und nach den Schwerpunkt unserer meisten Tugenden und Laster verlegen. Es wird an Stelle eines illusorischen und individuellen Ideals ein selbstloses, unbegrenztes und doch fassliches Ideal setzen, dessen Folgen und Gesetze noch nicht abzusehen sind. Aber wie diese auch sein mögen, man kann schon jetzt behaupten, dass sie allgemeiner und ausschlaggebender sein werden, als alle, die ihr in der höheren, sozusagen astralen Geschichte der Menschheit vorausgingen. Jedenfalls lässt es sich nicht bestreiten, dass der Gegenstand dieses Ideals umfangreicher, dauerhafter und vor allen Dingen gewisser sein wird, als die besten unter denen, die vor ihm unsere Finsternis erleuchteten; denn es deckt sich in mehr als einer Hinsicht mit dem Weltall selbst.

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Und wir leben gerade in dem Augenblick, wo ringsum tausend neue Gründe entstehen, Vertrauen in die Geschicke unserer Art zu fassen. Seit Jahrhunderten und Jahrtausenden bewohnen wir diese Erde und die grössten Gefahren scheinen vorüber. Sie waren so bedrohlich, dass wir ihnen nur durch einen Zufall entgangen sind, der sich in der Geschichte der Welten gewiss in tausend Fällen nur einmal wiederholt. Auf der noch zu jungen Erde schwankten ungewiss die Kontinente, die Inseln und Meere, bevor sie sich festsetzten. Die innere Glut, der älteste Herrscher der Planeten, durchbrach jeden Augenblick seinen granitenen Kerker, und unser Erdball irrte zögernd im Raum umher, zwischen gierigen, feindseligen Gestirnen, die ihre eigenen Gesetze nicht kannten. Unsere unbestimmten Eigenschaften schwankten blind in unserem Körper hin und her, wie Nebelfiecke im Weltäther; in den Stunden des Tastens, in denen sich unser Gehirn bildete und das Netz unserer Nerven sich verästelte, konnte ein Nichts unsere menschliche Zukunft vernichten. Heute ist die Unbeständigkeit des Meeres, sind die Ausbrüche des inneren Feuers weit weniger zu fürchten; jedenfalls ist es nicht wahrscheinlich, dass sie eine Weltkatastrophe herbeiführen werden. Und was die dritte Gefahr betrifft, den Zusammenstoss mit einem aus der Bahn geratenen Gestirn, so ist die Hoffnung erlaubt, dass sie uns einige Jahrhunderte Frist lassen wird, die notwendig sind, um diesen Schlag abzuwenden. In Anbetracht dessen, was wir schon getan haben und was wir zu tun im Begriff stehen müssen, ist es keine Wahnhoffnung, dass wir eines Tages jenes wesentliche Geheimnis des Weltalls erfahren, das wir vorläufig als Schwerkraft bezeichnen, um unsere Unwissenheit zu beruhigen, wie man ein Kind beruhigt und einlullt, indem man ihm eintönige Worte ohne Sinn vorspricht. Es liegt nichts Sinnloses in der Annahme, dass das Geheimnis dieser selbstherrlichen Kraft sich in uns verbirgt, oder in unserer Umgebung und in unserem Machtbereich. Sie ist vielleicht willfährig und lenkbar, wie Licht und Elektrizität; sie ist vielleicht rein geistiger Natur und hängt von einer sehr einfachen Ursache ab, die uns durch die Ortsveränderung irgend eines Gegenstandes plötzlich klar werden kann. Die Entdeckung einer unerwarteten Eigenschaft der Materie, wie diejenige, die uns soeben die verblüffenden Eigenschaften des Radiums offenbart hat, kann uns unmittelbar zu den Kraft- und Lebensquellen der Gestirne führen; und von diesem Moment ab würde das Los des Menschen ein anderes, und die Erde, für alle Zeit gerettet, wäre ewig. Sie würde sich nach unserem Willen von den Licht- und Wärmeherden entfernen oder ihnen nähern; sie würde die alten Sonnen fliehen und ungeahnte Fluida, Kräfte und Lebensformen in den Bahnen jungfräulicher und unerschöpflicher Welten aufsuchen.

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Ich gebe zu, dass alle diese Hoffnungen anfechtbar sind, dass man mit fast ebensogutem Grunde an den Geschicken des Menschen verzweifeln kann. Aber es ist schon viel, wenn uns die Wahl bleibt und dass bis auf diesen Tag nichts gegen uns entschieden ist. Jede verrinnende Stunde mehrt die Möglichkeit der Fortdauer und des Sieges. Ich weiss wohl, man kann sagen, dass einige Völker, wie die Griechen und die Römer der ersten Kaiserzeit, in Hinsicht auf die Schönheit, den Genuss und die harmonische Auffassung des Lebens uns überlegen waren. Es bleibt trotzdem wahr, dass die Gesamtsumme der über unseren Erdball verteilten Kultur nie grösser war als heutzutage. Eine aussergewöhnliche Kultur wie die von Athen, Rom oder Alexandria bildete nur eine leuchtende Insel in dem ringsum brandenden Ozean der Wildheit, der sie von allen Seiten bedrohte und schliesslich verschlang. Heute ist es – abgesehen von der gelben Gefahr, die nicht ernst ist – nicht mehr möglich, dass ein Barbareneinfall uns in wenigen Tagen unsere wesentlichsten Errungenschaften nimmt. Von aussen können die Barbaren nicht mehr kommen, sondern nur aus unserer Mitte, aus Stadt und Land, aus den Niederungen unseres eigenen Lebens; sie wären ganz durchtränkt von der Kultur, die sie zu zerstören beabsichtigen, und nur durch Benutzung ihrer Errungenschaften könnte es ihnen gelingen, uns ihre Früchte zu entreissen.

Da wir die Wahl haben zwischen einer Weltauslegung, die unser Dasein licht erscheinen lässt, oder einer, die es finster erscheinen lässt, so wäre es wenig klug, zu zaudern. Unter den geringeren Umständen des täglichen Lebens bietet unsere Unwissenheit uns meistenteils nur eine ganz ähnliche Wahl, die sich auch nicht mehr aufdrängt. Der Optimismus hat, so aufgefasst, nichts stumpfsinniges und kindisches; er schmunzelt nicht blöde vor sich hin, wie der Bauer, wenn er aus der Schenke kommt, sondern wägt bei allem, was war und was sein kann, die guten und schlimmen Aussichten ab, und wenn jene nicht Schwergewicht genug haben, so lässt er das Gewicht des Lebens mit in die Wage fallen.

Überdies ist diese Wahl nicht einmal nötig; es genügt, wenn wir uns der Grösse unserer Erwartung bewusst werden. Denn wir befinden uns in dem prächtigen Zustand, in welchen Michelangelo die Propheten und die Gerechten des Alten Testamentes auf die wunderbare Decke der Sixtinischen Kapelle gemalt hat: wir leben in der Erwartung und vielleicht in den letzten Augenblicken der Erwartung. Denn die Erwartung hat Stufen, die von einer Art unbestimmter und noch hoffnungsloser Ergebung bis zum erwartungsvollen Beben reichen, wenn das Ersehnte schon in der Nähe ist und sich durch Bewegungen kundgibt. Es ist, als hörten wir diese Bewegungen schon: den Schall übermenschlicher Schritte, das Aufgehen eines Riesentores, herabströmendes Licht oder uns umschmeichelnden Odem – man weiss es nicht; doch die Erwartung auf dieser Stufe ist ein glühender, wundersamer Lebenszustand, die schönste Periode des Glückes, seine Jugend und Kindheit …

Ich wiederhole es: noch nie gab es soviele Gründe zum Hoffen. Halten wir sie heilig. Geringere Gründe Hessen unsere Vorfahren die grossen Dinge vollführen, die uns als die besten Zeugnisse der menschlichen Geschicke erscheinen. Sie hatten Zuversicht, obwohl sie nur unvernünftige Gründe dafür hatten. Heute sind verschiedene dieser Gründe wirklich aus der Vernunft geboren; da wäre es schlimm, weniger Mut zu zeigen als sie, die den ihren ebenda schöpften, wo wir nur noch Entmutigung schöpfen.

Wir glauben nicht mehr, dass diese Welt der Augapfel eines einzigen Gottes ist, der über unsere geringsten Gedanken wacht, aber wir wissen, dass sie in der Gewalt von ebenso mächtigen Kräften ist, die über Gesetze und Pflichten wachen, die wir zu erforschen haben. Darum ist auch unsere Haltung gegenüber dem Mysterium dieser Kräfte eine andere geworden. Sie ist nicht mehr furchtsam, sondern verwegen. Sie fordert nicht mehr das Niederknien des Knechtes vor seinem Herrn oder Schöpfer, sondern gestattet das Anblicken von Gleich zu Gleich; denn was wir in uns tragen, steht auf gleicher Stufe mit den tiefsten und grössten Mysterien.

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Herrn Ingenieur Rudolf Urtel in Schöneberg und Herrn Wilhelm Bölsche in Friedrichshagen sagt der Übersetzer für ihren fachmännischen Beistand bei dem Aufsatz »Im Automobil« bezw. bei den Aufsätzen »Feldblumen« und »Alte Blumen« auch an dieser Stelle herzlichen Dank.

[Danksagung des Übersetzers]

 

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Anmerkungen des Übersetzers: an der verweisenden Textstelle als Fußnote eingepflegt. Re. für Gutenberg


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