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VIII. Frühlingskunde

Buchschmuck

Buchschmuck Im Süden sah ich wie der Lenz Sonne, Blätter und Blumen häuft und sich lange Zeit rüstet, bevor er den Ansturm nach Norden wagt. Hier an den ewig warmen Gestaden des Mittelmeers, das unbeweglich wie unter Glas ruht, hier, wohin er während der rauhen Wintermonate, die auf dem übrigen Europa lasten, sich vor Wind und Schnee zurückzieht, wie in einen Palast des Friedens, des Lichts und der Liebe, ist es anziehend und merkwürdig, auf den immergrünen Fluren seine Rüstungen zum Aufbruch zu beobachten. Man sieht deutlich, dass er sich fürchtet, dass er zögert, den grossen Fallstricken des Eises, die Februar und März ihm alljährlich jenseits der Berge stellen, von neuem Trotz zu bieten. Er wartet, er tändelt und versucht seine Kräfte, bevor er den rauhen und grausamen Weg wieder aufnimmt, den der heuchlerische Winter zum Schein freigibt. Er hält inne, geht weiter und irrt tausendmal, wie ein Kind, das sich zur Ferienzeit im Garten tummelt, durch die duftenden Täler und über die lieblichen Höhen, die der Frost nie mit seinen Flügeln streift. Er hat hier nichts zu tun, nichts zu erwecken, denn nichts ist vergangen und nichts hat gelitten, und die Blumen aller Jahreszeiten baden sich hier im Blau eines ewig gleichen Himmels. Aber er sucht nach Vorwänden, er hält inne, er faulenzt und tritt immer wieder in seine eigenen Fusstapfen, wie ein beschäftigungsloser Gärtner. Er biegt die Zweige, umschmeichelt mit seinem Hauche den Ölbaum, der in Silberschauern lächelt, umglänzt das glänzende Grün, erweckt die Blumenkronen, die garnicht schliefen, ruft die Vögel wieder, die nie geflohen waren, ermuntert die Bienen, die rastlos eintrugen, und ruht sich dann wie Gott, da er sah, dass im Paradies alles wohlbestellt war, ein Weilchen am Rande einer Terrasse aus, die der Orangenbaum mit regelmässigen Blüten und leuchtenden Früchten bekrönt, bevor er mit einem letzten Blick auf sein Werk der Lust, das er der Sonne anvertraut, von dannen zieht.

Buchschmuck

Ich folgte ihm in diesen Tagen an den Ufern des Borigo, des Bergstroms Careï im Gorbiotal, in all die kleinen Landstädte, Ventimiglia, Tende, Sospel, in die eigenartigen Dörfer auf ragenden Felsen: Sant' Agnese, Castelar, Castiglione, und auf die herrlichen, schon ganz italienischen Gefilde, die Mentone umgeben. Man kommt durch einige Strassen, in denen das kosmopolitische und recht hässliche Rivieraleben flutet; man lässt hinter sich den Musikkiosk der ständigen städtischen Kapelle, um den sich das mondäne und schwindsüchtige Mentone schart, – und zwei Schritt von dieser Menge und von ihr gefürchtet, wie eine heilige Geissel, findet man das herrliche Schweigen der Bäume, all die schönen virgilischen Wirklichkeiten der Hohlwege, der klaren Brunnen und schattigen Wasserbecken, die an den Berglehnen schlummern und auf das Spiegelbild einer Göttin zu warten scheinen ... Man klimmt einen steilen Pfad zwischen zwei Steinmauern hinan, an denen Veilchen leuchten; und darüber hinweg ragen die seltsamen braunen Kapuzen des Arisanum mit ihrem tiefen Blattgrün, das die Frische der Zisternen zu versinnbildlichen scheint; und ein Talkessel öffnet sich wie eine feuchte Riesenblume. Durch den bläulichen Schleier der riesigen Ölbäume, die den Gesichtskreis mit einem durchsichtigen Vorhang schimmernder Perlen umgeben, leuchtet zart und harmonisch alles, was die Menschen sich nur im Traume ausmalen, alles, was ihnen unwirklich und nicht zu verwirklichen dünkt, wenn sie der idealen Heiterkeit einer übermenschlichen Stunde, einer verzauberten Insel, eines verlorenen Paradieses oder eines Götterwohnsitzes Gestalt leihen wollen.

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Alle diese Küstentäler entlang gibt es hunderte solcher Talkessel, gleich Theatern, auf denen im Mondlicht oder im Frieden des Morgens und Nachmittags die stummen Feenspiele irdischen Glückes sich abspielen. Sie gleichen sich alle, und doch birgt jeder von ihnen eine verschiedene Glückseligkeit. Jeder von ihnen, wie die Gesichter einer gleich schönen, gleich glücklichen Schwesternschar, hat sein eigenes Lächeln, an dem man ihn wiedererkennt.

Eine Zypressengruppe, welche die Linien läutert, eine Mimose wie ein Geysir von Schwefel, ein Orangenhain mit schweren, dunklen Wipfeln, symmetrisch mit Goldfrüchten beladen, die plötzlich den königlichen Überfluss ihres Nährbodens kundgeben, ein Hang mit Zitronenbäumen, auf denen die Nacht in einem Bergwinkel gleichsam die Sterne gesammelt hat, die das Frührot knickte eine Laubhalle, die sich auf das Meer öffnet, wie ein tiefer Strahl, der plötzlich einen unendlichen Gedanken enthüllt, ein Bach, der sich verbirgt wie eine Freudenträne, ein Weinspalier, das dem Purpur der Trauben entgegenreift, ein grosses Steinbecken, das am Ende einer grünen Schilfpflanzung schlickert, – dies Alles und Nichts verändert den Zug der Ruhe und Stille, des azurnen Schweigens und der seligen Selbstversunkenheit.

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Doch ich suche den Winter und die Spuren seiner Schritte. Wo verbirgt er sich doch? Er müsste hier sein; und wie wagt dieses Fest der Rosen und Anemonen, der warmen Lüfte und des Taus, der Bienen und Vögel sich so selbstgewiss hervor in den erbarmungslosesten Monden seiner Herrschaft? Und der Lenz: was wird er tun, was wird er sagen, wo hier alles getan, alles gesagt scheint? Ist er also überflüssig und wird er nirgends mehr erwartet? – Nein, wenn man genau zusieht, so findet man in dem unermüdlich jungen Leben das Werk seiner Hand, den Duft seines Hauchs, der jünger ist als das Leben. So gibt es Fremdlinge dort unter den Bäumen, schweigsame Gäste, gleichsam arme Verwandte, in Lumpen gehüllt. Sie kommen von weither, aus dem Lande des Nebels des Reifs und des Windes. Sie sind Auswanderer mürrisch und voller Misstrauen. Sie verstehen noch nicht die klare Sprache des Landes, die sich nach den köstlichen Gewohnheiten des blauen Himmels gebildet hat. Sie haben noch keinen Glauben an die Verheissungen dieses Himmels, sie sind argwöhnisch gegen die Liebkosungen der Sonne, die sie vom Frührot an in einen Strahlenmantel hüllt, der seidener und wärmer ist als der, den die Juliglut in den ungewissen Sommern ihrer Heimat um ihre Schultern legt. Trotz alledem: zur Stunde, da dreihundert Meilen von hier der Schnee fiel, haben ihre Zweige gefröstelt, und trotz des kühnen Vorbilds von Gras und hundert Blumen, trotz der Zuversicht der Rosen, die zu ihnen emporkletterten, um Kunde vom Leben zu bringen, haben sie sich für den Winterschlaf entkleidet. Düster und feindlich und nackt wie Leichen harren sie des Lenzes, der sie umblüht; und dank einer seltsamen, übertriebenen Reaktion harren sie hier länger als unter dem rauhen Himmel von Paris, wo die Knospen jetzt schon spriessen sollen. Man erkennt sie hier und dort in der festlichen Menge, deren unbeweglicher Reigen der Hügel verzaubert. Es sind ihrer nicht viele und sie verbergen sich: es sind knorrige Eichen, Buchen, Platanen, und selbst der Weinstock, den man für besser erzogen halten sollte, für eines Besseren belehrt und gelehriger, und der doch ungläubig bleibt. Sie stehen schwarz und mager da, wie Kranke am Ostersonntag in der Vorhalle einer Kirche, die Sonnenglanz erleuchtet. Sie stehen seit Jahren dort, einige vielleicht seit zwei bis dreihundert Jahren; aber der Schrecken des Winters ist ihnen ins Mark gedrungen. Sie werden nie die Gewohnheiten des Todes verlernen. Sie haben zuviel durchgemacht; sie können nicht mehr vergessen und nicht mehr umlernen. Ihr verhärteter Verstand gibt das Licht nicht mehr zu, wenn es nicht zur gewohnten Stunde kommt. Es sind verbitterte Greise, zu gewitzigt, um eine unverhoffte Freude zu geniessen. Sie haben Unrecht. Rings um die Alten, die feindlichen Vorfahren spriesst eine Welt von Pflanzen, die die Zukunft nicht kennen und sich ihr doch weihen. Sie leben nur ein Jahr; sie haben keine Vergangenheit und Zukunft und wissen nichts, als dass die Stunde schön ist und dass man sie geniessen muss. Während ihre Altvordern, ihre Herren und Götter grollend die Zeit verlieren, blühen sie, lieben und mehren sich. Es sind die schlichten Blumen der holden Einsamkeit: das Gänseblümchen, das den Rasen mit seiner schmucken und regelmässigen Einfältigkeit bedeckt, das Gurkenkraut, das tiefer blaut als der blauste Himmel, die scharlachrote oder anilinfarbene Anemone, die jungfräuliche Primel, die baumartige Malve, die Glockenblume, die lautlos ihre blauen Glocken läutet, der Rosmarin, der einer kleinen Dienstmagd vom Lande gleicht, und der berauschende Thymian, dessen graues Köpfchen zwischen Steinspalten hervorlugt.

Doch vor allem ist dies die unvergleichliche Stunde, die durchsichtige, flüssige Stunde des wilden Veilchens. Seine sprichwörtliche Bescheidenheit wird hier herrisch und geradezu unerträglich. Es kauert sich nicht mehr furchtsam zwischen den Blättern, es verdrängt das Gras, wächst ihm über den Kopf und verhüllt es, zwingt ihm seine Farben auf und bläst ihm seinen Odem ein. Das Lächeln seiner zahllosen Blüten bedeckt die Stockwerke der Ölberge und Weingärten, die Hänge der Schluchten und die Krümmungen der Täler mit einem Netz unschuldiger und lieblicher Heiterkeit; sein Duft, frisch und klar wie die Seele der Quellen, die am Fusse der Berge rinnen, macht die Luft noch durchsichtiger, die Stille noch klarer, und es ist, nach dem Wort einer alten Sage, wirklich der Atem der taubeperlten Erde, wenn sie jungfräulich erwacht und sich im ersten Kusse des ersten Morgenrots der Sonne vermählt.

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In den Gärtchen der Landhäuser, der hellen Villen mit den italienischen Dächern stehen die braven Gemüse ohne Vorurteile und Ansprüche; sie haben nie gezweifelt und nie gefürchtet. Während der alte Bauer, ganz das Ebenbild der Bäume, die er aufgezogen, das Erdreich um die Ölbäume auflockert, macht der Spinat sich breit und grünt drauf los, ohne Vorsicht zu üben; die Sumpfbohne öffnet ihre Jettaugen zwischen ihren dunklen Blättern und sieht die Nacht beschaulich sinken; die rankenden Bohnen klettern und recken sich, mit unbeweglichen, festsitzenden Schmetterlingen bedeckt, als ob der Juni schon über den Gartenzaun dränge; die Karotte errötet, wo sie sich dem Tageslicht zeigt; die harmlosen Erdbeerstauden atmen die Wohlgerüche ein, die der Mittag aus seinen saphirenen Urnen über sie ausschüttet; der Lattich ist eifrig bemüht, sich ein goldenes Herz zu bilden, in dem er die netzende Morgen- und Abendfrische aufnehmen will. Nur die Obstbäume haben sich lange besonnen; das Beispiel der Gemüse, die um sie herumwachsen, trieb sie, sich an der allgemeinen Freude zu beteiligen, doch das starre Verhalten ihrer nordischen Ahnen, ihrer Grosseltern aus den grossen düsteren Forsten, predigte ihnen Vorsicht. Doch nun erwachen auch sie, es hält sie nicht länger, und endlich entschliessen sie sich, an dem Duft- und Liebesreigen teilzunehmen. Die Pfirsichbäume sind nur mehr ein rosiges Wunder, gleichsam ein kostbares, jugendliches Fleisch, das der Odem des Morgenrots in den blauen Äther hinauf haucht. Die Birnen-, Pflaumen-, Mandel- und Obstbäume wetteifern voller Trunkenheit, und hier und dort stehen die blonden Haselnusssträucher wie venezianische Kronleuchter, von einem ganzen Brodem von Kätzchen umstäubt, um dem Feste zu leuchten. Die üppigen Blumen aber, die scheinbar kein anderes Ziel kennen, als sich selbst, haben schon lange darauf verzichtet, das Mysterium dieses schrankenlosen Sommers zu ergründen. Sie rechnen nicht mehr mit den Jahreszeiten, zählen nicht mehr die Tage, und da sie nicht wissen, was sie beginnen sollen in der glühenden Musse der schattenlosen Stunden, da sie fürchten, sich zu täuschen und eine Sekunde zu verlieren, die schön sein könnte, haben sie sich entschlossen, ohne Unterlass zu blühen, vom Januar bis zum Dezember. Die Natur billigt ihr Verhalten, und zum Lohn für ihr Vertrauen zum Glück und ihren Überschwang an Liebe gibt sie ihnen eine Kraft, einen Glanz und Duft, den sie Zurückhaltenderen, die das Leben fürchten, nie gewährt.

Das war es, was mir – neben anderen Wahrheiten – das Häuschen, das ich heute sah, offenbart hat; es lag am Abhang eines Hügels, der mit Rosen, Nelken, Reseda, Heliotrop und Levkojen überdeckt war, gleich als wäre er die von Blumenüberfluss gestaute Quelle, aus welcher der Lenz sich über uns ergiessen wollte; und auf der steinernen Schwelle der geschlossenen Tür hielten Kürbisse, Zitronatfrüchte, Orangen, Zitronen und Feigen ihren ruhigen Schlummer in der hehren, einsamen und regelmässigen Stille eines reinen, unberührten Tages.

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