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IX. Tod und Krone

Buchschmuck

Buchschmuck In den Monaten Juni und Juli des Jahres 1902 bot sich dem menschlichen Nachsinnen eines jener tragischen Schauspiele, die wir zwar täglich im Kleinleben unsrer Umgebung antreffen, die aber dort unbeachtet vorübergehen, wie so viele grosse Dinge. Sie gewinnen ihre volle Bedeutung und fesseln unsere Blicke erst dann, wenn sie sich auf einer jener Riesenbühnen abspielen, auf denen sich sozusagen die Gedanken eines Volkes zusammendrängen, und auf denen dieses sein eignes Dasein zu erblicken liebt, vergrössert und feierlich erhoben durch königliche Schauspieler ...

»Es muss etwas zum gewöhnlichen Leben hinzutreten, damit wir es verstehen können,« heisst es in einem modernen Drama. Hier liess das Schicksal die Macht und den Prunk eines der schönsten Throne der Welt hinzutreten. Dank dieser Macht und diesem Prunk sah man erst recht, was der Mensch an sich ist und was von ihm übrigbleibt, wenn die gewaltigen Naturgesetze ihn grausam nackt vor ihren Richterstuhl fordern. Man lernte auch, indem die Kräfte der Liebe, des Mitleids, der Religion und Wissenschaft plötzlich bis zum Äussersten gesteigert wurden, besser den Wert der Hilfsmittel schätzen, die uns in Stunden der Trübsal von allem geboten werden, was wir errangen, seit wir Bewohner dieser Welt sind. Man war Zeuge eines allzeit verworrenen Kampfes, der so heiss war, als ob er der letzte sein müsste, eines Kampfes zwischen den verschiedenen sichtbaren und unsichtbaren physischen oder moralischen Mächten, die heute die Menschheit regieren.

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Eduard VII., König von England, schwankte als erlauchtes Opfer einer Schicksalslaune kläglich zwischen Tod und Krone. Das Geschick bot seiner Stirn mit der einen Hand eines der schönsten Diademe, das die Revolution verschont hat, und mit der andern Hand zwang es dieselbe Stirn, sich im Fieberschweiss des Todeskampfes über ein weit geöffnetes Grab zu beugen; und dies verhängnisvolle Spiel trieb es mehr als drei Monate hindurch.

Betrachtet man ein solches Ereignis aus etwas grösserer Höhe als von den bescheidenen Hügeln, auf denen die zahllosen Nichtigkeiten des Lebens sich abspielen, so handelt es sich hier nicht allein um die Tragödie eines mächtigen Herrschers, dem die Natur ans Leben will in dem Augenblick, wo viele Tausende einen Teil ihrer Hoffnungen und schönsten Träume auf seine Person setzen, wie auf etwas über das Menschliche Erhabenes, vor dem Schicksal Geborgenes. Es handelt sich nicht mehr darum, den Hohn dieser Stunde zu verschärfen, wo die Menschen etwas Übernatürliches sicher zu stellen und fest zu begründen meinten, und dieses in dem Natürlichsten, was die Natur hat, unterzugehen drohte; etwas, was den unbarmherzigen, alles gleichmachenden Gesetzen des gleichgültigen Planeten widersprach, den wir alle infolge einer Art von zerstreuter Duldsamkeit jener Gesetze bewohnen; etwas, was sie beruhigte und tröstete, wie eine wunderbare Ausnahme von ihrem Elend, ihrer Hinfälligkeit.

Nein, hier handelt es sich nicht um die wesentlichste Tragödie des Menschenlebens, um das allgemeine, immerwährende Drama zwischen dem schwachen Menschenwillen und den ungeheuren unbekannten Kräften, die uns umgeben, zwischen der kleinen Flamme unseres Geistes und unserer Seele, diesem rätselhaften Naturphänomen, und der ungeheuren Materie, jener ebenso unerklärlichen Erscheinung derselben Natur. Dieses Drama mit seinen tausend unbestimmten Schlüssen ist noch nicht einen Tag unterbrochen worden, seitdem ein Teil des blinden, ungeheuren Lebens den recht seltsamen Einfall gehabt hat, in uns eine Art von Selbstbewusstsein zu gewinnen. Aber diesmal wird es beleuchtet von einem Zufall, der heller strahlt, als die andern, auf einem ragenden Gipfel, den alle Begierden und Wünsche, alle Befürchtungen und Ungewissheiten, alle Zweifel und Illusionen, alle Einzelwillen und schliesslich auch alle Blicke der Bewohner unseres Erdballs, die sich in Gedanken am Fusse des feierlichen Gipfels versammelt hatten, für einen Augenblick in helles Licht setzten.

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Langsam spielte sich das Drama dort oben ab und wir konnten unsere menschlichen Kräfte an ihm messen. Wir hatten die Gelegenheit, unsere Illusionen und unsere Wirklichkeiten in leuchtenden Schalen zu wägen. Alles Tröstliche und alles Traurige unserer Gattung war symbolisch zusammengefasst in einer Stunde und einem einzigen Wesen. Sollte es wieder einmal klar werden, dass die heissesten Wünsche und Hoffnungen, der gebieterischste Wille und die grösste Liebe einer wunderbaren Menschenschar ohnmächtig sind, die physischen Gesetze um Haaresbreite zu verändern? Sollte es wieder einmal bewiesen werden, dass wir unsere Schutzwaffen gegen die Natur wo anders als in der Moral- oder Gefühlswelt suchen müssen? Es ist also nutzbringend, das, was auf diesem Gipfel vorging, mit festem Blick, der sich durch kein Blendwerk täuschen lässt, zu beobachten.

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Die Einen erblickten darin die grossartige Kundgebung eines eifersüchtigen, allmächtigen Gottes, in dessen Hand wir sind und der unseres armen Ruhmes lacht; die verächtliche Gebärde einer in Vergessenheit geratenen, zürnenden Vorsehung, deren verborgenes Walten der Mensch nicht mehr willfährig genug anerkennt und deren rätselhaften Willen er nicht mehr leicht genug ergründet. Haben sie sich darin getäuscht, und wo sind die, die sich in den Finsternissen, in denen wir leben, nicht täuschen? Aber warum heischt dieser Gott, der vollkommener ist als die Menschen, etwas von uns, was ein vollkommener Mensch nie verlangen würde? Warum erhebt er einen allzu willkürlichen, fast blindlings angenommenen Glauben zur vornehmsten, ja zur einzigen und notwendigsten Tugend? Wenn es ihn erzürnt, dass man ihn nicht begreift und ihm nicht gehorcht: wäre es da nicht recht und billig, sich auf solche Weise zu offenbaren, dass die menschliche Vernunft, die er doch selbst erschuf mit ihren wundervollen Bedürfnissen, nicht auf ihre kostbarsten und unveräusserlichsten Vorrechte verzichten muss, wenn sie sich seinem Throne nähern will? Und war denn diese Gebärde, wie so viele andere, wirklich klar und bezeichnend genug zum Niederknieen und Anbeten? Und wenn er unsere Anbetung so liebt, wie die, welche in seinem Namen sprechen, es behaupten, wäre es ihm da nicht ein Leichtes, uns alle zu zwingen, nur ihn anzubeten?

Wir warten nur auf ein unanfechtbares Zeichen. Haben wir nicht anscheinend ein Recht darauf, und zwar kraft des unmittelbaren Widerscheins seines göttlichen Lichtes, der auf dem Gipfel unseres Wesens liegt, auf dem allein die Leidenschaft nach Wahrheit und Gewissheit täglich schöner, reiner und feuriger glüht?

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Andere sahen diesen König auf den Stufen eines der schönsten noch ragenden Throne straucheln, sahen eine fast grenzenlose Macht gebrochen, sahen, wie die schrecklichen Feinde den kranken Leib, den vernichteten Körper angriffen, der die glänzendste Krone trug, welche die unsichtbare und spöttische Hand des Zufalls einem verworrenen Knäuel von Angst und Leiden je aufgesetzt hat ...

Sie erblickten darin einen neuen, fürchterlichen Beweis für das Elend und die Hinfälligkeit des Menschen. Sie fragten sich selbst von neuem, was die antike Weisheit bereits so gut gesagt hat: dass wir trotz unseres heissen Bemühens »im Vergleich zur Materie weniger als ein Hirsekorn und gegenüber der Ewigkeit weniger als die Drehung einer Winde« sind und wahrscheinlich immer sein werden. Ungläubig gegen Gott, aber gläubig gegen seinen Schatten, sahen sie darin vielleicht einen geheimnisvollen Richterspruch jener geheimnisvollen Gerechtigkeit, die bisweilen in die verworrene Menschengeschichte etwas Ordnung bringt und die Ungerechtigkeiten der Völker an den Königen sühnt ...

Sie fanden noch vieles andere darin und haben sich nicht getäuscht. Das alles befindet sich darin, denn es befindet sich in uns, und der Sinn, den wir den unbegreiflichen Akten der unbekannten Macht leihen, wird bald zur einzigen menschlichen Wirklichkeit und bevölkert die uns umgebende Gleichgültigkeit und das Nichts mit mehr oder weniger brüderlichen und vertrauten Phantomen.

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Ohne diese verlockenden oder schrecklichen Phantome von der Hand zu weisen, denn sie stellen vielleicht vermittelnde Wesen dar, die unser Instinkt vorausahnt, obwohl unsere Sinne sie nicht zu durchdringen vermögen, – wollen wir vor allem die wahrhaft menschlichen und sicheren Teile dieses grossen verstrichenen Dramas ins Auge fassen. Im Mittelpunkt der dunklen Wolke, in der sich die Gebärden jener Macht bis über die Grenzen unserer Erdenwelt hinaus vergrössern, wenn sie einen feierlichen Tod und eine wunderbare Krone abwechselnd bietet und verweigert, steht ein Mensch, der endlich das einzige Ziel, die wichtigste Stunde seines Lebens erreicht. Plötzlich packt ihn ein unsichtbarer Feind und schleudert ihn zu Boden. Sogleich eilen die Fürsten der Wissenschaft ihm zu Hilfe. Sie fragen nicht, ist es Gott, das Geschick, der Zufall oder die Gerechtigkeit, was dem Opfer, dem sie zu Hilfe eilen, den Weg vertritt. Ob gläubig oder ungläubig in anderen Sphären und in anderen Augenblicken, sie forschen die finstere Wolke nicht aus. Sie sind hier die beglaubigten Abgesandten der Vernunft unserer Gattung, der nackten, sich selbst überlassenen Vernunft, wie sie einsam durch ein ungeheures Weltall irrt. Einbildungskraft, Gefühle, alles, was ihr nicht als Eigenstes zugehört, halten sie absichtlich von ihr fern. Sie machen nur Gebrauch von dem rein menschlichen, sozusagen tierisch-menschlichen Teil ihrer Flamme, als ob sie die Gewissheit hätten, dass ein jedes Wesen eine Naturkraft nur durch ihre eigne, sozusagen spezifische Kraft besiegen kann, die die Natur ihm gegeben hat. Derart benutzt, ist diese Flamme vielleicht hinfällig und einseitig, aber auch bestimmt, ausschliesslich und unbesieglich, wie die Stichflamme des Löters oder Chemikers. Sie wird genährt mit winzigen, aber sicheren und zahllosen Tatsachen und Beobachtungen. Sie erleuchtet nur nichtssagende Punkte in dem ungeheuren Unbekannten und auch diese nur nach einander; aber sie verirrt sich nicht, sie trifft dahin, wo das scharfe Auge, das sie leitet, es will; und der Punkt, den sie trifft, ist den sogenannten übernatürlichen Einflüssen entzogen. Bescheiden unterbricht sie den von der Natur vorgezeichneten Entwickelungsgang oder lenkt ihn ab. Noch zwei oder drei Jahre vorher wäre sie vor dem gleichen Rätsel verzweifelt und entflohen. Ihr Lichtstrahl war noch nicht starr und hartnäckig genug auf diesen dunklen Punkt gerichtet; und wir hätten wieder einmal gesagt, dass das Schicksal unbesieglich ist. Diesmal hielt sie die Geschichte und das Geschick mehrere Wochen hindurch auf und warf sie schliesslich aus dem ehernen Geleise, das sie bis zum Ende verfolgen wollten. Und wenn künftig Gott, der Zufall, die Gerechtigkeit, oder welchen anderen Namen man der verborgenen Idee des Weltalls geben will, ihr Ziel erreichen wollen, wenn sie durchdringen und triumphieren wollen, wie einst, so mögen sie andere Wege wandeln, aber dieser bleibt ihnen verlegt. In Zukunft müssen sie den kaum merklichen, doch unüberschreitbaren Spalt meiden, in welchem der kleine Lichtstrahl, der sie ablenkte, immerdar wachen wird.

Vielleicht hat uns dieses Königsdrama ein für allemal bewiesen, dass Wünsche, Liebe, Mitleid, Gebete, kurz, eine Anzahl der schönsten moralischen Kräfte des Menschen, dem Willen der Natur gegenüber ohnmächtig sind. Aber unmittelbar darauf, gleichwie um die Scharte auszuwetzen und die Rechte des Geistes über den Stoff auf der notwendigen Höhe zu erhalten, erhebt sich eine andere moralische Kraft, oder vielmehr dieselbe Flamme, nur in anderer Gestalt, zu Glanz und Sieg. Der Mensch verliert eine Illusion, um eine Gewissheit zu erwerben. Weit entfernt, eine Stufe gesunken zu sein, erhebt er sich vielmehr um eine Stufe inmitten der unbewussten Gewalten. Darin liegt, trotz des ihn umgebenden Elends, ein edles und grosses Schauspiel, denen zur Aufmunterung, die vielleicht an den Geschicken unserer Gattung verzweifeln sollten.

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