Otto Ludwig
Das Fräulein von Scuderi
Otto Ludwig

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Vierter Aufzug.

Bei der Scuderi

(wie früher).

Erster Auftritt.

Serons und Martinière im Gespräch; sie sprechen leise, um Madelon nicht zu wecken, die auf einem Ruhbett schlafend liegt.

Martinière. Da schleppte man den Mörder eben fort.

Serons. Den Mörder Cardillacs?

Martinière.                                   Den Leichnam trugen
Zwei Männer nah' genug an uns vorbei,
Daß ich erkennen konnte, wer es war;
Obgleich nur eben erst die Sonne aufging.

Serons (auf Madelon zeigend).
Das Mädchen aber –

Martinière.                       Hing wie außer sich
Dem Mörder um den Hals; und als man ihn
Gewaltsam von ihr trennte, schlug sie nieder
In Ohnmacht auf das Pflaster. Wie sie das sah,
Da ließ mein Fräulein halten. Alles war
Vergessen, Landpartie und Freundin – alles.
Das war so Wasser auf des Fräuleins Mühle,
Die Jagd auf die Verlassenen macht. Sie nahm
Das Mädchen von dem Pflaster in den Wagen;
Zurück ging's, und wir waren wieder hier,
Von wo wir kamen.

Serons.                             Und das Fräulein?

Martinière.                                                     Damit
War's nicht zu Ende. Recht ging's nun erst an.

Serons. Die Kleine blieb dabei, ihr Bräutigam sei
Der Mörder nicht –

Martinière.                     Ja. Und mein Fräulein hat
Sich's nun geschworen, unversucht will sie
Nichts lassen, was den Menschen retten kann.

Serons. Das sieht dem Fräulein ähnlich, wie das Mitleid
Den Engeln. Doch vergeblich müht sie sich.
Eh' windet sie dem Satan eine Seele
Aus der Hand, als diesem La Regnie ein Opfer.
Und gegen ihren Schützling spricht zu viel,
Als daß man ihre Meinung teilen könnte.

Martinière. Nun ging's sechs Tage lang von Pontius zu
Pilatus, zu La Regnie, zu – weiß ich's?
Sie ißt nicht, schläft nicht – und da hilft kein Wort.
Jetzt eben ist sie wieder auf der Straße.
(Nach Madelon zeigend.)
Wär's nicht ein gar so liebes Kind, ich könnte
Der Kleinen dort in vollem Ernste gram sein.

Serons. Da kommt sie selbst.

Zweiter Auftritt.

Fräulein. Martinière. Serons. Madelon (schlafend).

Martinière.                               Und ganz erhitzt.

Serons.                                                                 Mein Fräulein.
(Küßt ihr die Hand.)

Fräulein. Mein alter Freund, willkommen.

Serons.                                                       So erhitzt –

Martinière (stellt ihr einen Stuhl).
Ruhn Sie erst aus, bevor Sie sprechen.

Fräulein (betrachtet erst Madelon liebevoll)     Ruhn?
La Regnie ruht nicht.

Serons.                             Lassen Sie doch den.
Was geht Sie der an?

Fräulein.                           Seht, er weiß noch nicht,
Daß ich ein Advokat geworden bin.
Ei, das versteht ihr nicht, ihr jungen Leute;
Ein junger Anwalt, der muß rührig sein.

Serons (will ihr den Puls fühlen).
Sie müssen –

Fräulein (immer im Scherz). Dacht' ich's nicht? Er will den Puls
Mir fühlen. Ja, das ist so hergebracht.
Wenn man das Rechte will mit rechtem Ernst
Und nicht bloß auf die eigne Ruhe denkt,
Dann fühlen uns die Leute an den Puls.

Serons (ebenso).
Wenn jemand will Unmögliches erzwingen,
Dann ist's am Platz. Sie, bestes Fräulein, sollten
Sich schonen.

Fräulein.               Schonen. Ja; das ist das Wort.
Man muß das Unrecht dulden, wo es sei,
Wenn's uns nur nicht betrifft; das heißt: sich schonen.
Ich dachte schon, Serons, auch Euch zu werben
Zu einem Kämpfer der bedrohten Unschuld.
Ihr geltet was beim König und man hört Euch.
Hab' ich die Rechnung ohne Wirt gemacht?
Helft Ihr mir, Freund? Oder müßt Ihr – Euch schonen?
Wie?

Serons (bedenklich).
          Fräulein –

Fräulein (ahmt's ihm nach). Fräulein – O, nun ist's schon gut.
Inkommodiert die Zunge mir nicht weiter.
Antwort genug hab' ich an dieser Probe.

Serons. So machen sie's, die Ritter von dem Recht;
Niemand ist ungerechter – um das Recht.

Fräulein. Und Ihr seid ein Besonnener, der vor
Besonnenheit nicht zur Besinnung kommt.
An Euch, ich seh's schon, darf ich mich nicht wenden.
Was ich bedarf, ist Hülfe, wackre That.
Ich weiß, was man bei euch, ihr Klugen, findet:
Rat, der nicht rät, und Hülfe, die nicht hilft.
Ihr, die ihr bis zur Unbesonnenheit
Besonnen seid, geht mir, geht. Einen brauch' ich,
Der sich vergessen kann. Das könnt ihr nicht.

Serons. Und doch – gesetzt –

Fräulein.                                 Ja, wenn und in dem Fall
Der Fall vorfiele, daß, im Fall der Fall wär' –
Die einz'ge Antwort, die ich brauchen kann,
Die heißt: Ja oder Nein. Ich will, will nicht.
Atem vergeudet, wer die That will sparen.
O, ihr Besonnenen, so zeigt mir doch
Das Große, was ihr auf der Welt gethan?
Das Größte, was geschah – die Klugheit nicht,
Die Einfalt that's in edelm Selbstvergessen,
Und die Besonnenheit – hat zugesehn.
Vielleicht thu' ich Euch Unrecht und Ihr seid
Noch nicht verloren, seid noch zu entflammen.
(Sie führt ihn vor das Ruhebett.)
Hieher, Serons, hier kommt mir her und seht
Dies Antlitz. Seht es noch einmal und wagt
Mir nur mit eines Zweifels Hundertteil
Die Wahrheit dieser Stirne zu verleumden.
Ihr sollt dem Mund nicht glauben, wenn er wacht;
Euch will ich's glauben, Mund und Wachen lügt.
Doch Aug' und Stirn und Schlummer lügen nicht.
Seht her und wagt's zu sagen:»Dieses Mädchen
Liebt einen Mörder.« – Wär' es; ja, dann traut' ich
Mir selbst nicht mehr. Und sagt mir einer dann:
»Der Meister Serons hat's gethan, Ihr selbst
Habt ihm geholfen« – dann – dann glaub' ich's ihm,
Dann glaub' ich alles, wär's auch noch so toll;
Dann ist der Schöpfer selber der Verfälscher.

Serons. An dieses Kindes Reinheit zweifl' ich nicht.
Doch alles, was man weiß, spricht gegen ihn,
Ihr seid's allein, die seine Sache führt.

Fräulein. Die Welt ist hart; sie glaubt das Schlimme lieber.
Der Angeklagte ist den meisten Menschen
Schon ein Gerichteter. Was gegen ihn spricht,
Das weiß man; weiß man auch, was für ihn spricht?
Was ihn verdammen kann, drum müht sich jeder,
Da weiß der was und der; zu seinem Besten,
Ach, da hat niemand Lust und niemand Zeit.
Ihr seid wie alle. So spricht der La Regnie,
So Degrais. Ach, an Härte sind die Menschen
Sich alle gleich.

Dritter Auftritt.

Baptiste (ängstlich). Vorige.

Fräulein.                     Was fehlt dir?

Baptiste.                                              Nur erschreckt
Mir nicht; ach, gnäd'ges Fräulein –

Fräulein.                                                 Närrischer
Baptiste; warum sagst du nicht: »Erschreckt mir?«
Denn beides sagt dasselbe. Und nun sprich,
Warum?

Baptiste.       Der Polizeileutnant –

Martinière.                                       O Himmel!
Was will der bei Euch?

Baptiste.                               Degrais will Euch sprechen.

Fräulein. Seid Ihr so kindisch noch und fürchtet Euch
Vor einem Titel? Laß ihn ein.

Baptiste.                                         Es ist
Nie etwas Gutes, was der bringt. Und einen
Verhängten Wagen führen sie mit sich.

Fräulein. So ist er nicht allein?

Baptiste.                                   Am Wagen unten,
Da halten vier Bewaffnete.

Fräulein.                                     Laßt ihn
Nicht warten.

Baptiste geht kopfschüttelnd.

Vierter Auftritt.

Degrais. Vorige.

Degrais.                 Edles Fräulein, Ihr entschuldigt
Mein Kommen mit des Präsidenten Auftrag.

Fräulein. Entschuldigt, daß ich sitze, Herr, und thut
Das Gleiche, dann –

Degrais.                           Mein Auftrag lautet nur
An Euch.

Fräulein (zu Serons). Mein werter Freund –

Serons küßt ihr die Hand und entfernt sich.

Fräulein (zur Martinière).
Geh, Martinière, nimm die Kleine mit dir.

Martinière weckt die Madelon, bedeutet sie, und beide gehen durch die Seitenthür ab.

Fünfter Auftritt.

Fräulein. Degrais.

Fräulein. Und nun sind wir allein. Nun sprecht. Ich höre.

Degrais (hat auf ihren Wink Platz genommen).
Der Präsident La Regnie würd' Euch nicht
Belästigen, mein Fräulein, kennt' er nicht
Eure hohe Tugend, Euern edeln Mut.
Es liegt in Eurer Hand das letzte Mittel,
Der Sache Wahrheit an den Tag zu bringen,
Die Euch so wichtig scheint als uns.

Fräulein.                                                   Ihr sprecht
Von dem Olivier Brusson. Redet weiter.

Degrais. Er dringt in uns mit flehentlichen Bitten,
Ihm zu erlauben, daß er Euch, mein Fräulein,
Sein Herz entdecke. Alles will er Euch
Gestehn. Laßt Euch herab, mein gnädig's Fräulein,
Und Ihr erspart vielleicht ihm die Tortur.

Fräulein. Ich soll – (Sie steht auf, ernst.)
                        Mein Herr, hab' ich Euch recht verstanden?
Ich zweifle noch, ob man es wagt, mir eine
Gemeinheit zuzumuten solcher Art.
Aushorchen soll ich den Unglücklichen?
Soll sein Vertraun mißbrauchen und verraten?
Und wär' er auch der Mörder, der er scheint,
Und hört' ich ihn, so ruhte sein Bekenntnis
Mir als ein Beichtgeheimnis in der Brust.

Degrais. Vielleicht, mein Fräulein, änderte sich dann
Euer Entschluß. Erinnert Euch, Ihr batet
Den Präsidenten selbst um Menschlichkeit.
Ihr sollt allein ihn sprechen. Niemand soll
Behorchen, was er Euch vertrauen wird.
Ihr könnt es dann entdecken, könnt's verschweigen,
Könnt so viel davon sagen, als Euch gut dünkt;
Das alles hängt von Euerm Willen ab.
Und daß Ihr nichts zu fürchten habt von ihm,
Dafür steh' ich mit meinem Leben ein;
Er spricht von Euch mit brünstiger Verehrung.

Fräulein. Ihr habt ihn bei Euch?

Degrais.                                     Sprecht Ihr Ja, so steht er
Den Augenblick vor Euch. Und sprecht Ihr Nein,
So geht die Untersuchung ihren Gang,
Und die Tortur –

Fräulein.                     O Gott!

Degrais (zuckt die Achseln).       Wir müssen ein
Geständnis haben –

Fräulein.                         Ein Geständnis; ja,
Und wär's ein falsches, ein Geständnis nur!
Geht, geht, Ihr Helfer der Gerechtigkeit;
Ihr machtet einen Engel zu dem Mörder,
Nur, daß Ihr nichts vergebens habt gethan.
(Nach kurzem Besinnen.)
So laßt ihn kommen.

Degrais (aus der Thür).     Olivier Brusson, kommt
Herein!

Sechster Auftritt.

Olivier. Vorige.

Degrais.       Ich mache Platz.

Fräulein (wie sie den Olivier sieht). Was seh' ich? Laßt mich
Mit diesem Menschen nicht allein. Gott! ist
Es der? – Hört, nehmt ihn fort. Den Menschen will ich
Nicht sprechen.

Degrais.                   Kommt denn, Bursche.

Olivier.                                                         Großer Gott!
Auch diesmal soll mir's nicht gelingen?

Fräulein.                                                         Geht!
Geht. Hört Ihr?

Degrais mit Olivier ab.

Siebenter Auftritt.

Das Fräulein allein, bald darauf Madelon. Martinière.

Fräulein.                   O so ist es doch! ist doch!
Es ist derselbe, der das Kästchen – Gott,
Warum durft' ich nicht sterben, eh' ich das
Erfuhr!

Madelon stürzt herein. Martinière sucht vergeblich sie zurückzuhalten.

Madelon.       O Mutter! Meine zweite Mutter!
Er ist gerettet! Nicht? Ach nein. Ihr weint.

Fräulein. Geh – geh –

Madelon.                     Was ist Euch? Hab' ich Euch gekränkt?
Was hab' ich Euch gethan?

Fräulein.                                     Nichts. Nichts. Das Herz
Gebrochen – weiter nichts.

Martinière.                                 Was ist Euch nur?

Fräulein. Geht! Geht mir! Ihr seid alle falsch. Ich mag nicht
Mehr leben.

Martinière.         Gott! Was ist hier nur geschehn?

Fräulein. Und hätt's ein Engel mir gesagt – die Schrift
Auf dieses Mädchens Stirn ist nachgemünzt.
Die Thränen fließen nicht des Vaters Tod,
Sie fließen seinem Mörder, dem Gedanken
Der eignen Schuld, der Furcht vor eigner Strafe,
Vor – Gott! wohin gerat' ich da?

Madelon.                                             Ihr seht
Mich nicht mehr an. Und ich weiß nicht –

Fräulein (die sich mühsam gefaßt zeigt).             Geh, tröst'
Über den Mörder dich, den ein gerechtes
Gericht verfolgt. Und mög's die heil'ge Jungfrau
Verhüten, daß nicht auf dir selbst ein Teil
Der Blutschuld laste.

Madelon.                           So ist alles, alles
Verloren! (Sie sinkt um; die Martinière um sie beschäftigt.)

Fräulein.         Meine Welt ist mir zerbrochen,
Meine Welt voll hoher, edeler Gestalten;
Die Scherben stechen mir die Seele wund.
Und in La Regnies Welt soll ich nun leben.
Wie bin ich hülflos, schwach und ganz verlassen
In dieser kalten, schauerlichen Welt!
Wenn ich nicht unbedingt mehr trauen darf –
Wo fängt der Zweifel an? wo hört er auf?

Madelon (knieend).
Ach Gott! Mein Vater, der du nun bei Gott bist,
Bist du nicht mehr so gut? liebst mich nicht mehr,
So wie du mich geliebt, da du noch lebtest?
O, ist der Himmel dir so schön, daß du
Dein armes Kind vergißst, das du auf Erden
Zurückgelassen hast in Not und Zagen?

Fräulein (die sich erst von Madelon wegwenden wollte, um nicht bestochen zu werden, kämpft mit dem Eindruck).
Hör' auf. Hör' auf. Zerreiß' mir nicht das Herz
Noch vollends. – Wer kann diese Töne hören
Und doch mißtraun? – Und muß ich denn? Wer kann
Mich zwingen? Hab' ich siebzig Jahre der Tugend
Gelebt, nur um im einundsiebzigsten
An ihrem Dasein zu verzweifeln? Nein!
Vertrauen, Lebensatem meiner Seele,
Dich will ich atmen, bis ich nicht mehr atme.
Du, Martinière, schnell! Baptiste soll eilen,
Degrais zu sagen, daß er wiederkehre
(da Martinière sprechen will)
Nein. Geh erst, und dann rat' mir ab!

Martinière ab.

Achter Auftritt.

Vorige ohne die Martinière.

Fräulein. (kann sich nicht mehr bemeistern; sie nimmt Madelon in die Arme).
                                                            Mein Kind!
Meine Madelon. Mein liebes, armes Kind.

Madelon (umschlingt sie leidenschaftlich).
Ach, nun ist alles gut. Sie liebt mich wieder!

Fräulein. Muß ich auch noch dich ängsten, liebes Wesen?

Madelon. Ja, du wirst helfen, meine zweite Mutter!

Fräulein. Vertrau' mir nicht so. Rot werd' ich, ich fühl's,
Wenn du mich so beschämst. Nur kaum, daß ich
Die Welt geschmäht um ihrer Härte willen,
War ich schon selber hart. – Ach, schon sein Namen –
Olivier Brusson – mußte mich zur Milde
Bewegen. Gott, nun fällt mir ein, was mich
So eigen ansprach in des Menschen Zügen,
Es war etwas von Anne Guiots Antlitz.
Es war ihr Aug'. Wie konnt' ich nur –! Sie selbst
Hab' ich von mir gewiesen in dem Armen.
Gewiß, nur Schmerz sprach aus den milden Zügen.
Sie kommen schon. (Zu Madelon.)
                                Mein liebes Leben, geh jetzt,
Laß mich allein.

Madelon umarmt das Fräulein leidenschaftlich und geht.

Neunter Auftritt.

Martinière. Degrais. Fräulein. Dann Olivier.

Degrais.                     Mein edles Fräulein, Ihr
Befahlt –

Fräulein.         Entschuldigt, daß ich mich so kindisch
Benahm. Ich habe mich gefaßt und will
Ihn sprechen.

Degrais (wartet, bis Martinière auf des Fräuleins Wink in die Seitenthüre ab, welche das Fräulein selbst verriegelt, dann öffnet er die Mittelthür).
                        Kommt herein, Olivier Brusson.
Anderthalb Stunden Zeit durft' ich Euch gönnen.
Davon ist schon ein großer Teil verstrichen.
Drum faßt Euch kurz. – Ich gehe (zum Fräulein).
                                                    Ein Glockenzug
Ruft mich, wenn Ihr mich braucht. (Ab.)

Zehnter Auftritt.

Olivier. Fräulein.

Fräulein.                                               Unglücklicher,
Nun sprecht; wir sind allein.

Olivier.                                         Verehrtes Fräulein,
Erschreckt nicht vor mir. Mit dem rechten Namen
Nanntet Ihr mich. Und bin ich schuldig, bin ich
Weit unglücklicher, als ich schuldig bin. –
Ach, kennt Ihr mich den gar nicht mehr? Ist Euch
Mein Antlitz stumm? Spricht nicht mein Auge mehr
Die Sprache, die Euch wiedertönt im Herzen?
Ihr meintet selbst, wie ich so klein noch war –

Fräulein. So trog's nicht. Ihr seid Anne Guiots Sohn.
Sie war's, die mich aus diesen Augen ansah.
Und lebt sie noch, die gute Anne?

Olivier.                                                 Nein.
Ein gütig Schicksal schloß ihr Aug', daß sie
Nicht sehn muß, was aus ihrem Kind geworden.

Fräulein. Die Anne tot? Und Euch, mein Kind und Annens Kind,
Muß ich so elend wiedersehn?

Olivier.                                             Wie gern'
Erzählt' ich Euch von meiner Mutter. Wie sie
Undankbar schien, zudringlich nicht zu scheinen;
Wie ich – doch meine Worte sind gezählt,
Und reden muß ich Euch von andern Dingen.
Die Welt hält mich für meines Meisters Mörder
Und für ein Glied von jener Räuberbande,
Will mich zur Auskunft zwingen über sie.
Ich weiß, mein Fräulein, ich allein, wer jene
Verruchten Thaten alle hat begangen,
Mein Leben könnt' ich retten, nennt' ich ihn.
Doch will ich sterben, und nur Ihr, nur Ihr
Sollt wissen, was mit mir begraben wird.
Ihr sollt mich nicht verkennen. Weiß ich nur,
Daß Ihr verschweigen wollt, was ich Euch sage –

Fräulein. Das will ich, meiner Anne armes Kind;
Könnt' ich mehr thun für dich als das!

Olivier.                                                       So hört.
Es sind die Worte eines Sterbenden,
Die Ihr vernehmen werdet. Sterben will ich.
Was ich Euch sage – mich zu retten, sag'
Ich's nicht. Weshalb sollt' ich Euch drum belügen?
Doch Eilen gilt's. Degrais zählt die Minuten.
Darum verschweig' ich's, wie zu Cardillac
Ich als Geselle kam. Genug; da war ich,
Und Madelon, des Meisters Tochter, war
Mir hold; wir liebten uns. Deshalb stieß mich
Der Meister eines Tages aus dem Haus;
Denn nicht für mich hab' er sein Kind erzogen.
Nun denkt Euch, was die Zeit mir nicht zu sagen
Erlaubt, denkt meinen Schmerz. Euch wird's nicht wundern,
Wenn ich die Nacht hindurch verzweiflungsvoll
Das Haus umirrte, das mein Liebstes barg.
Mein Schicksal wollt' es so. In dieser Nacht
Sollte der Zufall mir enthüllen, was
Selbst Degrais' Scharfsinn unenthüllbar blieb.
Da stand ich an der Wand, die fensterlos
Vom Hause Cardillacs nach einem engen
Und dunkeln Gäßchen weist. Da hör' ich's knarren
Sechs Schritt von mir, und – denkt Euch mein Erstaunen –
Ein Heiligenbild, die einzige Verzierung
An dieser Wand, bewegt sich, dreht sich leis
Wie eine Thür nach innen, und heraus
Kommt Cardillac geschlichen. Tiefer Schatten
Verbirgt vor seinen Lauerblicken mich.
Nun eilt er flüchtig und auf leisen Sohlen
Hart an den Häusern hin. Ich – eil' ihm nach
Ohn' einen andern Grund, als dunkle Ahnung,
Ich könnte, eilt' ich nur, etwas Entsetzliches
Verhindern. Gott! Die Ahnung trog nicht, insofern
Sie das Entsetzliche vorausempfand.
Doch zum Verhindern kam ich schon zu spät.
Ich sah nur noch den Tigersprung, sah lautlos
Das Opfer fallen, ihm den Schmuck entreißen,
Und schon verbarg der Schatten jenen wieder.
Ich warf mich auf das Opfer, ihm zu helfen
Und es zu retten, wenn noch Rettung möglich.
Es war ein junger, schöner Kavalier;
Doch furchtbar sicher war der Stoß gewesen.
Nun rannt' ich durch die Straßen; das Entsetzen
Hinter mir her. Erst spät zwang Müdigkeit
Mich, in der Herberg' mir ein Bett zu suchen.
Ich schlief noch nicht, als mit der Sonne früh
Ein Mann zu mir herein ins Zimmer trat.
Gott! wie erschrak ich. Es war Cardillac,
Und mit gutmüt'gem Poltern, wie's ihm zu
Gebot stand, und als wäre nichts geschehn,
Hieß er mich aufstehn und nach Haus ihm folgen,
Wo Madelon, die einmal ohne mich
Nicht leben könne, mich als Braut erwarte.
Dann sagt' er mir, er sei ein großer Sünder,
Durch mich jedoch gedenk' er sich zu bessern.
Ich ging mit ihm. Da gab er später mir
Einen Schmuck; es war derselbe, den ich Euch
Auf sein Geheiß gebracht –

Fräulein.                                     Nun wird mir klar –
Erzählt nur weiter.

Olivier.                         Als er Euern Namen
Aussprach, da war mir schon, als wär' geholfen.
Ich dachte mir: dem Fräulein sagst du alles,
Was dich bedrängt, und sie wird Hülfe wissen,
Wird wissen, wie der Cardillac unschädlich
Zu machen ist, ohne daß Madelon
Die Schande des verruchten Vaters teilt
Und je erfährt, was sie – ach, teures Fräulein,
Sie sieht in ihrem Vater einen Heiligen,
Und Wahnsinn oder Tod brächt' ihr das Wissen.

Fräulein. Ja; leidenschaftlich, wie sie ist –

Olivier (freudig überrascht).                         Ihr kennt sie?

Fräulein. Ich sah sie neulich.

Olivier.                                   O, so wißt Ihr selber,
Daß sie ein Engel ist, o, so begreift Ihr,
Warum ich lieber sterben will, als sie –
Seht, teures Fräulein; sollen die Gerichte
Ihres Vaters Leichnam aus dem Grabe reißen
Und die vermoderten Gebeine noch
Brandmarken? – Madelon wird mich beweinen
Als den unschuldig Hingerichteten.
Die Zeit wird diesen Schmerz sie tragen lehren.
Doch tödlich, nimmer heilbar tödlich müßte
Verzweiflung über sie die Wahrheit bringen.
Drum will ich sterben.

Fräulein (ihre Rührung bemeisternd). Und du trafst mich nicht.
Du suchtest mich noch einmal auf; auch da
Gelang dir's nicht. An meines Wagens Schlag –

Olivier, Ich war's; ich war der Elende, der Euch
So oft erschreckte, ohne daß es ihm
Gelingen sollte, Euch sein Herz zu öffnen.
Mein böses Schicksal wollt' es so; denn anders
Ständ's nun um mich, gelang mir's, Euch zu sprechen.

Fräulein (wie vorhin).
Und Cardillac? – Er war –

Olivier.                                       Er war's allein.
Nicht eine Bande war's von Mördern. Ihn
Trieb angeborner Wahnsinn zu dem Ärgsten.
Ihn quälten wilde Träume, hetzten ihn,
Bis er den Schmuck, den er gefaßt, dem Eigner
Gewaltsam heimlich wieder abgenommen.
Eines Tags erzählt' er's mir. Er öffnete
Einen geheimen Schrein mir in der Wand.
Drin hängen all die Schmucke, die er gewaltsam
Durch Mord gewonnen, und bei jedem steht
Auf einem Zettel Jahr und Tag und Namen,
Wem er und wann das Leben hat gekostet.

Fräulein. Entsetzlich! Ja, so trog sein Ansehn nicht,
Trog nicht der Schauder, der mich damals faßte,
Als – doch erzähle weiter.

Olivier.                                       Heilig hatt'
Ich mir versprochen, zwar um Madelon
Den Schleier nicht zu lüften, der des Vaters
Unthaten barg; doch – sei es mit Gefahr
Des eignen Lebens – neue Greuel zu
Verhindern; sonst war ich sein Mordgenosse.
Da zeigte sein Gespenst ihm Euern Schmuck.
Was hab' ich da gelitten! Ganze Nächte
Lag ich versteckt bei der geheimen Thür.
Ich warnt' Euch, meine Warnung war vergebens.
Er ging. Ich eilt' ihm nach. Doch diesmal galt es
Dem Grafen Miossens. Zum erstenmal
Gelang der Stoß ihm nicht. Ihn selber traf
Das Schicksal, das den Grafen treffen sollte.
Ich trug ihn eilend heim auf meinen Schultern –
Den Sterbenden – durch die geheime Thür.
Hier legt' er röchelnd unsre Hände noch
Ineinander, dann – Ihr wißt, wie man mich bei
Dem Toten fand und für den Mörder nahm.
Alles sprach gegen mich, und was für mich sprach,
Das Dasein der geheimen Thür, des Schrankes
Mußt ich verschweigen wegen Madelons. –
Noch eins drückt mich. Der Sterbende hat mich,
Da er schon sprachlos war, mit Blick und Zeichen
Beschworen, das geraubte Gut der Kirche
Zu übergeben. Ach, vielleicht wird Euch
Es möglich, sein Begehren zu erfüllen.

Pause. Das ganze Gefühl seiner Lage kommt über ihn; er sinkt weinend mit vor das Gesicht geschlagenen Händen in die Kniee. Die Scuderi weint auch. Er faßt sich und erhebt sich.

Ich weiß, was mich erwartet. – Ihr, Ihr seid
Gewiß von meiner Unschuld überzeugt.
Nichts hab' ich sonst gethan, als daß ich schwieg;
Doch keine Marter soll mir das entpressen.
Und nun, – ach, hört die Bitten Anne Guiots;
Sie ist's, die Euch in meinem Jammer fleht. –
Und nun, ach! hört mich, hört die Bitten eines,
Der sterben muß so jung und ohne Schuld:
Erbarmet Euch der armen Madelon,
Und dankbar will ich Euch noch sterbend segnend

Fräulein (umarmt ihn, kann kaum sprechen).
Mein armes Kind!

Olivier.                         O, wie Ihr mich beseligt,
Wie Ihr das Sterben mir erleichtert!

Fräulein.                                                   Gott!
Das Sterben! Ist kein Weg denn mehr, dich zu
Erretten. Ach! wenn ich verspreche, alles
Zu thun, um dich zu retten, was ich kann –
Wie ist das ein geringer Trost! Was kann ich,
Die arme Greisin, ich, das schwache Weib,
Als weinen, beten und vor Jammer sterben.
(Sie besinnt sich.)
Eins kann ich doch. Kann eine Freude dir
Bereiten. Höre; du sollst jemand sehn.
Rätst du den Jemand? (Sie ruft durch die entriegelte Thür.)
                                    Madelon!

Olivier.                                               O Gott!
Sie ist's? Sie hier? Sie soll ich sehn?

Elfter Auftritt.

Madelon. Vorige.

Madelon (stürzt in seine Arme).                   Olivier!

Olivier. Du bist's? Mein Einzig's?

Madelon.                                       Bist du's denn? Ich kann dich
Vor Thränen noch nicht sehn.

Olivier.                                         Ich hab' dich wieder?
(Weinend und lachend.)
Haha, ich hab' dich wieder, meine Seele!

Madelon. Ach, du bist bleich, Olivier; mein armer
Olivier!

Olivier.         Ich bin nicht arm jetzt. Nein.
Haha, ich will den sehn, der reicher ist!

Fräulein (ebenso glücklich wie die Liebenden).
Sein Ich hält das Verdorb'ne krampfhaft fest;
Er hat nichts weiter auf der Welt. So selig
Vergessen kann sich nur das reine Herz. –
Den kalten Degrais hör' ich schon. Ihr müßt
Euch trennen, Kinder. Madelon! Sie ist
Ohnmächtig. Hilf, Olivier! wir tragen
Sie da hinaus. Ach, arme, arme Kinder!
(Es geschieht; sie schließen die Thür.)
Martinière, sorg' für das arme Kind.

Zwölfter Auftritt.

Degrais. Die Vorigen.

Degrais. Entschuldigt, edles Fräulein, wenn ich störe.
Die Frist ist um, die mir der Präsident
Bewilligt hat. Olivier Brusson – (Aus der Thür sprechend.)
                                                    Legt ihm
Die Ketten wieder an – Ihr müßt nun gehn.

Olivier. Mein Fräulein, heißen Dank – und lebet wohl! (Er geht.)

Fräulein. Lebt wohl, Olivier Brusson! Hört mich Gott,
Sag' ich Euch nicht zum letztenmal Lebewohl.
(Zu Degrais, der sie fragend ansieht.)
Mein würd'ger Meister, der Beklagte hat mir
Glaubwürdig seine Unschuld dargethan,
Und nur ein edelmütiger Entschluß,
Die Unschuld selbst nicht zu vernichten, hält ihn
Zurück, Euch sein Geheimnis zu entschleiern.
Ein Entschluß, den Ihr selbst bewundern würdet,
Der um so edler ist, als er geheim bleibt.

Degrais (fein lächelnd voll Höflichkeit).
Den Präsidenten wird es freun, wenn es
Brusson bei seiner hohen Gönnerin
Gelungen, ganz sich zu rechtfertigen.
Doch was den edelmütigen Entschluß
Mit dem Geheimnis anbetrifft, wird's ihm
Unendlich leid thun, daß die Chambre ardente
Dergleichen Edelmut nicht würd'gen kann,
Der ihr ein Vorwand nur erscheinen darf;
Und sich, bis das Geheimnis ihr bekannt,
Sich an das Nichtgeheime halten muß.
Zum Beispiel daran, daß, solange nun
Olivier Brusson in Verwahrung ist,
Der Straßenmord schon feiert –

Fräulein.                                             Haltet ein.
Um Gottes willen folgert nichts daraus,
Daß Brusson nun – ich darf nichts sagen. Wüßtet
Ihr – So viel nur kann ich Euch sagen: Er
Ist nicht der Mörder Cardillacs; er ist
Unschuldig an dem Straßenmord. Ein böses
Geschick zwingt ihn, der Schuldige zu scheinen
Und was ihn retten könnte, zu verschweigen.

Degrais (immer sehr verbindlich).
Der fromme Glaube, der Euch ziert, dem Richter
Würd' er schlecht anstehn. Gut, Ihr sagt, mein Fräulein:
Er muß verschweigen, was ihn retten kann,
Und Edelmut ist's, was dazu ihn treibt; –
Mein Fräulein, diese Worte sprach er selbst,
Als ich ihn griff: »Ich bin bereit zu sterben.
Verdien' ich's, ist es nicht um diesen Mord.«
Und worum sonst? Wenn nicht um diesen, doch
Um andre? – Ging der Edelmut so weit,
Muß er verschweigen, was ihn retten kann,
Daß er noch spricht, was ihn verderben muß?

Fräulein. O, dieses unheilbringende Geheimnis,
Was für ihn zeugen sollte, klagt ihn an.
Und doch –

Degrais (achselzuckend, macht sich zum Gehen bereit, immer sehr höflich).
                    Der Präsident that, was er konnte.
Des Richters Pflicht ist, Unschuld oder Schuld
An den Tag zu bringen. Weil nun, wie Ihr sagt,
Nur des Geheimnisses Entschleierung
Die Unschuld ihm beweisen kann, so weist Ihr
Den Weg uns selbst, der zu dem Ziele führt.
Wir sind so unbescheiden nicht, in Euer
Vertrauen uns zu drängen. Uns bleibt immer
Ein Mittel noch.

Fräulein.                   Ihr lächelt? Gräßlich ist
Das Lächeln wie das Mittel. Geht; mich schaudert.

Degrais. Auch könnt' es sein, daß wir des Toten Tochter.–

Fräulein. Was wollt –

Degrais.                       Bedürften bei dem weiteren
Prozeß. Den Präsidenten würd' es schmerzen,
Da er es weiß, daß Ihr Euch ihr annehmt,
Wenn die Notwendigkeit unvorbereitet
Euch träfe –

Fräulein.             Sie –? O, ihr seid keine Menschen.
Was wollt Ihr mit der Armen? Wollt Ihr sie
Noch ärmer machen? noch unglücklicher?
Wollt Ihr – vor Euerm eisernen Gesicht
Erstarrt mein Blut! Nein – ich will nicht vergebens –
Gut – thut, was Ihr – Ihr dürft ja alles thun,
All das, weshalb Ihr andere bestraft.
Doch glaubt nicht, daß sie schutzlos ist, bin ich
Auch nur ein Weib. Geht, geht, mein Herr.

Degrais (immer ruhig und äußerlich höflich).       Deshalb,
So bittet er inständig Euch, mein Fräulein,
Daß Ihr mit dem Gedanken Euch vertraut.
Denn schmerzen würd's ihn, wenn Ihr ihn verkenntet.

(Verbeugt sich tief und geht.)

Dreizehnter Auftritt.

Fräulein allein. Dann Baptiste.

Fräulein. Nein; ich verkenn' Euch nicht. Glaubt' ich, Ihr wär't
Ein Mensch mit einem Herzen; ja, dann thät' ich's.
Und was nun – was nun thun? Und was nun lassen,
Die Unschuld aus des Molochs Arm zu retten?

Baptiste. Der Graf von Miossens.

Fräulein.                                         Es thut mir leid.
Ich kann ihn jetzt nicht sprechen. Ich bin krank.
Bin –

Baptiste.   Um Olivier Brusson –

Fräulein.                                       Was sagst du?

Baptiste. Kam' er. Notwendig sei's, daß er Euch spreche
Wegen des Brusson.

Fräulein.                           Wie noch einer, der mich
Abmahnen will? Und doch – wär's nicht der Graf
Miossens, der – vielleicht – er ist willkommen.

Dreizehnter Auftritt.

Graf Miossens. Das Fräulein.

Miossens (küßt ihr die Hand).
Ich will nicht lange stören, teures Fräulein.
Ihr seid, so hör' ich, Brussons Gönnerin;
Und ihn betreffend, kann ich eine Nachricht
Euch geben, die vielleicht ihm nützlich ist.
Von Euerm ritterlichen Spruch begeistert:
                »Wer vor Dieben kann verzagen,
                Ist nicht wert, geliebt zu sein« –
Beschloß ich, einen Harnisch unterm Rock,
Mit einem Schmuck allein auf nächt'gem Wege,
Dem Harnisch und dem sichern Arm vertrauend,
Das blutige Gezücht der Nacht zu treffen.

Fräulein. Und das gelang Euch.

Miossens (nachdem er sie einen Augenblick angesehn). Es gelang mir. Ja.
Doch wär' mir's ohne Harnisch nicht gelungen,
So übermenschlich war des Räubers Kraft
Und so entsetzlich seiner Muskeln Schnelle.
Noch rang ich mit dem einen, als ein andrer
Ihm beizustehen kam. Der eine stürzt
Zur rechten Zeit. Ich kann den Degen noch
Gegen den andern ziehn. Da tönen Schritte
Und Waffenklirren Straß' herauf. Ich floh,
Um nicht La Regnie in die Hand zu fallen.

Fräulein. Der andre aber –

Miossens.                           Eilte zu dem Leichnam –

Fräulein. Und rafft' ihn auf und trug ihn fort –

Miossens.                                                         Ihr wißt –
So sah ich recht; so war's derselbe, den
Degrais jetzt hat an mir vorbeigeführt.

Fräulein. Jetzt saht Ihr recht, doch neulich nicht. Der jenem
Zu Hülfe, wie Ihr meint, herbeigeeilt,
Der kam, um jenes Frevelthat zu hindern.
O Gott sei Dank! Nun tagt es endlich! endlich!
Euch sendet Gott mir, der die Unschuld schützt;
Denn Euer Zeugnis muß den Armen retten.

Miossens (tritt einen Schritt zurück).
Mein Fräulein, mißversteht mich nicht –

Fräulein.                                                         Wer Euch
Für edel hält, der mißversteht Euch nicht.

Miossens. Euch sagt' ich, was ich sagte; niemand sonst.

Fräulein. Euch glaub' ich, was Ihr sagt; nur nicht das eine,
Womit den eignen Mut Ihr wollt verleumden.

Miossens. Graf Miossens weicht keinem Gegner, der
Mit seinen Waffen ficht. Doch gegen Ränke,
Spitzfind'gen Schein, der mit der Schwere des
Gesetzes sich bewaffnet, kann ich nichts
Und bin ein wehrlos Opfer wie ein andrer.
Und wagt' ich's doch, müßt' es ein andrer Preis,
Als eines solchen Menschen Rettung sein.

Fräulein. Eines solchen – wie Ihr das verächtlich aussprecht!
Gilt's seinem Rufe? Gilt es seiner Herkunft?
Gilt es der letztern, sag' ich Euch: Ihr steht
So hoch, nicht um den Niedern zu zertreten.
Ihr steht so hoch, den Niedern zu beschützen,
Wenn Unrecht ihn bedrängen will. Heißt Ihr
Ein Edler darum, daß Ihr's nicht zu sein braucht?
Wollt Ihr ein Ritter sein, so seid ein Retter.
Seid Ihr ein Mann, so seid Ihr es, damit
Ein Weib nicht wünschen muß, ein Mann zu sein.
Gilt's seinem Rufe nur, so sag' ich Euch,
Ich, die Ihr nie als Lügnerin gekannt,
Daß er unschuldig ist an alledem,
Was man ihm schuld gibt.

Miossens (ausweichend).           Doch ist's nicht das Sein,
Mein Fräulein, nur der Schein, der hier verdammt.

Fräulein (öffnet die Seitenthür).
Und seht dies Mädchen dort. Dies Mädchen liebt ihn,
Wie wärmer nie ein Mädchenherz geliebt;
Liebt ihn –

Miossens.           Welch wunderbare Ähnlichkeit!
Es ist die Herzogin von La VallièreLouise Françoise de la Vallière (1644–1710) war seit 1661 Geliebte des Königs, ging aber wenige Jahre später ins Kloster. ,
Um vierzig Jahre jünger nur. – Ja; jetzt
Begreif' ich wohl, warum der König noch
Nach so viel Jahren der Zerstreuung kann
Mit Wehmut seiner Jugendliebe denken.

Fräulein (schließt die Thür wieder).
Was sagt Ihr nun? Wenn Ihr mit Euerm Ruhme,
Mit Euerm Rang –

Miossens.                     Mein Fräulein, wißt Ihr nicht
Wie lang' dieser La Regnie jenen tapfern
Herzog von LuxemburgVgl. E. T. A. Hoffmanns Erzählung »Das Fräulein von Scuderi« (Hoffmanns Werke, hrsg. von V. Schweizer, Bd. II, S. 243 u. 299 f.). , den Stolz von Frankreich,
In der Bastille Kerker schmachten ließ,
Und um ein Horoskop, um weiter nichts,
Das er sich stellen lassen? Was half ihm
Ruhm und Verdienst? Und meine Lage wär'
Ungleich gefährlicher. Ich traf den Mörder
In jener Nacht mit seinem eignen Dolch.
Nun denkt, in welchem Rufe Cardillac
Von Frömmigkeit und Bürgertugend stand.
Freigebig gleicht des blut'gen Todes Unrecht
Die allgemeine Meinung durch Verklärung
Des Lebens aus, das ihm vorhergegangen.
Und selbst geringe Aussaat solchen Lebens
Bringt solchem Tod oft hundertfache Ernte.
Ich bin der Lebende; er ist der Tote.
Was man dem Toten zu viel gibt, das nimmt man
Dem Lebenden. Vom allgemeinen Zorn
Borgt sich die Klage Macht und schüchtert die
Verteid'gung ein. – Und nun bedenkt, was an
Den Dolch sich knüpft. Wer dieses Dolches Herr,
Der so genau in all die Wunden paßt,
Dem läd't Verdacht die Morde sämtlich auf.
Und sagen: diese eine That hab' ich,
Heißt sagen: alle hab' ich sie gethan. – – –
Zu einem will ich mich erbieten, wenn
Daran Ihr G'nüge finden könnt. – Was Ihr
Durchsetzen wollt, als recht könnt' Ihr es nicht
Durchsetzen vor La Regnies Richterstuhl,
Und wollt' ich opfern, was ich nicht will opfern.
Ihr müßt Euch an den König wenden, nur
Auf seine eigne Überzeugung, sein
Gefühl, das, wo der Richter strafen muß,
Das königliche Gnadenrecht darf üben,
Euch klug berufen. Dazu will ich Euch,
Mein edles Fräulein, helfen, das ich achte,
Mehr, als ich irgend jemand andern achte.
Ihr sollt Euch bei dem Könige geheim
Auf mich berufen, und – ich will nicht fehlen.

Fräulein. Ja; Ihr habt mir den einz'gen Weg gezeigt.
Ihn will ich gehn an Eurer Hand. Dank Euch.

Miossens küßt ihr die Hand und geht.

Fünfzehnter Auftritt.

Fräulein allein. Dann die Martinière.

Fräulein (durch die Seitenthür, die sie dann schließt).
Schnell, Martinière, daß ich nicht die Zeit
Versäume, wo den König ich allein
Bei der Marquise Maintenon kann treffen.
(wieder durch die Thür.)
Baptiste soll eine Sänfte holen. Dann
Hilf mir mich kleiden. (Schließt wieder.)
                                    Den unsel'gen Schmuck
Von Cardillac leg' ich heut an. Das muß
Den König selbst auf die Geschichte bringen.

Martinière kommt durch die Seitenthür; sie möchte gern abraten; das Fräulein läßt sie nicht zu Wort kommen in schelmischer Eilfertigkeit.

Fräulein. Schnell putze mich. – Ja; das ist eine Kunst,
Solch einen alten Menschen aufzustutzen,
Der Müh' nicht wert, die man sich gibt –

Martinière (während des Anziehens, kommt endlich vom Zeichen zum Wort).
                                                                  Allein –

Fräulein. Und aller Putz, mit dem die Alten sich
Aufdonnern –

Martinière.             Aber –

Fräulein.                             Zeigt nur eben, daß es
Vergeblich Mühen ist.

Martinière.                         Doch –

Fräulein.                                           Doch? – Schon gut.
Ich seh' die Aber all in deinen Augen.
Was sollst du deinen Mund bemühn! Du weißt,
Wer Recht behalten will, behält auch Recht.
Drum laß mich gehen; mir ist nicht zu helfen –
Es muß gelingen. Muß! Und drum gelingt's –
Daß ich so alt sein muß, jetzt, wo ich jung
Sein müßte. Muß ich's auch? Muß ich denn alt sein?
Und müßt' ich's, hab' ich keine Zeit dazu.
Ich kann nicht alt sein; denn das kostet Zeit!

Vorhang fällt. Ende des vierten Aufzuges.

 


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