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8. Kapitel.

Fremd und verlassen auf der Landstraße. Said gerät in schlimmen Verdacht. Bei den Zigeunern.

 

So eilig hatte Said die Wohnung seines bisherigen Beschützers verlassen, daß er nicht einmal daran gedacht hatte, irgend welche seiner Habseligkeiten mit sich zu nehmen. Aber nicht für die Welt wäre er noch mal umgekehrt, nur einen letzten sehnsüchtigen Blick warf er zu dem verhängten Schlafzimmerfenster hinauf, ehe er um die nächste Ecke bog, um planlos in dem Straßengewirr seinen Weg fortzusetzen. Noch immer war es ihm, als könnte man ihn einholen, deshalb schritt er kräftig aus, ängstlich ab und zu hinter sich blickend, und beinah hätte er dabei ein kleines Mädchen umgerannt, die geradewegs auf ihn zukam.

»Gu–uste,« stammelte Said, indem er zurückprallte und wollte seitwärts ausweichen.

Die Kleine sah ihn verwundert an: »Was ist denn mit Dir los, Said, Du siehst ja aus wie ein begossener Pudel.«

Wirklich bot der Junge den Anblick des verkörperten Unglücks und die Anrede Gustes genügte, um den zurückgehaltenen Kummer nun vollends zum Ausbruch zu bringen.

»O, Gu–uste, Gu–uste; Said fortgeht, weit fort, immer, immer weiter,« schluchzte er in bitterem Schmerz.

Guste betrachtete ihn mitleidig.

»Sage doch vernünftig, wo willst Du denn hin, noch dazu mit Joko«, und sie strich mit den äußersten Fingerspitzen zaghaft über die bunten Federn des Vogels. Joko gefiel das und er hielt ihr das Köpfchen zum kraulen hin. Said aber hatte sich allmählich soweit gefaßt, um Guste klar zu machen, daß er davongelaufen sei, um nie wiederzukommen, da ihn der böse alte Onkel seines guten kranken Herrn zurück zu Achmed Malik in die Wüste schicken wollte.

Das schien denn auch Guste bedenklich, und sie stimmte Said bei, daß es besser sei fortzulaufen, als unfreiwillig in die Wüste spediert zu werden.

Said sah sich mittlerweile immer ängstlich um, und das kleine Mädchen wurde schließlich von seiner Furcht angesteckt und drängte ihn selbst, sich nicht länger aufzuhalten.

»Hast Du auch was zu essen mit?« fragte sie zum Abschied noch vorsorglich, und als er verneinte, schob sie ihm schnell ihr Vesperbrot, das sie schon angebissen in der Hand hielt, in die Tasche. Dann Plötzlich umschlang sie in herzlichem Mitgefühl den kleinen Freund mit beiden Armen und drückte einen herzhaften Kuß auf die dunkle Backe.

»Adieu, armer guter Said.« Damit trennten sie sich.

Aber wie traurig auch dem kleinen Said zu Mute war, das Butterbrot in seiner Tasche erinnerte ihn doch daran, daß er heute noch gar kein Mittagessen bekommen hatte, und so zog er das letzte Andenken seiner kleinen Freundin alsbald aus der Tasche und verzehrte es mit erfreulichem Appetit.

Daß er die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden in hohem Maße erregte, das war Said längst gewohnt, und das focht ihn wenig an. Sie guckten ihm ja jedesmal nach, wo er sich auch blicken ließ, und die Kinder liefen häufig hinter ihm drein. Aber er kümmerte sich nicht darum. Joko hatte er unter seiner blauen Livreejacke verborgen, damit ihm in dem Trubel der Spaziergänger Nichts geschehe. Zu Scharen bevölkerten sie an diesem heiteren Sommernachmittag den breiten, mit Bäumen bepflanzten Damm, den Said entlang eilte. Es war dieselbe Straße, die er unlängst mit seinem Herrn dahergefahren war, unwillkürlich hatte Said diesen Weg eingeschlagen, und mit dem Instinkt des Naturkindes fand er auch, trotz der hereinbrechenden Dunkelheit, die Waldschneise, die zu dem Bahnwärterhäuschen führte.

Als der alte Bahnwärter bei sinkender Nacht aus dem. Häuschen trat, um vor einem vorbeifahrenden Zuge mit der schützenden Kette den Fahrweg abzuschließen, war er nicht wenig erstaunt, eine zusammengekauerte Gestalt vor seiner Thür hocken zu sehen. Und noch überraschter war er, als der Lichtschein aus dem Hause fiel, und er das dunkle Antlitz des kleinen Dieners, dessen Bekanntschaft er erst unlängst gemacht, wiedererkannte.

»Es ist dunkel draußen, komm herein, Kleiner,« sagte er freundlich, »was willst Du denn eigentlich hier?«

Said ließ sich bereitwillig in den einzigen, durch eine bescheidene Lampe erhellten Raum des Wärterhauses hereinziehen, aber in hartnäckigem Schweigen hockte er hier in einem Winkel nieder, und nichts war aus ihm herauszubringen. Selbst Joko verhielt sich gegen seine Gewohnheit heut still, und der Bahnwärter schüttelte den Kopf über den schweigsamen Besuch. Gutmütig aber wie er war, schob er dem Jungen schließlich eine Tasse Kaffee und eine Semmel hin, was ein freudiges Aufglänzen in dem Gesicht des kleinen Schwarzen hervorzauberte. Gierig verschlang er das Dargebotene, und Joko bekam ein wenig Semmelkrume ab.

»Bitte, mehr,« damit schob Said die Tasse, die er in wenigen Sekunden bis auf den letzten Tropfen geleert hatte, wieder vor seinen neuen Freund auf den Tisch hin. Er hatte sich dazu erheben müssen, kauerte aber sofort wieder in seiner Ecke zu Boden und verfolgte von hier aus mit verlangenden Blicken, wie der alte Bahnwärter bedächtig aus seiner großen Kanne eine zweite Tasse Kaffee für ihn eingoß.

»Danke, Herr,« sagte er zufrieden, als er auch diese geteert hatte, und der Bahnwärter meinte freundlich: »Das lob' ich mir, Du bist ein höflicher Bursche. Warum bist Du bloß so schweigsam?«

Darauf aber erfolgte keine Antwort, und so ließ der alte Mann den kleinen Eindringling denn in Ruhe, besorgte während der nun folgenden Nachtstunden in gewohnter Ordnung seinen Dienst und kümmerte sich nicht weiter um Said, der bald friedlich eingeschlummert war. Gleich einer Kugel, ganz zusammengerollt, wie er immer am liebsten schlief, so lag er auch heute da, und neben ihm auf einem Schemel saß Joko, den Kopf tief in das grüne Gefieder gesteckt, und schlief ebenso fest wie sein Kamerad. Said schlief wirklich wie ein kleines Murmeltier nach all der Aufregung und erwachte auch nicht, als am späten Abend die Frau des Bahnwärters, die in einem nahen Vorort der Großstadt einige Waschstellen hatte, von der Arbeit heimkam.

Am nächsten Morgen war der Kleine ganz verwundert, als er erwachend das neue Gesicht sah, aber die Frau war eben so gutmütig wie ihr Mann und das erste, was sie that, war, daß sie den Jungen zu einem Teller Brotsuppe an den Tisch lud.

Während er sich die Suppe schmecken ließ, versuchte die Frau ihn auszuforschen, was ihn eigentlich zu ihnen geführt habe, da aber aus Said durchaus nichts herauszubekommen war, fragte sie schließlich: »Kannst Du mir denn wenigstens die Wohnung Deines Herrn an geben?«

Das konnte Said, aber wie erschrak er, als die Frau mm zu ihrem Manne gewandt fortfuhr: »Dann will ich jedenfalls dort Bescheid sagen, daß der Junge hier ist. Er wird sich wohl bei einem Besorgungsgang verirrt haben und hat sich auf dem Weg, der ihm von neulich bekannt war, hier angefunden. Sicher werden ihn die Leute, bei denen er ist, abholen, sobald sie über seinen Verbleib erfahren.«

Das aber war es ja gerade, was Said vermeiden wollte.

»Nein, nein,« rief er deshalb lebhaft dazwischen, »ich Weg kennen, ich jetzt heimgehen, ich vielmals danke.« Somit war er auch schon zur Thür hinaus und sprang in großen Sätzen den Weg hinab, den er am Abend zuvor gekommen.

Der Bahnwärter und seine Frau wußten nicht, was sie von dem sonderbaren Verhalten des kleinen Schwarzen denken sollten, als er ihnen aber aus dem Gesichtskreis entschwunden war, verweilten auch ihre Gedanken nicht mehr allzulange bei ihm, sondern wandten sich dem gewohnten Tagewerk zu.

Said hatte indessen, ehe er die große Landstraße wieder erreichte, sich seitwärts in die Büsche geschlagen und durchquerte ziellos den Wald. Es war ein warmer, sonniger Tag, und ihm war ganz wohl in der ungewohnten Umgebung der schönen, freien Natur. Wie ein losgelassenes Füllen, so sprang er umher, hier, wo keine Menschen waren, hatte er auch keine Furcht mehr vor Entdeckung und betrachtete mit Interesse die knorrigen Stämme der Fichten und das blühende Haidekraut, über dem sich weiße Schmetterlinge wiegten. Ab und zu auch unterhielt er sich mit Joko, der, auf seiner Schulter sitzend, ihm gelegentlich diese oder jene seiner eingelernten Phrasen ins Ohr kreischte, und es hatte ihm eigentlich nichts zu seinem Glück gefehlt, hatte sich nicht mit der Zeit ein recht fühlbarer Hunger bei ihm eingestellt. Früher in seiner Wüste hatte er nichts zum Leben gebraucht, ein wenig Hungern war ihm ganz natürlich erschienen, aber jetzt, wo er an die regelmäßigen guten Mahlzeiten gewöhnt war, erhob sein Magen Ansprüche und wollte sich nicht zur Ruhe verweisen lassen. Anfänglich hatte Said die Wohnhäuser, die hier und da Zwischen den Bäumen des Waldes auftauchten, gemieden; im großen Bogen war er um die menschlichen Stätten herumgegangen, bis sie seltener und seltener wurden. Said entfernte sich immer mehr von der Großstadt und von den Villen, die am Rand des Waldes sich zu einer ganzen Kolonie zusammenschlossen, war bald nichts mehr zu sehen. Querwaldein war Said schon manche Stunde umhergeirrt, und die Sonne neigte sich bereits zum Westen, als der Kleine an einem Waldsee ein freundliches Gasthaus vor sich liegen sah. Sein leerer Magen trieb ihn an, sich diesem zu nähern und in der Hoffnung, etwas zu essen zu bekommen, stand er bald vor dem Zaun, neugierig zwischen den Latten hindurchspähend. In der keinen Kaffeewirtschaft standen sauber gedeckte Tische unter großen Linden, aber kein menschliches Wesen war zu blicken. Es war noch nicht die Stunde gekommen für die Besucher, die sich von fern und nah um die Kaffeezeit einfanden und das Lokal bis auf den letzten Platz füllten. Said umschritt deshalb den Kaffeegarten und suchte über den Hof fort, Eingang in die Hinterthür zu gewinnen. Schon stand er auf der Mitte des Hofes, als sich ein Fenster des Hauses öffnete und eine derbe Magd sich herausbeugte, die ihn barsch anrief; er sollte sich seines Weges scheeren.

»O, gebt mir nur ein Kaffee,« bat Said, »oder ein Brot, bitte.« Doch jene schnitt ihm kurz das Wort ab: »Für Landstreicher ist hier nichts zu haben, pack' Dich fort, sonst Hetze ich die Hunde hinter Dir Her!«

Unschlüssig stand Said da, bestaubt und beschmutzt wie er war, glich er wirklich mehr einem Landstreicher wie einem herrschaftlichen Diener. Die schöne blaue Livree, die ihn Frau Rebling so oft zu schonen geheißen, war von dem Herumstreifen im Walde mit Moos und Erde und zahllosen Flecken bedeckt und kaum mehr erkennen. Noch einmal versuchte er sich ein paar Schritt vorwärts, die Hand in stummer Bitte vorgestreckt, aber schon sah er sich zu schleuniger Umkehr veranlaßt.

»Philax, Karo, faßt,« erscholl die harte Stimme der Magd über den Hof, und zwei große rauhhaarige Hunde stürzten mit lautem Gebell auf Said zu und hinter dem schleunig Flüchtender: her. Zum Glück war der kleine Schwarze flink auf den Füßen, aber es bedurfte der Aufbietung seiner ganzen Fertigkeit im Laufen, um den bösen Tieren zu entgehen. Sogar aus dem Hofthor heraus, verfolgten sie ihn, man mußte in der Kaffeewirtschaft sehr benötigt sein solcher Beschützer, sonst wären die Hunde wohl nicht so bösartig gewesen. Mit schnellem Entschluß rettete sich Said, indem er behende den Stamm einer breitästigen Buche erklomm, in der er wie ein Affe emporkletterte. Joko hatte sich, auf einen wilden Rosenbusch flatternd, ebenfalls geflüchtet und kreischte, was er nur kreischen konnte. Die Hunde kläfften noch ein Weilchen, dann trotteten sie auf einen Pfiff hin zurück, und Said konnte sich herabwagen aus seinem luftigen Zufluchtsort. Mit leerem Magen, aber trotzdem im Geschwindschritt machte er sich wieder auf den Weg, fort aus dem Umkreis dieser unwirtlichen Behausung. Erst als längst nichts mehr weder von dem Haus noch dem See zu sehen war, verlangsamten sich seine Schritte, und recht müde und erschöpft ließ er sich mit Rande einer Kiefernschonung nieder, wo er allmählich sanft einnickte und sich ein Stündchen nach den Anstrengungen des Tages ausschlief.

Die Sonne war bedenklich im Niedergehen, als Said wieder erwachte, und doch hatte er noch keinen Bissen im Magen und kein Quartier für die Nacht in Aussicht. Seine Aussichten waren überhaupt nicht glänzend, einsam und verlassen, so schwach und klein wie er noch war, wie sollte er weiterkommen? Dazu war er nicht im Besitz irgend welcher Barmittel, und obgleich er bisher wohl die Vorstellung gehabt hatte, daß nur in Egypten Geld für den Lebensunterhalt von nöten sei, so schienen sich nach seinen jüngsten Erfahrungen seine Ideen darüber doch geändert zu haben. Überall brauchte man Geld, wenn man essen wollte, für Bitten allein gab es nichts – aber halt – da fiel ihm ja das Goldstück von den Prinzen ein. Das hatte er noch bei sich in der Seitentasche seiner Jacke, wo er es, ohne ihm allzuviel Wert beizumessen, hineingesteckt hatte, jetzt sollte es ihm von Nutzen sein. Er erwog, was er wohl alles dafür kaufen könnte und freute sich, wie sich nach einiger Zeit der Wald lichtete und er zwischen Wiesen und Äckern ein freundliches Dorf liegen sah. Da mürbe er endlich seinen Hunger stillen können.

Mit frischem Mute schritt er darauf zu und trat in den ersten Krämerladen ein, wo er ein paar Säcke mit Kaffee in der Thür stehen sah.

»Bitte Datteln, habt Ihr Datteln für Geld!« sagte er.

Der Krämer sah ihn verdutzt an. »Datteln,« wiederholte er dann, »Datteln führe ich nicht,« und er zuckte die Achseln.

So griff denn Said, sich umsehend, nach einer Wurst.

»Ich kaufe dies,« entschied er, »und was Zucker für Joko.« Er zeigte dabei auf seinen Papagei, und der Krämer wog unter seiner Anweisung für den Vogel ein Viertel Pfund Zucker ab.

Zufrieden steckte Said die Düte in die eine, die Wurst in die andere Tasche und legte sein Goldstück auf den Ladentisch. Soweit wäre alles nach Wunsch gegangen, aber der Krämer geriet in Verlegenheit mit dem Wechseln des Geldes. Auf ein Goldstück herauszugeben, daran war er nicht gewohnt und lief zu seinem Nachbar. Dieser aber, als er das Goldstück sah und den Keinen, schwarzen Burschen, der damit bezahlen wollte, machte ein ganz verschmitztes Gesicht und riet dem Krämer, das Geld lieber nicht zu nehmen, das könnte unredlich erworben sein. Nun wollte der Krämer seine Waren wiederhaben und die wollte Said nicht herausgeben. Es entspann sich ein Streit, zu dem sich bald mehrere Dorfbewohner als Zuschauer anfanden.

Als aber eine geschwätzige alte Frau, die dazu kam, gar meinte: »Der schwarze Bursche gehört gewiß zu den Zigeunern, die heute durch das Dorf zogen und hat das Geld gestohlen,« da wurde Saids Lage bedenklich.

Mit Scheltworten und Drohungen drang man auf ihn ein, riet dem Krämer, das Goldstück ja einzubehalten, und schon wurden ein paar Rufe taut: »Nehmt doch den Burschen fest, der gehört ins Amtsgefängnis.«

Da merkte denn Said, daß es Zeit sei, sich aus dem Staube zu machen. Aalglatt glitt er zwischen den auf ihn Eindringenden hindurch und Joko im Arm, floh er mit Windesgeschwindigkeit die Dorfstraße hinab. Es war auch wirklich die höchste Zeit gewesen, denn überall thaten sich jetzt die Fenster und Thüren auf, und laut scholl es hinter dem Fliehenden her: »Haltet ihn, haltet den Dieb.«

Doch der konnte besser laufen, als die hinterdrein stapfenden Bauern. Wie ein Pfeil schoß er dahin. Der ließ sich nicht einfangen, das sahen die andern bald ein und gaben die Verfolgung auf. Said aber lief noch lange als er keinen Menschen mehr hörte und sah, in ungeminderter Geschwindigkeit weiter, so sehr hatte er sich erschrocken. Selbst als ihn das schützende Waldesdunkel längst wieder umgab, ging es noch immer im Laufschritt vorwärts, und wie ein junger Rehbock brach er sich einen Weg durch das Dickicht und Unterholz. Sobald Joko sich vernehmen ließ, stopfte er ihm schnell ein Stück Zucker in den Mund, daß er still sei und ihn nicht verriete, von der so teuer bezahlten Wurst aber hatte er in aller Hast, ohne einen Moment zu verweilen, im Laufen ein paar mal abgebissen. Er war so verängstigt, der Kleine, daß er gar nicht mehr wußte, was er that, und ein paar mal war er schon gegen Wildgitter und Holzstöße angerannt oder hatte sich die Hände blutig gerissen an Dornengestrüpp, das er zu durchdringen suchte. Es war Nacht geworden, aber der Vollmond ergoß sein leuchtendes Licht über den Wald, so daß es leidlich hell war. Der kleine Said hätte die Dunkelheit vorgezogen, er fürchtete die Helligkeit und war zufrieden, als ein paar Wolken vor den Mond zogen und mit dichtem Schleier das strahlende Himmelslicht verhüllten.

Nun war es ganz dunkel, und Said kroch unter ein dichtes Gebüsch, um nicht zu sehen, wenn der Vollmond wieder aus den Wolken herausträte. Da die Wolken sich indessen dichter und dichter zusammenzogen, sollte der liebe Mond für diese Nacht verschwunden bleiben. Said hätte ihn ohnehin nicht mehr gesehen, denn schnell hatte den Erschöpften der Schlaf übermannt.

Ein leiser Regen fiel, als der Kleine am nächsten Morgen erwachte, und er hielt es deshalb für das Geratenste, einstweilen noch unter dem schützenden Blätterdach auszuharren. Jetzt erst gönnte er sich den Genuß, seine Wurst mit Ruhe zu verzehren, und Joko erhielt wieder Zucker und pickte außerdem sich einige grüne Grashalme zwischen dem Moos heraus, die ihm bestens mundeten.

Als der Papagei dabei die Melodie von:

»So leben wir, so leben wir,
So leben wir alle Tage,«

zu pfeifen begann, erschrak Said zunächst heftig, doch da ringsum kein anderer Laut zu hören war, gab er sich zufrieden und pfiff schließlich mit.

Das Gefühl der Langeweile kannte Said nicht, deshalb verging ihm auch die Zeit durchaus nicht langsam. Er spielte mit Joko und hätte ihn nicht schließlich die liebe Sonne hervorgelockt, so hätte er leicht den ganzen Tag in seinem Versteck zubringen können. Aber unter dem Blätterdach war es doch ziemlich dumpf und feucht, die Tropfen waren schließlich durchgedrungen und sobald man sich bewegte, streifte man an die nassen Zweige, da begrüßte es Said mit Freuden, als endlich die liebe Sonne aus den Wolken brach. Er kroch aus dem Buschwerk hervor und ließ sich behaglich von den warmen Strahlen durchsonnen. Ja, er schlenderte sogar ein Stückchen weiter, um aus dem schattigen Hochwald vollends herauszukommen und gelangte bald an einen breiteren Fahrweg, der von der Sonne hell beschienen vor ihm lag. Kaum hatte er den Weg betreten, als er ein nahendes Gefährt sah, das langsam und schwerfällig um eine Wegbiegung kam, und neben dem einige seltsame Gestalten daherschritten. Schon wollte der kleine Said scheu wie ein flüchtiges Wild zurückweichen, aber da ein zweiter Blick die Nahenden gestreift hatte, schien er schwankend zu werden, sein Gesicht nahm einen forschenden Ausdruck an, und er blieb stehen. Jetzt kamen jene näher und immer gespannter hafteten Saids Augen auf ihnen. Die da kamen, hatten ja eine dunkle Hautfarbe gleich ihm, zwar waren sie nicht ganz schwarzbraun wie der kleine schwarze Sudanese, aber doch bräunlichgelb etwa wie die Leute in Unteregypten, in Kairo. Mit reger Aufmerksamkeit folgte Said ihren Bewegungen, er meinte nicht anders, als daß sie ihn im nächsten Moment auf arabisch, in seiner Heimatssprache, an reden müßten, und nur eines setzte ihn in Erstaunen, daß sie keinen regelrechten Fez oder Turban trugen, sondern den Kopf mit bunten Lappen umwunden halten.

Es waren Zigeuner, die des Weges kamen, und auch sie bemerkten jetzt Said, der entschieden ihr Interesse zu erregen schielt. Ein paar Worte wurden gewechselt, dann trat der Älteste der Zigeuner auf Said zu und fragte ihn über das woher und wohin seines Weges aus. Die Fragen waren auf deutsch und nicht auf arabisch gestellt, zu Saids Verwundern, und der schwarzhaarige Mann mit der gelben Haut und den stechenden dunklen Augen wollte ihm nicht recht gefallen, trotzdem aber nahm Said sein Anerbieten, sich zu ihnen zu gesellen, dankbar an. Endlich sprach doch wieder jemand freundlich zu ihm, und er hatte sich in seiner gänzlichen Verlassenheit ja schon so nach Menschen gebangt. Zwar wurde es ihm wieder Angst, als ihn ein neugieriger Trupp von Zigeunerburschen, Frauen und Kindern alsbald umringte, aber sein neuer Beschützer nickte ihm ermutigend zu, und keiner zeigte ihm irgendwelche böse Absicht, alle bewunderten nur seinen Papagei, wollten den streicheln und stellten in gebrochenem Deutsch Fragen, die der kleine Said, zutraulicher werdend, nach besten Kräften beantwortete. Er berichtete sogar wahrheitsgetreu, daß er seinem Herrn davongelaufen sei, nur verschwieg er diesmal vorsichtig dessen Namen und Wohnung, damit ihn die Leute ja nicht dort wieder hinbrächten und er dem alten Herrn Bienegg ausgeliefert würde.

Daran aber dachten die Zigeuner nicht, und Said hätte sich darüber keine Gedanken zu machen brauchen. Der kleine schwarze Geselle mit dem bunten Vogel schien ihnen brauchbar. Der Papagei konnte so hübsch sprechen und würde ihnen manch hübsches Stück Geld eintragen in den Ortschaften, die sie durchzogen, und der Junge, der sich mit ihm wie mit einem Kameraden unterhielt, sollte der staunenden Dorfjugend seine Fertigkeiten vorführen.

Schon in dem nächsten Dorf, durch das sie der Weg führte, erregte der kleine Schwarze, den sie bei sich hatten, die allgemeine Aufmerksamkeit, und wenn er bittend die Hand ausstreckte, fehlte es nicht an Kleingeld, um sie zu füllen. Sobald er aber den Papagei alle seine schönen, eingelernten Sätze sprechen ließ oder Joko gar ein Liedchen pfiff, dann geriet alles in Aufregung, und Kinder und Eltern gaben gern Groschen auf Groschen her, um noch ein Liedchen und noch eins zu hören. Said machte das sehr stolz, nur betrübte es ihn, daß er das Geld nicht behalten durfte, sondern abliefern mußte. Aber dafür erhielt er Speise und Trank, und nachts lagerte er mit den Zigeunern im Walde oder alle krochen – wenn es regnete – in den Wagen hinein, den sie mit sich führten und kampierten dort in zusammengedrängter Enge, so daß sich Said manchmal in seiner Heimat wähnte unter seinen Eselstreiberkameraden.



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