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6. Kapitel.

Said findet in Joko einen guten Kameraden, aber Lorchen bereitet ihm großen Kummer. Die kleine Guste spielt mit Said Kutscher und Pferd.

 

Frau Rebling war eine gute alte Seele, aber bei ihren besten Vorsätzen betreffs Saids Erziehung, ward es ihr doch manchmal schwer, ruhig zu bleiben, wenn Said immer wieder mit schmutzigen Schuhen ins Zimmer kam, immer wieder die Sachen befleckte und zerriß. Der kleine Said war eben gar zu wenig daran gewöhnt, auf sein Äußeres zu achten, und oft genug zuckte es Frau Rebling in den Fingern, sobald sie sah, wie leichtfertig er mit der schönen Livree auf der Erde kauerte und durch alle möglichen schmutzigen Ecken und Winkel auf den Boden oder im Keller kroch. Said interessierte das große Mietshaus ungemein, und er durchforschte es zunächst in allen Winkeln. Gar zu wunderbar schien es ihm, was sich alles in solch europäischem Hause fand, an Zimmern, Kammern und Verschlägen und an zahllosen Möbeln darin. Es war ihm völlig schleierhaft, warum man einen schönen großen Wohnraum voll Tische, Schränke und Stühle stellte, an die man überall anstieß, statt sich frei bewegen zu können; aber noch viel schleierhafter war es ihm, warum von diesen Gegenständen allmorgendlich der Staub abgenommen werden sollte. Dazu hatte ihn nämlich zunächst Frau Rebling angestellt. Mit einem Staubwedel bewaffnet, stand er schon am Tage nach seiner Ankunft da, und mit großen erstaunten Augen prüfte er die abzustaubenden Gegenstände, und drehte sie hin und her, so daß die Arbeit nur sehr langsam fortschritt. Ganz anders dagegen war es, wenn er zu persönlichen Dienstleistungen von Hans Bienegg herangezogen wurde, da war er sogleich eifrig dabei. Ihm den Kaffee hereinzutragen, auf- und abzudecken und stets mit Zigarren, Aschenbecher und Feuerzeug bei der Hand zu sein, das lernte er im umsehen, ja, ehe Hans noch etwas zu fragen brauchte, war es schon da, und so kam es, daß Hans auf die Dauer erheblich zufriedener war mit Saids Leistungen als die gute Frau Rebling. Said, der sehr hilfsbereit war, aber im Grunde wie alle Orientalen, träge, wußte, sobald sein Herr entfernt war, aus dem Gesichtskreis Frau Reblings zu entschwinden. War sie in der Küche, so war er im Wohnzimmer, hatte sie in den Zimmern zu thun, so hockte er vor der Etagenthür oder gar unten auf dem freien Platz vor dem Hause, wo die Vorübergehenden stehen blieben, wenn sie der schwarzen, kauernden Gestalt ansichtig wurden. Das focht Said, aber nicht an, und nichts vermochte ihn aus seiner hockenden, Stellung, in der er Stunden und Stunden verharren konnte, aufzuscheuchen. Wie ein Affe, nur auf die Füße gestützt, saß er dann da, auf irgend einer Mauerkante, einem Stein oder Abtreter, die Arme auf den Knien verschränkt und den übrigen Körper in der Schwebe. Es war der Ehrgeiz der Portierskinder unten im Hause, es ihm darin nachzuthun, aber sowohl der zwölfjährige Emil, wie die kleine achtjährige Guste fielen jedesmal um, wenn sie wie Said zu hocken versuchten. Diese Versuche belustigten sie indessen sehr und gaben zu endlosem Gelächter zwischen den Beiden Anlaß. Said saß dann mit feierlich ernstem Ausdruck daneben und keine Muskel seines Gesichts zuckte, noch machte er je einen Anlauf, mit den Portierskindern in Beziehung zu treten; still und stumm betrachtete er sie, als seien es andere fremdartige Wesen und nicht Kinder gleich ihm.

Ein paarmal schon hatte ihn Emil durch einen freundschaftlichen Puff zum Reden zu bringen versucht, aber er war auf unüberwindlichen Widerstand gestoßen, Said that nicht den Mund auf, sondern wandte gleichgültig den Blick ab, so gab er es auf.

Nur eines Tages, als ein paar andere kleine Mädchen, die mit Guste aus der Schule kamen, nach dieser mit den Schulmappen schlugen und sie am Zopf rissen, da war plötzlich Said, wie ein kleiner, schwarzer Teufel mit rollenden Augen und geballten Fäusten dazwischen gefahren und hatte mit erhobener Stimme geschrien: »Fort, fort, böse, böse Mensch.«

Entsetzt waren die Mädchen auseinandergestoben, und keines wagte in Zukunft sich an der kleinen Guste zu vergreifen, denn, – hieß es, – wenn man Guste was thut, kratzt einem das schwarze Untier die Augen aus.

Guste aber war seit dem Tage Saids erklärte Freundin. Sie nickte ihm zu, wenn sie an ihm vorbei ging und mehrmals sagte sie sogar freundlich: »Guten Morgen, Said«, oder »guten Abend«. Aber darauf antwortete der kleine Schwarze ebensowenig, wie auf die Anrede des Bruders. Er sprach überhaupt nie, wenn es nicht unbedingt nötig war, selbst sein Herr bekam nur spärliche Antworten, und so machte er nur langsame Fortschritte in der deutschen. Sprache. Zwar gab es bald nichts mehr, das er nicht verstanden hätte, denn der Junge war entschieden geweckt und gelehrig, aber die an ganz andere Laute gewöhnte Zunge gab blos schwerfällig und langsam die deutschen Worte wieder. Nur mit den Papageien fing er öfter und von selbst eine Unterhaltung an. Joko und Lorchen liebte er nämlich über alle Maßen, und es war gar drollig, den kleinen Schwarzen zwischen den beiden bunten Vögeln zu sehen und die weiche Kinderstimme mit fremdem Accent deutsche Worte vorsprechen zu hören, die aus den Papageikehlen dann rauh und hart zurücktönten.

Seitdem Said gemerkt hatte, wie alles, was die Papageien lernten, seinem Herrn Freude machte, war es eine Hauptbeschäftigung von ihm, die Tiere neue Worte, Namen und Zahlen zu lehren, und er konnte eine schier unermüdliche Geduld dabei entwickeln.

Besonders Lorchen war schwierig zu belehren. Die kleine graue Papageidame mit den rosa Spitzen an den Flügeln war bequem und die Worte, die ihr schwer fielen, sagte sie ganz einfach nicht, sondern kniff verschmitzt das eine Auge zu, wenn man etwas von ihr wollte, legte den Kopf auf die Seite und machte: »Ra, ra, Lora.«

»Lora, Köpfchen kraulen«, fiel dann Joko ein, der stets aufgelegt zum Sprechen war, und: »Was hast du gesagt, mein Lorchen?«, seinen Lieblingssatz, setzte er schnell überlaut hinzu und lachte dann selbst kräftig und anhaltend über seinen Witz: »Ha, ha, ha, – ha, ha, ha, – ha, ha, ha. –«

Als Hans den ersten Sonntag daheim benutzt hatte, um zu seiner Mutter und Schwester zu fahren, die seit dem Tode des Vaters unfern der Großstadt bei einem alten Onkel auf dem Lande wohnten, wurde er bei seiner Rückkunft durch eine neue Leistung Jokos überrascht.

Dieser sagte ganz klar und deutlich, als er eintrat: »Guten Abend, mein Freund, guten Abend, Hans Bienegg.«

Die N's, waren Joko bisher immer schwer geworden, und so hatte sich Frau Rebling vergebens Mühe gegeben, dem Papagei den Namen seines Herrn beizubringen, und erst Said war es geglückt. Er hatte aber auch den ganzen Sonntag vor dem Käfig gehockt und immer gleichmäßig dieselben Worte wiederholt. Bei jedem Ansatz Jokos sie nachzusprechen, hatte dieser ein Stück Zucker bekommen, und so war es bald besser gegangen. Erst hatte der Name recht undeutlich geklungen und war kaum zu erkennen gewesen, dann war: Harß Bierregg mit scharf geschnarrten r herausgekommen, doch schließlich kam der schwere Name ganz klar und deutlich zu Stande: Hans Bienegg, und nun wiederholte ihn Joko mit schreiender Stimme zu unzähligen Malen.

Ja, als am nächsten Tage Werner Dorn kam, um seinen guten Freund zu besuchen, schrie er dem sofort entgegen: »Hans Bienegg, Hans Bienegg, guten Abend, mein Freund.«

Sehr stolz erklärte Hans Freund Werner, wie Said dem Papagei den Namen beigebracht hatte und Werner mußte lächeln. »Der Grüne und der Schwarze machen zusammen Sprachversuche. Das muß ja höchst spaßig sein, wenn sich die beiden fremdländischen Tierchen die Zunge an deutschen Lauten zerbrechen.«

Joko lernte jetzt jeden Tag unter Saids Anweisung etwas neues. Als Hans Bienegg vom nächsten Gutsbesuch bei seiner Familie zurückkam, fragte er: »Wie geht es Emma?« Emma hieß die Schwester von Hans, und bald sagte der Papagei: »Werner« und »Frau Rebling« und »Said, Said, wo bist Du?« rief er den ganzen Tag.

Auch Lorchen machte Fortschritte, sie zählte »eins, zwei, drei« und wenn Hans Bieneggs Mittagsmahlzeit aufgetragen wurde, rief sie: »Hurrah!« Das hatte sie am leichtesten gelernt, denn für Essen hatte die kleine Papageiendame Verständnis. Sie konnte manchmal stundenlang hintereinander an ihrem Freßnapf beschäftigt sein, so daß ihr Said ganz erstaunt zuguckte. Ihm schmeckte das Essen auch, besonders, wenn es seine Lieblingsspeisen gab, Reis oder Datteln, aber den ganzen Tag hätte er doch nicht essen mögen. Ja, in der Beziehung konnte Frau Rebling zufrieden sein, er war wirklich sehr genügsam, der kleine Said, und gar nicht naschhaft. Ein paarmal hatte sie aufgepaßt, wenn er die Speisen seines Herrn aus- und eintrug, aber er rührte nichts an und nahm nichts als was man ihm gab.

Nur an einem Tage war eine Ausnahme vorgekommen. Es war jetzt Mai geworden, und Frau Rebling hatte die ersten Köpfe zarten jungen Salats von der Markthalle mitgebracht, um sie ihrem Herrn zum Mittagbrod zurecht zu machen. Vorsichtig waren die grünen, saftigen Blätterchen vom Stiel befreit und abgewaschen und Frau Rebling rührte eben von hartem Ei, Essig und Öl eine Salatsauce an, die sie aufmerksam abschmeckte, als Said in die Küche trat.

Dieser machte sich schweigend hinter ihrem Rücken zu schaffen, Und es war ihr ein paar mal, als ob sie ihn kauen hörte. Diese Beschäftigung besorgte er noch immer ziemlich laut, und es wollte nicht recht gelingen, ihm das unmanierliche Schmatzen beim Essen abzugewöhnen. Aber Frau Rebling kümmerte sich nicht weiter um ihn, und erst, als die Sauce fertig und schmackhaft befunden ward, wandte sie den Kopf. Aber – o weh – wo war der Salat? Said kaute mit vollen Backen, und eben verschwand das letzte grüne Blatt zwischen seinen blitzend weißen Zähnen.

»Junge, bist Du denn nicht bei Trost?« rief Frau Rebling und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Ist es nur möglich, die Salatblätter wie Grünfutter herunterzuschlingen? Ja, Du bist doch keine Kuh, Said.«

Said stand ganz beschämt da wie ein begossener Pudel, aber in aller Verlegenheit kaute er doch noch seinen Salat zu Ende und man sah, wie es ihm schmeckte.

Frau Rebling konnte sich jedoch noch lange nicht beruhigen. »Wie kann man nur, wie kann man nur?« wiederholte sie immer wieder, »die rohen, grünen Blätter können ja nicht anders als Gras schmecken. Kein vernünftiger Christenmensch könnte so etwas essen.«

Aber Said war ja auch ein Muselmann, und in Frau Reblings Augen noch immer nicht viel besser als ein Tier, allerdings ein ganz braves gutes kleines Haustierchen, aber doch ein Tier. Daß der Muhamedanismus auch eine Religion war, konnte sich Frau Rebling nicht vorstellen, und ganz erstaunt war sie gewesen, als sie eines Abends Said auf dem Bettteppich kniend fand. Er murmelte dabei Koranverse – der Koran ist die Bibel der Muhamedaner – wie er es in seiner Heimat gelernt und von ganz klein auf gethan und warf den Körper in regelmäßiger Wiederholung vornüber, die Erde mit der Stirn berührend. Kopfschüttelnd war Frau Rebling davongegangen, aber wenn sie Acht gegeben hätte, so hätte sie jeden Morgen und Abend den kleinen Said seine Andachtsübungen verrichten sehen können. Es waren meist nur wenige Worte, die er dabei sprach in der fremdländischen, arabischen Mundart, und sie bedeuteten zu deutsch etwa: »Allah' ist groß, Allah ist mächtig, Allah ist der höchste Gott, Allah ist Allah!« Diese wenigen Worte aber wiederholte Said zu vielen, vielen Malen und dachte dabei ebenso frommen Herzens an Allah, den Gott der Muhamedaner, wie ein deutsches Kind, das mit seiner Mutter betet, an den lieben Herrn Jesus Christus denkt.

Manchmal beim Beten überkam ihn ein ganz leises Heimwehs nach seinem fernen Geburtsort, aber sobald er an Achmed Malik dachte, und die vielen Schläge, die er von ihm erhalten, ging schnell vorbei. Hans Bienegg schlug ihn nie, ja, er hörte kaum, je ein böses Wort von ihm, und Hans wurde für den kleinen Said immer mehr der Inbegriff alles guten, edlen und verehrungswerten, das es in der Welt giebt. Der junge Mann gab sich aber auch, sobald er Zeit hatte, viel mit seinem kleinen Diener ab, und oft genug, wenn er aus seinem Geschäft heimkehrte, nahm er dem Kleinen im Vorübergehen ein Paar Süßigkeiten oder eilt buntes Bilderbuch mit. Abends, wenn ihn sein Geschäft nicht mehr in Anspruch nahm, kramte er gern zwischen seinen Reiseerinnerungen, und Said durfte ihm dann helfen, gepreßte Pflanzen und Steine zu sortieren und Photographien aufzuziehen. Das waren Festesstunden für den Kleinen, und ein Fest war es auch, wenn er seinem Herrn irgendwelche Bestellungen oder Briefe nach dem Geschäft hintragen durfte.

Eines Tages war es ein ganzer Stoß Briefe und Postsachen, die Said seinem Herrn überbrachte, denn es war Hans' Geburtstag, und da der junge Mann viele Freunde nah und fern hatte, so erhielt er auch viele Glückwünsche. Frau Rebling buk zu dem Tage jedesmal eine ganz besonders schöne Torte und bekränzte den Stuhl ihres Herrn mit einer Guirlande, und jedesmal kam ein Packet von der Mutter und Schwesterchen Emma, das dem jungen Mann ein paar hübsche Überraschungen brachte, schöne Kissen oder gestickte Decken von der Schwester und irgend einen hübschen Kunstgegenstand für die Wohnung. Leider mußte Hans die Seinen an seinem Ehrentag schon seit Jahren entbehren. Seine alte Mutter hatte ein Knieleiden und konnte sich deshalb die paar Stunden Eisenbahnfahrt nach der Hauptstadt nicht wohl zumuten, Emma aber war der Mutter unentbehrlich, und mit ihren siebzehn Jahren scheute man außerdem, sie allein in der Welt umherreisen zu lassen. So war Hans, wenn er abkömmlich war, an seinem Geburtstag nach dem stillen Landgut in der Priegnitz hinausgefahren, oder er hatte den Sonntag vor oder nach seinem Geburtstag bei den Seinen in Groß-Tarnow verbracht, wenn ihn, wir heute, Geschäfte in der Hauptstadt zurückhielten.

Aber eine ganz besondere Überraschung sollte ihm die heutige Post bringen, die ihm der kleine Said so stolz ausgehändigt hatte, als sei es sein Verdienst, daß alle die vielen Briefe geschrieben worden wären. Hans, der gerade bis über die Ohren in der Arbeit saß, sah sich zunächst nur die Poststempel an, um die Lektüre bis später aufzuschieben und blos die Briefe aus Tarnow wurden erbrochen.

Es waren liebe Zeilen von Emma und der Mutter, und auch ein Handschreiben des Onkels lag bei. Daß der alte Herr sich zu einem Brief aufraffte, war eine Seltenheit, gewöhnlich begnügte er sich mit wenigen Zeilen, einem kurzen Glückwunsch oder mit Beifügung von Grüßen unter den Briefen der anderen.

Heute aber mußte er Hans etwas besonderes mitzuteilen haben, denn das Schreiben füllte über zwei Seiten, und an dem freudig überraschten Ausdruck, den das Gesicht des jungen Mannes beim Lesen annahm, konnte man sehen, daß es keine unangenehmen Neuigkeiten waren, die der Brief enthielt. Ja, Hans faltete mit sichtlichem Vergnügen den Brief schließlich wieder zusammen und schmunzelte vor sich hin.

Ein Klingelzeichen, das von der Wand herzukommen schien, ließ ihn jedoch schnell aufspringen, und Said gewahrte voll Erstaunen, wie sein Herr an einen in der Ecke befestigten Kasten herantrat und hier laut seinen Namen hineinrief. Nun führte er ein rundes Stück Holz, das, an einer Schnur befestigt, daneben hing, ans Ohr, und dann sprach er lebhaft weiter: »Jawohl, mir recht, also zweihundert, und das am zwanzigsten. Schön, Schluß.«

Said hatte kein Auge von seinem Herrn verwandt: »O, Herr, spricht mit der Wand«, stieß er jetzt in höchstem Erstaunen hervor.

»Ja, so«, lächelte Hans, »ein Telephon kennst Du noch nicht, mein Junge«, und er wollte dem Kleinen eben kurz auseinandersetzen, was es mit solchem Telephon für eine Bewandtnis habe, als es von neuem, an klingelte.

»Halloh, Werner«, rief Hans vergnügt, als sich diesmal im. Telephon Werner Dorn meldete, und er hielt Said eins von den beiden Hörrohren ans Ohr, sodaß dieser deutlich Werners Stimme unterscheiden konnte. Ja, jedes einzelne Wort vermochte er zu verstehen: »Guten Morgen, lieber Junge, ich gratuliere Dir, heut zu Tisch bin ich bei Dir und bringe Dir meinen Glückwunsch persönlich«, ließ sich Werner vernehmen.

»Jawohl, jawohl, freut mich sehr«, rief Haus zurück.

»Also auf Wiedersehen. Schluß.«

Aber Said hatte das Ende des Zwiegesprächs nicht mit angehört, mit höchst verschmitztem Gesicht hatte er die Thür zu dem Nebengemach aufgerissen, in der festen Überzeugung, daß Werner hinter der Thür stehen müsse und durch ein Loch in der Wand hindurchspräche, aber gänzlich verdutzt stand er da, als von Werner Dorn hier nicht die geringste Spur zu blicken war.

Hans mußte über das maßlose Erstaunen, von dem Saids Gesicht Zeugnis ablegte, jetzt laut auflachen, aber vergebens bemühte er sich, dem Kleinen mit einigen erklärenden Worten darzuthun, wie man durch Telephondrähte zwei weit von einanderliegende Orte verbindet, und wie der elektrische Draht die Stimme fortleitet in die fernsten Gegenden. Said wollte sich nicht überzeugen lassen, daß die Sache eine natürliche Erklärung hätte; mit ungläubigem Lächeln stand er da und war fest davon durchdrungen, daß sein Herr zaubern konnte. Er hatte in seiner Heimat einmal einen Derwisch gesehen, der brennendes Holz verschlang und lebende Schlangen, und diesem Wundermann stellte er unwillkürlich Hans an die Seite. Ja, es war ihm im Grunde nicht mal so sehr befremdend, daß sein Herr zu allein auch noch die Fähigkeit zu hexen besaß.

Eine neue Überraschung sollte Said noch am Nachmittag desselben Tages erleben, als Hans sein aus Groß-Tarnow eingetroffenes Geburtstagspacket öffnete, und unter verschiedenen schönen Sachen auch ein feines Opernglas in grauem Lederfutteral zum Vorschein kam. Hans ließ Said durch das Opernglas unten nach dem Platz herabschauen, und der Kleine erschrak förmlich, als die Menschen, die sich von oben gesehen wie Puppen ausnahmen, plötzlich ganz groß und deutlich vor ihm standen. Er setzte das Glas ab. gleich war alles wieder fern und klein, doch kaum führte er den Operngucker wieder an die Augen, so war alles wieder ganz groß und greifbar nah.

Werner, der seiner Absicht gemäß bei Hans zu Tisch gewesen, ergötzte sich mit dem Freunde an Saids sichtlichem Erstaunen, aber wieder war Said nicht völlig zu überzeugen, daß jedes beliebige Vergrößerungsglas dieselben Eigenschaften besäße, wie das bewundernswerte Opernglas seines Herrn. Gleich, als sei es die höchste Kostbarkeit, die das Futteral barg, streichelte er die Lederhülle und besah sich das Ding auch noch von außen von allen Seiten.

Hans erzählte mittlerweile Werner in bester Stimmung die große Neuigkeit, die ihm seines Tarnower Onkels Brief gebracht, und die ihm am Morgen so erfreut hatte.

Der Onkel hatte nämlich geschrieben, er wolle Hans als Geburtstagsgeschenk den braunen Wallach abtreten, den dieser in Groß-Tarnow letzthin so gern geritten und Hans möchte sich sein Eigentum am kommenden Sonntag selbst abholen. Das – meinte Hans – wollte er sich nicht zweimal sagen lassen, und bereits am Freitag Abend machte er sich diese Woche nach dem Landgut in der Prignitz auf, weil er es gar nicht erwarten konnte, sein Besitzerrecht anzutreten. In einem nahe seiner Wohnung belegenen Reitinstitut sollte das Tier untergebracht werden, und Hans freute sich bereits auf die morgendlichen Ritte im Tiergarten.

Fröhlichen Herzens kehrte er am Sonntag Abend heim und überwachte erst selbst das Ausladen seines Pferdes und die Ablieferung im Reitinstitut, ehe er sich nach Hause begab. Hier aber stürzte ihm Said zu seinem nicht geringen Schrecken, in Thronen aufgelöst, auf der Treppe entgegen, und in der Etagentür stand die gute Frau Rebling ebenfalls weinend, und wischte sich die Augen mit der Schürze.

»Was hat es denn gegeben?« fragte Hans bestürzt, aber keiner der Beiden war imstande zu antworten, Said schluchzte, als sollte ihm das Herz brechen, und Frau Rebling wischte krampfhaft an ihren Augen.

»So steht doch Rede und Antwort?« mahnte Hans eindringlich. »Sag' doch einer, was es gießt? habt Ihr beide Euch gezankt, oder ist ein Unglück passiert? He, Said, Junge, heule nicht so unvernünftig, was ist denn los?«

Said schluckte ein paarmal kräftig, wie, um seiner Erregung Herr zu werden, dann stieß er schmerzbewegt hervor: »Lorchen, Lorchen?«

»Lorchen«, wiederholte Hans, »ist die kleine Papageiendame krank, oder hat sie gar die Katze geholt?«

Erneutes Schluchzen folgte, dabei aber auch heftiges Kopfschütteln von Seiten Saids.

»Nein, nicht Katze. Lorchen Torte gefressen, schöne Geburtstagstorte.«

»Also, Lorchen ist doch krank und hat sich mal wieder überfressen«, meinte Hans, etwas beruhigt.

Aber Said fiel ihm ins Wort: »Lorchen nix krank, o, armes, armes Lorchen,« und wieder erstickte seine Stimme in Schluchzen, und es war ihm nicht möglich, die ganze Wahrheit über die Lippen zu bringen. Schweigend ergriff er seinen Herrn bei der Hand und zog ihn ins Eßzimmer, wo Lorchen mit ausgespreizten Flügeln unten – im Käfig auf dem Rücken lag, die kleinen Pfoten fest zusammengekrallt, und die Augen halb geschlossen.

Vor einer Stunde erst war sie gestorben und war schon beinah ganz kalt, um den Käfig herum aber lagen noch Watte und Wollbinden, und Näpfchen standen umher mit Wasser und Hafersüppchen, womit man die gute Lora, nachdem sie krank geworden, hatte kurieren wollen.

Am Freitag nach dem Mittagbrod hatte Lorchen noch auf Hans' Arm gemessen, und er selbst hatte sie auf der Sehne seines Stuhls abgesetzt, als er abgerufen wurde. Wie Said ins Zimmer kam, um abzuräumen, fand er Lora bei der Geburtstagstorte, an der sie mit emsigem Eifer pickte, und von der sie nur mit Gewalt fortzuscheuchen war. Aber die Mandeln in der Torte mußten für den kleinen Papageienmagen unzuträglich gewesen sein, denn am Sonnabend Morgen bereits saß Lorchen ganz traurig auf ihrer Stange, und verschmähte ihr Futter, was noch nie vorgekommen war. Alles warmeinpacken und lauwarme Milch einflößen half nicht, Sonntag Mittag begann sie plötzlich gar seltsam die Augen zu verdrehen und mit den Flügeln zu schlagen. Nun wurde Hafergrütze gekocht, doch die nahm sie gar nicht mehr, der Schnabel war so fest auf einander gepreßt, daß er sich nicht öffnen ließ, und noch ein paar mal reckte und streckte sie sich, dann war sie tot. Said und Frau Rebling waren völlig außer sich, und auch Hans war betrübt über den Verlust des hübschen Tieres, nur Joko hatte gar kein Verständnis für das, was um ihn her vorging. Er saß auf seiner Stange und pfiff vergnügter als je:

»Ach, du lieber Augustin,
Alles ist weg!«

Erst, als das Bauer neben ihm entfernt wurde, fiel ihm das auf, er legte den Kopf schief und schielte neugierig hinüber, und öfter während der nächsten Tage rief er: »Lorchen, Lorchen, Köpfchen kraulen«, oder, »was hast Du gesagt, mein Lorchen?« Aber, als keiner mehr darüber lachte, ließ er es von allein und hatte bald über neuen Redensarten die alten vergessen. Joko wurde jetzt noch mehr verwöhnt als früher, alle die Fürsorge, die er sonst mit Lora hatte teilen müssen, wandte sich auf ihn allein, und Said nahm ihn öfter als je aus dem Käfig, herzte und liebkoste ihn. Hans war in den schönen Frühlingstagen jetzt häufig auf langen Ritten draußen, und Said hatte daher volle Zeit für seinen Liebling, und nutzte diese aus.

Eines Tages kam Saids Herr besonders guter Laune nach Haus.

Rate mal, Said, was ich mir heute gekauft habe?«

Der kleine Schwarze sah fragend zu ihm auf.

»Du rätst es nicht«, fuhr Hans fort, »so will ich es Dir nur gleich sagen, denn es geht Dich auch an. Also höre: einen kleinen Korbwagen habe ich von einem Geschäftsbekannten unter der Hand erstanden, nun wird der braune Wallach eingespannt, ich kutschiere und Du fährst als Diener mit. Wird Dir das Spaß machen?«

Saids Augen blitzten vergnügt. Alles, was er mit seinem Herrn zusammen unternehmen konnte, war ihm an sich ein Vergnügen, und nun gar öfter, wohlmöglich täglich, neben ihm hoch zu Wagen durch die Welt zu kutschieren, das war Grund genug, auf der Stelle einen Luftsprung vor Freude zu machen.

Hans mußte lachen: »Also, morgen wird die erste Probefahrt gemacht, Junge, Frau Rebling soll Deine Livree nachsehen, ob sie auch nicht fleckig ist, daß Du mir hübsch schmuck und adrett antrittst, verstehst Du?«

Said hatte wohl verstanden, und damit sein Anzug ja nichts zu wünschen übrig ließe, machte er sich selbst daran, aufmerksam! und eifrig die staubigen und fleckigen Stellen seiner blauen Livree! mit Bürste und Benzin zu bearbeiten. Ja, Frau Rebling mußte feinem Eifer mit Gewalt Einhalt thun, da er im besten Zuge war, in das Tuch Löcher zu reiben. Er war unglaublich stolz, der! kleine Said, daß er mit seinem Herrn auskutschieren sollte, und in der Freude seines Herzens wählte er Joko zu seinem Vertrauten, um ihm die große Neuigkeit mitzuteilen.

»Joko, sage mal: Fahren, – fahren«, sprach er seinem Freund vor, »Said ausfahren – fahren – hör' wohl, fahren!«

»Fahren«, wiederholte der grüne Papagei deutlich, aber ausdruckslos, so daß es Said wenig befriedigte.

»Du weißt nicht, was das heißt, Joko«, belehrte dieser den Kameraden, »in feinem Wagen ausfahren, lange Straßen fahren, viele Menschen vorbeifahren, andere Menschen laufen, – Said fahren!«

Er warf sich stolz in die Brust, Joko aber schlug mit den bunten Flügeln, legte den Kopf gegen die Gitterstäbe und bat, wenig gesonnen, auf Saids Mitteilungen einzugehen, eigennützig: »Köpfchen kraulen.«

Mechanisch that es Said, aber er war nicht, wie sonst, mit dem Herzen dabei, und hielt nicht lange dabei aus.

»Jetzt ist genug, Joko,« entschied er bald, »adieu.«

»Adieu,« wiederholte der Papagei, er war von Said daran gewöhnt, jedem Morgen Hans, wenn dieser fortging, die kleine Kralle hinzuhalten und Adieu zu sagen, und dies »adieu« kam so menschlich und natürlich heraus, als sei es kein Vogel, der es ausspräche. Auch jetzt klang das Adieu klar und vernehmlich, und nicht mal betrübt, obgleich Joko viel lieber gesehen hätte, wenn ihn Said aus dem Käfig genommen und sich mit ihm abgegeben hätte. Aber er wollte sich auch ohnedem unterhalten: »adieu, adieu«, wiederholte er noch ein paarmal, dann lachte er »haha – haha« und fing aus voller Kehle an, sein Lieblingslied zu pfeifen:

»So leben wir, so leben wir,
So leben wir alle Tage.«

Said hatte mittlerweile die Thür hinter sich zugezogen und war die Treppe hinabgeeilt, um seiner frohen Stimmung im Freien Luft zu machen. Als er aber an der Thür der Portiersloge Guste mit der Schulmappe stehen sah, kam es ihm plötzlich in den Sinn, ob er diese nicht in seine freudigen Aussichten einweihen könnte.

Er stellte sich also neben sie und lachte sie an, sagte aber vorerst gar nichts.

»Was willst Du denn, Said?« sagte das Mädchen etwas betreten und wich einen Schritt zurück.

Der kleine Schwarze verzog seinen Mund zu einem breiten Grinsen.

»Said ausfahren, nix mehr laufen,« stieß er ziemlich unvermittelt hervor.

»Wa–as?« fragte die Kleine verwundert; und mit einer nicht mißzuverstehenden Bewegung ihres Zeigefingers nach der Stirn, fügte sie hinzu: »Hier rappelt's wohl, im Oberstübchen?«

Das verstand nun wieder Said nicht, aber es focht ihn wenig an und er bemühte sich zunächst seinerseits dem Mädchen klar zu machen, was er ihr hatte mitteilen wollen, und was ihn in so wesentlich gehobene Stimmung versetzt hatte.

Die kleine Portierstochter begriff bald, um was es sich handelte und verstand auch völlig die Wichtigkeit der Mitteilung zu schätzen. Daß ein kleiner Junge auf dem Kutscherbock eines schönen Wägelchens sitzen sollte, das war in der That etwas besonderes. Sie betrachtete Said von oben bis unten, dann sagte sie nachdenklich:

»Ja, Du hast es gut, Said, und bist doch nur ein Schwarzer.«

Said beachtete die Geringschätzung seiner Person, die in diesen Worten lag, nicht weiter, sondern hörte nur heraus, daß ihn das kleine blonde Mädchen vor ihm um sein großes Glück beneidete, was ihn in seiner Gutmütigkeit zu dem Versprechen veranlaßte: »Wenn ich ein groß Mensch bin, ich Dich ausfahren will, kleine Guste!« –

»Guste heiße ich,« verbesserte das Mädchen schnippisch.

»Gu–uste«, wiederholte Said schwerfällig, »kleine gute Gu–uste.«

Guste lachte: »Du kommst mir gar nicht wie ein rechter Junge vor, Said, Du siehst gerade wie ein Affe aus,« eröffnete sie dem kleinen Schwarzen nicht eben höflich. Dieser sah sie aber mit seinen großen, schwarzen Augen so gutherzig lachend an, daß sie sich bewogen fühlte hinzuzusetzen: »Nur Deine Augen sind nicht wie die von einem Affen, so falsch und boshaft. Du hast sogar hübsche Augen, Said.«

»Und Du hast gelbes Haar, kleine Gu–uste, wie Maiskolben,« meinte Said.

Doch Guste versetzte: »Mein Haar ist blond, goldblond, daß Du's nur weißt.«

»Gold«, wiederholte Said nachdenklich, »ja, Du hast Gold in Haar, Gold-Haar.«

Das schmeichelte Guste, sie hätte kein kleines Mädchen sein müssen, wenn ihr solche Huldigung nicht gefallen hätte.

»Wollen wir mal Kutscher und Pferd spielen, Said,« schlug sie vor und holte sogleich eine Leine herbei, um ihm zu zeigen, wie das Spiel anzufangen sei.

Said strahlte vor Vergnügen, und eben hatte sich der goldblonde Pony mit seinem schwarzen Kutscher in Bewegung gesetzt, quer über den breiten Platz vor dem Hause, als jenseits des Platzes auf der Brücke Bruder Emil auftauchte, der eben mit seinem Ranzen auf dem Rücken aus der Schule kam.

Mit wenigen Sätzen war er zwischen den Beiden, und heftig riß er Said die Leine aus der Hand.

»Was fällt Dir denn ein, Guste, mit dem schwarzen Kerl zu spielen?« herrschte er die Schwester an, »Du mit dem da! Pfui!«

Es lag eine solch tiefe Geringschätzung in dem Ton, daß es Said kränkte. Dadurch, daß er auf Emils Annäherungsversuche nicht eingegangen war, hatte er ihn sich zum erbitterten Feinde gemacht und Emil sah samt seinen Kameraden, wohl mit einiger Neugier, aber zugleich mit großer Nichtachtung auf den Schwarzen herab. Im ersten Augenblick fletschte Said die Zähne, gleich einem Raubtier, das beißen will, aber als er sah, wie Guste weinerlich den Mund verzog, ließ er davon ab, um die Kleine nicht noch mehr zu erschrecken. Guste gönnte ihm jedoch keinen Blick mehr, sondern ließ sich wortlos abführen, und Said folgte den beiden Geschwistern in entsprechendem Abstand betrübt und niedergeschlagen.



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