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Meine Zeit ist jetzt bald abgelaufen. Alles, was ich geschrieben habe, ist glücklich zum Gefängnis hinausgeschmuggelt worden. Es ist ein Mann, auf den ich mich verlassen kann, und er wird dafür sorgen, daß es veröffentlicht wird. Jetzt sitze ich nicht mehr am Mördergang. Ich sitze in der Totenzelle und schreibe; und eine Totenwache ist bei mir. Tag und Nacht ist die Wache da, die – wirklich lächerlich, ganz paradox – dafür sorgen soll, daß ich mir nicht das Leben nehme. Es gilt, mich am Leben zu erhalten, bis ich gehängt werden soll, damit Publikum und Gesetz nicht betrogen werden und dem nachlässigen Direktor, dessen Pflicht es ist, dafür zu sorgen, daß die Verurteilten ihre wohlverdiente Strafe erhalten, nicht ein schwarzer Stempel aufgedrückt wird. Oft habe ich darüber nachgedacht, welche merkwürdigen Lebenswege einem Menschen beschieden sein können.

Dies wird das letzte sein, das ich schreibe. Morgen früh geschieht es. Der Gouverneur hat ein Begnadigungsgesuch abgelehnt, obwohl die Liga für Menschenrechte in Kalifornien mächtigen Lärm geschlagen hat. Die Reporter sind wie zu einem offiziellen Empfang erschienen. Ich habe sie alle gesehen. Es sind komische junge Burschen, und das komischste an ihnen ist, daß sie Butter und Brot, Cocktails und Tabak, Miete und – wenn sie verheiratet sind – Schuhe und Schulbücher für ihre Kinder dadurch verdienen wollen, daß sie der Hinrichtung Professor Darrell Standings beiwohnen und dem Publikum beschreiben, wie dieser Verbrecher am Ende eines Stricks starb. Nun ja, wenn die Geschichte aus ist, wird ihnen schlechter zumute sein als mir.

Während ich über alles dies grüble, die Schritte der Totenwache vor meinem Käfig höre, ja, die ewig mißtrauischen Blicke auf mir ruhen fühle, ja, da ermüden mich fast diese ewigen Wiederholungen. Ich habe so viele Leben gelebt. Ich bin des endlosen Kampfes, Schmerzes und Unglücks müde, das die trifft, die auf den hohen Plätzen sitzen, die strahlenden Pfade betreten und zwischen den Sternen wandern.

Ich hoffe fest, das nächste Mal, wenn ich in eine neue Form gekleidet werde, ein friedlicher Landmann zu werden. Ich denke an den Hof, von dem ich geträumt habe! Wie gern möchte ich den ein ganzes Leben lang besitzen. Ach – mein Traumhof! Meine Wiesen, mein Jersey-Vieh, meine Weiden auf den Hängen – und noch höher oben meine Angoraziegen, die die Sträucher benagen.

Ein Teich ist da, ein natürlicher Teich, hoch auf den Hängen, von dem das Wasser nach drei Seiten abfließt, mit einer guten Wasserscheide auf drei Seiten. Auf der vierten, die überraschend schmal ist, möchte ich gern einen Deich ziehen. Mit sehr geringer Arbeit könnte ich zwanzig Millionen Gallonen Wasser aufspeichern. Denn seht, sehr störend für die Landwirtschaft in Kalifornien sind unsere langen trockenen Sommer. Die hindern das Wachstum des Getreides, und die empfindliche Erde wird von der Sonne zu reinem Staub gebacken und ausgebrannt. Wenn ich aber den Deich hätte, könnte ich dreimal jährlich ernten und einen Reichtum an Gründünger unterpflügen.

 

Ich habe soeben einen Besuch des Direktors erdulden müssen. Ich sage absichtlich »erdulden«. Er ist ganz anders als mein Freund Atherton. Er war sehr nervös – ich mußte ihn unterhalten. Es ist seine erste Hinrichtung, das erzählte er mir. Ich antwortete mit einem ungeschickten Versuch, witzig zu sein, der ihn durchaus nicht beruhigte, nämlich, daß es auch meine erste Hinrichtung sei. Er konnte nicht darüber lachen. Er hat eine Tochter auf der Hochschule und einen Jungen auf der Universität in Stanford. Außer seinem Gehalt hat er keine Einnahmen, seine Frau ist leidend, und er nimmt es sich sehr zu Herzen, daß die Versicherungsgesellschaften ihn als bedenklich abgelehnt haben. Ja, wirklich, der Mann erzählte mir all sein Mißgeschick. Wenn ich nicht auf diplomatische Weise seinem Interview ein Ende gemacht hätte, säße er wohl jetzt noch hier.

Meine beiden letzten Jahre in San Quentin waren sehr düster und niederschlagend. Ed Morrell war durch eine der wildesten Launen des Schicksals aus der Einzelzelle herausgeholt und zum Vertrauensmann des ganzen Gefängnisses gemacht worden. Es war die frühere Stellung Al Hutchins, und sie brachte ihm ein Einkommen von etwa 3000 Dollar jährlich. Zu meinem Unglück wurde Jake Oppenheimer, der solange gesessen hatte, der Welt und des Lebens überdrüssig und weigerte sich acht Monate lang, zu sprechen, selbst mit mir.

Im Gefängnis verbreiten sich Neuigkeiten, wenn sie nur Zeit genug haben. So gelangte die Nachricht auch schließlich zu mir, daß Cecil Winwood, der Dichter und Fälscher, der Feigling, der Spitzel, wegen eines neuen Betruges wiedergekommen war. Er war es ja gewesen, der die Geschichte mit dem Dynamit angezettelt hatte, die mich die fünf Jahre Einzelzelle kostete. Ich beschloß ihn totzuschlagen. Seht, Morrell war fort, Oppenheimer sprach nicht, bis der Ausbruch kam, der zu einem Ende führte. Die Einsamkeit war mir zu eintönig geworden. Ich mußte etwas tun.

Ich brauche nicht zu erzählen, wie ich in den Besitz der vier kleinen Nadeln gelangte. So schwach ich auch war, konnte ich doch vier eiserne Stangen, jede an zwei Stellen, durchsägen, um eine Öffnung zu bekommen, durch die ich hinauskriechen konnte. Ich tat es. Jede eiserne Stange beanspruchte zwei Monate. So hätte ich die Arbeit in acht Monaten leisten können, aber unglücklicherweise zerbrach meine letzte Nadel an der letzten Stange, und ich mußte drei Monate warten, ehe ich eine neue Nadel erhielt. Aber ich erhielt sie, und ich kam heraus.

Leider erwischte ich Cecil Winwood nicht. Ich hatte alles richtig gemacht, nur eines übersehen. Ich hatte die Sicherheit, ihn zu treffen, wenn ich zur Mittagszeit in den Eßsaal ging. Also wartete ich, bis Puddingfratzen-Jones, der schläfrige Wächter, eines Mittags Wache hatte. Ich war jetzt der einzige in den Einzelzellen, so daß der Wärter schnell einschlief. Ich entfernte die Stange, preßte mich hinaus, schlich mich an ihm vorbei, öffnete die Tür und war frei ... konnte im Gefängnis herumgehen.

Und jetzt trat der Umstand ein, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Meine eigene Schwäche! Fünf Jahre lang war ich in der Einzelzelle gewesen. Ich war entsetzlich schwach, ich wog siebenundachtzig Pfund. Ich war halb blind, und im selben Augenblick wurde ich von Platzangst gepackt. Ich fürchtete mich vor dem weiten Raum. Fünf Jahre in den engen Wänden hatten mich so weit gebracht, daß ich den mächtigen freien Raum des Gefängnishofes und die Steilheit der Treppe scheute. Daß ich diese Treppe hinaufstieg, halte ich für die größte Heldentat meines Lebens. Der Hof war leer. Die blendende Sonne badete ihn. Dreimal versuchte ich, ihn zu überschreiten, aber ich konnte nicht. Ich wich an die Mauer zurück, um Schutz zu suchen. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und versuchte es abermals. Aber meine armen verschleierten Augen schlugen mich mit Schrecken durch meinen eigenen Schatten auf dem Steinpflaster. Ich versuchte, meinen Schatten zu meiden, stolperte aber und fiel über ihn und kroch auf allen vieren wieder zu mir zurück.

Ich lehnte mich gegen die Mauer und weinte. Es war das erstemal seit vielen Jahren, daß ich weinte. Ich erinnere mich, daß ich selbst in meinem Elend die Wärme der Tränen auf meinen Wangen und ihren Salzgeschmack auf meinen Lippen spürte. Dann schauerte mich vor Kälte, und ich zitterte wie im Fieber. Jetzt versuchte ich, die andere Seite des Hofes zu gewinnen, indem ich mich an der schützenden Mauer entlang schlich.

Da erblickte Wärter Thurston mich. Ich sah ihn (ein großes, wohlgenährtes Ungeheuer, so erschien er meinen halbgeblendeten Augen) mit unglaublicher Schnelligkeit von weitem auf mich losgeschossen kommen. In Wirklichkeit waren es vielleicht zwanzig Fuß. Den Kampf zwischen uns kann sich wohl jeder denken, aber dabei geschah es, daß ich ihn mit meiner geballten Faust auf die Nase traf, so daß sie aufsprang und blutete – heißt es. Nun, jedenfalls wurde ich, da ich Lebenslänglicher war und die Strafe für einen Lebenslänglichen in Kalifornien für einen Überfall stets der Tod ist, von einer Jury, die die Behauptungen Wärter Thurstons und die andern nicht ignorieren konnte, für schuldig erklärt und von einem Richter, der das Gesetz auch nicht ignorieren konnte, gerichtet.

Ich erhielt ein gut Teil von Thurston und wurde auf dem Rückwege über die wunderbare Treppe von der Herde Henkersknechte, die übereinander stolperte, nur um ihm zu helfen, tüchtig getreten, geschlagen und gepufft. Ja, wenn seine Nase blutete, so konnte das gut einer seiner ungewandten Helfer besorgt haben. Mir würde es freilich nicht leid tun. wenn ich wirklich die Ursache wäre – aber das ist verflucht wenig, um einen Menschen zu hängen ...

Ich habe soeben mit dem neuen Wärter vor meinem Käfig gesprochen. Vor weniger als einem Jahr saß Jake Oppenheimer in derselben Zelle wie jetzt ich – auch auf dem Wege zum Galgen. Derselbe Mann bewachte Jake, es ist ein alter Soldat. Er kaut beständig und so unappetitlich Tabak, daß sein grauer Bart ganz gelb gefleckt ist. Er ist Witwer und hat vierzehn lebende Kinder, die alle verheiratet sind, und er ist Großvater von einunddreißig lebenden Enkeln und Urgroßvater von vier kleinen Mädchen. Diese Auskünfte aus ihm herauszuziehen, war so schwer wie Zähneziehen. Er ist ein seltsamer alter Fisch, überaus einfältig. Das ist, denke ich, der Grund, daß er so lange leben und so zahlreiche Nachkommen haben durfte. Sein Geist muß vor mindestens dreißig Jahren erstarrt sein. Seine Gedanken sind nicht von jüngerem Jahrgang. Selten sagt er etwas anderes als ja und nein. Nicht, daß er hochmütig wäre. Er hat nur keine Gedanken auszusprechen. Ich weiß nicht, wann ich wieder leben soll, aber eine Inkarnation wie die seine müßte ein angenehmes vegetatives Dasein zum Ausruhen sein, ehe ich mich wieder auf die Sternenwanderung begebe ...

Doch zurück zu meiner Erzählung. Es war eine ungeheure Erleichterung für mich, wieder in meiner engen Zelle zu sein, nachdem ich mit Fußtritten von Thurston und seinen Kumpanen die furchtbare Treppe hinaufexpediert war. Hier war es so sicher. Ich fühlte mich wie ein Kind, das fortgewesen und wieder heimgekommen war. Ich liebte diese vier Wände, die ich fünf Jahre lang gehaßt hatte. Alles, was mich davor schützte, das Riesenhafte des Raumes, das wie ein blutdürstiges Ungeheuer über mir zusammenbrach, waren diese vier festen Mauern so dicht bei mir. Platzangst ist eine entsetzliche Heimsuchung. Ich habe nur wenig Gelegenheit gehabt, sie kennenzulernen, aber aus dem Wenigen kann ich doch verstehen, daß es ein leichtes sein muß, gehängt zu werden.

Ich habe soeben herzlich gelacht. Der Gefängnisarzt, ein braver Bursche, ist hier gewesen, um mit mir zu reden und mir seine Hilfe in Form eines Betäubungsmittels anzubieten. Selbstverständlich dankte ich für sein Anerbieten, mich heute nacht so voll von Morphium zu spritzen, daß ich morgen nicht ahnte, ob ich auf dem Hin- oder Rückwege wäre, wenn es zum Galgen ginge.

Aber das, worüber ich lachte, war etwas anderes. Das sieht Jake Oppenheimer ähnlich. Ich kann ihn vor mir sehen, wie er sich über die Reporter lustig machte, die es wohl nicht für Absicht hielten. Es war sein letzter Morgen. Nach dem Frühstück stand er in seinem kragenlosen Hemd da, die Reporter standen um ihn her in der Zelle, und einer von ihnen fragte ihn nach seiner Meinung über die Todesstrafe.

Wer kann behaupten, daß wir mehr als eine dünne Schicht Zivilisation über unserer alten rohen Wildheit haben, wenn eine Gruppe lebender Menschen eine solche Frage an einen Mann richten kann, der sterben soll, und den sie selbst sterben sehen wollen? Aber Jake war auf der Höhe der Situation. »Meine Herren«, sagte er, »ich hoffe den Tag zu erleben, da die Todesstrafe abgeschafft wird.«

Ich habe manches Leben gelebt. Der Mensch hat als Individuum in den letzten zehntausend Jahren keine moralischen Fortschritte gemacht, das behaupte ich mit Bestimmtheit. Der Unterschied zwischen einem ungebändigten Pferd und dem geduldigen Zugtier ist nur ein Unterschied im Training. Training ist der einzige moralische Unterschied zwischen den Menschen von heute und den Menschen vor zehntausend Jahren. Unter seiner dünnen Schicht von Moral ist er derselbe Wilde wie damals. Moral ist ein soziales Kapital, ein Zuwachs, den die schweren Zeiten veranlaßt haben. Das neugeborene Kind würde ein Wilder werden, wenn es nicht trainiert, mit der abstrakten Moral poliert würde, die so viel Zeit brauchte, sich aufzuhäufen.

»Du sollst nicht töten« – bravo! Morgen werden sie mich töten. Auf den Werften aller zivilisierten Länder legen, sie die Kiele zu Dreadnoughts und Superdreadnoughts. Liebe Freunde, ich, der ich jetzt sterben soll, grüße euch – bravo! Ich frage euch, wird heute eine bessere Moral gepredigt als die, welche von Christus, von Buddha, von Sokrates und Plato, von Confucius und dem geprägt wurde, der die »Mahabharata« schrieb? Großer Gott, vor fünfzigtausend Jahren waren unsere Frauen reiner, unsere Familienverhältnisse geradliniger.

Ich muß sagen, daß die Moral, die wir in alten Tagen übten, feiner war als die, welche heut geübt wird. Weist diese Gedanken nicht allzu rasch von euch! Denkt an unsere Ausnutzung der Kinderarbeit, an unser politisches Unwesen, unsere politische Korruption, unsere Nahrungsmittelfälschungen, unsere Sklaverei von den Töchtern der Armen. Als ich ein Sohn der Berge war, gab es keine Prostitution. Wir waren rein, sage ich euch, ja, und die Tiere sind es noch! Es gehört ein Mensch dazu, um mit dieser Einbildungskraft und mit Hufe seiner Beherrschung des Stoffes die Todsünde zu erfinden. Geringere Tiere, die andern Tiere, kennen die Sünde nicht. Ich überfliege hastig meine vielen Existenzen. Nie habe ich eine furchtbarere Grausamkeit gekannt als die unseres heutigen Gefängnissystems. Ich habe erzählt, was ich in der Zwangsjacke und in der Einzelzelle im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts, des zwanzigsten nach Christus, erduldet habe. In alten Tagen straften wir drastisch und töteten schnell; Wir taten es aus Lust, wenn ihr wollt! Aber wir waren keine Heuchler. Wir riefen nicht nach Presse, Kanzel und Universität, um die Ausschweifungen unserer Wildheit zu sanktionieren. Was wir zu tun wünschten, das taten wir mit erhobener Stirn, und wir versteckten uns nicht hinter den Röcken von Statistikern, Philosophen, staatlich angestellten Priestern und Redakteuren. Du lieber Himmel, vor hundert Jahren war Überfall in den Vereinigten Staaten kein Verbrechen, das mit dem Tode bestraft wurde. Aber jetzt, im Jahre des Herrn 1913, haben sie in Kalifornien wegen eines solchen Verbrechens Jake Oppenheimer gehängt und morgen hängen sie mich, weil ich einem Manne die Nase blutig geschlagen habe. Herr, Herr, Christus kreuzigten sie nur. Aber weit schlimmer ist, was sie mit Jake Oppenheimer und mir getan haben ...

Ed Morrell klopfte mir einmal zu: »Der schlimmste Gebrauch, den man von einem Mann machen kann, ist, daß man ihn hängt.« Nein, ich habe nur wenig Respekt vor der Todesstrafe, nicht nur, daß sie etwas Gemeines, Schmutziges ist, das die Henker, die es für Geld tun, entwürdigt, sie ist auch entwürdigend für alle Bürger des Staates, die sie dulden und für sie stimmen und Steuer zu ihrer Erhaltung bezahlen. Todesstrafe ist auch dumm, so furchtbar unwissenschaftlich – »am Halse aufgehängt werden, bis er stirbt« darin liegt die ganze Phrasenhaftigkeit der menschlichen Gesellschaft ...

Der Morgen ist gekommen – mein letzter Morgen. Ich schlief die ganze Nacht wie ein Kind. So friedlich schlief ich, daß der Wärter erschrak. Er glaubte, ich hätte mich in den Decken erstickt. Die Angst des armen Burschen war kläglich, stand doch seine Stellung auf dem Spiele. Es hätte vielleicht seine Entlassung bedeutet, und die Aussichten für einen Arbeitslosen sind für diesen Augenblick schlecht. Man erzählt, daß Europa vor zwei Jahren zu liquidieren begann, und daß die Staaten jetzt begonnen haben. Das bedeutet entweder eine geschäftliche Krise oder eine stille Panik und eine Vergrößerung des Heeres der Arbeitslosen zum nächsten Winter. Ich habe gefrühstückt. Man sollte meinen, daß es etwas Seltsames war, aber ich aß mit glänzendem Appetit. Der Direktor kam mit einer Flasche Whisky. Ich schickte sie mit einem Gruß in den Mördergang. Der Direktor, der Ärmste, fürchtet, daß ich, wenn ich nicht berauscht wäre, das Programm und seine Anweisungen durchkreuzen würde.

 

Ich scheine heute eine sehr wichtige Persönlichkeit zu sein. Eine Menge Menschen haben plötzlich Interesse für mich bekommen.

 

Der Arzt ist soeben gegangen. Er hat mir den Puls gefühlt, ich bat ihn darum, er ist normal.

 

Jetzt haben sie mir das Hemd ohne Kragen angezogen ...

 

Ich schreibe diese zufälligen Gedanken nieder, und – blattweise gehen sie ihren geheimen Weg – nach draußen.

Ich bin der Ruhigste hier, ich bin wie ein Kind, das eine Reise antreten soll. Mir liegt daran, fortzukommen. Ich bin neugierig auf das Neue, das ich sehen soll. Die Furcht vor dem Tode ist lächerlich für einen, der so oft in die Finsternis hinausgegangen ist und wieder gelebt hat ...

 

Der Direktor mit einer Flasche Champagner. Auch die habe ich nach dem Mördergang geschickt. Merkwürdig, nicht wahr, daß man heute so viel Rücksicht auf mich nimmt? Die, welche mich totschlagen, müssen sich selbst vor dem Tode fürchten. Um Jake Oppenheimer zu zitieren:

»Ich, der ich jetzt sterben soll, muß ihnen wie etwas ›Göttlich-Grauenhaftes‹ erscheinen ...«

 

Ed Morrell hat mir soeben einen Gruß geschickt. Sie sagen, daß er die ganze Nacht vor dem Gefängnis auf und ab gewandert ist. Als früherem Gefangenen haben sie ihm verboten, hereinzukommen und mir Lebewohl zu sagen. Bestien? Oh, ich weiß nicht. Vielleicht nur Kinder. Ich wette, daß die meisten von ihnen sich heute nacht, nachdem sie mir den Hals gestreckt haben, vor dem Alleinsein fürchten werden.

Aber Ed Morrells Botschaft: »Meine Hand in deiner, alter Freund. Ich weiß, daß du keine Angst hast.«

 

Jetzt sind die Reporter gegangen. Ich werde sie bald wiedersehen – zum letzten Male – vom Schafott aus, ehe mir der Henker die schwarze Kapuze über das Gesicht zieht. Sie werden lächerlich schlecht aussehen. Komische junge Burschen. Einige von ihnen sehen aus, als hätten sie getrunken. Zwei oder drei waren schon im voraus krank bei dem Gedanken an das, was sie sehen sollen. Es scheint leichter zu sein, gehängt zu werden, als zuzusehen ...

Meine letzten Zeilen. Es scheint, daß ich die Prozession aufhalte. Meine Zelle ist ganz überfüllt von Beamten und Würdenträgern. Alle sind nervös und wünschen, daß erst alles vorbei sein möge. Zweifellos sind einige von ihnen zum Mittagessen eingeladen. Es tut mir leid für sie, daß ich diese wenigen Worte schreibe. Der Geistliche hat mich nochmals gebeten, während des letzten bei mir sein zu dürfen. Armer Mann, warum sollte ich ihm diesen Trost versagen? Ich habe eingewilligt, und er sieht ganz belebt aus. Es gehört ja nur so wenig dazu, viele Menschen zu erfreuen. Ich könnte gut fünf Monate lang herzlich lachen, wenn sie nur nicht solche Eile hätten.

Hier schließe ich. Ich kann nur wiederholen, was ich gesagt habe: Es gibt keinen Tod. Leben ist Geist, und Geist kann nicht sterben. Der Körper stirbt und vergeht. Nur der Geist bleibt und führt uns durch aufeinanderfolgende, unzählige Inkarnationen auf seinem Wege zum Licht empor. Was werde ich sein, wenn ich wieder lebe? Ich möchte es wissen! Ich möchte es wissen ...

 

 


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