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Und jetzt muß ich erzählen, wie die vierzig Lebenslänglichen in die Stille meiner Zelle einbrachen. Ich schlief, als die Tür zum Korridor aufgerissen und ich dadurch geweckt wurde. »Irgendein armer Teufel«, dachte ich, und mein nächster Gedanke war, daß er sicher mehr bekam, als ihm gut tat, als ich auf die schleppenden Schritte, das dumpfe Klatschen von Schlägen auf den bloßen Körper und plötzliche Schmerzensschreie, schmutzige Flüche und das Geräusch von fortgeschleppten Körpern hörte. Jeder Mann wurde nämlich den ganzen Weg getragen oder geschleppt.

Eine Zellentür nach der andern wurde aufgerissen und ein Körper nach dem andern hineingeschoben, -geworfen oder -geschleppt. Beständig kamen neue Gruppen von Wärtern mit ausgepeitschten Gefangenen, die immer noch geprügelt wurden, und immer mehr Zellentüren öffneten sich, um die blutigen Körper von Männern aufzunehmen, die sich der Sehnsucht nach ihrer Freiheit schuldig gemacht hatten.

Ja, wenn ich daran zurückdenke – ein Mann muß ein gut Teil von einem Philosophen sein, um jahrelang Gegenstand einer so tierischen Behandlung sein zu können und es zu überleben. Ich bin ein solcher Philosoph. Ich habe ihre Peinigungen acht Jahre lang ertragen, und jetzt zuletzt, da es ihnen nicht geglückt ist, mich auf andere Art loszuwerden, lassen sie die Staatsmaschinerie einen Strick um meinen Hals legen und mir die Kehle durch das Gewicht meines eigenen Körpers zuschnüren. Oh, ich kenne schon das sachkundige Urteil, das die Sachverständigen abgegeben haben, wie der Fall durch die Falltür dem Opfer den Hals bricht. Und diese Opfer kommen ja, wie der Reisende bei Shakespeare, nie wieder, um das Gegenteil zu beweisen. Wir aber, die im Gefängnis gelebt haben, wir kennen Fälle, die verschwiegen werden – Fälle, in denen der Hals des Opfers nicht gebrochen wurde.

Es ist eine komische Sache, einen Menschen zu hängen. Ich habe nie einer Hinrichtung beigewohnt, aber ich habe von Augenzeugen Einzelheiten über ein Dutzend erfahren, so daß ich weiß, was mit mir geschehen wird. Wenn ich, an Armen und Beinen gebunden, den Knoten im Nacken und die schwarze Kapuze über dem Gesicht, auf der Falltür stehe, werden sie mich stürzen lassen, bis der Fall plötzlich durch das Straffen des Stricks unterbrochen wird. Dann scharen sich die Ärzte um mich, und einer nach dem andern wird der Reihe nach auf einen Stuhl steigen und, die Arme um mich geschlungen, damit ich nicht wie ein Pendel hin- und herschwinge, das Ohr dicht an meine Brust pressen und meine verlöschenden Herzschläge zählen; zuweilen vergehen, nachdem die Falltür sich geöffnet hat, zwanzig Minuten, ehe das Herz zu schlagen aufhört. Ja, glauben Sie mir, auf die wissenschaftlichste Methode vergewissert man sich, daß ein Mann wirklich tot ist, wenn man ihn erst am Ende eines Stricks angebracht hat.

Ich schweife immer wieder von meiner Erzählung ab, um der menschlichen Gesellschaft diese oder jene Frage zu stellen. Ich muß doch das Recht haben zu fragen, denn binnen kurzem holen sie mich heraus und tun dies mit mir. Wenn wirklich der Halswirbel des Opfers durch dieses geschickte Arrangement mit Knoten und Schlinge und durch die schlaue Berechnung vom Gewicht des Opfers und der Länge des Falles gebrochen wird, warum binden sie dann die Arme des Opfers? Die Gesellschaft kann diese Frage nicht beantworten. Aber ich weiß, warum es geschieht, und das weiß auch jeder Amateur, der dabei war, wenn ein Mann gelyncht wurde, und gesehen hat, wie das Opfer die Hände hob, den Strick faßte und dadurch die Schlinge um seinen Hals lockerte, so daß er atmen konnte.

Noch eine Frage will ich an das gutsituierte, gut konservierte Mitglied der Gesellschaft stellen, dessen Seele sich nie in die roten Höllen verirrt hat: Warum zieht man dem Opfer die schwarze Kapuze über Kopf und Gesicht, ehe man es durch die Falltür fallen läßt? Seien Sie so gut und erinnern Sie sich, daß man binnen kurzem die schwarze Kapuze über meinen Kopf ziehen wird. Ich habe also ein Recht zu fragen. Ob das, mein verdienstvoller Mitbürger, wohl daher kommt, daß Ihre Henkersknechte sich davor fürchten, das Entsetzen im Gesicht des Opfers vor dem Grauenhaften zu sehen, das sie für Sie und in Ihrem Namen betreiben?

Seien Sie so freundlich und erinnern Sie sich, daß ich diese Frage nicht im zwölften Jahrhundert nach Christus oder zur Zeit Christi oder zwölf Jahrhunderte vor Christus stelle. Ich, der im Jahre 1913 nach Christus gehängt werden soll, stelle diese Frage an Sie, die vermutlich Christen sind, an Sie, deren Henkersknechte mich hinausführen und mein Gesicht mit einer schwarzen Kapuze verhüllen, weil sie das Entsetzliche, das sie mir antun, nicht zu sehen wagen, wenn ich noch am Leben bin.

Und nun zurück zu der Situation in dem Gefängniskeller. Als der letzte Wärter ging und die Korridortür zuschlug, begannen alle die vierzig verprügelten und enttäuschten Männer zu reden und zu fragen. Aber beinah im selben Augenblick gebot Skysegel-Jack, ein riesiger Seemann, mit seiner Donnerstimme Schweigen, damit eine Zählung abgehalten werden könnte. Die Gefängniskeller waren voll, und aus Zelle auf Zelle ertönte nacheinander das Hier! der Gefangenen. Auf die Art wurde man sich darüber klar, daß die Zellen nur von Gefangenen besetzt waren, auf die man sich verlassen konnte, und daß kein Spitzel irgendwo versteckt liegen und lauschen konnte.

Nur über mich herrschte Zweifel, denn ich war der einzige, der das Komplott nicht mitgemacht hatte. Ich mußte ein genaues Examen über mich ergehen lassen. Ich konnte ihnen nur erzählen, wie ich am selben Morgen aus Einzelzelle und Zwangsjacke herausgekommen und ohne weiteres, ohne einen mir bekannten Grund, nach nur wenigen Stunden wieder hinuntergebracht war. Mein Ruf als Unverbesserlicher nützte mir hier, und bald begannen sie zu reden.

Wie ich da lag und lauschte, hörte ich zum erstenmal von dem beabsichtigten Fluchtversuch. »Wer hat uns verpfiffen?« lautete ihre einzige Frage, und die ganze Nacht wurde die Frage erörtert. Cecil Winwood fehlte, und der Verdacht richtete sich allgemein gegen ihn.

»Es ist nur eins zu machen, Jungens«, sagte Skysegel-Jack schließlich. »Es ist bald Morgen, und dann holen sie uns und machen uns die Hölle heiß. Wir sind auf frischer Tat, voll angekleidet, erwischt. Winwood hat uns zum Narren gehalten und uns verpfiffen. Sie werden uns, einen nach dem andern, vernehmen und uns vertrimmen. Wir sind vierzig. Jede Lüge wird bald herauskommen. Jeder von uns muß deshalb, wenn sie ihn verhören, alles sagen, wie es ist, ohne Umschweife – die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr Gott ihm helfe!«

Und in diesem finstern, von der Unmenschlichkeit von Menschen geschaffenen Loch schwuren diese vierzig Lebenslänglichen, die Lippen gegen das eiserne Gitter gepreßt, einander ihren heiligsten Eid, nur die Wahrheit zu sagen.

Nur wenig half ihnen ihre Wahrheitsliebe. Um neun Uhr kamen die Wärter; ausgeschlafen und vollgefressen waren sie, diese Banditen, die von den satten Bürgern bezahlt sind, welche den Staat ausmachen. Wir hatten kein Frühstück bekommen, nicht einmal Wasser. Und geprügelte Männer bekommen leicht Fieber. Gott weiß, ob jemand von Ihnen, liebe Leser, auch nur ahnt, was es heißt, hier im Gefängnis geprügelt zu werden. Aber nein, ich will nicht davon reden. Lassen Sie sich damit begnügen, wenn Sie wissen, daß diese geprügelten, fiebernden Männer sieben Stunden lang ohne Wasser lagen.

Um neun Uhr kamen die Wärter. Es waren nicht viele. Das war nicht nötig, da sie immer nur einen Käfig auf einmal öffneten. Sie waren mit eisernen Haken versehen – ein praktisches Werkzeug, um einem hilflosen Mann »Disziplin beizubringen«. Aus einem Käfig nach dem andern holten sie die Gefangenen heraus und verprügelten sie. Sie waren unparteiisch. Ich erhielt dieselbe Behandlung wie die andern. Und das war nur der Anfang, das Vorspiel zu der Untersuchung, die jeder für sich allein von den bezahlten Bestien des Staates über sich ergehen lassen mußte. Es war ein Vorgeschmack dessen, was eines jeden im Untersuchungsraum wartete.

Ich bin durch die meisten roten Höllen des Gefängnislebens gegangen, aber am schlimmsten von allem, weit schlimmer als das, was sie binnen kurzem mit mir zu tun gedenken, war die Hölle der Gefängniskeller in den jetzt folgenden Tagen. Der lange Bill Hodge, der harte Gebirgsler, war der erste, der zum Verhör kam. Zwei Stunden darauf kam er wieder, oder vielmehr, sie brachten ihn wieder und warfen ihn auf den steinernen Fußboden der Zelle. Dann holten sie Luigi Polazzo, einen San Franziskoer Vagabunden, Sohn italienischer Einwanderer, und er verhöhnte sie und forderte sie auf, das Schlimmste mit ihm zu tun.

Es dauerte eine Weile, ehe Bill Hodge soweit Herr über seine Schmerzen war, daß er zusammenhängend reden konnte.

»Was ist das mit dem Dynamit?« fragte er. »Wer hat etwas von Dynamit gehört?«

Natürlich wußte keiner etwas davon, obwohl es der ewige Kehrreim des Verhörs gewesen war.

Als kaum zwei Stunden vergangen waren, kam Luigi Polazzo wieder, und er kam als ein im Fieberrausch lallendes Wrack, unfähig, die Fragen zu beantworten, die den widerhallenden Gefängniskorridor entlang auf ihn herabhagelten von Männern, die noch zugute hatten, was er bekommen hatte, und die wissen wollten, was mit ihm geschehen war und welche Fragen man an ihn gestellt hatte.

Zweimal in den nächsten achtundvierzig Stunden wurde Luigi hinaufgeholt und verhört. Danach kam er als sabbelnder Idiot nach Bughouse Alley. Er hat eine starke Konstitution. Seine Schultern sind breit, seine Brust ist hoch, sein Blut ist gesund; er wird noch lange, nachdem ich meine Luftfahrt gemacht und von den Foltern in den Strafanstalten Kaliforniens befreit bin, in Bughouse Alley sabbeln und lallen.

Mann auf Mann wurde geholt, immer einer auf einmal, und Menschenwracks wurden wiedergebracht, eines nach dem andern, um in der Finsternis zu toben und zu heulen.

Unterdessen wuchsen die Schrecken der Gefängniskeller nach der Entdeckung des Fluchtkomplotts. Und nicht einen Augenblick verließ mich in diesen unendlichen Wartestunden der Gedanke, daß ich all diesen andern Gefangenen folgen, dieselbe Inquisitionshölle wie sie erleben und als Wrack zurückgebracht und auf den steinernen Fußboden meiner Zelle mit den Steinwänden hinter der eisernen Tür geworfen werden sollte.

Sie kamen. Mit Knüffen und Flüchen zogen sie mich fort, und dann stand ich Angesicht zu Angesicht mit Inspektor Jamie und Direktor Atherton, von einem halben Dutzend dieser gekauften, mit Steuern bezahlten Hunden von Wächtern des Staates umgeben, die zugegen waren, um zur Hand zu sein. Aber es war nicht nötig.

»Setz dich«, sagte Direktor Atherton und zeigte auf einen bequemen Armlehnstuhl.

Ich war zerschlagen, und alle Glieder schmerzten mir, ich hatte eine ganze Nacht und einen ganzen Tag kein Wasser bekommen, war schwach vor Hunger, geschwächt durch Peitschen als Zulage zu fünf Tagen Dunkelzelle und achtzig Stunden Zwangsjacke, niedergeschlagen vom Unglück und besorgt bei dem Gedanken, was jetzt mit mir geschehen sollte nach dem, was ich mit den andern hatte geschehen hören – ich, ein armer Heimatloser, früherer Professor der Landwirtschaft in einer ruhigen Universitätsstadt, und ich zögerte, der Aufforderung zu folgen und mich zu setzen.

Direktor Atherton war ein großer, sehr kräftiger Mann. Seine Hände packten meine Schultern. Ich war wie ein Strohhalm in seiner Macht. Er hob mich hoch und schleuderte mich auf den Stuhl.

»So«, sagte er, während ich nach Atem rang und meinen Schmerz verbiß, »nun erzähle mir alles, Standing, heraus damit, wenn du dir klar darüber bist, was dir frommt.«

»Ich weiß ja gar nicht, was vorgegangen ist ...«, begann ich.

Weiter kam ich nicht. Mit einem Gebrüll und einem Sprung war er über mir. Wieder hob er mich hoch und schleuderte mich auf den Stuhl.

»Keine Ausflüchte, Standing«, warnte er mich. »Erzähle lieber alles. Wo ist das Dynamit?«

»Ich weiß nichts von Dynamit«, protestierte ich. Wieder wurde ich hochgehoben und auf den Stuhl geschleudert.

Ich habe mancherlei Torturen erduldet, wenn ich aber jetzt, in meinen letzten Stunden, in Ruhe darüber nachdenke, so bin ich sicher, daß keine Tortur dieser gleichkam. Aus dem schweren Stuhl hämmerte mein Körper jede Ähnlichkeit mit einem Stuhl heraus. Ein anderer Stuhl wurde hingesetzt und allmählich ebenso zerstört. Aber es wurden immer neue Stühle gebracht, während man das ewige Ausfragen nach dem Dynamit fortsetzte. Als der Direktor müde war, sprang der Inspektor für ihn ein, dann löste Schutzmann Monohan Inspektor Jamie ab, und immer wieder wurde ich auf den Stuhl geschleudert. Unaufhörlich lautete es: Dynamit, Dynamit! Wo ist das Dynamit? – Und es gab ja gar kein Dynamit. Ja – zuletzt würde ich einen großen Teil meiner unsterblichen Seele für ein paar Pfund Dynamit ausgeliefert haben, wenn ich sein Vorhandensein hätte gestehen können.

Ich weiß nicht, wieviel Stühle unter meinem Körper zerbrachen. Immer wieder wurde ich ohnmächtig, und schließlich war mir alles wie ein böser Traum. Dann wurde ich in die Dunkelheit zurück halb getragen, halb geschleppt. Dort fand ich, als ich endlich wieder zum Bewußtsein kam, einen Spitzel in der Zelle. Es war ein kleiner blasser Opiumfresser, der nur kurze Zeit zu sitzen hatte, einer von denen, die glauben, für ein bißchen von ihrem Gift alles bekommen zu können. Sobald ich ihn erkannte, kroch ich an das Gitter und rief in den Korridor hinaus:

»Ein Spitzel ist bei mir, Jungens! Ignatius Irvine! Paßt auf, was ihr sagt!«

Das Gebrüll der Erbitterung, das sich erhob, hätte einen tapfereren Mann als Ignatius Irvine erschüttert. Er war kläglich in seiner Angst, während alle die gefolterten Lebenslänglichen ringsum wie die wilden Tiere heulend riefen, was sie mit ihm machen würden, wenn sie ihn einmal zu fassen kriegten.

Hätte ein Geheimnis vorgelegen, so würde die Gegenwart eines Spitzels in den Strafzellen sie zum Schweigen gebracht haben. Da sie ja aber alle geschworen hatten, die Wahrheit zu sagen, so sprachen sie frei heraus, trotz seiner Gegenwart. Das große Rätsel war das Dynamit, von dem sie ebensowenig etwas ahnten wie ich. Sie baten mich, bettelten mich an, zu gestehen, falls ich etwas von dem Sprengstoff wüßte, und sie dadurch alle aus ihrem Elend zu erretten. Ich konnte nur wahrheitsgetreu antworten, daß ich nichts davon ahnte.

Eines erzählte der Spitzel mir, ehe er fortgebracht wurde, und das zeigte, wie ernst die Geschichte war. Selbstverständlich erzählte ich es weiter: Nicht eine Maschine im ganzen Gefängnis lief an diesem Tage. All die Tausende von Sträflingen blieben in ihren Zellen eingeschlossen, und man meinte, daß nicht eine einzige Werkstatt des Gefängnisses wieder eröffnet würde, ehe das Dynamit gefunden war, das irgend jemand im Gefängnis versteckt hatte.

Und die Verhöre gingen weiter. Immer wieder wurden die Gefangenen, einer nach dem andern, durch den Korridor hinausgezogen und wieder zurückgeschleppt oder -getragen. Sie erzählten, daß der Direktor und der Inspektor sich in ihrer Erschöpfung alle anderthalb Stunden ablösten. Wenn der eine schlief, verhörte der andere. Sie schliefen angekleidet in demselben Zimmer, wo große starke Männer, einer nach dem andern, mißhandelt wurden.

Mit jeder Stunde stieg der Schrecken unserer Qual in den dunklen Strafzellen. Ja, glauben Sie mir, denn ich weiß es – gehängt zu werden, ist eine Kleinigkeit gegen alles das, was einem lebenden Menschen angetan werden kann, ohne ihm das Leben zu nehmen. Ich litt dieselbe Qual und denselben Durst wie die andern, und dazu kam, daß ich auch noch mit meinen Leidensgefährten fühlte. Seit zwei Jahren gehörte ich zu den Unverbesserlichen, und meine Nerven und mein Gehirn waren daher im Dulden und Ertragen geübt. Es ist schrecklich zu sehen, wie ein stärker Mann geknickt wird und zusammenbricht. Und ich sah vierzig starke Männer unter ihren Leiden zusammenbrechen. Immer wieder hörte man nach Wasser rufen, und der Ort wurde wie ein Tollhaus, das von dem Weinen und Jammern, dem Lallen und Rasen delirierender Menschen widerhallte.

Eben der Umstand, daß wir die Wahrheit sprachen, war es, was uns verurteilte. Wenn vierzig Männer einstimmig dasselbe sagten, so konnten sie ja daraus nur schließen, daß alles eine Lüge war, die jeder einzelne auswendig gelernt hatte und jetzt wie ein Papagei herplapperte.

Vom Standpunkt der Behörden aus muß man sagen, daß ihre Lage ebenso verzweifelt war wie die unsere. Wie ich später erfuhr, hatte man die ganze Verwaltung telegraphisch hinberufen und zwei Kompanien Miliz in aller Eile nach dem Gefängnis geschickt.

Es war Winter, und der Frost kann selbst in Kalifornien schlimm sein. Decken hatten wir nicht in unseren Zellen. Und denken Sie, wie schrecklich es ist, seine zerschlagenen Glieder auf einem eiskalten Fußboden auszustrecken. Schließlich gaben sie uns wirklich Wasser. Unter Flüchen und Drohungen kamen die Wärter mit Spritzenschläuchen gelaufen und ließen die dicken eiskalten Wasserstrahlen auf uns herabsausen – in eine Zelle nach der andern – bis unsere wunden Glieder wieder mürbe wurden durch die Heftigkeit, womit die Wasserstrahlen uns trafen, und wir bis zu den Knien in dem Wasser standen, nach dem wir zuvor geschrien hatten, und von dem uns zu befreien, wir jetzt heulend flehten.

Was weiter im Gefängniskeller geschah, will ich übergehen. Ich will nur erzählen, daß nicht ein einziger von den vierzig je wieder der alte wurde. Luigi Polazzo bekam seinen Verstand nie wieder. Auch Bill Hodge verlor allmählich den Verstand, bis er, wie der andere, ein Jahr darauf nach Bughouse Alley geschafft wurde. Und noch weitere folgten den beiden, während andere, in ihrem Lebensmark getroffen, der Gefängnistuberkulose zum Opfer fielen. Ganze fünfundzwanzig Prozent von den vierzig starben im Laufe der folgenden sechs Jahre.

Nach meinen fünf Jahren Einzelhaft – seit dem Tage, als sie mich von San Quentin fortschafften, um mich wieder abzuurteilen – sah ich Skysegel-Jack wieder. Sehr viel konnte ich nicht sehen, denn meine Augen blinzelten in der Sonne wie die einer Eule nach den fünf Jahren Dunkelheit, aber ich sah doch genug, daß mein Herz dabei litt. Ich ging gerade über den Gefängnishof, als ich ihn sah. Sein Haar war weiß geworden. Er war vor der Zeit gealtert. Seine Brust war hohl, seine Wangen waren eingefallen, seine Hände zitterten, und die Beine baumelten unter ihm. Und seine Augen wurden von Tränen verschleiert, als er mich erkannte, denn auch ich war ein trauriges Wrack dessen, was einst ein Mann gewesen. Ich wog nur siebenundachtzig Pfund, mein graues Haar war seit fünf Jahren nicht geschnitten – mein Bart auch nicht. Und ich taumelte auch beim Gehen, so daß der Wärter mich stützen mußte, als er mich über den sonnigen Hof führte. Jack und ich starrten uns an, und wir erkannten uns, obwohl wir beide Wracks waren. Männer wie er besitzen selbst im Gefängnis gewisse Privilegien, so daß er das Reglement zu durchbrechen wagte und mich mit gebrochener, zitternder Stimme ansprach.

»Du bist ein braver Kerl, Standing«, kicherte er. »Du hast nicht aus der Schule geschwatzt.«

»Ich hatte ja auch nichts zu erzählen«, flüsterte ich. Laut sprechen konnte ich nicht, denn ich hatte in dem fünfjährigen Schweigen meine Stimme so gut wie verloren. »Ich glaube überhaupt nicht, daß es Dynamit gab.«

»Das ist recht«, kicherte er und nickte kindlich. »Bleib nur dabei. Sag es ihnen nie. Du bist ein braver Kerl. Ich ziehe meinen Hut vor dir, Standing – du hast nicht aus der Schule geschwatzt.«

Die Wärter führten mich weiter, und es war das letzte Mal, daß ich Jack sah. Offenbar glaubte er jetzt selbst an das Dynamit.

Zweimal nahm die gesamte Verwaltung mich vor. Ich wurde abwechselnd mit Brutalität und mit Überredungsversuchen behandelt. Zwei Vorschläge machten sie mir. Wenn ich das Dynamit auslieferte, wollten sie mir eine nominelle Strafe von dreißig Tagen Einzelarrest geben und mich dann durch eine Anstellung in der Gefängnisbibliothek belohnen. Wenn ich in meiner Verstocktheit beharrte und das Dynamit nicht angab, wollten sie mich für den Rest meiner Strafzeit in eine finstere Einzelzelle sperren. Da ich Lebenslänglicher war, hieß das, mich auf Lebenszeit zu finsterer Einzelhaft zu verurteilen.

Nein, gewiß: Kalifornien ist ein zivilisiertes Land. Es gibt keine derartige Bestimmung in den Gesetzbüchern. Es ist eine grausame, unnütze Strafe, und kein modernes Land würde ein solches Gesetz erlassen. Aber doch bin ich der dritte in der Geschichte Kaliforniens, der zu Einzelhaft für Lebenszeit verurteilt wird. Die beiden andern waren Jake Oppenheimer und Ed Morrell. Von ihnen werde ich gelegentlich erzählen, denn jahrelang faulte ich in demselben Gefängniskeller wie sie.

Und noch eins. Wenn man mich binnen kurzem hängt – dann tut man es nicht deshalb, weil ich Professor Haskell erschlug. O nein, dafür erhielt ich lebenslängliches Zuchthaus. Nein, sie wollen mich hängen, weil ich eines Überfalls für schuldig befunden bin. Und es gibt keine Disziplinarbestimmungen im Gefängnis. Nein, es ist Gesetz – und der Paragraph ist im Strafgesetzbuch zu finden.

Ich glaube zwar, daß ich die Nase eines Mannes bluten machte. Ich sah nicht, daß sie blutete, aber die Anklage lautete so. Thurston hieß er. Er war Wärter in San Quentin. Er wog hundertundsiebzig Pfund und war in bester Form. Ich wog weniger als neunzig Pfund, war blind wie eine Fledermaus nach der langen Dunkelheit und hatte so lange hinter engen Wänden gesessen, daß der bloße Anblick eines freien Platzes mich schwindeln machte. Mein Fall war ein einwandfreies, gut entwickeltes Beispiel von Agoraphobie, was ich an dem Tag, als ich aus meiner Zelle entkam und Wärter Thurston auf die Nase schlug, entdeckte. Er versperrte mir den Weg und versuchte, mich zu halten. Da schlug ich ihn auf die Nase – und dafür hängen sie mich. Es ist Gesetz in Kalifornien, daß ein Lebenslänglicher wie ich ein Verbrechen begeht, das mit dem Tode bestraft wird, wenn er einen Gefängnisbeamten schlägt. Sicher hat ihn seine blutige Nase nur eine halbe Stunde gestört – und doch – mich hängen sie dafür.

Obendrein ist dieses Gesetz, was mich betrifft, ex post facto. Als ich Professor Haskell tötete, war es nicht Gesetz. Es ging erst durch, nachdem ich mein Urteil erhalten hatte. Und das ist gerade der Witz: Meine Verurteilung hat mich unter dieses Gesetz gestellt, das damals noch nicht Gesetz war. Und in meiner Eigenschaft als Lebenslänglicher soll ich nun wegen des Überfalls auf Wärter Thurston gehängt werden. Das ist ganz offensichtlich ex post facto und steht deshalb im Widerspruch mit der Verfassung.

Aber welchen Einfluß hat wohl die Verfassung auf die verfassungsmäßigen Gesetzesausüber, wenn sie Lust dazu haben, den berüchtigten Professor Darrell Standing aus dem Wege zu schaffen. Und ich bin nicht einmal der erste, dem es so geht. Vor einem Jahr wurde Jake Oppenheimer – wie jeder Zeitungsleser weiß – wegen eines ganz ähnlichen Verbrechens hier in Folsom gehängt. Nur war es nicht die Nase eines Gefängnisbeamten, die er zum Bluten brachte. Er ritzte versehentlich einen andern Gefangenen mit einem Brotmesser.

Ja, merkwürdig ist das Leben, merkwürdig sind die Gesetze der Menschen und ihre dornigen Pfade. Ich schreibe dies in derselben Zelle am Mördergang, wo Jake Oppenheimer saß, als sie ihn holten und mit ihm taten, was sie mit mir tun wollen.

Ich sagte euch ja im voraus, daß ich über vieles zu schreiben hätte. Jetzt will ich zu meiner Erzählung zurückkehren. Die Direktion ließ mir die Wahl zwischen einem Vorzugsplatz im Gefängnis mit Befreiung von der Arbeit in der Juteweberei, wenn ich das eingebildete Dynamit auslieferte, oder Einzelzelle auf Lebenszeit, wenn ich in meiner Verstocktheit beharrte.

Um besser über die Sache nachdenken zu können, bekam ich vierundzwanzig Stunden lang die Zwangsjacke. Dann wurde ich wieder vorgeführt. Ja, was sollte ich tun? Ich konnte sie doch nicht zu dem Dynamit führen, das es gar nicht gab. Das sagte ich, und sie antworteten, ich löge. Sie sagten, ich sei moralisch degeneriert, sei der schlimmste Verbrecher des Jahrhunderts. Vieles andere erzählten sie mir noch, und dann wurde ich in die Einzelzelle gebracht. Ich bekam Nummer eins. In Nummer fünf lag Ed Morrell, in Nummer zwölf Jake Oppenheimer, und er hatte zehn Jahre hier verbracht. Ed Morrell war erst seit einem Jahr in seiner Zelle. Seine Strafe lautete auf fünfzig Jahre. Jake Oppenheimer war Lebenslänglicher. Auch ich war Lebenslänglicher. Wir hatten deshalb alle drei Aussicht, lange Zeit hier zu verbringen. Und doch sind nur sechs Jahre vergangen, und keiner von uns ist mehr dort. Jake Oppenheimer wurde gehängt. Ed Morrell wurde zum Obervertrauensmann in San Quentin gemacht und vor einigen Tagen losgelassen. Und ich sitze hier in Folsom und warte auf den Tag, den Richter Morgan zu meinem letzten in diesem Leben bestimmt hat.

Die Toren! Als ob sie durch ihre plumpe Einrichtung mit Strick und Schafott meine Unsterblichkeit erwürgen könnten! Immer wieder, ach, unzählige Male, werde ich auf dieser lichten Erde wandern. Und ich werde im Fleische wandern, werde Fürst und Bauer, Gelehrter und Stümper sein, auf dem Hochsitz sitzen und unter dem Joche seufzen.

Es war anfangs sehr einsam in der Einzelzelle, und die Stunden waren lang. Ich kontrollierte die Zeit mit Hilfe der regelmäßigen Ablösung der Wache und durch den Wechsel von Tag und Nacht. Der Tag bedeutete nur ein klein wenig Licht, war aber doch besser als das Grabesdunkel der Nacht. In unseren Zellen war der Tag Dämmerung, ein schimmliger Schein von der helleren Welt draußen. Nie war das Licht stark genug, um dabei lesen zu können. Übrigens gab es auch nichts zu lesen. Man konnte nur liegen, denken und denken. Ich war Lebenslänglicher, und es war gegeben, daß alle Jahre meines Lebens in diesem schweigenden Dunkel verrinnen sollten, wenn ich nicht das Wunder tun konnte, fünfunddreißig Pfund Dynamit aus dem Nichts hervorzuzaubern.

Mein Lager war eine dünne, muffige Strohmatratze auf dem Boden der Zelle. Eine dünne, schmutzige Decke war alles, mich zu bedecken. Es gab keinen Stuhl, keinen Tisch – nichts außer der Strohmatratze und der dünnen, verschlissenen Decke. Ich bin nie gewohnt gewesen, lange zu schlafen, und mein Gehirn war stets sehr geschäftig gewesen. In der Einzelzelle wird man seiner selbst so zum Sterben überdrüssig, und das einzige Mittel, sich zu entgehen, ist der Schlaf. Ich machte es zu einer Wissenschaft. Ich war schließlich imstande, zehn Stunden, dann zwölf täglich zu schlafen, und allmählich kam ich auf vierzehn und fünfzehn. Aber weiter brachte ich es nicht und war deshalb gezwungen, wach zu liegen, zu denken und zu denken. Und gerade hierin lauerte der Wahnsinn auf einen Mann mit einem tätigen Hirn.

Ich versuchte, Mittel zu finden, die mich in den Stand setzen konnten, meine wachen Stunden zu ertragen. Ich hob ganze Serien von Zahlen in die zweite und dritte Potenz, und durch Anspannung von Gedanken und Willen stellte ich die erstaunlichsten geometrischen Reihen auf. Ja, ich experimentierte sogar mit der Quadratur des Kreises – bis ich entdeckte, daß ich selbst schon an die Lösung dieses Problems zu glauben begann. Erst als ich sah, daß der Wahnsinn auf mich lauerte, schob ich das Problem beiseite, obwohl ich versichere, daß es ein großes Opfer für mich war, denn es war ein prachtvoller Zeitvertreib, das Gehirn auf diese Aufgaben zu konzentrieren.

Nur mit Hilfe meines inneren Auges baute ich Schachbretter und spielte ganze Partien bis zum Schachmatt. Als ich aber eine richtige Fertigkeit hierin erlangt hatte, verlor das Spiel seine Anziehungskraft für mich. Es war nur Hirngymnastik, es konnte nie ein richtiges Spiel daraus werden, wenn derselbe Spieler auf beiden Seiten spielte. Ich versuchte – und versuchte es vergebens – meine Persönlichkeit in zwei zu zersplittern und die eine gegen die andere aufzustellen. Aber ich blieb immer der eine Spieler, der keine Kriegslist erdenken konnte, ohne daß der Gegenspieler es gleich wußte.

Und die Zeit war sehr träge und sehr lang. Ich spielte mit Fliegen, gewöhnlichen Zimmerfliegen, die mit dem grauen Licht in meine Zelle kamen, und fand heraus, daß sie Spielsinn hatten. Zum Beispiel zog ich, wenn ich auf dem Steinboden lag, eine eingebildete Scheidelinie über die Wand, etwa drei Fuß über dem Boden. Solange die Fliegen über diesem Strich, blieben, ließ ich sie in Frieden. Im selben Augenblick aber, wenn sie sich unter dem Strich auf die Wand setzten, versuchte ich, sie zu fangen. Ich achtete sorgfältig darauf, daß ich ihnen nichts tat, und allmählich wußten sie ebensogut wie ich selber, wo der eingebildete Strich gezogen war. Wenn sie Lust zum Spiel hatten, setzten sie sich unter den Strich, und oft konnte eine Fliege diesen Sport eine ganze Stunde hintereinander betreiben. Wenn sie müde wurde, setzte sie sich zum Ausruhen nach oben.

Von einem Dutzend Fliegen oder mehr, die bei mir waren, machte sich nur eine einzige nichts aus dem Spiel. Sie weigerte sich standhaft, mitzuspielen, und als sie gelernt hatte, welche Strafe es für das Überschreiten des Strichs gab, mied sie das gefährliche Terrain sorgfältig. Diese Fliege war ein richtiger Querkopf. Sie hatte, wie die Gefangenen sagen, eine Pike auf die Welt. Sie spielte nie mit den andern Fliegen. Sie war im übrigen gesund und kräftig – ich studierte sie lange, um klug aus ihr zu werden. Ihr Unwille gegen alles Spiel war ausschließlich eine Folge ihres Temperaments und in keiner Weise in physischer Indisposition begründet.

Glauben Sie mir, ich kannte meine Fliegen. Es war überraschend, welche Menge individueller Eigentümlichkeiten ich bei ihnen entdeckte. Jede einzelne von ihnen war durchaus ein Individuum für sich, verschieden von den andern nicht nur in Größe und Aussehen, Stärke und Fluggeschwindigkeit, in der Art zu fliegen und der Art zu spielen, sich zu drehen und aufzusteigen, herumzuschnurren und wiederzukommen, zu kreisen und fortzufliegen, über die Wand in die Gefahrenzone zu laufen oder sich narren zu lassen und anderswo innerhalb der verbotenen Zone zu landen – auch in Temperament und Charakter gab es große Unterschiede. Ich kannte Nervöse und Phlegmatische. Da war eine kleine Unterernährte, die gleichsam in Raserei fliegen konnte, wütend bald auf mich, bald auf eine andere Fliege. Haben Sie je eine Stute oder ein Kalb mit den Hinterbeinen ausschlagen und wie rasend über die Weide schießen sehen, einzig und allein aus überströmender Kraft und Lebenslust? So war auch eine Fliege – die eifrigste im Spiel von allen – die, wenn es mir drei- oder viermal geglückt war, sie anzuführen, so jubelnd begeistert war, daß sie mir wie verrückt um den Kopf schnurrte.

Ich konnte lange im voraus sehen, wenn eine bestimmte Fliege Lust zum Spielen bekam. Es gibt allein in diesem Gegenstand tausend Einzelheiten, mit denen ich Sie nicht ermüden will, obwohl gerade diese Einzelheiten mir in dieser ersten Periode meiner Einsamkeit halfen, nicht ganz zu Tode müde und überdrüssig zu werden. Aber eines muß ich erzählen. Mir ist es höchst erzählenswert. Das war, wie der Querkopf sich in der Zerstreutheit eines Augenblicks unter den Strich setzte und gleich von mir gefangen wurde. Er schmollte eine ganze Stunde mit mir.

Und die Stunden sind lang in der einsamen Zelle. Ich konnte sie nicht alle zerschlafen. Und ich konnte ihnen auch nicht mit Hilfe meiner Fliegen fortfliegen, so intelligent sie auch waren. Fliegen sind ja nur Fliegen, und ich war ein Mensch mit einem Menschenhirn. Und mein Hirn war geübt und tätig, angefüllt mit Kultur und Wissenschaft und unter Hochdruck.

Und es gab nichts zu tun, während meine Gedanken wirr in fruchtlosen Spekulationen liefen. Da waren zum Beispiel meine Nachweise von Pentose und Methyl-Pentose in Weintrauben und Wein, deren Studium ich meine letzten Sommerferien in den Weinbergen von Asti widmete. Ich hatte meine Experimente gerade abgeschlossen. Ob wohl ein anderer jetzt die Arbeit fortsetzt, dachte ich – und wenn, ob mit Erfolg?

Sie werden verstehen, daß die Welt für mich tot war. Keine Neuigkeit von draußen gelangte zu mir. Die Geschichte der Wissenschaft hat schnelle Füße, und ich hatte Interesse für tausend Themen. Da war meine Theorie von der Hydrolysis von Kasein und Trypsin, womit Professor Walters in seinem Laboratorium arbeitete. Professor Schleimer hatte ebenfalls mit mir zusammen an der Entdeckung von Phytosterol in der Vermischung tierischer und vegetabilischer Fettstoffe gearbeitet. Natürlich wurde die Arbeit fortgesetzt – aber mit welchen Ergebnissen? Der Gedanke an all diese Tätigkeit, die eben außerhalb der Gefängnismauern erfolgte, und an der ich nicht teilnehmen und von der ich nie etwas hören sollte, war, um wahnsinnig zu werden. Und ich lag auf dem Fußboden in einer Zelle und spielte mit Fliegen.

Und doch war nicht nur Schweigen in meiner einsamen Zelle. Schon sehr bald merkte ich schwaches, leises Klopfen mit unregelmäßigen Zwischenräumen. Aus der Ferne hörte ich auch Klopfen, noch schwächer und leiser. Immer wurden diese Geräusche durch die gereizten Rufe der Wärter unterbrochen. Bei einer Gelegenheit, als das Klopfen zu lange andauerte, wurden Hilfswärter gerufen, und aus dem Geräusch wurde mir klar, daß Männern die Zwangsjacke angelegt wurde.

Das war leicht zu erklären. Wie jeder Gefangene in San Quentin wußte auch ich, daß die zwei Männer in den Einzelzellen Ed Morrell und Jake Oppenheimer waren. Und ich wußte, daß es diese beiden waren, die einander mit den Knöcheln Worte und Sätze zuklopften und dafür bestraft wurden. Daß der Code, den sie benutzten, ganz einfach war, bezweifelte ich nicht im geringsten, aber es dauerte doch viele Stunden, bis ich ihn lernte. Gott mag wissen, daß er einfach war, und doch wurde es mir unendlich schwer, ihn herauszufinden. Als einfach erwies er sich denn auch, als ich ihn endlich gelernt hatte; am allereinfachsten war der Trick, den sie anwandten und der mir so viel Kopfzerbrechen verursacht hatte. Nicht nur wechselten sie täglich den Buchstaben im Alphabet, bei dem der Code begann, sie wechselten ihn sogar bei jeder Unterhaltung, ja, oft sogar mitten in einer Unterhaltung. So fing ich eines Tages den Code beim richtigen Buchstaben an, verstand ganze zehn Sätze, und das nächste Mal, als sie miteinander sprachen, nicht einen Ton. Aber ich vergesse nie das erstemal, als ich verstand, was sie sagten! »Nun – Ed – was – würdest – du – jetzt – für Zigarettenpapier – und – eine – Tüte – Bull – Durham – geben?« fragte der Entferntere von den beiden.

Ich hätte vor Freude beinahe laut geschrien. Hier hatte ich ja Gesellschaft. Hier hatte ich Leidensgefährten! Ich lauschte gespannt, und der Nähere von den beiden, also Ed Morrell, antwortete:

»Ich – nähme – gern – zwanzig – Stunden – Zwangsjacke – für – eine – fünf – Cent –Tüte.« Dann unterbrach der Wärter sie fauchend:

»Hör auf, Morrell!«

Man wird vielleicht meinen, daß man, wenn man einen Mann zu Einzelhaft auf Lebenszeit verurteilt hat, ihm schon das Schlimmste angetan hat, und daß ein Wärter deshalb kein Mittel hat, ihn zu zwingen, das Klopfen zu unterlassen. Aber er hat ja die Zwangsjacke! Und den Hunger! Und den Durst! Und die Prügel! Wahrlich, ein Mann in einer Einzelzelle ist hilflos.

In dieser Nacht hörte das Klopfen auf, und als es wieder anfing, war ich ganz verwirrt. Bisher hatten sie es so gemacht, daß sie den Anfangsbuchstaben im Code wechselten. Aber den Schlüssel hatte ich doch gefunden, und im Laufe weniger Tage kam dasselbe System wieder, das ich erfaßt hatte. Ich wartete nicht, sondern fing gleich an.

»Hallo«, klopfte ich.

»Hallo, Fremder«, antwortete Morrell, und von Oppenheimer kam: »Willkommen in unserer Stadt.«

Sie waren neugierig, wer ich sei und auf wie lange und warum ich verurteilt wäre. Aber alles schob ich beiseite, um zuerst ihr System mit Bezug auf die Veränderung des Anfangsbuchstabens zu lernen. Erst dann unterhielten wir uns. Es war ein großer Tag – die zwei Lebenslänglichen waren drei geworden, wenn sie mich auch nur auf Probe aufnahmen. Wie sie mir lange nachher erzählten, fürchteten sie, ich könnte ein Spitzel sein. Das war nämlich früher schon vorgekommen, und Oppenheimer hatte teuer für das bezahlen müssen, was er dem Spitzel Direktor Athertons anvertraut hatte.

Zu meiner Überraschung – ja, laßt mich sagen, zu meinem Jubel – kannten die beiden mich in meiner Eigenschaft als Unverbesserlicher. Selbst in das lebende Grab, wo Oppenheimer zehn Jahre verbracht hatte, war mein Ruhm oder vielmehr mein schlechter Ruf gedrungen.

Ich hatte vieles zu erzählen, das im Gefängnis und in der Welt draußen geschehen war. Der Fluchtversuch der vierzig, das Dynamit und der Verrat Cecil Winwoods waren Neuigkeiten für sie. Wie sie mir sagten, sickerten zuweilen Neuigkeiten durch die Wärter zu ihnen durch, aber seit einigen Monaten hatten sie nichts gehört. Die Wärter, die jetzt unten postiert waren, waren eine besonders bösartige und rachgierige Gesellschaft.

Immer wieder wurden wir an diesem Tage wegen unseres Knöchelklopfens ausgescholten. Aber wir konnten es nicht lassen. Die zwei lebendig Begrabenen waren drei geworden, und wir hatten uns so viel zu erzählen, und dazu war die Art und Weise, wie wir es uns sagen konnten, so empörend langsam und ich zudem noch nicht so geübt wie sie darin.

»Warte, bis die Puddingfratze heute abend kommt«, klopfte Morrell. »Er verschläft den größten Teil seiner Wache, und dann können wir miteinander reden.«

Wie wir doch in dieser Nacht redeten! Kein Schlaf kam in unsere Augen. Puddingfratzen-Jones war ein säuerlicher, verbitterter Mann trotz all seinem Fett; aber wir segneten das Fett, denn es trug dazu bei, daß er dem Schlaf nicht widerstehen konnte. Nichtsdestoweniger störte unser anhaltendes Klopfen seinen guten Schlaf, so daß er uns wiederholt ausschalt. Und von den andern Nachtwachen bekamen wir ununterbrochen Flüche zu hören. Am Morgen erstatteten sie Rapport über das viele Klopfen, und wir mußten für unser kleines Schwatzfest büßen, denn um neun kam Inspektor Jamie mit mehreren Wärtern, um uns die Zwangsjacke anzulegen. Bis neun Uhr am nächsten Morgen – volle vierundzwanzig Stunden – mußten wir eingeschnürt und hilflos, ohne Essen und Trinken auf dem Fußboden liegend, den Preis für unsere Unterhaltung bezahlen.

Oh, unsere Wärter waren Untiere. Und bei ihrer Behandlung mußten wir notgedrungen selbst zu Untieren werden, um es ertragen zu können. Schwere Arbeit gibt rauhe Hände. Harte Wärter schaffen harte Gefangene. Wir redeten weiter und bekamen weiter gelegentlich die Zwangsjacke als Strafe. Die Nacht war unsere beste Zeit, und wenn hin und wieder Hilfswärter auf Posten waren, schwatzten wir oft die ganze Nacht hindurch.

Sonst waren Tag und Nacht gleich für uns in der Dunkelheit. Wir konnten schlafen, wann wir wollten, aber mittels unserer Knöchel miteinander reden konnten wir nur ganz gelegentlich. Wir erzählten uns unsere Lebensgeschichte, und lange Stunden lagen Morrell und ich schweigend da, während Oppenheimer uns langsam seine Geschichte buchstabierte, uns von seinen frühesten Jahren im Armenviertel San Franziskos, von seinem Training auf der Verbrecherlaufbahn, von seiner Einweihung in alle Laster erzählte, wie er als vierzehnjähriger Bursche sich sein Geld als Botenjunge in einem der verrufensten Stadtteile verdiente, wie er zum erstenmal bei einer Gesetzesübertretung ergriffen wurde – und weiter, immer weiter, durch Diebstahl und Raub bis zum Verrat durch einen Kameraden und zu blutigen Tragödien hinter Gefängnismauern.

Jake Oppenheimer trug den Beinamen: der Menschentiger. Irgendein blöder Reporter hatte diesen Namen erfunden, der länger leben wird als der Mann, an den er sich heftete. Und doch fand ich an Jake Oppenheimer alle Hauptcharakterzüge eines guten Menschen. Er war treu und gerecht. Ich weiß, daß er sich lieber begraben ließ, als daß er einen Kameraden verpfiff. Er war tapfer. Er war geduldig. Er war aufopferungsfähig – darüber könnte ich eine Geschichte erzählen, aber es ist keine Zeit dazu. Und Gerechtigkeit war eine Leidenschaft für ihn. Die Morde, die er hinter den Mauern des Gefängnisses beging, waren gerade durch sein unbeugsames Gerechtigkeitsgefühl verursacht. Und er hatte einen glänzenden Kopf. Ein Leben im Gefängnis, zehn Jahre in der Einzelzelle, hatten seinen Verstand nicht abgestumpft.

Auch Morrell hatte einen ausgezeichneten Verstand. Tatsache ist – und ich, der ich bald sterben soll, habe ein Recht, das zu sagen, ohne der Unbescheidenheit geziehen zu werden – Tatsache ist, daß die drei besten Köpfe in San Quentin, vom Direktor abwärts, die drei waren, welche in den Einzelzellen miteinander verwesten. Und hier, am Ende meiner Tage, muß ich sagen, daß ich zu dem Schluß gekommen bin, daß starke Geister sich nie beugen lassen. Die Dummen, die Ängstlichen, die, welche nicht die Gabe des leidenschaftlichen Gerechtigkeitsgefühls und der furchtlosen Kampflust haben – das sind die Männer, die Mustergefangene werden. Ich danke allen Göttern, daß Jake Oppenheimer, Ed Morrell und ich selbst keine Mustergefangenen waren.

 

Es ist mehr als der Keim der Wahrheit in irrigen Dingen, in der Definition des Kindes vom Gedächtnis als dem, womit man vergißt. Die Fähigkeit, vergessen zu können, bedeutet Gesundheit. Sich unaufhörlich zu erinnern, erinnert zu werden, führt zu fixen Ideen, zum Wahnsinn. Die Aufgabe, die ich mir in der einsamen Zelle stellte, wo Erinnerungen sich unaufhörlich aufdrängten, um sich meiner zu bemächtigen, war deshalb, auch, die Gabe des Vergessens zu gewinnen. Wenn ich mit Fliegen spielte oder mit mir selber Schach spielte oder mich mit den andern mit Hilfe meiner Knöchel unterhielt, so glückte es mir – teilweise – zu vergessen. Aber was ich wünschte, war, ganz vergessen zu können.

Da waren Kindheitserinnerungen aus andern Zeiten und andern Orten – »ziehende Wolken früherer Herrlichkeit«, wie Wordsworth sagt. Ob die wohl, wenn ein Knabe sie gehabt hatte, hoffnungslos vergessen und verloren waren, wenn er zum Manne herangewachsen war? Konnte dieser spezielle Inhalt seines Knabenhirns wohl vollkommen ausgerottet werden? Oder vegetierten diese Erinnerungen an andere Zeiten anderswo, aber verborgen, schlummernd, eingemauert in einem einsamen Gefängnis, in tiefen und entlegenen Hirnzellen, so wie ich in der Zelle in San Quentin lag?

Aber man kennt ja Beispiele, daß Gefangene, die zur Einzelhaft auf Lebenszeit verurteilt waren, aus dem Dunkel auferstanden und die Sonne wiedersahen. Warum sollten dann nicht auch diese Erinnerungen eines Knaben an andere Welten auferstehen können?

Aber wie? Meiner Meinung nach dadurch, daß man völliges Vergessen der Gegenwart und des vergangenen Mannesalters erlangte.

Und wiederum: wie? Hypnotismus! Wenn das Bewußtsein mit Hilfe von Hypnose eingeschläfert und das Unterbewußtsein zum Leben erweckt wurde, dann war es vollbracht, dann mußten alle Gefängnistore des Gehirns weit aufgerissen werden, so daß die Gefangenen von drinnen ans Licht der Sonne traten.

So überlegte ich – und Sie werden sehen, mit welchem Erfolg. Zuerst aber muß ich erzählen, wie ich als Knabe diese Erinnerungen an andere Welten gehabt habe. Wie jeder andere Knabe hatte ich in den Wolken der früheren Herrlichkeit gelebt, hatte Besuch von Gespenstervisionen aus anderen Zeiten, da ich selbst ein anderer gewesen, gehabt. Das war in der Zeit geschehen, als mein Wesen im Werden begriffen war, ehe der Strom all dessen, was ich je gewesen, in der Gußform der einen Persönlichkeit erstarrt war, die die Menschen einige wenige Jahre lang als Darrell Standing kannten.

Laßt mich nur ein Vorkommnis erzählen. Es war auf dem alten Hof in Minnesota. Ich war etwa sechs Jahre alt. Ein Chinesenmissionar, der zurückgekehrt war und jetzt Missionsbeiträge bei den Farmern sammeln sollte, verbrachte die Nacht in unserm Hause. Was ich hier erzähle, geschah in der Küche, wo der Missionar uns Photographien vom Heiligen Lande zeigte, während meine Mutter mich auszog.

Und das, was ich jetzt erzählen will, würde ich sicher längst vergessen haben, hätte ich nicht oft in meiner Kindheit meinen Vater es verwunderten Zuhörern erzählen hören.

Als ich eines der Bilder erblickte, wurde ich zuerst ganz eifrig und dann enttäuscht. Im ersten Augenblick war es mir so bekannt vorgekommen, ebenso bekannt, wie eine Photographie aus Vaters Schublade mir gewesen wäre. Und dann erschien es mir ganz fremd. Als ich es weiter ansah, kam wieder dies nicht abzuschüttelnde Gefühl, daß ich es kennen müßte.

»Der Turm Davids«, sagte der Missionar zu meiner Mutter.

»Nein, das ist er nicht!« rief ich sehr bestimmt.

»Meinst du, daß er nicht so heißt?« fragte der Missionar.

Ich nickte nur.

»Wie heißt er denn, mein Junge?«

Er heißt ...«, begann ich, fuhr dann aber etwas verlegen fort: »Ich habe es vergessen.«

Nach kurzem Schweigen begann ich wieder: »Er sieht jetzt nicht so aus ... man hat ihn wohl verändert.«

Der Missionar reichte meiner Mutter eine andere Photographie, die er herausgesucht hatte.

»Dort war ich selbst vor einem halben Jahr, Frau Standing.« Er zeigte darauf. »Das ist das Jaffa-Tor, und dort rechts im Hintergrund liegt der Turm Davids. Die Autoritäten sind ihrer Sache sicher. El Kul'ah, wie er genannt wird ...«

Hier unterbrach ich ihn und wies auf einige Mauerreste links.

»Ja, ungefähr dort«, sagte ich. »Den Namen, den Sie eben nannten, gebrauchten die Juden. Aber wir nannten ihn etwas anders. Ich weiß nicht mehr, wie wir ihn nannten.«

»Hört nur«, lachte mein Vater, »man sollte glauben, er wäre dort gewesen.«

Ich nickte, denn in diesem Augenblick wußte ich, daß ich dort gewesen war, obwohl alles so anders aussah. Mein Vater lachte laut, aber der Missionar glaubte, daß ich mich über ihn lustig machte. Er reichte mir ein anderes Bild. Es war eine öde Landschaft, ohne Bäume und Pflanzenwuchs, eine kahle Schlucht mit schwach geneigten steilen Wänden. In der Mitte sah man einen Haufen elender Hütten mit flachen Dächern.

»Nun – was stellt das vor, mein Junge?« fragte der Missionar, um mich zu necken.

»Samaria«, sagte ich sofort.

Mein Vater klatschte in die Hände, meine Mutter war verblüfft, während der Missionar eher irritiert zu sein schien.

»Er hat recht«, sagte er. »Es ist ein Dorf in Samaria. Ich bin selbst dort gewesen; deshalb kaufte ich das Bild. Und das beweist, daß der Junge ähnliche Bilder früher schon gesehen haben muß.« Das leugneten meine Eltern beide.

»Aber etwas an dem Bild ist anders«, bemerkte ich. Die ganze Zeit hatte sich mein Gehirn damit beschäftigt, die Photographie zu rekonstruieren. Die allgemeinen Linien der Landschaft waren dieselben. Auf die Abweichungen wies ich bin.

»Es waren viel mehr Bäume und Gras und viele Ziegen. Ich kann sie jetzt sehen – da sind zwei Knaben, die mit ihnen gehen. Und dort ist eine Schar Männer, die hinter einem einzelnen Manne hergehen. Und dort« – ich zeigte auf die Stelle, wo meiner Meinung nach das Dorf stand –, »dort sind einige Landstreicher – nur in Lumpen gekleidet. Und sie sind krank – oh – ihre Gesichter, ihre Beine und Hände bilden eine einzige Wunde.«

»Er hat die Geschichte in der Kirche oder anderswo gehört. Sie erinnern sich wohl der Heilung der Aussätzigen in Luke«, sagte der Missionar mit einem zufriedenen Lächeln.

»Wieviel Landstreicher sind da, mein Junge?«

Ich hatte, als ich fünf Jahre alt war, gelernt, bis hundert zu zählen. Ich sah die Gruppe genauer an und antwortete dann:

»Es sind zehn. Sie schwenken die Arme und rufen den andern Männern etwas zu.«

»Aber sie kommen nicht zu ihnen?« fragte er.

»Nein, sie stehen nur da und rufen, als wären sie in Not.«

»Weiter!« sagte der Missionar. »Was dann? Was tut der Mann, der vor den andern geht?«

»Er spricht zu den Kranken. Und die Knaben mit den Ziegen stehen auch still. Sie sehen alle den Mann an.«

»Und dann?«

»Weiter ist nichts mehr. Die Kranken kehren in ihre Häuser zurück. Sie rufen nicht mehr, und sie sehen nicht mehr krank aus. Und ich sitze auf meinem Pferd und sehe zu.«

Darüber mußten meine drei Zuhörer alle lachen.

»Aber ich bin ein großer Mann«, rief ich zornig, »und ich habe einen großen Säbel.«

»Es sind die zehn Aussätzigen, die Jesus heilte, ehe er durch Jericho nach Jerusalem zog«, erklärte der Missionar meinen Eltern. »Der Junge hat offenbar Reproduktionen berühmter Bilder in irgendeiner Laterna magica gesehen.«

Aber weder mein Vater noch meine Mutter konnten sich erinnern, daß ich je eine Laterna magica gesehen hatte.

»Wir wollen es mit einem andern Bild versuchen«, sagte mein Vater.

»Ach – das ist alles ganz anders«, sagte ich, als ich das Bild untersucht hatte, das der Missionar mir reichte. »Da ist ja nur die Anhöhe hier und die andern Anhöhen. Hier irgendwo müßte eine Landstraße sein. Und dort sollten Gärten und Bäume und Häuser mit großen steinernen Mauern sein. Und dort hinten sollten einige Höhlen in den Felsen sein, wo man Tote begrub. Und seht dort! Dort pflegten sie die Leute mit Steinen zu werfen, bis sie tot waren. Ich habe es nie selber gesehen, aber sie erzählten es mir.«

»Und die Anhöhe dort?« fragte der Missionar und zeigte auf den Hügel in der Mitte des Bildes, um dessentwillen die Photographie aufgenommen zu sein schien. »Wie heißt diese Anhöhe wohl?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Die hat keinen Namen. Dort schlugen sie Leute tot. Ich habe es mehr als einmal gesehen.«

»Diesmal ist er mit dem größten Teil der Autoritäten einig«, meinte der Missionar. »Die Anhöhe ist Golgatha, die Schädelstätte, wie sie genannt wird, weil ihre Form der einer Hirnschale gleicht. Dort war es, wo sie kreuzigten –«, er wandte sich zu mir. »Ja, wen kreuzigten sie dort? Erzähle mir, was du weiter siehst.«

Ach, ich sah ... Mein Vater hat erzählt, daß mir die Augen starr im Kopfe lagen. Aber ich schüttelte trotzig den Kopf und sagte:

»Das sage ich Ihnen nicht, denn Sie lachen mich ja doch nur aus. Ich habe gesehen, wie viele Leute totgeschlagen wurden. Sie nagelten sie fest, aber es dauerte lange. Ich habe gesehen ... aber ich erzähle es nicht! Ich lüge nicht. Fragen Sie nur Vater und Mutter, ob ich je lüge. Ich will mich selbst verprügeln, wenn ich lüge. Fragen Sie sie nur.«

Und der Missionar bekam kein Wort mehr aus mir heraus, obwohl er mich mit mehreren Photographien in Versuchung führte, die eine Menge Erinnerungsbilder vor meinem inneren Auge aufsteigen ließen und mir eine Flut von Worten auf die Zunge legten, aber ich war ärgerlich und zwang sie zurück.

»Er wird sicher ein guter Bibelkenner werden«, sagte der Missionar hinterher, als ich Vater und Mutter den Gutenachtkuß gegeben und zu Bett gegangen war. »Oder er muß mit seiner Phantasie ein berühmter Schriftsteller werden können.«

Was den Wert von Prophezeiungen beweist. Hier sitze ich nun in einer Zelle am Mördergang und schreibe diese Zeilen in meinen letzten Lebenstagen – oder vielmehr in den letzten Tagen Darrell Standings, ehe sie ihn herausholen und am Ende eines Stricks in die Finsternis schleudern –, und ich lächle bei mir. Ich wurde weder Bibelkenner noch Schriftsteller. Im Gegenteil – ehe sie mich fünf lange Jahre lang lebendig hier begruben, war ich alles mögliche, nur nicht das, was der Missionar voraussagte –, landwirtschaftlicher Sachverständiger, Professor, Spezialist in der Wissenschaft, den Mißbrauch von Arbeitskraft zu verhindern, Meister in der Ausnutzung des Bodens, ein Forscher, dem Genauigkeit und Akkuratesse bei der Wiedergabe mikroskopischer Untersuchungen eine unumgängliche Notwendigkeit waren.

Und jetzt lasse ich an dem schwülen Nachmittag die Feder ruhen, um auf das beruhigende Summen der Fliegen in der stillen Luft und auf die halb geflüsterte Unterhaltung zwischen Josephus Jackson, dem schwarzen Mörder rechts von mir, und Bambeccio, dem italienischen Mörder in der Zelle links von mir, zu lauschen; sie streiten durch die Gittertür, an meiner Gittertür vorbei, ob Kautabak wirklich heilenden Einfluß auf Fleischwunden habe.

In der Hand halte ich meinen Füllfederhalter, und während ich mich erinnere, daß meine Hand in den entschwundenen fernen Zeiten den Tuschpinsel, die Gänsefeder und den Griffel geführt hat, habe ich auch Gelegenheit, darüber nachzudenken, ob jener Missionar je als Knabe den leuchtenden Schimmer vergangener Sternwanderungszeiten gesehen hat.

 


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