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Ich lag lange schweigend da, vergaß mein Elend über all dem, was Morrell gesagt hatte. Ich hatte ja schon, wie früher erzählt, mittels mechanischer Autohypnose versucht, durch die Zeit zu meinem früheren Selbst hindurchzudringen. Daß es mir teilweise geglückt war, wußte ich; aber alles, was ich erfahren hatte, war nur eine flüchtige Reihe von Visionen, die zufällig, bruchstückweise und zusammenhanglos kamen.

Die Methode Morrells hingegen war so sehr das gerade Gegenteil meiner Selbsthypnose, daß ich ganz besessen davon war. Bei meiner Methode war das Bewußtsein das erste, was schwand. Bei dieser Methode wurde das Bewußtsein die ganze Zeit bewahrt und hob sich, wenn entkörpert, so hoch, daß es den Körper verließ, das Gefängnis in San Quentin verließ und fortzog – und doch immer noch Bewußtsein blieb.

Es ist jedenfalls einen Versuch wert, entschied ich. Und trotz all meiner wissenschaftlichen Skepsis glaubte ich doch daran. Ich zweifelte nicht, tun zu können, was Morrell, wie er sagte, dreimal getan hatte. Vielleicht verdankte ich diesen Köhlerglauben, der mich so leicht gefangennahm, meiner äußersten Schwäche. Vielleicht war ich nicht stark genug, um skeptisch zu sein. Das war mir vielleicht schon von Morrell suggeriert. Es war eine rein empirische Folgerung, und, wie Sie sehen werden, bewies ich sie empirisch.

 

Zweifellos in der Absicht, mich zu ermorden, kam Direktor Atherton am nächsten Morgen in meine Zelle. Er brachte Inspektor Jamie, Doktor Jackson, Puddingfratzen-Jones und Al Hutchins mit. Al Hutchins verbüßte eine Strafe von vierzig Jahren und hoffte, begnadigt zu werden. Seit vier Jahren war er Oberobmann in San Quentin. Daß das eine einflußreiche Stellung ist, wird man verstehen, wenn ich erzähle, daß ein Oberobmann seine dreitausend Dollar jährlich verdienen können soll. Jeder wird deshalb begreifen, daß ein Mann wie Al Hutchins – mit zehn- oder zwölftausend Dollar auf der Bank und einem Versprechen auf Begnadigung – blind jeden Befehl des Direktors ausführen würde.

Ich erwähnte soeben, daß Direktor Atherton die Absicht hatte, mich zu ermorden. Man konnte es ihm ansehen. Und seine Handlungsweise bewies es. »Untersuchen Sie ihn«, sagte er zu Doktor Jackson. Dieses traurige Geschöpf riß mir das schmutzige Hemd ab – ich trug es, seitdem ich in die Einzelzelle geworfen war – und zeigte meinen armen ausgezehrten Körper, dessen Haut sich wie braunes Pergament über die Rippen spannte und voll von Wunden von dem häufigen Gebrauch der Zwangsjacke war. Die Untersuchung war wegen ihrer Oberflächlichkeit ganz schamlos.

»Kann er es aushalten?« fragte der Direktor.

»Ja«, antwortete der Arzt.

»Wie steht es mit dem Herzen?«

»Großartig.«

»Kann er zehn Tage durchhalten, Doktor?«

»Sicher.«

»Ich glaube es nicht«, meinte der Direktor grimmig, »aber lassen Sie es uns nur versuchen – leg dich hin, Standing.«

Ich gehorchte und legte mich mit dem Gesicht nach unten auf das Segelleinen. Einen Augenblick schien der Direktor zu überlegen.

»Dreh dich auf den Rücken«, befahl er mir.

Ich versuchte es, war aber zu schwach dazu – es gelang mir nicht.

»Er stellt sich an«, meinte Jackson.

»Hm – wenn ich mit ihm fertig bin, gibt es schon keine Anstellerei mehr«, sagte der Direktor. »Helft ihm, wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Sie rollten mich auf den Rücken, so daß ich Direktor Atherton ins Gesicht starrte.

»Standing«, sagte er langsam, »ich habe jetzt lange genug Nachsicht mit dir gehabt. Ich habe deinen verfluchten Eigensinn satt. Es ist jetzt zu Ende mit meiner Geduld. Doktor Jackson sagt, daß du stark genug bist, zehn Tage in der Zwangsjacke durchzuhalten. Du kannst dir vielleicht selbst denken, welche Chancen du hast! – Also ich mache dir jetzt mein letztes – unwiderruflich letztes – Angebot. Her mit dem Dynamit – und im selben Augenblick, wenn es in meiner Hand liegt, kommst du hier heraus, du kriegst ein Bad, wirst rasiert und bekommst reines Zeug an. Du kommst auf sechs Monate ins Hospital – und dann kriegst du die Aufsicht in der Bibliothek. Mehr kannst du nicht verlangen. Außerdem – vergiß das nicht – du verpfeifst ja keinen andern. Du bist ja der einzige, der Bescheid weiß. Du schadest keinem, wenn du erzählst, was du weißt – und wenn du dich nicht fügst, dann ...«

Er machte eine Pause und zuckte bezeichnend die Achseln.

»Ja, wenn du dich nicht fügst, dann fangen wir gleich mit den zehn Tagen an.«

Diese Aussicht war entsetzlich. In meiner Schwäche war ich ebenso sicher wie der Direktor, daß es für mich den Tod in der Zwangsjacke bedeutete. Und da fiel mir Morrels Trick ein. Wenn je, dann konnte ich ihn jetzt brauchen. Jetzt war es Zeit, seinen Glauben daran zu erweisen. Ich lächelte dem Direktor ins Gesicht. Und ich legte Vertrauen in das Lächeln, Vertrauen zu dem Vorschlag, den ich ihm machte.

»Herr Direktor«, sagte ich, »sehen Sie, wie ich lächle? Schön – wenn ich nach Ablauf der zehn Tage Sie noch ebenso anlächle, wenn Sie mich losbinden, wollen Sie dann Morrell und Oppenheimer je eine Tüte Durham und Zigarettenpapier geben?«

»Es ist, wie ich sage, diese Studierten sind ganz verrückt«, sprudelte Inspektor Jamie.

Direktor Atherton war ein heftiger Mann. Und er nahm meinen Vorschlag für Prahlerei.

»Dafür sollst du extra gut verschnürt werden«, teilte er mir mit.

»Es war ja nur ein sportsmäßiger Vorschlag, den ich Ihnen machte, Herr Direktor«, antwortete ich ruhig. »Sie können mich einschnüren, so fest Sie wollen, aber wollen Sie Morrell und Oppenheimer den Tabak geben, wenn ich Sie in zehn Tagen anlächle?«

»Du bist deiner Sache ja sehr sicher«, antwortete er.

»Deshalb mache ich Ihnen ja den Vorschlag«, sagte ich.

»Du wirst wohl gläubig, was?« höhnte er.

»Nein«, antwortete ich. »Es steckt nichts anderes dahinter, als daß in mir mehr Leben ist, als Sie je erwischen können. Geben Sie mir hundert Tage, wenn Sie wollen – ich werde Sie doch hinterher anlächeln.«

»Ach, zehn Tage genügen sicher, um Schluß mit dir zu machen, Standing.«

»Ja, das meinen Sie«, sagte ich, »aber sind Sie Ihrer Sache auch sicher? Man sollte es nicht meinen, da Sie fürchten, die zwei Fünfcenttüten Tabak zu verlieren. Was haben Sie übrigens zu befürchten?«

»Für zwei Cent würde ich die Fratze, mit der du daliegst, zertreten«, fauchte er.

»Meinetwegen keinen Alarm.« Ich war von einer unverschämten Höflichkeit. »Treten Sie, soviel Sie wollen. Ich werde wohl noch so viel von meinem Gesicht übrig behalten, daß ich damit lächeln kann. Aber da wir gerade dabei sind – nehmen Sie nur ruhig meinen Vorschlag an.«

Ein Mann muß unendlich schwach und desperat sein, um unter solchen Umständen seinen Direktor zu reizen. Oder er kann beides sein und dazu Selbstvertrauen haben. Ich weiß, daß ich den Glauben hatte und danach handelte. Ich glaubte an das, was Morrell mir gesagt hatte. Ich glaubte an die Herrschaft des Geistes über den Körper. Und ich glaubte fest, daß nicht einmal hundert Tage Zwangsjacke imstande wären, mich zu töten.

Inspektor Jamie muß den Glauben und die Zuversicht in mir gefühlt haben, denn er sagte:

»Ich erinnere mich eines Schweden, der vor zwanzig Jahren verrückt würde. Das war vor Ihrer Zeit, Herr Direktor. Er hatte einen Mann in einem Streit um fünfundzwanzig Cent getötet und bekam lebenslängliches Zuchthaus dafür. Er war Koch von Beruf. Er wurde gläubig. Er sagte, ein feuriger Wagen käme und führe direkt in den Himmel mit ihm, und er setzte sich auf den Ofen, auf den rotglühenden Rost, und sang Psalmen und Hosianna, während er kochte. Sie zogen ihn herunter, aber zwei Tage darauf starb er im Hospital. Er war bis auf die Knochen gebraten, aber er schwor, daß er nichts davon gemerkt hätte. Nicht die geringste Klage konnten wir aus ihm herausbringen.«

»Aber Standing werden wir schon dazu bringen, daß er klagt«, sagte der Direktor.

»Wenn Sie Ihrer Sache so sicher sind, warum gehen Sie dann nicht auf meinen Vorschlag ein?« sagte ich herausfordernd.

Der Direktor war so wütend, daß meine Idee lächerlich gewesen wäre, würde meine Situation nicht schon im voraus so verzweifelt gewesen sein. Sein Gesicht war verzerrt. Er ballte die Fäuste, und es sah aus, als wollte er sich auf mich stürzen und mich verprügeln. Aber er nahm sich zusammen. »Schön, Standing«, knurrte er. »Ich gehe darauf ein. Aber du kannst dich darauf verlassen, du sollst etwas erleben, um nach den zehn Tagen noch lächeln zu können. Dreht ihn um, Jungens, und schnürt ihn, daß ihr die Rippen krachen hört. Hutchins, zeig, was du taugst.«

Und so rollten sie mich auf den Bauch und schnürten mich ein, wie sie es noch nie mit mir gemacht hatten. Hutchins zeigte wirklich, was er taugte. Ich versuchte, so viel Raum wie möglich zwischen dem Segelleinen und mir zu gewinnen. Nur äußerst wenig war es, denn ich hatte nicht mehr viel Fleisch am Körper, und meine Muskeln waren die reinen Schnüre. Ich hatte weder die Kraft noch den Körperumfang, um mehr als eine ganze Kleinigkeit zu gewinnen, und ich schwöre, daß ich das nur erreichte, indem ich meine Knochen an den Gelenken spreizte, und selbst das elende bißchen nahm Hutchins mir. Er kannte selbst aus Erfahrung alle die Tricks, die man benutzen kann.

Er war eine geborene Sklavenseele – oder auch ein Wesen, das einst ein Mann gewesen, aber durch das Gefängnis geknickt war. Er besaß zehn- oder zwölftausend Dollar und hatte die Aussicht auf seine Freiheit, wenn er Order parierte. Später erfuhr ich, daß ein Mädchen ihm treu geblieben war und auf ihn wartete. Es erklärt vieles, wenn Frauen im Spiele sind.

Wenn je ein Mann mit kalter Überlegung einen Mord beging, dann war es Hutchins an dem Morgen in der Zelle auf Befehl des Direktors. Er raubte mir das elende bißchen Spielraum, das ich mir erschlichen hatte. Und als er es mir geraubt hatte, war mein Körper ganz wehrlos, und den Fuß auf meinen Rücken gestemmt, zog er den Strick durch die Ösen und schnürte mich ein, wie noch kein anderer es je hatte tun können.

So fest wurde mein elender Körper eingeschnürt, und so furchtbar war der Druck auf meine inneren Organe, daß ich mir gleich darüber klar war, daß der Tod nahe war. Und doch besaß ich das Gnadengeschenk des Glaubens. Ich glaubte nicht, daß ich sterben sollte. Ich wußte – ich sage, daß ich wußte –, daß ich nicht sterben sollte. Alles war Nebel vor mir – das Blut hämmerte mir von den Nägeln meiner Zehen bis zu den Haarwurzeln auf meinem Kopfe.

»Na – das ist ganz hübsch fest«, mußte Jamie widerstrebend einräumen.

»Den Teufel ist es«, sagte Doktor Jackson. »Ich sage Ihnen ja, daß nichts ihn umbringen kann. Wenn es mit rechten Dingen zuginge, müßte er schon längst krepiert sein.«

Es glückte Direktor Atherton mit großer Schwierigkeit, einen Finger zwischen meinen Rücken und den Strick zu stecken. Er stemmte mir seinen Fuß auf den Rücken, aber obwohl er sein ganzes Gewicht hineinlegte, konnte er den Strick auch nicht den Bruchteil eines Zolls fester ziehen.

»Ich ziehe den Hut vor dir, Hutchins«, sagte er. »Ich muß sagen, daß du deine Sache verstehst. Na, dreh ihn auf den Rücken und laß ihn uns ansehen.« Sie drehten mich um. Mit Augen, die mir aus dem Kopfe quollen, starrte ich sie an. Über eines war ich mir klar: Hätten sie mich das erstemal, als ich die Zwangsjacke bekam, so eingeschnürt, so wäre ich sicher in wenigen Minuten gestorben. Aber jetzt hatte ich Übung. Hinter mir hatte ich Tausende von Stunden in der Jacke – und dazu kam, daß ich an das glaubte, was Morrell mir erzählt hatte.

»Na, dann lach, den Teufel auch, lach!« sagte der Direktor zu mir. »Lächle nur, wie du geprahlt hast.« Und selbst jetzt – als meine Lungen nach ein wenig Luft dürsteten, mein Herz brechen wollte und mein Hirn schwindlig war –, selbst jetzt war ich doch imstande, dem Direktor ins Gesicht zu lächeln.

 

Die Tür schlug zu und schloß so gut wie alles Licht aus – und ich lag allein drinnen auf dem Rücken. Mit Hilfe der Kniffe, die ich längst gelernt hatte, glückte es mir, mich zollweise über den Fußboden zu schlängeln, bis eine Ecke meiner Schuhsohle die Tür berührte. Das war eine riesige Erleichterung. Ich war jetzt nicht mehr ganz allein. Wenn nötig, konnte ich wenigstens Morrell signalisieren.

Aber der Direktor mußte dem Wärter seine Instruktionen erteilt haben, denn obwohl es mir glückte, Morrell zu rufen und ihm zu erzählen, daß es meine Absicht war, das Experiment zu machen, hinderten sie ihn doch zu antworten. Mich konnten sie nur verfluchen und ausschelten – ich war zu zehn Tagen Zwangsjacke verurteilt und daher über ihre Strafen erhaben.

Ich erinnere mich, daß ich damals selbst meine Seelenruhe beachtete. Mein Körper spürte die gewöhnlichen Qualen der Jacke, aber meine Seele war so passiv, daß sie die Qualen nicht mehr merkte als den Fußboden unter mir und die Wände um mich her. Nie ist ein Mann geistig und körperlich für einen solchen Versuch besser geeignet gewesen. Selbstverständlich kam das zum großen Teil von meiner furchtbaren Schwäche. Aber es war mehr als das. Ich hatte mich lange geübt, Schmerz zu verachten. Ich hatte weder Raum für Zweifel noch für Furcht. Alles, was mein Geist umfaßte, schien ein absoluter, felsenfester Glaube an die Herrschaft des Geistes zu sein. Diese Passivität war fast wie ein Traum, und doch war sie auf ihre Art geradezu übertrieben positiv.

Ich begann, meinen Willen zu konzentrieren. Gerade jetzt begann es in meinem Körper infolge der mangelnden Blutzirkulation zu pochen und zu prickeln. Ich richtete meinen Willen auf den kleinen Zeh meines rechten Fußes. Meinen, ganzen Willen setzte ich dafür ein, daß er aufhören sollte, in meinem Bewußtsein zu leben. Ich wollte, daß er sterben sollte – sterben mit Bezug auf alles, was mich, seinen Herrn, ein von ihm ganz unabhängiges Wesen, betraf. Es war ein schwerer Kampf. Das hatte Morrell mir schon vorausgesagt. Aber es gab nicht einen Funken von Zweifel in mir, der meinen Glauben hätte schwächen können, Ich wußte, daß der Zeh sterben würde, und ich wußte es, als er tot war. Glied für Glied starb er, von meinem Willen dazu gezwungen.

Der Rest war leicht, aber langsam ging es, das muß ich zugeben. Glied auf Glied, eins nach dem andern hörten allmählich alle Zehen an meinen Füßen auf zu existieren. Dann kam der Augenblick, da meine Füße bis zu den Gelenken fort waren – und dann der, da alles bis zu den Knien tot war.

So angespannt war mein Geist, daß ich nicht einmal Stolz oder Freude über den Erfolg fühlte. Ich dachte an nichts als nur daran, meinen Körper sterben zu lassen. Mein ganzes Ich wollte nur das eine – das Werk vollbringen, daß ich so systematisch ausführte, wie ein Maurer seine Mauersteine setzt, und ich betrachtete dieses Werk als etwas ebenso Selbstverständliches wie der Maurer seine Arbeit.

Eine Stunde darauf war mein Körper bis zu den Hüften gestorben – und ich ging weiter, Glied für Glied, mit meinem Willen zum Tode.

Erst als ich an mein Herz kam, zeigte sich in meinem Bewußtsein etwas Unsicherheit und Schwindel. Aus Furcht, das Bewußtsein zu verlieren, konzentrierte ich meinen Willen darauf, den schon erreichten Tod zu bewahren, wechselte dann das Operationsgebiet und begann mit den Fingern. Wieder wurde mein Gehirn klar, und es gelang mir rasch, meine Arme bis zu den Schultern sterben zu lassen.

Jetzt war mein ganzer Körper tot– in seinem Verhältnis zu meinem Ich – außer meinem Kopf und einem kleinen Stück von der Brust. Das Hämmern und Klopfen meines zusammengepreßten Herzens hallte nicht mehr in meinem Hirn wider. Mein Herz schlug fest, aber schwach. Hätte ich in diesem Augenblick Freude fühlen können, so würde ich sie über das Aufhören jeder Empfindung gefühlt haben.

In diesem Punkt weichen meine Erfahrungen von denen Morrells ab. Immer noch automatisch meinen Willen gebrauchend, begannen meine Gedanken zu entgleiten, wie sie es tun, wenn man sich auf der Grenze zwischen Schlafen und Wachen befindet. Es war, als erweiterte mein Hirn sich wunderbar innerhalb der Hirnschale, die selbst ihren Umfang nicht änderte. Hin und wieder kamen Lichtschimmer, als wäre ich einen Augenblick fort und im nächsten Augenblick wieder ich selber, der in dieser irdischen Hülle wohnte, die ich jetzt zum Sterben brachte.

Das allermerkwürdigste war die scheinbare Erweiterung des Gehirns. Ohne daß es die Hirnschale verlassen hatte, kam es mir doch so vor, als sei die Peripherie meines Gehirns schon draußen und erweiterte sich beständig. Gleichzeitig damit kam eines der sonderbarsten Gefühle, die ich je gehabt habe. Zeit und Raum, soweit diese Begriffe Stoff meines Bewußtseins waren, wurden einer riesigen Erweiterung unterzogen. Ohne meine Augen öffnen zu müssen, um es festzustellen, wußte ich, daß die Wände meiner engen Zelle zurückgewichen waren, bis sie so groß war wie ein riesiger Hörsaal. Und die Wände wichen immer weiter zurück. Einen Augenblick fiel mir ein, daß, wenn das ganze Gefängnis sich so erweiterte, die Mauern von San Quentin sich schon auf der einen Seite mitten im Stillen Ozean, auf der andern in der Wüste von Nevada befinden mußten. Eine andere Idee, die ich hatte, ging dahin, daß, wenn Materie Materie durchbrechen konnte, meine Zellenwände die Gefängnismauern durchbrechen, die Zelle so außerhalb des Gefängnisses stellen und mich in Freiheit setzen konnten. Selbstverständlich war das nur ein phantastischer Einfall – und das wußte ich die ganze Zeit.

Die Erweiterung der Zeit war ebenfalls merkwürdig. Nur mit langen Zwischenräumen schlug mein Herz. Wieder hatte ich einen Einfall und zählte die Sekunden, die zwischen jedem Herzschlag vergingen. Anfangs vergingen mehr als hundert Sekunden – allmählich aber wuchsen die Zwischenräume so ungeheuer, daß ich es müde wurde, zu zählen.

Und während diese Illusion von der Erweiterung von Zeit und Raum wuchs und wuchs, ertappte ich mich darüber, wie ich träumend ein neues und tiefes Problem betrachtete. Morrell hatte mir erzählt, daß er seine Freiheit vom Körper erlangt hätte, indem er ihn getötet oder indem er seinen Körper aus seiner Bewußtseinssphäre entfernt hätte, was in Wirklichkeit ja genau dasselbe ist. Nun war mein Körper so nahe am Sterben, daß ich bestimmt wußte, das wenige von meinem Körper, das noch lebte, würde durch eine schnelle Willenskonzentration auch zu leben aufhören. Aber – und das war das Problem, und Morrell hatte mir nichts davon gesagt – sollte ich auch wollen, daß mein Kopf starb? Tat ich das, war dann nicht der Körper Darrell Standings für ewig tot, einerlei, ob sein Geist weiterlebte?

Ich versuchte es mit der Brust und mit meinem schwach klopfenden Herzen. Die schnelle Willenskonzentration glückte. Ich hatte weder Brust noch Herz mehr. Ich war nur Geist, Seele, Bewußtsein, nennen Sie es, wie Sie wollen – verkörpert in einem verschwommenen Gehirn, das, obgleich immer noch in seiner Hirnschale eingeschlossen, sich doch beständig darüber hinaus erweiterte.

Und dann war ich fort! Mit einem Sprung war ich jenseits des Gefängnisdaches und des kalifornischen Himmels – droben zwischen Sternen. Ich war ein Kind. Ich trug ein zartes, wolliges, feinfarbiges Gewand, das in dem kalten Sternenschein schimmerte. Dieses Gewand beruht natürlich auf Kindheitserinnerungen an Zirkusartisten und an die Auffassung, wie Engel gekleidet sein mußten.

Nichtsdestoweniger schwärmte ich unter den Sternen umher, erregt durch meine Gewißheit, daß ich auf der Jagd nach dem großen Abenteuer war, wo ich schließlich die Formeln, nach denen die Welt regiert wurde, finden und das letzte Mysterium des Universums entdecken sollte. In der Hand hielt ich einen langen Glasstab. Mir fiel ein, daß es meine Pflicht wäre, jeden Stern mit der Spitze dieses Glasstabes zu berühren. Und ich war mir ganz klar darüber, daß ich, wenn ich auch nur einen einzigen Stern nicht berührte, unwiderruflich in irgendeinen unermeßlichen Abgrund ewiger Verdammnis und Strafe stürzen würde. Lange schweifte ich auf meiner Sternenjagd umher. Wenn ich »lange« sage, so müssen Sie an die ungeheure Erweiterung des Begriffes Zeit in meinem Gehirn denken. Jahrhunderte lang wanderte ich durch den Weltraum und berührte jeden Stern mit meinem Stabe. Immer heller wurde der Weg. Immer näher lag das Ziel der unendlichen Weisheit vor mir. Und doch irrte ich mich nicht. Immer war ich es, Darrell Standing, der hier zwischen den Sternen ging – kurz, ich wußte, daß, was ich hier erlebte, weder wirklich war noch je wirklich werden konnte. Ich wußte, daß dies alles nichts war als eine lächerliche Orgie meiner Phantasie, wie es in Opiumgeschichten, Delirien oder ganz gewöhnlichen Träumen vorkommt.

Und dann, als alles auf meiner Himmelswanderung gerade so glänzend ging, traf ich einen Stern nicht und wußte gleich, daß ich ein schweres Verbrechen begangen hatte. Ein ungeheures, unerbittliches und streng befehlendes Geräusch, ein Klopfen mit einem metallischen Klang wie das Kupfergebrüll der Posaune des Weltgerichts stürzte über mich herein und hallte im Universum wider. Das ganze Sternensystem flammte auf, tanzte in Kreisen und versank flammend in der Finsternis.

Ich fühlte einen schwindelnden, zerreißenden Schmerz – und im selben Augenblick war ich wieder Darrell Standing, der Lebenslängliche, der in der Zwangsjacke in seiner Zelle lag. Und ich wußte, was mich so ins Leben zurückgerufen hatte. Es war das Klopfen Morrells in der Zelle fünf – er hatte angefangen, mir irgendeine Mitteilung zuzuklopfen.

Um Ihnen jetzt einen Eindruck von der wunderbaren Erweiterung von Zeit und Raum zu geben, die ich fühlte, will ich nur erzählen, daß ich viele Tage später Morrell fragte, was für eine Mitteilung er mir hatte machen wollen. Es war ganz einfach: »Standing, bist du da?« Er hatte es schnell hintereinander geklopft, als der Wärter sich am andern Ende des Ganges befand. Und obwohl er so schnell klopfte – war ich doch zwischen dem ersten und zweiten Klopfen weit fort, über alle Berge, zwischen den Sternen, in das schimmernde Gewand gekleidet, und berührte jeden Stern, den ich auf meiner Wanderung traf, mit dem Schlüssel zu allen großen Mysterien des Lebens. Und wie zuvor wanderte ich jahrhundertelang dort oben. Dann kam wieder dieses Dröhnen des Weltgerichts, derselbe Schmerz, und wieder war ich in meiner Zelle. Es war das zweite Klopfen von dem Knöchel Ed Morrells. Der Zwischenraum zwischen dem ersten und zweiten Klopfen betrug kaum mehr als fünfzehn Sekunden. Und doch – so unfaßbar groß war die Erweiterung der Zeit für mich, daß ich im Laufe einer Fünftelsekunde Jahrhunderte zwischen Sternen geschwärmt hatte.

Ja – ich weiß gut, daß das, was ich soeben geschrieben habe, den Eindruck wirren Unsinns macht. Ja – das ist es auch. Und doch war es eine Erfahrung. Es war für mich ebenso handgreifliche Wirklichkeit wie die Schlange, die ein Mann im Delirium tremens sieht.

Vielleicht hat Ed Morrell, hoch gerechnet, zwei Minuten gebraucht, um seine Frage zu klopfen. Und doch war es mir, als verliefe zwischen dem ersten und zweiten Klopfen eine Ewigkeit. Ich konnte nicht mehr mit meiner aufrichtigen Freude den sternenübersäten Pfad schreiten; denn mein Weg war von der Furcht vor diesem Strafurteil erfüllt, das mich zerreißen wollte und mich zurückwarf – in die Hölle meiner Zwangsjacke. Die Ewigkeiten meiner Sternenwanderungen wurden zu Ewigkeiten von Schrecken.

Und beständig wußte ich, daß es Ed Morrells Hand war, die mich so grausam an die Erde fesselte. Ich versuchte, zu ihm zu reden, ihn zu bitten aufzuhören. Aber so vollkommen hatte ich meinen Körper von meinem Bewußtsein losgelöst, daß ich nicht imstande war, meinen Fuß zu bewegen. Ich sagte mir, daß ich einen Fuß hatte – aber es half nichts.

Dann – und jetzt weiß ich, daß Morrell seinen Satz beendet hatte – setzte ich meinen Weg zwischen den Sternen fort und wurde nicht wieder zurückgerufen. Allmählich merkte ich – auf eine verschwommene, schläfrige Art –, daß ich einschlafen wollte, und es war ein wunderbarer Schlaf. Hin und wieder regte ich mich schläfrig – beachten Sie, ich sagte: Ich regte mich. Ich bewegte meine Arme und Beine. Ich bemerkte, daß meine Haut reines weiches Leinen berührte. Ich fühlte ein wunderbares körperliches Wohlbehagen. Wie dürstende Männer in der Wüste von rieselnden Quellen und kühlen Brunnen träumen, so träumte ich von der Herrlichkeit, von der Jacke befreit zu sein, von Reinlichkeit statt des Schmutzes, von glatter, weicher Haut statt meines armen, pergamentdürren Fells. Aber mein Traum war nicht ganz Traum, wie Sie sehen werden.

Ich wachte auf. Ganz wach war ich, wenn ich auch die Augen nicht öffnete. Und beachten Sie wohl, daß ich bei allem, was jetzt folgt, durchaus keine Überraschung fühlte. Alles war mir natürlich und ganz wie erwartet. Ich war ich, das war sicher. Aber ich war nicht Darrell Standing. Darrell Standing hatte mit dem Wesen, das ich war, nicht mehr zu schaffen als die Pergamenthaut Darrell Standings mit der kühlen, weichen Haut, die mein war. Ich ahnte auch nichts von der Existenz eines Darrell Standing – was ich auch nicht gut konnte, da dieser Darrell Standing erst Jahrhunderte später geboren wurde. Aber Sie werden sehen.

Mit geschlossenen Augen, schläfrig lauschend, lag ich da. Draußen ertönte das Klappern vieler Pferdehufe auf Steinfliesen. An dem gleichzeitigen Klirren von Metall erkannte ich, daß es eine Kavalkade war, die unter meinem Fenster die Straße hinabritt. Irgendwo – ich wußte übrigens, wo, denn es war der Hof des Wirtshauses – ertönte das Trampeln von Pferden, und ich hörte ein ungeduldiges Schnaufen, das, wie ich wußte, von meinem Pferd kam, welches dort auf mich wartete.

Dann ertönten Schritte – Schritte, die tun sollten, als wären sie gedämpft, offenbar aber in Wirklichkeit die Absicht hatten, mich zu wecken. Ich lächelte bei mir über die Findigkeit des Burschen.

»Pons«, befahl ich, ohne die Augen zu öffnen, »Wasser, kaltes Wasser, eine ganze Sintflut, schnell! Ich trank gestern abend mehr, als mir gut war, und mein Hals ist wie eine Wüste.«

»Und der Herr haben heute verschlafen«, schalt er, mir das Wasser reichend.

Ich setzte mich im Bett auf und hielt mir mit beiden Händen die Kanne an den Mund. Während ich trank, sah ich Pons an.

Beachten Sie nun bitte zweierlei. Ich sprach französisch und war mir dessen gar nicht bewußt. Erst als ich mich hinterher in meiner Zelle dessen erinnerte, was ich jetzt erzähle, wußte ich, daß ich französisch gesprochen hatte – und zwar gut. Nun habe ich, Darrell Standing, allerdings französisch gelernt, so daß ich es lesen kann – aber sprechen: unmöglich! Ich kann kaum die Namen der Gerichte auf den Menükarten aussprechen.

Aber, wie gesagt, Pons war ein welker kleiner Mann, in unserm Hause geboren und gegen sechzig Jahre alt. Fast ganz zahnlos und doch, trotz einem Hüftschaden, der ihn zu hinken zwang, sehr rührig. Unverschämt vertraulich war er auch. War er doch seit sechzig Jahren in meinem Hause. Er war meines Vaters Diener gewesen, ehe ich noch watscheln konnte, und wurde nach dem Tode meines Vaters mein Diener. Den Hüftschaden hatte er sich in einer Schlacht zugezogen, wo er gerade meinen Vater unter dem Pferde herausgezogen hatte, als ein feindlicher Reiter ihm die Lanze durch den Schenkel stieß und ihn niederritt. Mein Vater hatte alles gesehen – und dadurch erlangte Pons sein Recht, mir gegenüber vertraulich zu sein. Pons schüttelte den Kopf, während ich die Kanne austrank.

»Hast du es kochen hören?« lachte ich und reichte ihm die Kanne.

»Genau wie Euer Vater«, sagte er hoffnungslos.

»Aber Euer Vater lernte doch etwas Besseres – das tut Ihr ja leider nicht.«

»Er bekam einen schlechten Magen«, neckte ich ihn, »so daß ein Schluck Wein ihn umkehrte. Was ist es schon für eine Weisheit, nicht zu trinken, wenn der Bauch den Trunk nicht behalten will.« Während wir schwatzten, legte Pons mir die Kleider für den Tag zurecht.

»Ja, trinkt nur, Herr«, antwortete er. »Es tut Euch wohl nichts, Ihr werdet schon noch einmal sterben, ohne daß Euerm Magen etwas fehlt.«

»So, du meinst also, daß ich einen Straußenmagen habe?« Absichtlich mißverstand ich ihn.

»Ich meine –« begann er mürrisch, hielt aber inne, als er merkte, daß ich mich über ihn lustig machte, und legte meinen neuen, mit Zobel verbrämten Mantel über eine Stuhllehne. »Achthundert Dukaten«, zischte er. »Und tausend Ziegen und hundert fette Ochsen in einem Mantel angelegt, um den Leib Euer Gnaden warm zu halten. Ein Dutzend Bauernhöfe auf den edlen Rücken meines Herrn gehängt.«

»Und hierin hundert gute Höfe mit einem Schloß oder zwei«, sagte ich und streichelte meinen Degen, mit dem er sich gerade vor mich hingestellt hatte. »Ja, ja – das errang Euer Vater mit seiner guten Rechten«, antwortete Pons. »Aber was er errang, das behielt er auch.«

Pons schwieg einen Augenblick, um sich über mein neues rotes Seidenwams zu ärgern – ein herrliches Kleidungsstück, das anzuschaffen ich leichtsinnig genug gewesen war.

»Sechzig Dukaten für ein solches Stück Zeug«, bemerkte Pons. »Euer Vater hätte lieber alle Schneider und Juden in der ganzen Christenheit in der Hölle braten sehen, als daß er einen solchen wahnsinnigen Preis bezahlt hätte.«

Während Pons mir ins Zeug half, zankte ich mich weiter mit ihm.

»Es ist doch klar, Pons, daß du das Neueste noch nicht gehört hast«, warf ich schlau hin.

Der alte Schwätzer spitzte die Ohren.

»Das Neueste?« fragte er: »Vielleicht vom englischen Hof?«

»Nein« – ich schüttelte den Kopf – »aber doch etwas Neues für dich, wenn uns andern auch altbekannt. Herr Gott, hast du es nicht gehört? Die Philosophen in Griechenland flüsterten schon vor bald zweitausend Jahren davon. Und dabei ist die Neuigkeit doch schuld daran, daß ich zwanzig fette Bauernhöfe auf dem Rücken trage, bei Hofe lebe und ein Stutzer geworden bin. Siehst du, Pons, die Welt ist schlecht, das Leben traurig, alle Menschen müssen sterben, und wenn sie tot sind ... nun ja, dann sind sie eben tot. Um Sorgen und Elend zu entgehen, muß ein Mann wie ich immer das Unglaubliche und Irrsinnige suchen.«

»Aber die Neuigkeit, Herr? Was ist es, worüber diese Philosophen vor so langer Zeit flüsterten?«

»Daß Gott tot war, Pons«, antwortete ich feierlich. – »Wußtest du das nicht? Ja, Gott ist tot, und ich sterbe auch wohl bald, und ich gehe mit zwanzig fetten Bauernhöfen auf dem Rücken.«

»Gott lebt!« behauptete Pons überzeugt – »Gott lebt, und sein Reich steht vor der Tür. Ich sage Euch, Herr, es steht vor der Tür. Vielleicht wird die Welt schon morgen untergehen.«

»Ja ja, Pons, das sagten sie schon im alten Rom, als Nero Fackeln aus den Christen machte.«

Pons sah mich mitleidig an:

»Allzuviel Gelehrsamkeit ist wie eine Krankheit – ich bin immer dagegen gewesen. Aber Ihr mußtet ja Euern Willen haben und mich alten Kadaver mit Euch durch die sündige Welt schleifen – bald mußten wir Astronomie in Venedig studieren, bald Dichtkunst und all diese italienischen Dummheiten in Florenz und Astrologie in Pisa – und Gott mag wissen, was in diesem Tollhäuslerland Deutschland. Der Teufel soll die Philosophen holen! Ich sage Euch, Herr – ja, ich, Pons, Euer elender Diener, ein armer, alter Mann, der einen Buchstaben nicht von einem Lanzenschaft unterscheiden kann – ich sage Euch, Gott lebt, und es wird nicht lange dauern, bis Ihr vor seinen Thron treten sollt.« Er schwieg, da ihm plötzlich etwas eingefallen war, und dann fügte er hinzu: »Er ist draußen, der Pfaff, von dem Ihr redetet.«

Gleich erinnerte ich mich, daß ich den Mann bestellt hatte.

»Warum sagtest du das nicht gleich?« fragte ich zornig. »Was hat das zu bedeuten?«

Pons zuckte die Achseln. »Er wartet ja doch schon seit zwei Stunden.«

»Warum hast du mich nicht gerufen?«

Er betrachtete mich nachdenklich und kritisch.

»Als Ihr Euch im Bett wälztet und wie ein Hahn: Kikiriki, kikiriki, kikiriki, kikiriki, kikiriki, kikiriki schriet – da war es wohl besser, es zu lassen.« Er äffte diesen sinnlosen Refrain in einem ohrzerreißenden Falsett nach. Vermutlich hatte ich beim Zubettgehen den Unsinn gebrüllt.

»Du hast ein gutes Gedächtnis«, bemerkte ich trocken.

»Dazu braucht man kein gutes Gedächtnis – Ihr brülltet es ja mindestens tausendmal, der ganze Gasthof war auf den Beinen und schimpfte, daß keiner Euretwegen schlafen konnte – und im übrigen: batet Ihr mich nicht, oder vielmehr, packtet mich am Arm, daß er heute noch blau und gelb ist, und befahlt mir, Euch, wenn mir das Leben lieb wäre, den ganzen Morgen schlafen zu lassen, außer in einem einzigen Fall.«

»Und das war?«

»Daß ich Euch das Herz Martinellis rauchend warm auf einer goldenen Schüssel bringen könnte. Ich weiß nicht, wer Martinelli ist, aber aus Gold sollte die Schüssel sein – und dann sangt Ihr wieder dies Kikiriki – kikiriki!«

Jetzt erinnerte ich mich des Namens – das war ja der Pfaff, der seit zwei Stunden wartete, der Schuft.

Als Martinelli dann eintrat, begrüßte er mich bei meinem Namen und allem – und da war ich im Bilde. Ich war Graf Guillaume de Sainte-Maure. (Sehen Sie, damals wußte ich nur das und erinnerte mich nur dessen, was in meinem Bewußtsein war.)

Der Pfaff war ein kleiner dunkler Italiener, mager wie von Fasten oder von einem Hunger, der nicht von dieser Welt war, und seine Hände waren so klein und schmal wie die einer Frau. Und seine Augen. Die waren schlau und falsch – scharf wie die eines Wiesels und gleichzeitig schläfrig wie die einer Eidechse.

»Es geht alles zu langsam, Graf de Sainte-Maure«, begann er gleich, als Pons das Zimmer verlassen hatte. »Er, dem ich diene, wird ungeduldig.«

»Fang in einer andern Tonart an, Pfaff«, unterbrach ich ihn zornig. »Denke daran, daß du nicht in Rom bist.«

»Mein erhabener Herr –« begann er wieder.

»Dein Herrscher in Rom ist erhaben, vielleicht«, unterbrach ich ihn wieder. »Aber wir sind in Frankreich.«

Martinelli zuckte demütig die Achseln, aber sein Blick war alles eher als demütig.

»Mein erhabener Herr hat doch allerlei mit Frankreich zu tun«, sagte er ruhig. »Die erwähnte Dame ist nicht für Euch bestimmt. Mein Herr hat andere Pläne ...« Er befeuchtete sich die Lippen mit der Zungenspitze – »andere Pläne mit der Dame – und mit Euch.«

Selbstverständlich wußte ich, daß die Dame, von der er sprach, die Herzogin Philippa, die Witwe des letzten Herzogs von Aquitanien war. Aber wenn sie auch Herzogin, Witwe und alles mögliche war, so war Philippa doch vor allem Weib. Sie war jung, heiter, schön und, meiner Treu, wie für mich geschaffen.

»Was für Pläne sind es, die er hat?« fragte ich.

»Sie sind groß, sie sind umfassend, Graf Sainte-Maure – allzu umfassend, als daß ich sie zu ergründen, geschweige denn mit Euch oder einem andern darüber zu reden wagte.«

»Nun ja – ich weiß ja, daß große Dinge im Werden sind, und daß schleimige Schlangen im Boden unter uns arbeiten«, sagte ich.

»Man sagte mir wohl, daß Ihr eigensinnig und starrköpfig wäret. Aber jetzt habe ich ausgerichtet, was mir befohlen war.«

Martinelli erhob sich, um zu gehen – und ich erhob mich auch.

»Ich sagte gleich, daß es keinen Zweck hätte«, fuhr er fort, »aber wir wollten Euch doch eine letzte Möglichkeit geben, Eure Meinung zu ändern. Mein erhabener Herr richtet keinen ungehört.«

»Schön – ich werde näher über die Sache nachdenken«, sagte ich von oben herab – als ich den Pfaffen hinausbegleitete. Er blieb plötzlich stehen: »Jetzt ist es zu spät zum Denken. Ich kam, um einen Entschluß zu hören.«

»Ich werde näher über die Sache nachdenken«, wiederholte ich, fügte dann aber hinzu: »Wenn die Pläne der Dame nicht mit den meinen übereinstimmen, dann wird vielleicht geschehen, was Euer Herr wünscht. Vergiß nicht, Pfaff, daß dein Herr nicht der meine ist.«

»Ihr kennt ihn nicht«, sagte er feierlich.

»Ich wünsche ihn auch nicht zu kennen«, antwortete ich.

Und ich lauschte den leichten Tritten des ränkevollen Pfaffen, der die knarrende Treppe hinabstieg.

Wenn ich alle Einzelheiten dessen beschreiben wollte, was ich im Laufe des halben Tags und der halben Nacht sah, die ich Graf Guillaume de Sainte-Maure war, so könnten zehn Bände wie der, an dem ich schreibe, es nicht fassen. Das meiste muß ich überspringen.

Als ich an diesem Tage durch die Straßen von Paris ritt, war es das Paris vor Jahrhunderten. Die engen Gassen waren schrecklich voll von Schmutz und Schlamm. Aber ich muß es überspringen. Und ebenso will ich die Vorgänge des Nachmittags überspringen, den Ritt vor den Mauern, das Fest, das Hugh de Meung gab, das Trinkgelage, an dem ich jedoch nur wenig teilnahm. Nur von dem Ende meines Abenteuers will ich erzählen – das damit beginnt, wie ich mit Philippa selbst scherzte – Götter, wie schön sie war!

Wir lachten und scherzten hier, während rings um uns Lachen und Ausgelassenheit herrschte. Unter unserm Scherz jedoch lag der tiefe Ernst zwischen Mann und Frau, die beide die Schwelle der Liebe überschritten haben, aber einander noch nicht ganz sicher sind. Ich will sie nicht beschreiben. Sie war klein und schlank – nun, ich bin schon dabei, sie zu beschreiben. Kurz – für mich war sie die einzige Frau auf der Welt, und nur sehr wenig dachte ich daran, daß der lange Arm, der dem kleinen grauen Mann in Rom gehörte, sich über das halbe Europa strecken und mich von ihr trennen könnte.

Und der Italiener Fortini beugte sich über meine Schulter und flüsterte mir zu:

»Ich wünsche mit Euch zu reden.«

»Dann wartet, bis es mir paßt«, antwortete ich kurz.

»Ich warte nicht, bis es jemand paßt«, lautete seine ebenso kurze Antwort.

Das Blut kochte in meinen Adern, und ich erinnerte mich des Pfaffen Martinelli und des grauen Mannes in Rom. Es war klar. Es war überlegt. Fortini lächelte mich an, und in seinem Lächeln lag ein Abgrund von Unverschämtheit.

Gerade in diesem Augenblick hätte ich kalt und ruhig sein sollen. Aber – ich begann Blut zu sehen. Das war das Werk des Pfaffen. Dies war Fortini – in jeder Beziehung heruntergekommen und als der beste Fechter Italiens angesehen. Ja – heute war es Fortini. Wenn er abfiel, trat der nächste Degen morgen an und so weiter. Und glückte es doch nicht – ja, dann konnte ich eines dunklen Abends den Meuchelmörderdolch eines Banditen in den Rücken oder die Essenz eines Giftmischers in meinem Wein erwarten.

»Ich habe keine Zeit«, sagte ich. »Geht jetzt.«

»Meine Angelegenheit hat Eile«, war seine Antwort.

Ohne daran zu denken, waren unsere Stimmen laut geworden, so daß Philippa es bemerkte.

»Geh jetzt, du Hund von Italiener«, sagte ich. »Heule nicht mehr vor meiner Tür. Ich werde gleich hinauskommen.«

»Der Mond scheint«, sagte er. »Das Gras ist trocken und ohne Tau. Hinter dem Fischteich, einen Pfeilschuß nach links, ist eine freie Stelle – ganz einsam.«

»In einem Augenblick sollt Ihr haben, was Ihr wünscht«, murmelte ich ungeduldig.

Aber er ging nicht.

»Ja, ja«, sagte ich, »ich komme gleich.«

Dann sprach Philippa, und der kecke Geist in ihr, aller Stahl in ihrem Charakter sprach aus ihren Worten.

»Erfüllt dem Herrn nur seinen Wunsch, Sainte-Maure, geht nur jetzt mit ihm. Und – Glückauf.« Sie schwieg einen Augenblick, um ihren Onkel, Jean de Joinville, zu sich zu bitten. »Ja, das Glück möge Euch begleiten«, wiederholte sie und beugte sich zu mir, so daß sie flüstern konnte: »Und mein Herz begleitet dich, Sainte-Maure. Bleib nicht zu lange. Ich warte in der großen Halle.«

Ich war im Himmel. Zum erstenmal hatte sie mir frei ihre Liebe gezeigt. Mit einem solchen Segen fühlte ich mich so stark, daß ich wußte, ich konnte zwanzig Fortinis töten und war über zwanzig alte graue Männer in Rom erhaben.

Jean de Joinville führte Philippa im Gedränge fort, und Fortini und ich besprachen unsere Begegnung. Wir trennten uns – er, um einen Freund oder zwei zu suchen, ich, um einen Freund oder zwei zu suchen, und alle sollten wir uns an der entlegenen Stelle hinter dem Fischteich treffen. Ehe ich mit den zwei Freunden, Robert Lanfranc und Henry Bohemond, die ich mitnehmen wollte, sprechen konnte, traf ich das Schilfrohr, das mir zeigte, woher der Wind wehte, und daß dieser Wind ein Sturm war. Das Schilfrohr war Guy de Villehardouin, ein junger Mann aus der Provinz, eben erst an den Hof gekommen, aber ein flammender kleiner Kampfhahn. Als ich an ihm vorbeikam, stieß er mich an. Selbstverständlich mit Absicht. »Wahrlich«, dachte ich, »der graue Mann hat merkwürdige Werkzeuge«, und zu dem jungen Mann sagte ich laut: »Verzeiht meine Ungeschicklichkeit! Es war meine Schuld! Verzeiht mir, Villehardouin.« Aber so leicht war er nicht zufriedenzustellen. Und wie er noch dastand und mich wütend ansah, erblickte ich Lanfranc, winkte ihm und erklärte ihm das Geschehene.

»Sainte-Maure hat sich ja bei Euch entschuldigt«, lautete sein Urteil.

»Das habe ich getan«, warf ich mit meiner sanftesten Stimme ein, »und ich tue es noch einmal. Es war meine Schuld, wenn es auch ohne Absicht geschah.«

Er war genötigt, meine Entschuldigung anzunehmen, während Lanfranc und ich aber hastig weitergingen, war ich sicher, daß wir – Villehardouin und ich – ehe viele Tage verstrichen waren, unsere Degen im Zweikampf messen würden. Ich erzählte Lanfranc nur das Nötigste – es genügte ihm auch. Er war selbst ein Draufgänger von zwanzig Jahren – und seine schwarzen Augen leuchteten vor Freude über das, was es geben sollte; er war so eifrig, daß er es war, der Henry Bohemond holte.

Als wir drei zu der verabredeten Stelle kamen, waren Fortini und seine beiden Sekundanten, Pasquini und de Goncourt, schon dort. Es wunderte mich, Goncourt zu sehen, denn er war zu anständig für die Gesellschaft, in der er sich befand. Wir grüßten uns. Der Mond schien, und bald hatten Fortini und ich blankgezogen.

Eines weiß ich: war ich ein guter Fechter, so war Fortini ein noch besserer. Und noch eines wußte ich: daß ich an diesem Abend das Herz meiner Dame hatte, und daß es an diesem Abend – durch meine Hilfe – einen Italiener weniger auf der Welt geben sollte. Das wußte ich. Und ich gedachte nicht, den Kampf zu lange dauern zu lassen. Schnell und flott war immer meine Devise gewesen. Und ich merkte auch selbst, daß das Leben, das ich die letzten Monate geführt hatte – Kikiriki – kikiriki! – mich nicht für Anstrengungen geeignet machte, die zu lange dauerten. Also: schnell und flott!

Aber es ist nicht so leicht, wenn man mit einem Fechter wie Fortini zu tun hat. Zudem hieß es, daß er immer seinen kalten, nüchternen Kopf behielt und eine sichere, unermüdliche Hand hatte.

Bald merkte ich, daß auch er die Absicht hatte, den Kampf schnell zu entscheiden. Ich zweifle, ob ich meinen Trick hätte ausführen können, wenn statt des Mondes die Sonne geschienen hätte. Das verschwommene Licht half mir. Und mir half meine Fähigkeit, im voraus zu erraten, was er im Sinne hatte. Es war der gleichzeitige Angriff, ein üblicher, aber gefährlicher Trick, der, wie jeder Anfänger weiß, manchen guten Mann, der ihn versucht hat, auf den Rücken geworfen hat. Und so gefährlich ist es für den, der ihn ausübt, daß die Fechtmeister ihn nicht lieben.

Kaum eine Minute hatten wir die Klingen gekreuzt, als ich auch schon wußte, daß es das war, was er wollte. Er wünschte, daß ich einen langen Ausfall machte, nicht, damit er ihn parierte, sondern damit er die Wirkung durch die übliche kleine Drehung des Handgelenks aufhob, so daß mein dem eigenen Stich folgender Körper sich selbst auf seiner Degenspitze aufspießte. Eine kitzlige Sache – gewiß, eine kitzlige Sache selbst in der besten Beleuchtung. Drehte er das Handgelenk nur eine Kleinigkeit zu früh, so war ich gewarnt und gerettet. War es einen Augenblick zu spät – ja, dann hatte mein Stich schon gewirkt.

»Schnell und flott«, dachte ich. »Schön. So soll es sein.«

Gewissermaßen war es gleichzeitiger Angriff gegen gleichzeitigen Angriff; aber ich wollte ihn anführen und doppelt so schnell sein. Und ich war es. Wir hatten kaum eine Minute gekämpft, als es geschah. Schnell? Ich schwöre, daß mein Stoß und Ausfall nur um den Bruchteil einer Sekunde schneller waren, als man von dem Stoß und Ausfall eines Mannes vermuten kann. Ich gewann mit dem Bruchteil einer Sekunde. Es war seine Klinge, die zur Seite gedreht wurde. Es blitzte an meiner Brust vorbei – und meine Klinge war in ihm, durch seine Brust hindurch.

Es ist etwas Seltsames, einen Mann auf einem Stück Stahl aufzuspießen. Hier sitze ich nun in meiner Zelle und halte inne mit Schreiben, während ich über diese Sache grübele. Oft habe ich über diese Mondnacht in der Vergangenheit Frankreichs nachgedacht, als ich den Hund von Italiener lehrte, was »schnell und flott« ist. Es war etwas so Leichtes, eine Brust zu durchbohren. Man hätte mehr Widerstand erwarten sollen – aber meine Klinge stieß nur auf Fleisch. Ich kann noch jetzt, während ich dies schreibe, das Gefühl in meiner Hand, in meinem Hirn spüren. Die Hutnadel einer Frau kann nicht leichter durch einen Plumpudding gehen als meine Klinge durch diesen Italiener. Ach – für Guillaume de Sainte-Maure war nichts Merkwürdiges daran; aber für mich, Darrell Standing, ist es verblüffend, jetzt, da ich mich dessen entsinne und seit Jahrhunderten darüber grübele. Es ist so leicht, einem starken lebenden Mann mit einer so primitiven Waffe das Leben zu nehmen. Menschen sind ja wie Krebse, die ihre Schale abgelegt haben, so weich, gebrechlich und verwundbar sind sie.

Aber zurück zum Mondschein auf dem Grase. Als ich zugestoßen hatte, trat eine Pause ein. Fortini fiel nicht gleich. Und ich zog meine Klinge nicht gleich zurück. Eine volle Sekunde standen wir da – ich mit gespreizten Beinen, gebeugt und gespannt, den Körper vorgeworfen und den rechten Arm wagerecht ausgestreckt, während seine Hand mit dem Degengriff leicht auf meiner linken Brust ruhte. Sein Körper war starr, seine Augen waren offen und schimmernd.

So statuenhaft standen wir da, daß ich schwören möchte, die Umstehenden verstanden nicht gleich, was geschehen war. Dann ächzte Fortini und hustete leicht; die Starre seiner Stellung erschlaffte. Der Arm fiel seitwärts nieder, so daß die Degenspitze auf dem Rasen ruhte. Pasquini und de Goncourt waren hinzugesprungen, und er sank ihnen in die Arme. Wahrlich – es wurde mir schwerer, meine Waffe aus ihm herauszuziehen, als es gewesen war, sie in ihn hineinzustoßen. Sein Fleisch klebte an der Klinge, als wollte es sie nicht loslassen. Es bedurfte direkt einer körperlichen Anstrengung.

Aber dieser Chock mußte ihn zu Leben und Entschluß geweckt haben; denn er schüttelte seine Freunde ab und hob seinen Degen. Ich ging auch in Deckstellung und dachte an die Möglichkeit, daß ich ihn durchbohrt hätte, ohne einen edleren Teil getroffen zu haben. Plötzlich aber brachen seine Beine unter ihm zusammen, und er fiel schwer zu Boden. Sie legten ihn auf den Rücken, aber er war schon tot. Sein Gesicht war unheimlich weiß anzusehen im Mondschein. Seine Rechte umklammerte immer noch den Degengriff.

Ja, ja – es ist wunderbar leicht, einen Menschen zu töten.

Wir grüßten seine Freunde und wollten gehen, als Pasquini mich zurückhielt.

»Entschuldigt mich für heute abend«, sagte ich. »Laßt es bis morgen warten.«

»Wir brauchen nur ein paar Schritte weiter zu gehen«, sagte er, »dort ist das Gras trocken.«

»Dann laß es mich für dich anfeuchten, Sainte-Maure«, bat Lanfranc, der selbst gern einen Italiener abtun wollte.

Ich schüttelte den Kopf.

»Pasquini ist mein Mann«, antwortete ich. »Er soll morgen der erste sein.«

»Sind es noch mehr?« fragte Lanfranc.

»Frag de Goncourt«, lachte ich, »ich denke, er wird sich schon die Ehre ausbitten, mich als Nummer drei mit Beschlag zu belegen.«

Verwirrt nickte de Goncourt.

»Und nach ihm kommt sicher der junge Hahn«, fuhr ich fort.

Und noch während ich sprach, kam der rothaarige Guy de Villehardouin über das mondhelle Gras langsam auf uns zu.

»Den überläßt du mir doch wenigstens«, rief Lanfranc eifrig.

»Frag ihn«, lachte ich und wandte mich zu Pasquini.

»Morgen«, sagte ich. »Nennt Ort und Zeit, und ich werde da sein.«

»Das Gras ist ausgezeichnet hier«, reizte er mich, »der Ort ist gut, und ich möchte gern, daß Fortini heute nacht noch Eure Gesellschaft hat.«

»Dann soll er lieber von einem Freund begleitet werden«, lächelte ich. »Aber jetzt entschuldigt mich, ich muß gehen.«

Aber er vertrat mir den Weg.

»Wer es auch werden mag, laßt es jetzt geschehen.«

Zum erstenmal begann ich zornig zu werden.

»Ihr dient Euerm Herrn brav«, höhnte ich ihn.

»Ich folge nur meiner eigenen Lust«, antwortete er, »einen Herrn habe ich nicht.«

»Hoffentlich, Pasquini, entschuldigt Ihr freundlichst, daß ich Euch die Wahrheit sage.«

»Und welche?« fragte er sanft.

»Daß Ihr ein Lügner seid – wie alle Italiener.«

Er wandte sich gleich zu Lanfranc und Bohemond.

»Ihr Herren hörtet, was er sagte!« rief er, »jetzt könnt Ihr ihn mir nicht mehr verweigern.«

Sie zögerten und sahen mich an, um meinen Rat einzuholen. Aber Pasquini wartete nicht.

»Wenn Ihr Herren noch Skrupel habt, so laßt sie mich entfernen ... so.«

Und er spie ins Gras vor meinen Füßen. Da geriet ich außer mir – ich sah Blut. Ich vergaß, daß Philippa in der großen Halle auf mich wartete. Alles, was ich wußte, war das Unrecht, das mir angetan wurde – der alte graue Mann in Rom, der Auftrag des Pfaffen, die Unverschämtheit Fortinis, die Frechheit Villehardouins, und nun dieser Räuber Pasquini, der sich mir in den Weg stellte und ins Gras spie. Ich sah Blut. Ich dachte Blut. Ich betrachtete diese Menschen als hochgeschossenes Unkraut, das von meinen Wegen entfernt werden mußte; aus der Welt mit ihnen! Wie ein Löwe im Netz gegen die Maschen wütet, so wütete ich gegen diese Schmarotzer. Sie umgaben mich von allen Seiten. Wahrlich, ich war in der Falle. Das einzige Mittel, herauszukommen, war, daß ich sie unter meiner Ferse zertrat.

»Gut«, sagte ich ganz ruhig, obwohl vor Leidenschaft zitternd. »Ihr zuerst, Pasquini, und dann Ihr, Goncourt? Und zuletzt Ihr, Villehardouin, nicht wahr?«

Alle drei nickten.

»Da Ihr solche Eile habt«, schlug Bohemond mir vor, »und da Ihr drei seid und wir drei sind – warum sollten wir dann nicht die Sache auf einmal erledigen?«

»Ja, ja, laßt uns das!« rief Lanfranc eifrig, »nimm du Goncourt auf dich. De Villehardouin ist mein Mann.«

Aber ich winkte sie beiseite.

»Die Herren sind auf Befehl hier«, erklärte ich, »ich bin es, auf den sie es abgesehen haben. Ja, so abgesehen, daß ihr Wunsch mich schon angesteckt hat und ich die Herren für mich allein fordere.« Ich bemerkte, daß die Zeit, die diese Erklärungen beanspruchten, Pasquini reizte, und ich beschloß, ihn noch mehr zu reizen.

»Ja, Pasquini«, sagte ich, »in einem Augenblick werde ich Euch erledigen. Ich möchte nicht gern, daß Fortini allzulange auf Eure Begleitung wartet – und Euch, Raoul de Goncourt, werde ich strafen, wie Ihr es verdient, weil Ihr schlechte Gesellschaft sucht. Ihr seid fett und faul geworden, aber ich will schon dafür sorgen, daß Euer Fett schmilzt, und daß Ihr schnaufen sollt wie ein geborstener Blasebalg. Und was Euch betrifft, mein guter Villehardouin, so habe ich mich noch nicht entschlossen, auf welche Weise ich Euch aus der Welt schicken will.«

Dann senkte ich meinen Degen zum Gruß vor Pasquini, und wir gingen aufeinander los. Ach, ich hatte einen wahren Teufel im Leibe an diesem Abend. Schnell und flott – war meine Devise. Nun – und ich verstand es, den täuschenden, trügerischen Mondschein zu benutzen. Wie ich es mit Fortini gemacht hatte, so gedachte ich es mit ihm zu machen, wenn er dieselbe Finte wagte. Tat er es nicht – ja, dann wollte ich sie selbst versuchen.

Trotz der Wut, zu der ich ihn gereizt hatte, war er doch vorsichtig. Nichtsdestoweniger brachte ich schnell Tempo in den Kampf, und in dem schwachen Licht, wo man sich mehr auf sein Gefühl, seinen Instinkt und sein Auge verlassen mußte, blieben unsere Klingen dauernd in Fühlung.

Kaum eine Minute war vergangen, als ich meinen Kniff ausführte. Ich tat, als glitte ich mit einem Fuß aus und verlöre dabei die Fühlung mit Pasquinis Klinge. Er machte einen Ausfall, und wieder versuchte ich eine Finte, indem ich mit unnötig großer Parade durchschlug. Die Blöße, die ich mir dabei gab, war der Köder, den ich absichtlich auf den Haken setzte, damit er anbiß. Und es glückte! Wie ein Blitz fiel er aus – all seine Kraft, sein Wille und seine Wucht lagen in dem langen Stoß – aber es war alles nur eine Finte von mir gewesen, und ich war bereit. Unbedeutend drehte ich mein Handgelenk, ganz unbedeutend – aber es genügte, daß seine Klingenspitze sich in eine Falte meines Seidenwamses verirrte – vielleicht einen viertel Zoll vor meiner Brust. Selbstverständlich folgte sein Körper dem blitzschnellen Stoß und begegnete meiner Klinge, die sich unter dem rechten Arm in seine Seite bohrte.

Aber diesmal sah ich meine Degenspitze nicht auf seiner linken Seite herauskommen, denn als ich ihn durchbohrte, stieß sie gegen eine Rippe (ach, Männermord ist Schlächterhandwerk!), und zwar mit solcher Kraft, daß er hinten über zu Boden fiel. Ehe er noch das Gras berührt hatte, war mein Degen schon aus ihm herausgezogen.

De Goncourt sprang zu ihm, aber er winkte de Goncourt, daß er auf mich losgehen sollte. Pasquini hielt fester am Leben als Fortini. Er hustete und spie, und Villehardouin half ihm, so daß er sich auf seinen Ellbogen stütze – und dann hustete und spie er wieder.

»Glückliche Reise, Pasquini«, lachte ich in meinem roten Wüten, »beeilt Euch, denn das Gras beginnt feucht zu werden, wo Ihr liegt; Ihr könntet leicht an Erkältung sterben.«

Als ich sofort den Kampf mit Goncourt beginnen wollte, protestierte Bohemond und sagte, ich müsse mich ausruhen.

»Nein, nein«, sagte ich, »ich bin noch nicht warm geworden.« Und zu Goncourt: »Na, dann kommt und tanzt mit mir, aber verliert den Atem nicht – en garde!«

De Goncourt hatte keinen rechten Mut. Er focht offenbar auf Befehl. Seine Fechtweise war veraltet, wie sie es bei einem älteren Mann sein mußte, aber er war kaltblütig, ausdauernd und hartnäckig. Ich fühlte, er war sich selber darüber klar, daß er mir nicht standhalten konnte. Dutzende von Malen hätte ich ihn niederstoßen können. Aber, wie gesagt, es war an diesem Abend ein Teufel in mir. Ich drängte aus dem Mondschein zurück, so daß er mich nicht sehen konnte, weil ich in meinem eigenen Schatten kämpfte, und während ich ihn ermüdete, bis er zu schnaufen und zu stöhnen begann, wie ich es vorausgesehen hatte, lag Pasquini da, den Kopf in die Hand gestützt, sah zu, hustete und spie sich zu Tode.

»Nun, Goncourt«, sagte ich schließlich, »Ihr seht, daß ich Euch in der Hand habe, und daß Ihr ganz hilflos seid. Ich kann es mir aussuchen, wie ich Eure Gesellschaft loswerden will – seid bereit, denn jetzt kommt es! Seht, auf diese Art sollt Ihr von der Welt Abschied nehmen.«

Und als ich eine Finte in Quart und dann in Terz machte, und als er dann wild und verwirrt in Terz parierte, ging ich zur Quart über und setzte den Todesstoß ein. Als Pasquini das sah, ließ er seinen letzten Griff am Leben los, wandte das Gesicht ins Gras, krümmte sich leicht und blieb dann still liegen.

»Euer Herr wird heute abend vier Lakaien vermissen«, versicherte ich Villehardouin, als wir Stellung nahmen.

Ei – das war ein festlicher Anblick! Der Kerl war ganz lächerlich. In welcher Dorfschule er sein Fechten gelernt hatte, war nicht auszudenken. Er war der reine Bajazzo. Schnell und flott – dachte ich, während sein rotes Haar sich sträubte und er wie ein Toller auf mich eindrang.

Ach, es war gerade seine Lächerlichkeit, die mein Unglück wurde. Während ich mit ihm spielte und über seine bäurische Ungeschicklichkeit lachte, wurde er so wütend, daß er sein bißchen Fechtkunst ganz vergaß. Mit einem gewaltigen Schwung seines Degens – als ob es ein Schlachtschwert gewesen wäre – ließ er ihn durch die Luft pfeifen und hieb ihn mir auf den Kopf.

Ich war verblüfft. Ein solcher Wahnsinn war mir noch nie vorgekommen. Er hatte sich vollkommen entblößt, und ich hätte ihm wie gar nichts meinen Degen durch den Leib rennen können. Aber, wie gesagt, ich war verblüfft, und das nächste, was ich fühlte, war ein stechender Schmerz, als dieser bäurische Tölpel mir den Stahl wie ein toller Stier bis ans Heft in die Brust rannte, daß ich rücklings stürzte.

Noch im Fall konnte ich die erstaunten Gesichter Lanfrancs und Bohemonds und die Befriedigung über seine Tat sehen, die Villehardouins Gesicht rötete.

Ich fiel – aber ich erreichte den Rasen nicht. Dann kam ein Regen von Funken und Blitzen, ein Donnern in meinen Ohren, dann eine Dunkelheit und dann das sehwache Dämmern eines verschwommenen Lichts, ein plötzlicher zerreißender Schmerz – schlimmer als alles, was man beschreiben kann –, und ich hörte eine Stimme sagen:

»Ich kann nichts fühlen.«

Ich kannte die Stimme. Es war Direktor Atherton. Und da wußte ich, daß ich Darrell Standing war, soeben über die Jahrhunderte hinweg zurückgekehrt nach der Zwangsjackenhölle von San Quentin. Und ich wußte, daß die Finger, die jetzt an meinem Halse tasteten, Doktor Jackson gehörten, und daß es seine Stimme war, die sagte:

»Sie wissen nicht, wie man einem Mann den Puls am Halse fühlt. Sehen Sie, hier – hier, wo ich fasse – setzen Sie den Finger dorthin! So. Ja, es ist, wie ich dachte. Herzschlag schwach, aber regelmäßig wie ein Chronometer.«

»Er hat erst vierundzwanzig Stunden«, sagte Inspektor Jamie, »und er ist noch nie so herunter gewesen.«

»Ach, er macht uns nur was vor, darauf können Sie sich verlassen«, warf Al Hutchins, der Oberobmann, ein.

»Ich weiß nicht«, fuhr der Inspektor fort, »wenn der Puls eines Mannes so schwach ist, daß erst ein Sachverständiger kommen, muß, um ihn zu fühlen, dann –«

»Nun, ich weiß wohl noch, was es heißt, die Zwangsjacke anzukriegen«, antwortete Al Hutchins, »und Sie, Herr Inspektor, haben mich selbst aus der Jacke nehmen lassen, weil Sie glaubten, ich wollte krepieren, und dabei war doch alles Lüge und Unsinn.«

»Was meinen Sie, Doktor?« fragte der Direktor.

»Der Herzschlag ist ausgezeichnet«, lautete die Antwort. »Selbstverständlich ist er schwach. Das war ja zu erwarten. Hutchins hat recht, der Mann simuliert.«

Mit seinem Daumen drehte er mein eines Augenlid um, weshalb ich mein anderes Auge öffnete und die Gruppe um mich her anstarrte.

»Was hab' ich gesagt?« triumphierte der Arzt.

Und da nahm ich, obgleich die Anstrengung mein Gesicht sprengen wollte, meinen ganzen Willen zusammen und lächelte.

Sie hielten mir Wasser an den Mund, und ich trank gierig. Man muß sich erinnern, daß ich die ganze Zeit hilflos auf dem Rücken lag, die Arme fest am Körper, in der Zwangsjacke. Als sie mir zu essen boten – Gefängnisbrot –, schüttelte ich den Kopf. Ich schloß die Augen zum Zeichen, daß ich ihrer Gesellschaft überdrüssig war. Der Schmerz bei meinem teilweisen Erwachen war unerträglich. Ich fühlte meinen ganzen Körper zum Leben zurückkehren. Überall hatte ich stechende Schmerzen. Und in meinem Gehirn brannte die Erinnerung daran, daß Philippa in der großen Halle auf mich wartete, und ich wünschte nur eines: zurückzukehren zu dem halben Tag und der halben Nacht, die ich soeben in Frankreich erlebt hatte. Ich hatte Eile fortzukommen, aber die Stimme Direktor Athertons hielt mich zurück.

»Hast du etwas zu klagen?« fragte er.

Ich fürchtete nur eines, nämlich, daß ihnen einfallen sollte, mich loszubinden; jeder wird also verstehen, daß meine Antwort keine Prahlerei war, sondern den Zweck hatte, einer etwaigen Befreiung vorzubeugen.

»Ach ja – schnüren Sie die Jacke ein bißchen fester«, flüsterte ich, »sie sitzt zu locker. Hutchins ist ein Esel, er kann nicht einmal eine Zwangsjacke ordentlich zuschnüren. Sie sollten ihn wieder in die Webstube setzen, Direktor. Er ist noch viel untüchtiger als die andern dort. Aber geht jetzt lieber alle, wenn ihr mir nichts Schlimmeres zu bieten habt. Es wird mir ein Vergnügen sein, euch hier zu sehen, sobald eure geschätzte Einbildungskraft sich imstande gezeigt hat, neue Foltern für mich zu erdenken.«

»Er ist prachtvoll – einfach prachtvoll«, grinste Doktor Jackson mit dem Entzücken des Arztes über ein neues Symptom.

»Standing, du bist wirklich ein Wunder«, sagte der Direktor. »Du hast einen eisernen Willen, aber ich werde ihn schon brechen, darauf verlaß dich.«

»Ja – und Sie haben ein Hasenherz«, gab ich zurück, »ein Zehntel von dem, was Sie mir mit Ihrer Zwangsjacke ausgeteilt haben, hätte Ihnen schon längst das Hasenherz zu ihren langen Ohren herausgepreßt.«

Das traf, denn der Direktor hatte ungewöhnlich lange Ohren. Sie wären etwas für Lombroso gewesen, dessen bin ich sicher.

»Ich lache nur über Sie«, fuhr ich fort, »und ich wünsche der Weberei kein schlimmeres Schicksal, als daß Sie selbst sie verwalten sollen. Sie tun ja, was Sie können, um mich abzutun. Aber alles, was Sie dabei haben, ist, daß ich Ihnen ins Gesicht lache. Unwirksam? Ei, Sie können mich ja nicht einmal totschlagen. Unwirksam? Sie könnten nicht einmal eine gefangene Ratte mit einem Stück Dynamit totschlagen – mit richtigem Dynamit, nicht mit dem, das ich versteckt haben soll.«

»Noch mehr?« fragte er, als ich mit meiner Kritik fertig war.

Plötzlich erinnerte ich mich, was ich zu Fortini gesagt hatte, als er mich mit seinen Unverschämtheiten belästigte.

»Mach, daß du wegkommst, Hund von einem Gefängnisbeamten, und heul nicht mehr vor meiner Tür.«

Es muß hart für einen Mann vom Typ Athertons sein, sich so etwas von einem hilflosen Gefangenen sagen lassen zu müssen. Sein Gesicht wurde weiß vor Wut, und seine Stimme zitterte.

»Weiß Gott, Standing, ich werde dich zermalmen.«

»Sie können nur eins machen«, antwortete ich. »Sie können die zu lockere Jacke strammziehen. Wenn Sie das nicht wollen, dann gehen Sie. Und mir ist es einerlei, ob Sie in einer Woche oder in zehn Tagen wiederkommen.«

Und was kann selbst ein Direktor mit einem Gefangenen tun, bei dem die schlimmste Strafe des Gefängnisses vergebens ist? Vielleicht wollte der Direktor mit irgendeiner Drohung für die Zukunft kommen, denn er begann zu reden. Aber meine Stimme war durch die Übung etwas kräftiger geworden, denn ich begann zu singen: »Kikiriki – kikiriki!« Und dabei blieb ich, bis meine Tür zuschlug und die Schrauben und Bolzen des Schlosses knirschten und kreischten.

 


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