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Nun – zurück in meine einsame Zelle, nachdem ich den Code der Knöchelrede gelernt hatte und doch immer noch die Stunden des Bewußtseins unerträglich lang fand. Durch Selbsthypnose, die ich mit Erfolg auszuüben begann, gelang es mir, mein Bewußtsein einzuschläfern und mein Unterbewußtsein zu wecken. Aber das Unterbewußtsein war leider undiszipliniert und gesetzlos. Es wanderte durch alle möglichen Wahnsinnsträume – ohne Zusammenhang, ohne Beharrlichkeit mit Bezug auf Milieu, Begebenheiten oder Personen. Meine Methode der mechanischen Hypnose war die Einfachheit selbst. Ich setzte mich mit untergeschlagenen Beinen auf meine Strohmatratze und starrte auf ein Stückchen glänzenden Strohs, das ich an der Wand neben der Tür, wo es am hellsten war, befestigt hatte. Ich saß dicht davor und hielt die Augen auf den schimmernden Punkt geheftet. Gleichzeitig ließ ich all meinen Willen erschlaffen und gab mich dem schwindelnden Gefühl hin, das mich immer bald darauf überkam. Und wenn ich dann fühlte, wie ich im Schwindel das Gleichgewicht verlor, schloß ich die Augen und ließ mich unbewußt auf die Matratze zurückfallen.

Und dann wanderte ich – eine Stunde, eine halbe oder auch nur zehn Minuten – ziel- und zwecklos durch die aufgestapelten Erinnerungen von meinen Existenzen hier auf Erden. Aber Zeit und Ort wechselten allzu rasch. Wenn ich hinterher erwachte, wußte ich, daß ich, Darrell Standing, die Persönlichkeit war, die das Bindeglied zwischen all dem Seltsamen, Bizarren und Grotesken, das ich sah, bildete. Aber das war auch alles. Nie erreichte ich es, eine einzige Periode ganz zu durchleben. Meine Träume, wenn sie Träume genannt werden können, waren ohne Sinn und Zweck.

Zum Beispiel bin ich in einem einzigen Intervall von fünfzehn Minuten Bewußtlosigkeit durch den Schlamm der Urwelt gekrochen, und habe neben Haas gesessen und die Luft des zwanzigsten Jahrhunderts mit einem von Motoren getriebenen Eindecker gespalten. Wenn ich wach war, erinnerte ich mich, daß ich, Darrell Standing, in dem Jahre, ehe ich ins Gefängnis geworfen wurde, tatsächlich mit Haas über den Stillen Ozean bei Santa Monica geflogen war. Wenn ich wach war, erinnerte ich mich nicht, jemals im Schlamm der Urwelt gekrochen zu sein, aber nichtsdestoweniger überlegte ich, daß ich mich irgendwie jener fernen Abenteuer im Schlamm erinnern und daß die eine wirkliche Erinnerung aus der Zeit sein mußte, als ich noch nicht Darrell Standing war, sondern irgendein Wesen oder Geschöpf, das durch den Schlamm kroch. Nur war die eine Erinnerung ferner als die andere. Beide waren sie gleich wirklich – wie hätte ich mich ihrer sonst erinnern können?

Ach, welches Flimmern von leuchtenden Bildern und Taten! Im entfesselten Unterbewußtsein weniger Augenblicke habe ich in der Halle von Königen gesessen, oben und unten am Tische, bin Narr und Krieger, Mönch und Kaufmann gewesen. Und ich saß auf dem Hochsitz des Herrschers – ich hatte die zeitliche Macht kraft der Stärke meines Armes, der Uneinnehmbarkeit meiner Burgmauern und der Zahl meiner Heere –, ich besaß geistige Macht, die sich dadurch zeigte, daß Priester in Kutten und dicke Äbte vor mir saßen und meine Weine soffen und mein Fleisch fraßen.

Ich habe im Norden den eisernen Ring der Sklaven um meinen Hals getragen, und ich habe Prinzessinnen aus königlichem Geblüt in den heißen, sonnenduftenden Tropennächten geliebt, wo schwarze Sklaven die Schwüle mit ihren Pfauenfederfächern verscheuchten, während aus der Ferne, hinter Palmen und Quellen, Löwengebrüll und Schakalgeheul ertönten. Ich lag zusammengekauert in kalten Wüsten und wärmte mir die Hände am Feuer, das von Kamelmist genährt wurde, und ich lag im dünnen Schatten verdorrter Salbeibüsche an ausgetrockneten Quellen und sehnte mich mit trockenen Lippen nach Wasser, während die Knochen von Menschen und Tieren, die sich wie ich nach Wasser gesehnt hatten, über den Sand der Kaliwüste verstreut lagen.

Ich bin Matrose und Räuber, Gelehrter und Einsiedler gewesen. Ich habe mich in der Klosterstille über der Handschrift verstaubter Folianten blind gestarrt, während Bauern draußen den Boden bebauten und Ziegen und Schafe von den Weiden heimtrieben. Und mit Salbung habe ich grabesernst das Gesetz gedeutet, die ungeheure Wichtigkeit des Verbrechens festgestellt und Männer zum Tode verurteilt, die sich – wie Darrell Standing im Folsom-Gefängnis – gegen das Gesetz der Menschen vergangen hatten.

Hoch oben von schwindelnden Masttoppen, die über dem Deck des Schiffs zitterten, habe ich auf sonnenblinkendes Wasser gestarrt, wo Korallen in den türkisfarbenen Tiefen leuchteten, und habe Schiffe in die sichere Stille spiegelblanker Lagunen gelotst, wo der Anker dicht an palmenumkränzte Korallenküsten geworfen wurde. Ich habe auf den vergessenen Walstätten entschwundener Zeiten gekämpft, als die Sonne über Gemetzel unterging, die in der Nacht fortgesetzt wurden, während die Sterne schienen und der Nachtwind von fernen Schneezinnen wehte und doch das heiße Blut der Kämpfenden nicht kühlen konnte. Und dann bin ich wieder, der kleine Darrell Standing gewesen, der barfuß im Frühling über das taufeuchte Gras Minnesotas lief und vor Kälte schauderte, wenn er am frühen Morgen das Vieh in den dampfenden Ställen füttern sollte, oder der ängstlich in der Kirche saß und in ehrerbietigem Glauben vor dem Herrn zusammenkroch, wenn er Sonntagspredigten über Neu-Jerusalem und die Schrecken des Höllenfeuers hörte.

Alles das waren nur kurze Visionen, die ich hatte, wenn ich in der Zelle Nummer eins in San Quentin mit Hilfe eines Stückchens blanken Strohs das Bewußtsein aus mir herausstarrte. Aber wie kam es zu mir? Ich konnte es doch nicht aus dem Nichts hinter meinen Gefängnismauern fabriziert haben – ebensowenig wie ich die fünfunddreißig Pfund Dynamit aus dem Nichts fabrizierte, was Inspektor Jamie, Direktor Atherton und die Gefängnisverwaltung so unbarmherzig von mir verlangten.

Ich bin Darrell Standing, geboren und aufgewachsen auf einem Hof in Minnesota, früherer Professor der Landwirtschaft, unverbesserlicher Lebenslänglicher in San Quentin und jetzt zum Tode verurteilt in Folsom. Es sind nicht die Erfahrungen Darrell Standings, durch die ich alles weiß, was ich, aus den Speichern meines Unterbewußtseins ausgegraben, niederschreibe. Ich, Darrell Standing, der in Minnesota geboren ist und jetzt bald durch Hängen in Kalifornien sterben soll, habe sicher nie Königstöchter an Königshöfen geliebt, habe auch nicht Schwert gegen Schwert auf dem schaukelnden Schiffsdeck gekämpft, auch habe ich nicht von der Alkohollast von Schiffen getrunken, mich mit Alkohol angefüllt wie die andern trinkenden Seeleute, die ihr Sterbelied brüllten, während das Schiff an den schwarzzackigen Klippen zerschellte und das Wasser brüllend über uns, unter uns, rings um uns schäumte.

Das ist nicht die Lebenserfahrung Darrell Standings in der Welt. Und doch fand ich, Darrell Standing, alles das in mir selber in dem einsamen Gefängnis in San Quentin mit Hilfe mechanischer Autohypnose. Diese Erfahrungen waren die Darrell Standings nicht in höherem Maße, als es das Wort »Samaria« auf den Lippen des kleinen Darrells war, wie es dort beim Anblick einer Photographie entstand.

Man kann nichts aus dem Nichts schaffen. So könnte ich in meiner einsamen Zelle nicht fünfunddreißig Pfund Dynamit schaffen. Und ich könnte auch nicht aus dem Nichts der Standingschen Erfahrungen diese weitschweifenden Sternenvisionen in Zeit und Raum schaffen. Diese Dinge lebten in meiner Seele, und ich hatte gerade angefangen, mich durch ihr Dunkel hindurchzutasten.

 

So war also meine schwierige Stellung: Ich war mir darüber klar, daß mein Inneres eine Goldgrube von Erfahrungen aus andern Existenzen enthielt, aber ich konnte nur wie ein Wahnsinniger ohne Ziel und Zweck dazwischen herumirren. Ich besaß eine Goldmine, konnte sie aber nicht ausnutzen.

Aber so viel ich auch mit meinem schimmernden Strohstückchen in dem bißchen Licht meiner einsamen Zelle experimentierte, erlangte ich doch solche Klarheit über frühere Persönlichkeiten nicht. Durch meine mißglückten Versuche wurde ich überzeugt, daß ich nur durch den Tod selbst die Erinnerung an meine früheren Existenzen klar und zusammenhängend wieder erstehen lassen konnte.

Der Strom meines Lebens durchrauschte mich kräftig. Ich, Darrell Standing, wünschte so wenig zu sterben, daß ich aus aller Macht dagegen ankämpfte, mich von Direktor Atherton und Inspektor Jamie zu Tode quälen zu lassen. Ich fühlte mich so unwiderstehlich zum Leben getrieben, daß ich manchmal glaube, daß ich deshalb immer noch hier bin, esse und schlafe, denke und träume und diese Schilderung meiner verschiedenen Ichs niederschreibe, während ich auf den unvermeidlichen Strick warte, der eine kurze Periode als ein neues Glied in die lange Kette meiner Existenzen einschieben soll.

Und da kam der lebende Tod. Es war ein Kniff, den ich lernte. Wie Sie sehen werden, war es Ed Morrell, der mich ihn lehrte. Es begann auf Veranlassung von Inspektor Jamie und dem Direktor. Ihre Angst bei dem Gedanken an das »versteckte« Dynamit mußte wieder aufgeflammt sein. Sie kamen zu mir in die Zelle und sagten mir offen, daß sie mir die Zwangsjacke anlegen würden, bis ich daran stürbe, wenn ich nicht gestände. Und sie versicherten mir, daß sie es offiziell tun würden, ohne etwas dabei zu riskieren – sie würden ihr eigenes Fell schon hüten. In der Gefängnisregistratur würde stehen, daß mein Tod natürliche Ursachen hätte.

Ach, Sie, meine lieben Mitbürger, die Sie Ihr Leben in Watte gepackt verbringen – glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, daß Menschen noch heute in den Gefängnissen hingemordet werden, wie es geschah, seit die ersten Gefängnisse von Menschen erbaut wurden.

Ich kenne den Schrecken, die Todesangst und die Gefahr, die in dem Worte Zwangsjacke liegt, gut. Ach, ich kenne Männer, deren Geist durch sie gebrochen wurde. Ich habe sie gesehen. Und ich habe gesehen, wie Männer für Lebenszeit zu Krüppeln durch sie wurden. Ich habe starke Männer, Männer, die so stark waren, daß ihre Konstitution allen Angriffen der Gefängnistuberkulose widerstand, nach einer längeren Behandlung mit der Zwangsjacke welken, hinschwinden und an Tuberkulose sterben sehen, ehe sechs Monate vergangen waren. Da war Schiel-Wilson – mit einem Herzleiden, das von Angst kam –, er starb, als er eine Stunde in der Zwangsjacke gelegen hatte, während ein unmöglicher Gefängnisarzt lächelnd dabeistand und zusah, weil er nichts verstand. Und ich habe einen Mann nach einer halben Stunde in der Zwangsjacke Wahres und Unwahres gestehen hören, das ihn Jahre seiner Freiheit kostete.

Ich habe auch selbst meine Erfahrungen gemacht. Hunderte von Narben wird man an meinem Körper finden. Sie werden mit mir aufs Schafott gehen. Und wenn ich noch hundert Jahre lebte – diese Narben würden mir ins Grab folgen.

Vielleicht kennen Sie, liebe Mitbürger, die Sie den Gebrauch der Zwangsjacke erlauben und Ihre Henkersknechte dafür bezahlen, daß sie für Sie zugeschnürt wird – vielleicht kennen Sie die Zwangsjacke gar nicht. Ich will sie Ihnen beschreiben, damit Sie die Methode verstehen, auf die ich den Tod im Leben durchführte, hin und wieder Herr über Zeit und Raum wurde und die Gefängnismauern sprengte, um zwischen den Sternen wandern zu können.

Haben Sie je Segelleinenpersennings oder Gummidecken mit Messingringen an den Rändern gesehen? Denken Sie sich solch ein Stück schweren Segelleinens ungefähr vierundeinhalb Fuß lang und mit schweren Messingringen an beiden Seiten. Dieses Segelleinen ist nie ganz so breit wie der Umfang des menschlichen Körpers, um den es geschnürt werden soll. Auch ist die Form unregelmäßig: es ist am breitesten an den Schultern, etwas schmal an den Hüften, am schmälsten in der Taille.

Das Tuch wird auf den Fußboden gelegt. Der Mann, der bestraft oder zum Geständnis gefoltert werden soll, wird mit dem Gesicht nach unten auf das Tuch gelegt. Die Seiten des Tuches werden auf ihn gelegt und ein Strick durch die Ringe gezogen, wie wenn man einen Schuh schnürt, und dann schnüren die Henkersknechte ihn zusammen. Natürlich viel strammer, als man seinen Schuh zuschnürt. Das nennt man in der Gefängnissprache: Wurst machen. Wenn die Wärter grausam oder rachgierig sind oder Befehl dazu von oben erhalten haben, kann der Druck dadurch erhöht werden, daß die Wärter ihre Füße gegen den Rücken des Mannes stemmen, wenn sie den Strick zusammenziehen.

Ist es Ihnen nie passiert, daß Sie einen Schuh zu fest zugeschnürt und den grauenhaften Schmerz der gehemmten Blutzirkulation über dem Spann gefühlt haben? Und wissen Sie noch, daß Sie nach wenigen Minuten den Schmerz einfach nicht mehr ertragen und keinen Sehritt weitergehen konnten, sondern das Schuhband lösen und den Druck erleichtern mußten? Kennen Sie das? Schön. Dann versuchen Sie, sich zu denken, wie es sein müßte, wenn Ihr ganzer Körper so eingespannt wäre, nur viel strammer, so daß es ist, als würde der Tod in Herz und Lunge und alle empfindlichen feineren Organe hineingequetscht.

Ich erinnere mich, wie es das erstemal mit mir geschah. Es war ganz im Anfang meiner Unverbesserlichkeit, kurz nachdem ich ins Gefängnis gekommen war, meine hundert Meter täglich in der Jutemühle webte und zwei Stunden vor Ablauf der durchschnittlichen Arbeitszeit fertig wurde. Ja, und die Jute, die ich webte, stand weit über der erforderlichen Durchschnittsqualität. Dem Gefängnisprotokoll zufolge bekam ich damals die Zwangsjacke, weil meine Arbeit fehlerhaft war. Das war natürlich eine lächerliche Behauptung. In Wirklichkeit bekam ich die Zwangsjacke, weil ich, ein neuer Sträfling von überlegener Tüchtigkeit, ein geübter Spezialist im Kampfe gegen Kraftvergeudung, den Einfall gehabt hatte, dem dummen Vorsteher der Webstube irgend etwas zu erzählen, was er nicht von seiner Arbeit wußte. Und der Vorsteher rief mich in Gegenwart Inspektor Jamies an den Tisch, wo mir als Gegenbeweis ein elendes Machwerk vorgelegt wurde, das nie meinen Webstuhl passiert hatte. Dreimal wurde ich hingerufen, und dreimal bedeutete nach den Regeln der Webstube vierundzwanzig Stunden Zwangsjacke.

Sie führten mich in den Gefängniskeller. Sie befahlen mir, mich bäuchlings auf die Leinwand zu legen, die auf dem Fußboden ausgebreitet war. Ich weigerte mich. Morrison, einer der Wärter, bohrte mir seine Daumen in den Hals. Mobins, ein Sträfling, der Vertrauensmann geworden war, bearbeitete mich mit seinen Fäusten. Schließlich, legte ich mich hin, wie sie sagten. Und weil ich sie durch meinen Widerstand gereizt hatte, schnürten sie mich besonders stramm. Dann rollten sie mich wie einen Holzklotz auf den Rücken.

Anfangs kam es mir gar nicht so schlimm vor. Als sie meine Tür krachend zuschlugen, die Bolzen vorschoben und mich in der Finsternis liegen ließen, war es elf Uhr vormittags. Die ersten Minuten hatte ich nur ein unangenehmes Gefühl des Zusammengeschnürtseins, aber ich hoffte, daß es sich bald bessern würde, wenn ich mich daran gewöhnte. Aber im Gegenteil, mein Herz begann zu hämmern, und es war, als bekämen meine Lungen nicht Luft genug für mein Blut. Dieses Erstickungsgefühl war furchtbar, und jeder Schlag meines Herzens drohte meine aufs Äußerste angespannten Lungen zu sprengen.

Nach einer Weile – viele Stunden erschienen es mir, in Wirklichkeit aber war es kaum eine halbe Stunde gewesen – begann ich zu schreien, zu brüllen, zu brüllen, zu heulen wie ein Toller. Das kam von einem Schmerz in meinem Herzen: einem scharfen, entsetzlich stechenden Schmerz, der an Pleuritis erinnerte, aber glühend durch das Herz selbst jagte.

Sterben ist nicht schwer, aber so langsam und furchtbar zu sterben, darüber kann man toll werden. Wie ein gefangenes Tier fühlte ich die Panik der Furcht, und ich heulte, bis mir klar wurde, daß all dieses Schreien mein Herz nur noch mehr folterte und alle Luft in meinen Lungen verbrauchte.

So lag ich denn lange Zeit still – eine Ewigkeit, dachte ich. Jetzt weiß ich aus Erfahrung, daß es nur eine Viertelstunde war. Ich war halb erstickt, und mein Herz hämmerte, als wollte es das Segelleinen, in das ich eingeschnürt war, sprengen. Wieder verlor ich die Herrschaft über mich und schrie um Hilfe.

Auf einmal hörte ich eine Stimme aus der Nebenzelle.

»Halt's Maul«, rief sie. »Halt's Maul, du störst mich!«

»Ich sterbe«, schrie ich.

»Unsinn«, lautete die Antwort.

»Ich sterbe!« schrie ich wieder.

»Na – und wenn schon?« erklang die Stimme. »Das braucht dir nicht weiter leid zu tun. Da krepierst du doch schnell und hast es überstanden. Jedenfalls ist das kein Grund, einen solchen Lärm zu machen. Du störst meine süßen Morgenträume.«

Ich war über diese Gleichgültigkeit so aufgebracht, daß ich meine Selbstbeherrschung wiederfand und mich jetzt damit begnügte, leise zu stöhnen. Es dauerte eine Ewigkeit, vielleicht zehn Minuten. Dann begann es überall an meinem Körper wie mit Stecknadeln zu stechen. Und solange es auf diese Art schmerzte, verlor ich den Kopf nicht. Als es dann aber zu lauter Gefühllosigkeit überging, war ich erst richtig erschrocken.

»Herr Gott, laß mich doch schlafen«, klagte mein Nachbar. »Mir geht es nicht besser als dir. Meine Zwangsjacke ist ebenso eng wie deine. Und ich möchte gern schlafen, um zu vergessen.«

»Wie lange bist du drin?« fragte ich, da ich dachte, daß seine Strafe nur ganz kurz sein konnte im Vergleich mit den Jahrhunderten, die ich schon gelitten hatte.

»Seit vorgestern«, lautete die Antwort.

»Ich meine in der Zwangsjacke«, verbesserte ich.

»Wie gesagt – seit vorgestern.«

»Großer Gott!« schrie ich.

»Ja – genau fünfzig Stunden, und du hörst mich deshalb nicht heulen. Sie haben eine ordentliche Wurst aus mir gemacht, mit den Füßen auf dem Rücken. Du kannst mir glauben, ich habe ein nettes Leibchen an. Dir geht es nicht allein dreckig. Du bist ja erst seit einer Stunde hier.«

»Nein, nein«, rief ich. »Ich bin seit vielen, vielen Stunden hier.«

»Ja, das glaubst du, aber deshalb stimmt es doch nicht. Du hast sie erst eine Stunde an. Ich hörte ja selbst, wie sie dich einschnürten.«

Es war unglaublich. Im Laufe einer Stunde hatte ich tausend Todesqualen erlitten. Und doch lag mein Nachbar mit der ruhigen Stimme, er, der so gleichgültig und gleichmütig war, fast hilflos trotz seiner anfänglichen Grobheit, seit fünfzig Stunden in der Zwangsjacke!

»Wie lange behalten sie dich noch hier?« fragte ich.

»Ja, das mag Gott wissen. Jamie hat es auf mich abgesehen, und er läßt mich wohl nicht heraus, ehe ich abschieben will. Na, Brüderchen, ich will dir einen guten Rat geben. Mach das Maul zu und vergiß, daß du hier bist. Das Heulen hilft doch nichts. Nein, vergiß. Denk an all die Mädel, die du gekannt hast. Das vertreibt dir schon ein paar Stunden, und dann glaubst du vielleicht, verrückt zu werden, und du wirst ohnmächtig wie ein Mädchen. Na ja – schadet nichts. Es ist ganz gut, wenn du ein bißchen weg bist. Und wenn du nicht mehr an die Mädel denken kannst, dann denk an die Kerle, die dich hierher gebracht haben, und denk dir aus, was du mit ihnen machen willst, wenn du Gelegenheit dazu kriegst.«

Der Mann war Philadelphia-Red. Er saß wegen Raubes in den Straßen von Alameda. Zu fünfzig Jahren war er verurteilt. Zwölf davon hatte er schon abgesessen. Er war einer der vierzig, die von Cecil Winwood angezeigt wurden. Er sitzt noch in San Quentin. Wenn er es überlebt, wird er ein alter Mann sein, wenn sie ihn herauslassen.

Nun, ich überlebte ja die vierundzwanzig Stunden, aber ich bin seitdem nie wieder der alte gewesen. Ach – ich meine nicht körperlich, wenn ich auch, als sie mich am nächsten Morgen losbanden, halb lahm war, so daß mir die Wärter Tritte in die Rippen versetzen mußten, damit ich aufstand. Aber – moralisch war ich ein anderer geworden. Die rohe körperliche Tortur ist eine Demütigung, eine Beleidigung. Ich kam von meinem erstenmal Zwangsjacke zurück voll von Bitternis und Haß, die mit den Jahren nur gewachsen sind. Ach Gott – wenn ich daran denke, was sie mit mir gemacht haben! Vierundzwanzig Stunden in der Zwangsjacke! An dem Morgen dachte ich nicht, daß eine Zeit kommen sollte, da vierundzwanzig Stunden mir nichts bedeuteten – da hundert Stunden in diesem Torturwerkzeug mich nur lächeln ließen, wenn sie kamen und mich losbanden –, und da ich nach zweihundertundvierzig Stunden in der Zwangsjacke noch dasselbe Lächeln um meinen Mund hatte.

Ja, zweihundertundvierzig Stunden! Liebe, gut eingepackte Mitbürger, wissen Sie, was das bedeutet? Das bedeutet zehn Tage und zehn Nächte! Selbstverständlich, Sie glauben nicht, daß das wahr ist, daß etwas Derartiges jetzt, gut neunzehnhundert Jahre nach Christi Geburt, in einem christlichen Lande geschehen kann. Dann glauben Sie es eben nicht. Ich glaube es selber auch nicht. Aber ich weiß, daß es in San Quentin mit mir gemacht wurde, und daß ich lange genug lebte, um sie zu verlachen und zu zwingen, mich loszuwerden, indem sie mich aufhängen, weil ich einem Wärter die Nase blutig geschlagen habe.

Dies schreibe ich im Jahre des Herrn 1913 – und noch heute, im Jahre des Herrn 1913, liegen Mitmenschen in der Zwangsjacke in den Zellen von San Quentin.

Solange ich lebe und solange mir neues Leben vergönnt ist, werde ich nie meinen Abschied von Philadelphia-Red an jenem Morgen vergessen. Er lag damals seit vierundsiebzig Stunden in der Zwangsjacke.

»Nun, Kamerad, du bist ja noch ganz lebendig«, rief er mir zu, als ich taumelnd aus der Zelle auf den Korridor geschleppt wurde.

»Halt's Maul, Red«, knurrte die Wache.

»Oh, Verzeihung«, lautete die Antwort.

»Ich werde schon mit dir fertig werden, Red«, drohte der Wärter.

»Meinst du?« fragte Philadelphia-Red sanft, ehe sein Tonfall barsch und heftig wurde. »Du wirst sicher nicht mit mir fertig, du alter Schlappschwanz. Du könntest nicht einmal ein Stück Brot gratis kriegen und noch weniger die Stellung, die du hast, ohne deinen Bruder. Und ich glaube nicht, daß einer von uns sich irrt mit Bezug auf den Gestank des Ortes, wo dein Bruder hingehört.«

Wunderbar war es, daß der Geist eines Mannes sich so über die höchsten Qualen erheben konnte, ohne Furcht vor all den Peinigungen, die eines dieser Tiere ihm verursachen konnte.

»Auf Wiedersehen, Kamerad«, rief Philadelphia-Red mir zu. »Leb wohl, sei ein braver Junge, und hab den Direktor gern. Und wenn du ihn siehst, grüß ihn von mir und erzähl ihm, daß ich nicht in der Ecke flennte.«

Der Wärter war rot vor Wut, und seine Stöße und Püffe ließen mich für Reds Spaß bezahlen.

 

In Zelle Nummer eins nahmen Direktor Atherton und Inspektor Jamie mich ins Verhör. Direktor Atherton sagte zu mir:

»Standing, heraus mit allem, was du von dem Dynamit weißt, oder ich töte dich mit der Zwangsjacke. Ich habe noch nie mit einem so schlimmen Kerl wie dir zu tun gehabt. Du hast jetzt die Wahl – das Dynamit oder unser liebes kleines Korsett.«

»Ja, dann wird es wohl das Korsett«, antwortete ich, »denn von dem Dynamit weiß ich nichts.«

Das reizte den Direktor, seinen Worten sofort die Tat folgen zu lassen.

»Leg dich hin«, befahl er.

Ich gehorchte, und sie schnürten mich gehörig zusammen. Es wurden hundert Stunden. Einmal täglich bekam ich einen Schluck Wasser. Essen mochte ich nichts – und es wurde mir auch nichts angeboten. Gegen Ende der Zeit untersuchte Jackson, der Gefängnisarzt, mich mehrmals. Aber ich war in meiner Unverbesserlichkeitsperiode die Zwangsjacke zu gewohnt geworden, als daß sie mich dieses einzige Mal besonders gestört hätte. Natürlich schwächte sie mich, stahl mir das Leben, aber ich hatte gelernt, wenn man mich einschnürte, durch verschiedene Muskelkniffe ein wenig Spielraum zu gewinnen. Nach Ablauf der hundert Stunden war ich matt und müde, aber das war auch alles. Da gaben sie mir noch hundert – nach einer Frist von vierundzwanzig Stunden, um mich zu erholen. Und dann bekam ich noch hundertundfünfzig. Den größten Teil dieser Zeit war ich körperlich gelähmt und geistig im Fieber. Durch Kraftanspannung glückte es mir, lange Stunden zu schlafen.

Das nächstemal versuchte der Direktor es mit einer kleinen Variante. Ich bekam die Zwangsjacke in unregelmäßigen Zwischenräumen. Ich wußte es nie im voraus. Einmal bekam ich zehn Stunden Pause, dann wieder zwanzig Stunden die Jacke; ein andermal wieder gönnte man mir nur vier Stunden Erholung. Zu den unerwartetsten Nachtzeiten öffnete sich meine Tür, und der wechselnde Wärter kam herein, um mich einzuschnüren. Und immer wieder kam dieselbe Frage: Wo ist das Dynamit? Zuweilen war der Direktor ganz außer sich. Bei einer Gelegenheit, als ich eine besonders strenge Behandlung über mich ergehen lassen mußte, flehte er fast, daß ich gestehen sollte. Ein andermal versprach er mir drei Monate absolute Ruhe bei guter Kost im Hospital und dann eine gute Stellung in der Bibliothek.

Dr. Jackson, eine traurige Erscheinung mit schwachen medizinischen Kenntnissen, wurde ganz skeptisch. Er behauptete, daß die Zwangsjacke, soviel ich sie auch bekam, nicht genügte, mich zu töten – und diese Behauptung war nur eine Herausforderung für den Direktor, das Experiment fortzusetzen.

»Diese dürre Studentenzwiebel ist schlimmer als der Teufel«, knurrte er. »Sie ist zäher als Radiergummi. Aber wir werden doch mit ihm fertig werden. Hör jetzt, Standing. Was du bis jetzt gekriegt hast, ist nichts dagegen, was du noch zu erwarten hast. Du kannst ebensogut gleich nachgeben. Ich bleibe bei meinem Wort. Ich habe gesagt: das Dynamit, oder ich werde dich mürbe machen. Nun – was wählst du?«

»Glauben Sie denn, daß ich alles das hier zu meinem Vergnügen aushalte?« konnte ich gerade ächzen; dann stemmte mir Puddingfratzen-Jones den Fuß in den Rücken und zog an. »Ich habe leider nichts zu gestehen. Ich würde gern meine rechte Hand dafür geben, um Ihnen Dynamit zu zeigen.«

»Ach, wir kennen diese feinen Herren«, höhnte er. »Eigensinnig wie alte Kutschenpferde. Zieh fester, Jones, fester; es ist noch lange nicht genug.«

Etwas Gutes lernte ich. Je schwächer man wird, desto weniger spürt man das Leiden. Der Schmerz ist geringer, weil es weniger gibt, das schmerzen kann, und wer schon geschwächt ist, wird es nur langsam noch mehr. Es ist bekannt, daß ungewöhnlich starke Männer bei irgendeiner Krankheit mehr leiden als Frauen und Schwache. Je mehr von der Kraft verbraucht wird, desto weniger bleibt von ihr zu nehmen. Wenn alles überflüssige Fleisch und Fett fort ist, so ist das, was übrigbleibt, zäh, sehnig und widerstandsfähig. Was von mir übrigblieb, war tatsächlich eine Art sehniger Organismus, der am Leben festhielt.

Ich tat Morrell und Oppenheimer leid, und sie klopften mir ihre Sympathie und guten Ratschläge zu. Oppenheimer erzählte, daß er selbst dasselbe – und Schlimmeres sogar – durchgemacht hatte und noch lebte.

»Laß nur nicht die Energie aus dir herausfoltern«, buchstabierte er mit seinen Knöcheln. »Mach ihnen nur nicht die Freude, dich totzuschlagen, denn das wollen sie ja, und die Kerle sollen ihren Willen nicht haben. Verpfeife nur das Dynamit nicht.«

»Aber es gibt ja gar nichts zu verpfeifen«, klopfte ich mit dem Rand meiner Schuhsohle gegen das Gitter, denn ich lag ja in der Zwangsjacke und konnte daher nur mit den Füßen reden. »Ich weiß nichts von dem verfluchten Dynamit.«

»So ist es recht«, sagte Oppenheimer. »Das ist ein ganzer Kerl, was, Ed?«

Was zeigt, wie gering meine Aussichten waren, den Direktor von meiner Unwissenheit in bezug auf das Dynamit zu überzeugen. Die Tatsache, daß er mich immer noch verhörte, überzeugte einen Mann wie Jake Oppenheimer, der mich wegen der seelischen Kraft, die es mir ermöglichte, zu schweigen, nur bewundern konnte.

Während der ersten Periode der Zwangsjackentortur gelang es mir, ziemlich viel zu schlafen. Meine Träume waren merkwürdig. Selbstverständlich waren sie lebendig, wie Träume es meistens sind. Was sie merkwürdig machte, war ihr Zusammenhang, ihre Kontinuität. Oft wandte ich mich an einen Kreis von Wissenschaftlern über verwickelte Themen, indem ich gut vorbereitete Vorträge über die Ergebnisse meiner eigenen Forschungen oder über meine Untersuchungen von den Versuchen und Forschungen anderer hielt. Wenn ich aufwachte, hatte ich noch den Klang meiner eigenen Stimme im Ohr, während meine Augen immer noch die maschinengeschriebenen Seiten mit ganzen Sätzen und Paragraphen sahen, die ich lesen und über die ich mich wundern konnte, ehe sie entschwanden. Nebenbei möchte ich auf die Tatsache aufmerksam machen, daß die von mir in diesem Traumvortrag gehaltenen Vorträge unweigerlich deduktiv waren.

Es gab auch einen großen landwirtschaftlichen Distrikt, der sich irgendwo in der gemäßigten Zone Hunderte von Meilen von Norden nach Süden erstreckte, mit einem Klima und einer Flora und Fauna sehr ähnlich denen Kaliforniens. Nicht ein- oder zweimal, nein, Tausende von Malen reiste ich durch diese Traumgegend. Das, worauf ich hinweisen möchte, ist, daß es stets dieselbe Gegend war. So war es immer eine achtstündige Fahrt von den Espartograswiesen (wo ich Jersey-Vieh hielt) bis zu dem Dorf an dem großen ausgetrockneten Flußbett, wo ich die kleine, schmalspurige Eisenbahn bestieg. Jedes Stückchen Gelände, das ich auf dieser achtstündigen Fahrt sah, jeder Baum, jeder Berg, jede Furt und jede Brücke, jeder Hang und jede Böschung, alles war immer dasselbe.

In der zusammenhängenden gleichförmigen Region meiner Zwangsjackenträume wechselten die sekundären Einzelheiten beständig – je nach der Jahreszeit und der menschlichen Arbeit. Auf den Weiden der Hochebene hinter den Espartowiesen betrieb ich neue Landwirtschaft mit Hilfe von Angoraziegen. Hier sah ich bei jedem Traumbesuch Veränderungen, und die Veränderungen stimmten mit den zwischen den Besuchen liegenden Zeiträumen überein.

Ach, diese buschigen Hänge! Wie ich sie jetzt sehen kann, gerade wie wenn die Ziegen angekommen wären. Und wie ich mich der ersten Veränderungen erinnere – der Pfade, die sich bildeten, als die Ziegen sich buchstäblich durch das Dickicht hindurchfraßen; der jungen Sträucher, die in ihrer Kleinheit ganz abgebissen wurden und verschwanden; nach allen Richtungen bildeten sich Alleen durch die älteren höheren Gewächse, da die Ziegen Blätter und Zweige so hoch hinauf an den Sträuchern fraßen, wie sie diese, auf den Hinterbeinen stehend, erreichen konnten. Und ich sah, wie das Gras auf den Lichtungen wuchs, die die Ziegen durch das Verzehren des Gesträuchs gebildet hatten. Ja, die Kontinuität eines solchen Traums war sein Reiz. Dann kam der Tag, an dem Männer mit Äxten die hohen Sträucher abhieben, um den Ziegen die Möglichkeit zu geben, Blätter, Knospen und Rinden zu fressen. Und dann kam der Tag, im Winter, als all die kahlen, trockenen Skelette dieser Sträucher gesammelt und verbrannt wurden. Dann kam der Tag, an dem ich meine Ziegen nach andern buschigen Hängen trieb, während das Vieh auf der Spur der Ziegen folgte und in dem kniehohen saftigen Gras weidete, das jetzt dort wuchs, wo früher Sträucher gestanden hatten. Dann kam der Tag, an dem ich mein Vieh wieder nach andern Weiden trieb, während meine Pflüger hin und her über den Hang gingen, den fetten Rasen umpflügten, damit er faulte und das Erdreich schuf, in das die Saat gelegt wurde, die ich dereinst ernten sollte.

Ja, und in meinen Träumen stieg ich oft aus der kleinen schmalspurigen Eisenbahn in dem Dorf bei der tiefen ausgetrockneten Bergesschlucht, stieg in meinen kleinen Wagen und fuhr Stunde auf Stunde, an allen bekannten Orten vorbei, nach meinen Weiden auf der Hochebene, wo meine Gerste, mein Mais, mein Klee reif zur Ernte stand, während ich in der Ferne, ganz oben, meine Ziegen sah, die die Hänge zu Feldern nagten.

Aber alles das waren Träume, nichts als Träume, eingebildete Erlebnisse, aus meinem deduktiven Unterbewußtsein geschaffen. Ihnen ganz ungleich waren, wie Sie sehen werden, meine andern Erlebnisse, als ich das Tor passiert hatte, das zum Tod im Leben führt, Und die andern Existenzen, die in vergangenen Zeiten die meinen gewesen, wieder durchlebte.

In den vielen Stunden, die ich wach in der Zwangsjacke lag, bemerkte ich, daß ich oft an Cecil Winwood, den Dichter-Fälscher, dachte, der grundlos dieses Joch auf meine Schultern gelegt hatte und selbst wieder frei draußen in der Welt, in der freien Welt war. Nein, ich haßte ihn nicht. Das Wort besagt zu wenig. Es gibt kein Wort in der Sprache, das stark genug ist, um mein Gefühl zu beschreiben. Ich kann nur sagen, daß mein Wunsch, mich an ihm zu rächen, so intensiv war, daß er an sich ein Schmerz wurde, der alle Grenzen der Sprache übertraf. Ich will nicht von den Stunden reden, die ich meinen Plänen, ihn zu foltern, widmete, auch nicht von den teuflischen Ideen neuer Torturen, die ich für ihn erfand. Nur ein Beispiel. Mich beschäftigte der uralte Kniff, eine eiserne Schale mit einer Ratte darin an dem Körper eines Mannes zu befestigen. Die einzige Möglichkeit für die Ratte, zu entkommen, ist, daß sie sich in den Mann hineinfrißt. Wie gesagt, das beschäftigte mich, bis mir einfiel, daß ein solcher Tod zu schnell kam. Weshalb ich mich lange und gern mit dem arabischen Kniff beschäftigte – aber nein, ich habe ja versprochen, nicht mehr davon zu reden. Lassen Sie sich damit begnügen, daß viele meiner wachen Stunden im wahnsinnigen Schmerz Träumen der Rache an Cecil Winwood gewidmet waren.

 

Etwas sehr Wertvolles lernte ich in diesen langen, qualvollen wachen Stunden – nämlich die Herrschaft des Geistes über den Körper. Ich lernte, passiv zu leiden, wie es zweifellos alle Männer gelernt haben, die die Schule der Zwangsjacke durchmachten. Ach, es lernt sich nicht leicht, das Hirn in so überirdischer Ruhe zu halten, daß es über die krampfhaften Klagen der gequälten Nerven erhaben ist.

Und eben diese Herrschaft des Geistes über das Fleisch hatte ich gelernt. Das war es, was es mir ermöglicht hatte, das Geheimnis so lange durchzuführen, das Ed Morrell mir erzählte.

»Glaubst du, es ist bald aus mit dir?« klopfte Ed Morrell eines Nachts.

Man hatte mich gerade nach hundert Stunden befreit, und ich war schwächer als je. So geschwächt war ich, daß ich das Gefühl hatte, als sei mein ganzer Körper eine einzige zerschlagene elende Masse, und doch war ich mir kaum bewußt, daß ich überhaupt einen Körper hatte.

»Ja, ich glaube, es ist bald so weit«, klopfte ich zurück. »Wenn es noch lange dauert, bin ich geliefert.«

»So weit darfst du es nicht kommen lassen«, riet er mir. »Es gibt ein Mittel. Ich habe es selbst in den Kellern gelernt, als Massie und ich behandelt wurden. Ich kam durch. Aber Massie ging drauf. Wenn ich nicht den Trick gelernt hätte, wäre ich auch drauf gegangen. Aber man muß sehr herunter sein, ehe man es versucht. Versucht man es, solange man noch Kräfte hat, dann geht es nicht – und dann ist es ein für allemal aus. Mißglückt es, so kann man es nicht ein zweites Mal machen. Ich machte den Fehler, Jake den Trick zu erzählen, als er noch stark war. Selbstverständlich wollte er mit dem Versuch nicht warten – und es mißlang ihm. Als er es nachher nötig hatte, war es zu spät – das erste Mißlingen hatte alles verdorben. Er will nicht einmal glauben, daß es wahr ist. Er meint, ich mache mich über ihn lustig. Ist das wahr, Jake?«

Und Jake antwortete aus Zelle dreizehn: »Geh nicht auf den Leim, Darrell. Es ist eine Ammengeschichte.«

»Erzähl es mir«, signalisierte ich Morrell.

»Deshalb habe ich gewartet, es dir zu erzählen, bis du ganz herunter warst«, fuhr er fort. »Jetzt hast du es nötig, und da sage ich es dir. Es kommt auf dich selber an, wenn du Willen genug hast, kannst du es tun. Ich habe es dreimal getan, ich weiß also Bescheid.«

»Aber was ist es denn?« fragte ich eifrig.

»Der Trick besteht darin, in der Zwangsjacke zu sterben, selbst sterben zu wollen. Du verstehst mich noch nicht, aber warte nur einen Augenblick. Du weißt ja, wie du allmählich in der Zwangsjacke lahm und gefühllos wirst – deine Arme und Beine schlafen ein. Das kannst du nicht vermeiden, aber darin liegt die Idee selbst, und die kannst du verbessern. Warte nicht, bis deine Beine oder andere Körperteile einschlafen. Liege nur ruhig auf dem Rücken, so bequem du kannst, und beginne, deinen Willen zu gebrauchen.

Und das ist die Idee, die du ganz für dich selber durchdenken mußt, und an die du immerfort glauben mußt, solange du daran denkst. Glaubst du nicht daran, so ist nichts zu machen. Dann hilft es nichts. Das, woran du denken und glauben sollst, ist, daß dein Körper eines und dein Geist ein ganz anderes ist. Du bist du, und dein Körper ist etwas, das nicht die Bohne wert ist. Dein Körper zählt nicht mit! Du brauchst keinen Körper, und wenn du an all das denkst und glaubst, dann fängst du an zu beweisen, daß es richtig ist, deinen Willen zu benutzen. Du läßt deinen Körper sterben.

Du beginnst mit den Zehen – mit einer nach der andern. Du läßt sie sterben. Du willst, daß sie sterben. Und hast du den Glauben und den Willen, so tun sie das auch. Das ist es eben: anzufangen zu sterben! Ist es erst mit einem Zeh geglückt, dann ist das andere leicht, denn dann brauchst du nicht mehr zu glauben. Denn dann weißt du es. Dann setzt du all deinen Willen darein, daß der Rest deines Körpers stirbt. Ich weiß, was ich dir sage, Darrell. Dreimal habe ich es getan.

Wenn du erst einmal mit diesem Sterben angefangen hast, geht es schon. Und das Lustige ist, daß du selbst die ganze Zeit dabei bist. Wenn deine Zehen auch tot sind, fühlst du dich doch nicht die Spur tot. Allmählich sind deine Beine bis zu den Knien gestorben – dann bis zur Hüfte, und du bist doch noch derselbe, der du immer gewesen bist. Nur dein Körper scheidet aus – allmählich. Und du bist doch derselbe, der du vorher warst.«

»Und was geschieht dann?« klopfte ich.

»Ja, wenn dein ganzer Körper tot ist und du doch noch da bist, dann brennst du durch und läßt einfach deinen Körper liegen. Steinerne Mauern und eiserne Türen können ja nur die Körper einschließen. Den Geist können sie nicht halten, nicht wahr? Das hast du doch bewiesen. Du kannst dir deinen Körper von außen ansehen. Ich sage dir, daß ich es weiß, denn ich habe es dreimal gemacht ... meinen Körper angesehen, der dalag, während ich selbst daneben stand.«

»Ha! ha! ha!« Jake Oppenheimer klopfte, dreizehn Zellen entfernt, sein Lachen.

»Ja, siehst du, das ist es eben mit Jake – er kann nicht glauben«, klopfte Morrell weiter. »Als er es versuchte, war er noch zu stark – und da konnte er nicht. Und nun glaubt er, daß ich mich über ihn lustig machte.«

»Wenn man stirbt, dann ist man tot, und tote Menschen bleiben tot«, antwortete Oppenheimer.

»Ich sage dir, daß ich dreimal tot gewesen bin«, wandte Morrell ein.

»Und doch lebst du, um es uns zu erzählen«, spottete Oppenheimer.

»Aber vergiß eines nicht, Darrell«, klopfte Morrell mir zu. »Die Geschichte ist kitzlig. Man hat die ganze Zeit ein merkwürdiges Gefühl. Ich kann es dir nicht erklären. Aber ich dachte immer, wenn sie jetzt kämen und meinen Körper aus der Zwangsjacke herausließen, während ich fort war, wie sollte ich dann wieder hineinkommen? Ich meine: mein Körper muß ja aussehen, als wäre er tot. Und ich hatte keine Lust, tot zu bleiben. Das fehlte nur, daß Jamie das Vergnügen haben sollte. Aber das sage ich dir, Darrell – bringst du das fertig, dann kannst du den Direktor auslachen. Wenn du deinen Körper auf die Art sterben lassen kannst, dann kann es dir einerlei sein, und wenn sie dich einen ganzen Monat in der Zwangsjacke behalten. Du leidest nicht darunter und dein Körper auch nicht. Du weißt wohl, daß es Fälle gegeben hat, in denen Menschen ein ganzes Jahr hintereinander geschlafen haben. So ist es auch mit deinem Körper. Er bleibt einfach in der Zwangsjacke und wartet, daß du zurückkommst. Versuch es nur. Ich habe dir den Weg angegeben.«

»Und wenn er nicht wiederkommt?«, fragte Oppenheimer.

»Dann lachen sie ihn aus, denke ich, Jake«, antwortete Morrell. »Obgleich wir eigentlich ausgelacht werden müßten, weil wir in diesem muffigen Loch bleiben, aus dem wir so leicht entkommen könnten.«

Und hier endete diese Unterhaltung, denn Puddingfratzen-Jones wachte auf und drohte uns mit der Zwangsjacke.

 


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