Jack London
Jerry der Insulaner
Jack London

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Der schöne Dreimastschoner Ariel, der eine Reise um die Welt machte, war schon ein ganzes Jahr von San Franzisko fortgewesen, als Jerry an Bord kam. Als Welt, und dazu als Welt eines weißen Mannes, war sie in seinen Augen ganz unvergleichlich. Sie war nicht klein wie die Arangi, und zudem wimmelte es nicht vorn und achtern auf Deck und in der Kajüte von Niggern. Der einzige Schwarze, den Jerry hier fand, war Johnny; im übrigen war das geräumige Schiff mit zweibeinigen weißen Göttern bevölkert.

Er begegnete ihnen überall, am Rade, auf dem Ausguck, das Deck waschend, Messing putzend, nach oben kletternd, oder, ein Dutzend auf einmal, an Schoten und Taljen hievend. Aber es gab Unterschiede. Es gab mehrere Arten Götter, und Jerry spürte bald, daß in der Rangordnung der Götter an Bord die, welche die Arbeit taten und das Schiff bedienten, weit unter dem Kapitän und seinen zwei Offizieren standen, die in Weiß und Gold gekleidet herumgingen. Anderseits aber waren diese wieder geringer als Harley Kennan und Villa Kennan; er erkannte schnell, daß sie unter Harleys Befehl standen. Aber etwas konnte Jerry nie herausbringen, und das war, wer der höchste Gott auf der Ariel war. Er erfuhr nie, ob Harley Kennan Villa, oder ob Villa Kennan Harley kommandierte – er versuchte es auch nie zu erfahren, denn soweit konnte er nicht denken. Ohne sich im übrigen den Kopf mit dieser Frage zu zerbrechen, betrachtete er ihre Oberhoheit in dieser Welt als eine Art Doppelherrschaft. Keines von ihnen stand im Rang über dem andern. Sie schienen einander ebenbürtig, während alle andern sich vor ihnen beugten.

Es ist nicht wahr, daß einen Hund füttern dasselbe ist, wie sein Herz gewinnen. Weder Harley noch Villa fütterten Jerry je, und doch wählte er sie zu seinen Herren, die er ehren und denen er dienen wollte vor dem japanischen Steward, der ihn fütterte. Wie alle Hunde, war Jerry wohl imstande, zwischen dem, der ihm das Futter reichte, und dem, der die Quelle des Futters war, zu unterscheiden. Das heißt, er hatte ganz unbewußt das Gefühl, daß alles, was an Bord verzehrt wurde, aus derselben Quelle kam – nämlich von dem Mann und der Frau. Sie waren es, die alle nährten und über alle herrschten. Kapitän Winters mochte den Matrosen Befehle erteilen, aber er empfing selbst Befehle von Harley Kennan. Das wußte Jerry ebenso sicher, wie er danach handelte, obwohl es nie die Form eines bewußten Gedankens in seinem Hirn annahm.

Und wie er es sein ganzes Leben gewohnt gewesen – bei Herrn Haggin, bei Schiffer, ja selbst bei Baschti und dem obersten Teufel-Teufel-Medizinmann von Somo –, schloß er sich auch hier den höchsten Göttern an und wurde folglich von den Göttern, die unter ihnen standen, mit Ehrerbietung behandelt. Wie Schiffer auf der Arangi und Baschti in Somo Tabus erlassen hatten, so beschützten auch der Mann und die Frau auf der Ariel Jerry mit Tabus. Sano, der japanische Steward, und nur Sano, fütterte Jerry. Von keinem Matrosen im Walboot oder in der Dampfbarkasse würde er auch nur einen einzigen Bissen Zwieback oder eine Einladung zu einer Fahrt an Land angenommen haben, selbst wenn sie es ihm angeboten hätten, was sie im übrigen nicht taten. Sie durften auch nicht vertraulich gegen ihn werden, mit ihm zu spielen versuchen oder ihm auch nur auf Deck pfeifen.

Für Jerry, der von Natur so geschaffen war, daß er nur einem gehorchen konnte, war das sehr angenehm. Selbstverständlich gab es auch hier Gradunterschiede, aber keiner hatte ein feineres und klareres Gefühl hierfür als Jerry selbst. So durften sich die zwei Offiziere wohl erlauben, ihn mit einem »Hallo« oder einem »Guten Morgen«, ja sogar mit einem freundschaftlichen Klaps auf den Kopf zu begrüßen, und Kapitän Winters Benehmen ihm gegenüber war noch vertraulicher. Er konnte ihm die Ohren reiben, ihn Pfote geben lassen, ihm den Rücken kratzen und sogar seine Schnauze packen und ihn gründlich schütteln, aber er machte unwiderruflich Platz, wenn der eine Mann und die eine Frau an Deck erschienen.

Wenn es galt, sich Freiheiten, entzückende, ausgelassene Freiheiten zu nehmen, so durfte Jerry als einziger an Bord sie sich dem Mann und der Frau gegenüber erlauben, und anderseits waren sie die einzigen, die sich Freiheiten ihm gegenüber herausnehmen durften. Jede Beleidigung, die Villa Kennan ihm zuzufügen für gut befand, ließ er sich, zitternd vor Begeisterung, gefallen, zum Beispiel, wenn sie seine Ohren ganz hinter dem Kopf zusammenzog und ihn zwang, aufrecht zu sitzen und mit den Vorderbeinen hilflos in der Luft herumzufuchteln, um das Gleichgewicht zu bewahren, während sie ihm gleichzeitig schelmisch in Mund und Nüstern blies. Und Harley Kennan war auch nicht besser. Er hatte eine Art, ihn zu finden, wenn er gerade wunderbar auf Villas Rocksaum schlief, und ihm die behaarte Haut zwischen den Zehen zu kitzeln, daß er unwillkürlich im Schlaf um sich trat und dadurch aufwachte, während die andern auf seine Kosten in ein heiteres Lachen ausbrachen.

Dann wieder konnte Villa, wenn sie nachts auf Deck lagen, ihren einen Zeh unter der Decke drehen und wenden, daß er wie ein seltsames krabbelndes Geschöpf aussah, worauf Jerry sofort tat, als fiele er wirklich darauf herein, und in ihrem Bett die furchtbarste Verwirrung anrichtete, indem er sich wütend auf das stürzte, was, wie er sehr gut wußte, ihr Zeh war. In einem Sturm von Lachen, in das sich halb unwillkürliche Angstschreie mischten, nahm sie ihn dann zuletzt in ihre Arme und lachte, das Gesicht gegen seine Ohren gepreßt, die vor Freude und Liebe ganz zurückgelegt waren. Wer von allen, die sich auf der Ariel befanden, hätte sich sonst derartige Teufelsstreiche gegen das Bett des weiblichen Gottes erlaubt? Es wäre ihm nie eingefallen, sich diese Frage zu stellen, deshalb hatte er aber doch ein ganz deutliches Gefühl, in wie hoher Gunst er vor allen andern stand.

Eine andre seiner Künste hatte er durch einen reinen Zufall entdeckt. Als er einmal die Schnauze vorstreckte, um ihre Liebkosungen zu erwidern, berührte er zufällig ihr Gesicht mit seiner kleinen Schnauze, die weich und doch hart zugleich war. Und er tat es so kräftig, daß sie mit einem kleinen Schrei zurückfuhr. Noch einmal tat er es in aller Unschuld, und dadurch wurde er sich der Wirkung auf Villa bewußt, so daß er ihr von jetzt an, wenn sie in ihren Neckereien zu wild und ausgelassen wurde, nur die Schnauze ins Gesicht steckte, worauf sie hastig den Kopf zurückbog, um ihm zu entgehen. Als er dann nach einiger Zeit die Erfahrung machte, daß sie, wenn er weiter auf sie eindrang, dem Spiel ein Ende machte, indem sie ihn in ihre Arme nahm und ihm in die Ohren lachte, machte er es sich zur Regel, das Spiel so lange zu treiben, bis dieser prachtvolle Abschluß erreicht war.

Nie tat er bei diesem ganz bewußten Spiel ihrem Kinn oder ihrer Wange etwas zuleide, eher seiner eignen empfindlichen Schnauze, aber selbst wenn es ihm wehtat, war die Freude doch größer als der Schmerz. Es war lauter Spaß von Anfang bis zu Ende, und dazu war es Liebesspaß. Dieser Schmerz war reine Seligkeit.

Alle Hunde sind Gottesanbeter. Aber glücklicher als alle andern Hunde, hatte Jerry ein Götterpaar gefunden, das, soviel Liebe es auch verlangte, immer noch mehr gab. Wenn er auch drohen konnte, seiner angebeteten Göttin mit seiner Schnauze etwas zuleide zu tun, so würde er doch in Wirklichkeit eher für sie sein Herzblut vergossen, das Leben gegeben haben. Er lebte nicht für Nahrung, für Unterkunft, für ein behagliches Ruheplätzchen zwischen den Perioden von Finsternis, die nun einmal zum Dasein gehörten. Er lebte für die Liebe. Und so gewiß er freudig für seine Liebe lebte, ebenso gewiß würde er freudig für sie gestorben sein.

In Somo hatte es lange gedauert, bis Jerrys Erinnerung an Schiffer und Herrn Haggin verblaßt war. Das Leben im Kannibalendorfe war zu unbefriedigend gewesen. Dort hatte es zu wenig Liebe gegeben. Nur Liebe kann die Erinnerung an Liebe oder vielmehr die Qual über den Verlust des Geliebten auslöschen. An Bord der Ariel hingegen erfolgte dies Auslöschen schnell. Jerry vergaß Schiffer und Herrn Haggin nicht. Aber in den Augenblicken, da er sich ihrer erinnerte, wurde die Sehnsucht nach ihnen jetzt weniger nagend und schmerzlich. Die Pausen zwischen diesen Augenblicken wurden länger, und es geschah seltener, daß Schiffer und Herr Haggin in seinen Träumen Form annahmen und wirklich wurden, denn nach Hundeart träumte er viel und lebhaft.

 

An der Leeküste von Malaita entlang fuhr die Ariel ganz ruhig nordwärts über die farbenprächtige Lagune zwischen den Küstenriffen und den Außenriffen, wagte sich in Kanäle, die so eng und voller Korallenriffe waren, daß Kapitän Winters behauptete, täglich Tausende neuer grauer Haare auf seinem Haupte zählen zu können, und ankerte vor jeder ummauerten Bucht im Außenriff und jedem Mangrovensumpf auf dem Lande, wo es Aussicht gab, Menschenfresser zu finden. Denn Harley und Villa Kennan hatten keine Eile. Solange die Reise interessant war, machten sie sich darüber keine Sorge, wie weit es von einem Ort zum andern war.

Im Laufe der Zeit lernte Jerry auf einen neuen Namen – oder eigentlich auf eine ganze Reihe von Namen – hören, denn Harley Kennan mochte ein Geschöpf, das bereits einen Namen hatte, nicht umtaufen.

»Er muß doch einen Namen gehabt haben«, sagte er zu Villa. »Haggin muß ihn doch irgendwie genannt haben, ehe er auf die Arangi kam. Daher muß er namenlos bleiben, bis wir nach Tulagi kommen und erfahren können, wie er wirklich heißt.«

»Was bedeutet ein Name?« begann Villa heiter.

»Alles«, erwiderte ihr Mann. »Denk', wenn du selbst Schiffbruch erlitten hättest und deine Retter dich ›Frau Riggs‹ oder ›Mademoiselle de Maupin‹ oder ganz einfach ›Topsy‹ nennen würden. Oder denk', wenn ich ›Benedict Arnold‹ oder ›Judas‹ oder . . . oder . . . ›Hamann‹ genannt würde. Nein, laß ihn namenlos bleiben, bis wir seinen richtigen Namen herausbekommen.«

»Wir müssen ihn doch irgendwie nennen«, wandte sie ein. »Wir können doch sonst gar nicht an ihn denken.«

»So nenn' ihn bei vielen Namen, aber nie zweimal bei demselben. Nenn' ihn heute ›Hund‹ und morgen ›Herr Haggin‹ und übermorgen wieder anders.«

Und so kam es, daß Jerry sich eher aus dem Tonfall und dem unmittelbaren Zusammenhang als sonst irgendwie daran gewöhnte, sich in Verbindung mit einer ganzen Reihe von Namen zu setzen, wie zum Beispiel: Hund, Abenteurer, Starker Freund, Singvögelchen, Namenlos, Liebling. Das waren einige wenige von den Namen, die Villa ihm gab. Harley wiederum redete ihn Jungteufel und Löwentöter an. Kurz, Mann und Frau wetteiferten, wer die meisten Namen für ihn erfinden konnte, ohne ihn je bei dem gleichen zu nennen. Und weniger aus den Lauten und Silben als aus dem zärtlichen Klang ihrer Stimmen erkannte er bald, daß jeder Name, den sie nannten, auf ihn gemünzt war. In seinen eignen Gedanken war er nicht mehr Jerry, sondern einfach jeder besonders freundlich und zärtlich ausgesprochene Laut.

Seine große Enttäuschung (wenn man das Wort Enttäuschung auf das unbewußte Gefühl, nicht das Erwartete erreicht zu haben, anwenden kann) war eine sprachliche Angelegenheit. Keiner an Bord, nicht einmal Harley und Villa, redeten Nalasus Sprache. Jerrys ganzer großer Wortschatz, seine ganze Fähigkeit, ihn anzuwenden – eine Fähigkeit, die ihm eine Sonderstellung als Wunder unter den Hunden gesichert hätte, weil er wirklich eine Sprache beherrschte, war auf der Ariel nutzlos. Sie sprachen sie nicht, hatten überhaupt keine Ahnung von der Existenz dieser Whiff-Whuff-Sprache, die Nalasu ihn gelehrt hatte, und die jetzt, nach Nalasus Tode, kein lebendes Wesen außer Jerry mehr kannte.

Vergebens sprach Jerry sie zu dem weiblichen Gott. Er saß auf dem Halbdeck, den Kopf zwischen ihren Händen, und sprach und sprach, ohne doch je eine einzige Antwort von ihr zu erhalten. Mit leisem Winseln, mit Whuffs und Whiffs und knurrenden Kehllauten versuchte er immer wieder, ihr etwas von seiner Geschichte zu erzählen. Sie war lauter Zärtlichkeit und Mitgefühl; sie hielt seinen Kopf so dicht an ihren Mund, daß er fast ertrank in dem Duft, der ihrem Haar entströmte, und doch sagte ihr Herz ihr nichts von dem, was er erzählte, wenn sie auch seine Absicht fühlte.

»Wahrhaftig, Kamerad!« konnte sie dann rufen. »Der Hund spricht. Ich weiß, daß er spricht. Er erzählt mir von sich. Wenn ich ihn nur verstehen könnte, wüßte ich seine ganze Lebensgeschichte. Er füllt mir meine untauglichen Ohren damit. Wenn ich ihn nur verstehen könnte!«

Harley war skeptischer, aber ihr weiblicher Instinkt riet richtig.

»Ich weiß es!« versicherte sie ihrem Mann immer wieder. »Ich sage dir, daß er uns all seine Abenteuer erzählen könnte, wenn wir ihn nur verstehen würden. Kein andrer Hund hat je auf diese Weise mit mir gesprochen. Hier gibt es eine Geschichte. Ich fühle sie. Zuweilen weiß ich, daß er von Freude, von Liebe, von Jubel und Kampf erzählt. Dann wieder von Erbitterung, Kränkungen, Verzweiflung und Traurigkeit.«

»Natürlich«, sagte Harley ruhig. »Der Hund eines weißen Mannes, der unter den Menschenfressern von Malaita gelebt hat, muß selbstverständlich all diese Gefühle erlebt haben, und ebenso selbstverständlich kann die Frau eines weißen Mannes, eine liebe, reizende Villa Kennan, sich die Erlebnisse eines solchen Hundes vorstellen und die sinnlosen Laute, die er ausstößt, für den Bericht darüber halten und gar nicht einsehen, daß sich nur ihr eignes entzückendes, empfängliches, mitfühlendes Ich darin widerspiegelt. Das Lied des Meeres, von der Muschel gesungen – ja, Kuckuck! Das Lied, das man selbst dichtet und der Muschel einbläst.«

»Aber gerade das –«

»Du hast natürlich recht,« fiel er ihr galant in die Rede, »wie stets, besonders, wenn du am allermeisten unrecht hast.«

»Mach' du dich nur über mich lustig«, antwortete sie. »Aber ich weiß –« Sie hielt inne, um einen Ausdruck zu finden, der stark genug war, da sie ihn aber nicht finden konnte, führte sie mit einer hastigen Bewegung die Hand an ihr Herz und rief damit eine Macht an, die stärker als alle Worte war.

»Wir sind einig – meine Reverenz«, lachte er heiter. »Dasselbe wollte ich gerade sagen. Unsre Herzen können unsre Köpfe jederzeit in Grund und Boden reden, und das beste dabei ist, daß unsre Herzen recht haben, soviel auch die Statistik beweisen mag, daß sie in der Regel unrecht haben.«

Harley glaubte weder damals noch später je an das, was seine Frau von Jerrys Erzählungen berichtete. Und sein ganzes Leben lang, bis zu seinem Tode, hielt er es für einen reizenden poetischen Einfall Villas.

Aber Jerry, der vierfüßige irische Terrier, besaß wirklich die Gabe der Rede. Wenn er andern auch nicht die Kenntnis seiner Sprache beibringen konnte, so konnte er doch selbst eine neue Sprache schnell erlernen, und ohne Anstrengung, ja ohne jede Unterweisung begann er sich die Sprache anzueignen, die auf der Ariel gesprochen wurde. Leider war es keine einem Hunde zugängliche Whiff-Whuff-Sprache, wie die von Nalasu erfundene, und wenn Jerry allmählich auch viel von dem verstand, was auf der Ariel gesagt wurde, so konnte er doch selbst nichts davon sagen. Er wußte, daß der weibliche Gott mindestens drei Namen hatte: ›Villa‹, ›Kameradin‹ und ›Frau Kennan‹, denn er hatte sie bei diesen verschiedenen Namen nennen hören. Aber er selbst konnte es nicht. Es war ausschließlich eine Göttersprache, die nur die Götter reden konnten. Sie glich nicht der Sprache, die Nalasu erfunden hatte, und die ein Kompromiß zwischen Götter- und Hundesprache gewesen war, so daß Gott und Hund sich mit ihrer Hilfe unterhalten konnten.

Ebenso erfuhr er, daß der Manngott viele verschiedene Namen hatte: ›Harley‹, ›Kapitän Kennan‹ und ›Schiffer‹. Nur in sehr engem Kreise, wenn sie unter sich zu dritt waren, hörte Jerry den Namen ›Kamerad‹, ›Liebster‹, ›Geduldige Seele‹, ›Freund‹, ›Villas Glück‹. Aber Jerry konnte diese Namen beim besten Willen nicht aussprechen, wenn er mit dem Manne oder mit der Frau zu reden wünschte. Und doch hatte er Nalasu an stillen Abenden, wenn kein Lüftchen sich zwischen den Bäumen regte, ein Whiff-Whuff auf hundert Fuß Abstand zugeflüstert.

Eines Tages beugte sich die Frau über ihn, daß ihr Haar, das nach einem Schwimmbad in dem salzigen Wasser trocknete, ihn umwehte, packte seine Schnauze und sang ihm ein kleines Lied ins Ohr. Mitten im Singen überraschte Jerry sie, und man kann mit gleichem Recht sagen, daß er sich selbst überraschte. Noch nie hatte er bewußt etwas derartiges getan. Und er tat es auch nicht absichtlich. Es überwältigte ihn einfach. Er hätte es ebensowenig lassen können, das Wasser nach einem Bade abzuschütteln, oder im Traum um sich zu treten, wenn ihn jemand unter den Füßen kitzelte, wie dem unwiderstehlichen Drang zu folgen, der ihn zwang, das zu tun, was er tat.

Im Singen verursachte ihre Stimme ein leises zitterndes Gefühl in seinem Ohr, und da kam es ihm vor, als ob sie fern und undeutlich, und als ob er, unter dem Einfluß ihres Singens, weit entrückt würde. In dem Maße fühlte er sich entrückt, daß er eben das Überraschende tat. Er setzte sich plötzlich, fast krampfhaft nieder, entzog seinen Kopf ihrer Hand, die seine Schnauze gepackt hielt, und ihrem Haar, das ihn wie ein Netz eingesponnen hatte, und begann mit hochgehobener Schnauze im Rhythmus ihres Gesanges zu zittern und hörbar zu atmen. Dann richtete er mit einem hastigen Ruck die Schnauze gegen den Zenith, öffnete das Maul und ließ eine Flut von Tönen herausquellen, die sich schnell mit steigender Kraft hoben und dann langsam wieder erstarben.

Dies Geheul war der Anfang und brachte ihm den Namen ›Singvogel‹ ein. Denn Villa Kennan säumte nicht, dies Geheul, zu dem ihr Singen den Anlaß gegeben hatte, weiter zu entwickeln. Nie weigerte er sich, wenn sie sich hinsetzte, die Hand ausstreckte und ihm ermunternd zurief: »Los, Singvogel!« Er kam sofort zu ihr, ließ sich von ihrem duftenden Haar umwogen, hob die Schnauze neben ihrem Ohr und fiel fast augenblicklich ein, wenn sie leise zu singen begann. Namentlich Molltöne spornten ihn an, und wenn er erst einmal in Gang gekommen war, so konnte er mit ihr singen, solange sie wollte. Und es war wirklich Singen. Mit seiner gewohnten Geschicklichkeit in bezug auf alles, was mit dem Begriff Sprechen zusammenhing, lernte er schnell sein Geheul zu mildern und zu dämpfen, daß es ein voller weicher Ton wurde. Er lernte sogar die Töne hinsterben und anschwellen zu lassen, zu beschleunigen und zu verzögern, sich ganz ihrer Stimme anzupassen.

Jerry genoß das Singen wie ein Opiumraucher seine Träume. Denn er träumte wirklich, verschwommene, unklare Träume, während ihn das Haar des weiblichen Gottes wie eine schwach duftende Wolke umwogte und ihre Stimme sich klagend mit der seinen mischte. Dann schwand sein Bewußtsein hin in Träumen, die ihn beim Singen besuchten, und die das Singen für ihn bedeuteten. Die Erinnerung an Schmerz erwachte in ihm, aber an einen Schmerz, den er längst vergessen hatte und der kein Schmerz mehr war. Es war eher eine wundersame Traurigkeit, die sein ganzes Leben durchdrang und ihn von der Ariel (die in irgendeiner Korallenlagune lag) in das unwirkliche »Anderswo« entführte.

Denn in solchen Augenblicken hatte er Gesichte. Es war ihm, als säße er in kalter, trauriger Nacht auf einem nackten Hange und heulte die Sterne an, während aus der Finsternis, weit in der Ferne, ein andres Geheul als Antwort auf das seine ertönte. Und von nah und fern ertönte andres Geheul durch die Luft, bis es war, als spräche die Nacht mit seiner Stimme und der seines Geschlechtes. Es war sein Geschlecht. Ohne es sich klarzumachen, kannte er es, dies Gefühl der Zusammengehörigkeit mit dem Lande »Anderswo«.

Als Nalasu ihn die Whiff-Whuff-Sprache lehrte, hatte er sich bewußt an seine Intelligenz gewandt; Villa aber wandte sich, ohne es zu wissen, an sein Herz und an seine Erbinstinkte, rührte so an die tiefsten Saiten alter Erinnerungen und brachte sie zum Erklingen.

Zum Beispiel: Es war zuweilen, als tauchten nachts undeutliche, schattenhafte Gestalten auf und zögen wie Gespenster an ihm vorüber, und dann hörte er wie im Traum den Jagdruf der Koppel, sein Blut begann schneller zu pulsen, und sein eigner Jagdinstinkt konnte erwachen, bis sein leises Winseln zu heftigem Jappen wurde. Dann senkte er den Kopf, um sich aus dem Netz zu befreien, in das das Haar der Frau ihn einspann, und begann unruhige krampfhafte Bewegungen mit den Füßen zu machen, als ob er liefe. Und heißa, wie der Blitz ging es fort, hinweg über alles, was Zeit hieß, fort von der Wirklichkeit in den Traum hinein, in dem er selbst inmitten schattenhafter Gestalten in der jagenden Gemeinschaft des Koppels dahinschoß.

Und wie die Menschen sich stets nach dem Staub des Mohns und dem Saft des Hanfs gesehnt haben, so sehnte Jerry sich nach dem Glück, das er empfand, wenn Villa Kennan ihm die Arme entgegenstreckte, ihn in ihr Haar einspann und ihn über Raum und Zeit hinweg in das Geschlecht seiner Vorfahren sang.

Nicht immer, wenn sie zusammen sangen, hatte er dieses Erlebnis. Im allgemeinen hatte er keine Gesichte, nur unklare Gefühle, sanfte, traurige Gespenster von Erinnerungen an Dinge, die gewesen. Dann wieder, wenn diese Traurigkeit ihn überkam, konnte seine Seele von den Bildern von Schiffer und Herrn Haggin erfüllt werden; auch die Bilder von Terrence und Biddy und Michael und dem ganzen Leben auf der Meringe-Plantage, das jetzt längst der Vergangenheit angehörte, erstanden vor ihm.

»Mein Lieb,« sagte Harley eines Tages zu Villa nach einer solchen Gesangleistung, »es ist ein Glück für ihn, daß du keine Tierbändigerin oder, sagen wir, ›Vorführerin dressierter Tiere‹ bist; denn dann würdet ihr beiden zu oberst auf allen Varieté- und Zirkusplakaten der ganzen Welt stehen.«

»Wenn ich das täte,« erwiderte sie, »würde er nichts lieber tun als das, zusammen mit mir –«

»Was die Nummer noch ungewöhnlicher machen würde«, fiel Harley ihr ins Wort.

»Du meinst –?«

»Daß von hundert Fällen nur einmal das Tier seine Arbeit, oder daß der Tierbändiger das Tier liebt.«

»Ich dachte, daß längst keine Grausamkeit mehr angewandt würde«, wandte sie ein.

»Das glaubt das Publikum, aber in neunundneunzig von hundert Fällen hat das Publikum Unrecht.«

Villa seufzte tief und entsagend: »Dann muß ich die vielversprechende und einträgliche Karriere wohl im selben Augenblick aufgeben, da du sie für mich entdeckt hast. Aber die Plakate würden dennoch großartig wirken: mein Name in Riesenbuchstaben –«

»Villa Kennan, der weibliche Caruso, und Singvogel, der irische Terrier-Tenor!« malte ihr Mann ihr die Überschriften aus.

Und mit leuchtenden Augen und weit heraushängender Zunge beteiligte Jerry sich an ihrer Heiterkeit, nicht weil er wußte, wovon die Rede war, sondern weil sie zeigte, daß sie sich freuten, und weil ihn die Liebe sich mit ihnen freuen ließ.

Denn Jerry hatte, und zwar in vollstem Maße, gefunden, was seine Natur forderte: die Liebe seines Gottes. Und da ihm klar war, daß die beiden gemeinsam über die Ariel herrschten, liebte er sie alle beide. Und gleichwohl – vielleicht weil ihre bezaubernde Stimme, die ihn in das Land »Anderswo« trug, ihm das Herz durchdrang – gleichwohl liebte er den weiblichen Gott mit einer Liebe, die größer als alle andre Liebe war, die er je gefühlt hatte, ja, die selbst seine Liebe zu Schiffer übertraf.

 

Eines lernte Jerry gleich auf der Ariel, nämlich, daß Niggerjagd nicht erlaubt war. In seinem Eifer, seinen neuen Göttern zu dienen und zu gefallen, benutzte er die erste Gelegenheit, eine Kanuladung von Schwarzen, die einen Besuch an Bord abstatten wollten, anzufallen. Villas Schelten und Harleys Befehl ließen ihn augenblicklich verblüfft innehalten. Vollkommen überzeugt, daß er sich verhört hätte, begann er wieder einen Schwarzen, auf den er es besonders abgesehen hatte, zu bedrängen. Diesmal klang Harleys Stimme gebieterisch, und Jerry näherte sich ihm mit wedelnder Rute und sich drehend und wendend vor lauter Eifer, um Verzeihung zu bitten, während seine rosenrote Zunge ebenso eifrig die Hand küßte, die sich ihm verzeihend entgegenstreckte und ihn streichelte.

Dann rief Villa ihn zu sich. Sie drückte ihn an sich und nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände. Auge in Auge, Nase gegen Nase, erklärte sie ihm ernst, welche Sünde die Niggerjagd wäre. Sie erinnerte ihn daran, daß er kein gewöhnlicher Buschhund sei, sondern ein blutsreiner irischer Terrier, und daß kein Hund, der ein Gentleman wäre, sich darauf einließe, Schwarze zu jagen, die nichts verbrochen hätten.

Und er hörte ernst zu, ohne mit den Wimpern zu zucken, und wenn er auch nur wenig von ihren Worten verstand, war ihm doch der Sinn klar. »Ungezogen« war eines der Wörter der Ariel-Sprache, die er sich bereits angeeignet hatte. Jetzt gebrauchte sie es mehrmals, und das bedeutete für ihn, daß er »nicht durfte«, und war etwas Ähnliches wie ein Tabu.

Da sie es nun einmal so wollte, wer war er – so hätte er sich mit Recht fragen können –, daß er ihrem Willen nicht gehorcht oder gar sich gegen ihn aufgelehnt hätte? Wenn Nigger nicht gejagt werden durften, so jagte er sie eben nicht, trotzdem Schiffer ihn dazu angespornt hatte. Bewußt dachte Jerry zwar nicht über die Sache nach, aber er zog seine Schlüsse und beruhigte sich damit.

Einen Gott zu lieben, war für ihn dasselbe, wie ihm zu dienen. Es war ihm eine Freude, dem Gott zu dienen und zu gefallen, und der Grundstein für allen Dienst war für ihn Gehorsam. Dennoch fiel es ihm eine Zeitlang sehr schwer, nicht zu knurren und die Zähne zu fletschen, wenn die Beine anmaßender fremder Nigger auf dem weißen Deck der Ariel an ihm vorbeischritten.

Aber auch da gab es Unterschiede, wie er später erfahren sollte, als die Zeit kam, da Villa Kennan ein Bad, ein richtiges Bad in frischem, fließendem Wasser von den großen Regengüssen zu nehmen wünschte, und als Johnny, der schwarze Lotse aus Tulagi, einen Fehler beging. Auf der Karte war der Suli-Fluß nur eine Meile von der Mündung aufwärts verzeichnet. Der Grund dafür war, daß nie ein Weißer weiter hinauf gekommen war. Als Villa von dem Bad zu reden begann, beriet ihr Mann sich mit Johnny. Johnny schüttelte den Kopf.

»Kein fella Junge wohnen das Ort«, sagte er. »Nicht machen Spektakel euch. Busch fella Junge wohnen weit zu viel.«

Und so kam es, daß die Dampfbarkasse an Land geschickt wurde, und daß Villa, Harley und Jerry ein Städtchen den Fluß hinauf bis zu der ersten Stelle gingen, wo er eine passende Tiefe hatte, während die Besatzung im Schatten der Kokospalmen am Strande blieb.

»Man kann nicht vorsichtig genug sein«, sagte Harley, indem er seine automatische Pistole aus dem Halfter nahm und auf seine Kleider legte. »Wir könnten natürlich von einer Bande umherschweifender Neger überrascht werden.«

Villa ging bis an die Knie ins Wasser und blickte schaudernd hinauf in das hohe, düstere Buschdach, das hie und da von einem vereinzelten Sonnenstrahl durchbohrt wurde.

»Ein angemessener Rahmen für eine dunkle Tat«, lächelte sie, indem sie das kalte Wasser mit der hohlen Hand schöpfte und es auf ihren Mann schleuderte, der sich sofort daranmachte, sie zu verfolgen.

Eine Zeitlang blieb Jerry neben ihren Kleidern sitzen und sah ihrem heiteren Spiel zu. Dann wurde seine Aufmerksamkeit von dem Schatten eines riesigen Schmetterlings gefesselt, und bald darauf begab er sich, auf der Fährte einer Waldratte, witternd in den Busch. Es war keine frische Fährte, das wußte er gut, aber in der Tiefe seines Wesens gab es Instinkte, die seine Vorfahren seit Beginn der Zeiten geübt hatten, und die ihn dazu trieben, zu jagen, zu wittern, lebende Geschöpfe zu verfolgen, kurz, zu spielen, daß er sein eignes Wild jage, obwohl der Mensch seit vielen Geschlechtern ihn und die Seinen mit Fleisch versorgt hatte.

Und so kam es, daß er Fähigkeiten in Gebrauch nahm, die zwar nicht mehr notwendig waren, aber immer noch in ihm wohnten und laut ihre Anwendung forderten. Er folgte der Fährte der längst verschwundenen Waldratte mit all der leichtfüßigen, schleichenden Schlauheit, die den kennzeichnet, der eine lebende Beute verfolgt und mit äußerstem Scharfsinn seine Schlüsse aus dieser Fährte zieht. Aber die Fährte wurde von einer andern, einer sehr frischen, unmittelbaren Spur gekreuzt. Als ob ihn jemand mit einem Strick daran gezogen hätte, flog sein Kopf mit einem Ruck zur Seite, so daß er einen rechten Winkel zu seinem Körper bildete. Seine Nüstern witterten den unverkennbaren Geruch von »Nigger«. Dazu war es ein fremder Nigger, denn es roch nach keinem von allen, deren Erinnerung in seinem Hirn aufgespeichert war.

Vergessen war die alte Waldratte, er gab sich ganz der neuen Fährte hin. Er hatte keine Sorge um Villa oder Harley, nicht einmal, als er die Stelle erreichte, wo der Nigger gestanden hatte, als er offenbar durch ihre Stimmen verscheucht worden war, und wo seine Spur sich deshalb besonders deutlich ausprägte. Von hier aus wandte sich die Fährte den Badenden zu. Mit einer nervösen Wachsamkeit, in äußerster Spannung, aber furchtlos und immer noch das alte Spiel von der Verfolgung der Beute treibend, folgte ihr Jerry.

Vom Flusse her erklangen jetzt Kreischen und Gelächter, und jedesmal, wenn dieses Geräusch Jerrys Ohr erreichte, spürte er, wie ein schwaches wonniges Beben ihn durchschauerte. Wenn jemand ihn befragt, und wenn er seine Gefühle aus bewußtem Denken heraus hätte ausdrücken können, würde er gesagt haben, daß der schönste Laut auf Erden Villa Kennans und der nächstschönste Harley Kennans Stimme sei. Diese Stimmen ließen ihn erschauern, denn sie erinnerten ihn an seine Liebe zu ihnen und an die ihre zu ihm.

Beim ersten Anblick des Schwarzen – es war ganz in der Nähe der Stelle, wo Villa und Harley badeten – erwachte Jerrys Mißtrauen. Der Mann benahm sich nicht, wie ein Nigger, der nichts Böses im Schilde führte, sich benommen hätte. Statt dessen verriet jede seiner Bewegungen, daß er darauf lauerte, irgendeine Schlechtigkeit zu verüben. Er kauerte auf dem Boden im Busch und guckte hinter einer mächtigen Baumwurzel hervor. Jerry sträubten sich die Haare, er legte sich flach auf den Boden und beobachtete ihn.

Einmal hob der Schwarze seine Büchse halbwegs an die Schulter, aber seine nichts Böses ahnenden Opfer entzogen sich offenbar unter Plätschern und lautem Lachen seinem Gesichtskreise. Seine Waffe war nicht eine veraltete Sniderbüchse, sondern ein ganz modernes Winchester-Repetiergewehr, und er zeigte, daß er mehr gewohnt war, von der Schulter als von der Hüfte zu schießen, wie die meisten Malaitaner zu tun pflegten.

Die Stellung an der Baumwurzel befriedigte ihn nicht, er ließ die Büchse sinken und kroch näher auf die Badenden zu. Jerry folgte ihm, ebenfalls auf dem Boden kriechend. Er legte sich so flach, daß der Kopf, den er wagerecht vorstreckte, von den Schultern überragt wurde, die einen seltsamen Buckel bildeten. Wenn der Schwarze stehenblieb, blieb Jerry auch stehen, als wäre er im selben Augenblick zu Eis erstarrt. Wenn der Schwarze sich bewegte, so bewegte auch Jerry sich, aber schneller, so daß sich der Abstand zwischen ihnen beständig verringerte. Und die ganze Zeit sträubten sich ihm die Haare in Wut- und Zornwellen über Hals und Schultern. Dies war kein goldener Hund, der mit flach zurückgelegten Ohren und lachendem Maul in den Armen des weiblichen Gottes lag, kein Singvogel, der diesem Gotte alte Erinnerungen in das Haar sang, das ihn gefangen hielt und wie eine Wolke umhüllte, sondern ein vierfüßiges, kampflustiges, mörderisches Geschöpf, das bereit war, mit Zähnen und Klauen alles zu zerreißen und zu vernichten.

Jerry beabsichtigte anzugreifen, sobald er sich nahe genug angepürscht hatte. An das Tabu, das auf der Ariel in bezug auf die Niggerjagd galt, dachte er nicht. In diesem Augenblick war es seinem Bewußtsein entschwunden. Er wußte nur, daß dem Mann und der Frau eine Gefahr drohte, und daß die Gefahr dieser Nigger war.

So dicht war Jerry seiner Beute allmählich auf den Leib gerückt, daß er glaubte, angreifen zu können, als der Schwarze wieder niederhockte, um zu schießen. Die Büchse war schon an die Schulter gehoben, als Jerry lossprang. Trotz seiner Gewalt war der Sprung ganz geräuschlos, und das Opfer wurde den Angriff erst gewahr, als Jerrys Körper, der wie ein Geschoß die Luft durchflog, ihn zwischen den Schulterblättern traf. Gleichzeitig hieb ihm der Hund die Zähne in den Hals, jedoch zu nahe den kräftigen Schultermuskeln, als daß sie bis zum Rückgrat durchgedrungen wären.

Im ersten Schrecken ließ der Neger den Finger vom Drücker fahren und stieß ein entsetzliches Geheul aus. Er wurde vornüber aufs Gesicht geworfen, dann wälzte er sich auf den Rücken und packte Jerry, der ihm die Backe zerriß und das Ohr zerfetzte, denn ein irischer Terrier beißt immer wieder zu, statt wie eine Bulldogge festzuhalten.

Als Harley Kennan, seine automatische Pistole in der Hand und nackt wie Adam, hinkam, fand er Mann und Hund wütend miteinander ringend, während der Waldboden von dem heftigen Kampf völlig zertreten war. Der Neger, dessen Gesicht blutüberströmt war, hatte Jerry beide Hände um den Hals gelegt und würgte ihn, und Jerry kämpfte fauchend, knurrend und mit den Klauen kratzend um sein Leben. Das waren die starken Klauen eines voll ausgewachsenen Hundes, hinter denen harte Muskeln steckten. Und sie zerrissen Brust und Leib des Mannes, bis er am ganzen Körper von Blut troff. Harley Kennan wagte nicht zu schießen, so fest umschlossen sie sich. Statt dessen trat er dicht zu ihnen und schlug dem Mann mit aller Kraft den Pistolenkolben gegen den Kopf. Der betäubte Neger ließ los. Jerry stürzte sich sofort auf seine Kehle, und nur Harleys Hand und Harleys strenger Befehl hielt ihn zurück. Er zitterte vor Wut und knurrte erbittert, wenn er auch jedesmal, wenn Harley »Braver Hund!« sagte, innehielt, die Ohren zurücklegte und mit der Rute wedelte.

Er wußte, daß »Braver Hund!« ein Lob war, und weil Harley es immer wieder aussprach, wußte er ganz sicher, daß er ihm einen Dienst, und zwar einen guten Dienst, erwiesen hatte.

»Weißt du, daß der Schuft die Absicht hatte, uns zu ermorden«, sagte Harley zu Villa, die halb bekleidet und den Rest ihrer Kleider in der Hand, zu ihnen gekommen war. »Es waren keine fünfzig Fuß, und er hätte uns nicht fehlen können. Sieh die Winchesterbüchse! Keine von den alten Donnerbüchsen. Und ein Mann mit einer solchen Waffe hätte ganz sicher auch mit ihr umzugehen gewußt.«

»Aber wieso hat er es denn nicht getan?« fragte sie.

Ihr Mann zeigte auf Jerry.

Ihre Augen leuchteten verständnisvoll auf. »Du meinst . . .?« begann sie.

Er nickte. »Eben. Singvogel ging auf ihn los.« Er beugte sich nieder, drehte den Mann auf den Rücken und betrachtete seinen Nacken. »Hier wurde er zuerst getroffen, und er muß den Finger am Drücker und den Lauf auf dich und mich – wahrscheinlich zuerst auf mich gerichtet gehabt haben, als Singvogel seine Berechnungen vollständig über den Haufen warf.«

Villa hörte nur halb, was er sagte, denn sie hatte Jerry in ihre Arme geschlossen und nannte ihn »Gesegneter Hund«, während sie ihn beruhigend streichelte, bis seine gesträubten Haare sich wieder glätteten.

Als der Neger sich aber regte und aufsetzte, begann Jerry wieder zu knurren und machte Miene, sich auf ihn zu stürzen. Harley zog dem Mann ein Messer aus dem Lendenschurz.

»Was Name gehören dir?« fragte er.

Aber der Neger hatte nur Augen für Jerry und starrte ihn verblüfft an, bis sein Kopf allmählich so klar geworden war, daß er sich das Geschehene klarmachen konnte und verstand, daß dies kleine Stückchen Hund ihm das Spiel verdorben hatte.

»Mein Wort,« sagte er grinsend zu Harley, »das fella Hund beißen mich bißchen sehr.«

Er befühlte seine Wunden an Hals und Gesicht und bemerkte, daß der weiße Mann im Besitz seiner Büchse war. »Du mir geben Muskete, gehören mir«, sagte er unverschämt.

»Ich geben dir eins auf Ohren gehören dir«, lautete Harleys Antwort.

»Er sieht mir nicht wie ein gewöhnlicher Malaitaner aus«, wandte er sich an Villa. »Erstens: Wo sollte er die Büchse herhaben? Zweitens seine Kaltblütigkeit. Er muß uns ankern gesehen und gewußt haben, daß unsre Barkasse am Ufer lag. Und doch wollte er unsre Köpfe nehmen und mit ihnen wieder im Busch verschwinden –«

»Was Name gehören dir?« fragte er wieder.

Aber er erfuhr es nicht, bis Johnny und die Barkassenmannschaft, atemlos vom schnellen Laufen, kamen. Johnnys Augen funkelten vor Freude, als er den Gefangenen sah, und er geriet offensichtlich in große Erregung.

»Du geben mir das fella Junge«, bat er. »Ja? Du geben mir das fella Junge!«

»Was Name du brauchen ihn?«

Es dauerte indessen eine Weile, ehe Johnny die Frage beantworten konnte, und er tat es erst, als Kennan ihm berichtete, daß kein Unheil angerichtet wäre, und daß er die Absicht hätte, den Neger laufen zu lassen. Da protestierte Johnny heftig.

»Vielleicht du bringen das fella Junge Regierungshaus Tulagi. Regierungshaus geben dir zwanzig Pfund. Ihn sehr schlimm fella Junge zu viel. Makawao Name gehören ihm. Schlimm fella Junge zu viel. Ihn Queensland Junge –«

»Was Name Queensland?« unterbrach Kennan ihn. »Er gehören das fella Ort?«

Johnny schüttelte den Kopf.

»Ihn gehören zuerst Malaita. Lange Zeit früher zuviel ihn rekrutieren auf Schoner für Arbeit Queensland.«

»Er ist ein von Queensland Retournierter«, erklärte Harley seiner Frau. »Du weißt, als Australien dazu überging, nur noch weiße Arbeitskräfte zu nehmen, mußten die Queensländer Plantagenbesitzer alle schwarzen Sklaven zurückschicken. Dieser Makawao ist offenbar einer von ihnen, und dazu ein ganz bösartiger, wenn es mit Johnnys zwanzig Pfund seine Richtigkeit hat. Das ist ein hoher Preis für einen Schwarzen.«

Johnny fuhr in seiner Erklärung fort, die in gewöhnlichem, unverdorbenem Englisch bedeutete, daß der Mann einen sehr schlechten Ruf gehabt hatte. In Queensland hatte er im ganzen vier Jahre wegen Diebstahls, Raubes und versuchten Mordes im Gefängnis gesessen. Als er von der australischen Regierung nach den Salomoninseln zurückgeschickt worden war, hatte er sich auf der Buli-Plantage anwerben lassen, um sich – wie sich später zeigte – Waffen und Munition zu verschaffen. In Tulagi hatte er fünfzig Peitschenhiebe und ein Jahr Gefängnis erhalten, weil er versucht hatte, den Verwalter zu töten. Dann wurde er wieder nach der Buli-Plantage geschickt, um den Rest seiner Arbeitszeit abzudienen, und jetzt glückte es ihm in Abwesenheit des Verwalters, den Besitzer zu ermorden und in einem Walboot zu entwischen.

Im Walboot nahm er alle Waffen und alle Munition mit, die es auf der Plantage gab, ferner den Kopf des Besitzers, zehn Arbeiter von Malaita und zwei von San Cristobal – letzteres Salzwasserleute, die mit dem Walboot umgehen konnten. Er selbst und die zehn Malaitaner, die Buschmänner waren, wußten zu wenig vom Meere, um sich in die Straße von Guadalcanar zu wagen.

Unterwegs hatte er die kleine Insel Ugi angelaufen, die Handelsstation geplündert und den Kopf des alleinigen Händlers genommen, eines friedlichen Mischlings von der Norfolkinsel, der durch McCoy von der Bounty in gerader Linie von Pitcairn abstammte. Als er mit seinen Kameraden schließlich wohlbehalten nach Malaita gekommen war, hatten sie den beiden San-Cristobal-Leuten, für die sie keine Verwendung mehr hatten, die Köpfe genommen und ihre Leichen aufgefressen.

»Mein Wort, ihn schlimm fella Junge zu viel«, schloß Johnny seinen Bericht. »Regierungshaus Tulagi verdammt froh geben zwanzig Pfund für das fella.«

»Du gesegneter Singvogel!« flüsterte Villa Jerry ins Ohr. »Wenn du nicht gewesen wärst –«

»Dann würden dein und mein Kopf in diesem Augenblick von Makawao im Galopp durch den Busch heimgebracht werden«, beendete Harley den Satz an ihrer Statt. »Mein Wort, ihn fella Hund dies, groß bißchen«, fügte er heiter hinzu. »Und dabei machte ich ihm erst vor wenigen Tagen die Hölle heiß, weil er Nigger jagte. Aber er wußte besser Bescheid als ich.«

»Wenn jemand Anspruch auf ihn erhebt –« drohte Villa.

Harley unterstrich ihre Drohung durch Kopfnicken. »Jedenfalls«, sagte er lächelnd, »hätte ich einen Trost gehabt, wenn dein Kopf in den Busch gewandert wäre.«

»Trost!« rief sie.

»Ja, denn dann hätte meiner ihm Gesellschaft geleistet.«

»Du lieber, gesegneter Mann!« murmelte sie, und ihre Augen wurden feucht, während ihre Arme immer noch Jerry umschlossen, der die Seligkeit des Augenblicks fühlte und ihr liebevoll die duftende Wange mit seiner schmalen Zunge küßte.

 


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