Jack London
Jerry der Insulaner
Jack London

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Aber Baschti hegte keinen Zorn gegen Jerry. Er hatte zu lange gelebt und war zu sehr Philosoph, als daß er den Hund getadelt hätte, weil er ein Tabu verletzte, das er nicht kannte. Selbstverständlich wurden Hunde oft getötet, weil sie Tabus verletzten. Aber er ließ es geschehen, weil die Hunde ihn nicht im geringsten interessierten, und weil ihr Tod die Heiligkeit der Tabus noch mehr einprägte. Jerry hatte ihn wirklich interessiert. Seit Jerry ihn wegen Van Horns Kopf angegriffen hatte, hatte er über die Begebenheit nachgedacht. Sie war verblüffend gewesen, wie es alle Lebensäußerungen waren, und hatte ihm zu denken gegeben. Dazu kam seine Bewunderung für Jerrys Mut und das Unerklärliche, das ihn hinderte, vor Schmerz zu heulen, wenn er vom Stock getroffen wurde. Und ohne daß es ihm bewußt war, hatte die Schönheit von Jerrys Gestalt und Farbe ihn ganz unmerklich mit Wohlgefallen erfüllt. Es freute ihn, diese Schönheit zu sehen.

Baschtis Benehmen hatte noch einen andern Grund. Er hatte schon angefangen, darüber nachzudenken, warum sein Teufel-Teufel-Medizinmann so eifrig den Tod des Hundes wünschte. Es gab so viele Hunde. Warum mußte es gerade dieser sein? Daß etwas dahintersteckte, war klar, obwohl Baschti nicht darauf kam, was es sein konnte – wenn nicht ein Rachegefühl, das in ihm schlummerte seit dem Tage, als er Agno verhindert hatte, den Hund zu essen. Stimmte das, so war es eine Regung, die er bei keinem Angehörigen seines Stammes dulden konnte. Was aber auch die Ursache war, so hielt er, der immer wachsame, es für ratsam, seinem Priester eine gute Lehre zu erteilen und wieder einmal zu zeigen, wer der erste Mann in Somo war. Und daher antwortete Baschti:

»Ich habe lange gelebt und viele Schweine gegessen. Welcher Mann wagt zu sagen, daß die vielen Schweine in mich übergegangen seien und mich zu einem Schwein gemacht hätten?«

Er hielt inne und sah sich herausfordernd in seinem Zuhörerkreise um, aber niemand sagte etwas. Statt dessen grinsten einige von den Männern töricht, während das Gesicht Agnos deutlich ausdrückte, daß er auf keinen Fall zugeben würde, daß irgend etwas an seinem Herrn an ein Schwein gemahnte. »Ich habe viele Fische gegessen,« fuhr Baschti fort, »und nie ist mir eine Schuppe zum Mund herausgewachsen. Nie ist mir eine Galle in der Kehle gewachsen. Wie ihr alle sehen könnt, ist nie eine Flosse aus meinem Rückgrat hervorgewachsen. Nalasu, nimm den Hund – Agno, trag das Ferkel in mein Haus. Ich will es heute essen. Agno, laß mit dem Schlachten der Hunde beginnen, daß die Kanumänner zur rechten Zeit essen können.«

Und dann wandte er sich zum Gehen und warf, indem er wieder in Trepang überschlug, streng über die Schulter hin:

»Mein Wort, du machen mich bös auf dich.«

 

Während der blinde Nalasu langsam mit Jerry dahinwanderte, den er an den zusammengebundenen Beinen, mit dem Kopf nach unten, trug, hörte Jerry plötzlich, wie das Heulen der Hunde an Wildheit und Stärke zunahm. Das Schlachten hatte begonnen, und Jerry erkannte, daß er dem Tode sehr nahe gewesen war.

Aber im Gegensatz zu dem Knaben Lamai, der es nicht besser gewußt hatte, trug der alte Mann Jerry nicht ganz bis zu seinem Hause. Bei dem ersten Bach, der zwischen den niedrigen Hügeln von dem sich hebenden Lande herabströmte, blieb er stehen und setzte Jerry nieder, um ihn trinken zu lassen. Und Jerry spürte nichts als den Genuß der feuchten Kühle auf seiner Zunge, um seine Schnauze und in seinem Halse. Dennoch nahm er in seinem Unterbewußtsein den Eindruck auf, daß dies der freundlichste Neger war, den er je auf Somo getroffen, freundlicher als Lamai, als Agno, als Baschti.

Als er getrunken hatte, bis er nicht mehr konnte, dankte er Nalasu mit seiner Zunge – nicht warm und begeistert, als wenn es Schiffers Hand gewesen wäre, aber doch mit der Dankbarkeit, die er für den lebenspendenden Trunk schuldete. Der alte Mann kicherte, rollte Jerry in den Bach, wobei er ihm den Kopf über Wasser hielt, rieb ihm das Wasser in seinen aufgedörrten Körper und ließ ihn lange selige Minuten so liegen.

Vom Bach bis zu seinem Hause, eine gute Strecke, trug Nalasu ihn zwar noch mit gebundenen Füßen, aber nicht mehr mit abwärts hängendem Kopf. Er gedachte, den Hund durch Liebe zu gewinnen. Denn Nalasu, der viele Jahre einsam im Dunkel gesessen, hatte weit mehr über seine Umwelt nachgedacht und kannte sie weit besser, als wenn er sie hätte sehen können. Für seinen eigenen, besonderen Zweck brauchte er dringend einen Hund. Er hatte es mit mehreren Wildhunden versucht, aber sie hatten seiner Freundlichkeit nur sehr geringe Anerkennung gezollt und waren unweigerlich weggelaufen. Der letzte war am längsten geblieben, weil er ihn mit besonderer Freundlichkeit behandelt hatte, war aber doch schließlich weggelaufen, ehe er ihn für seine Zwecke abgerichtet hatte. Aber der Hund des weißen Herrn – das hatte er gehört – war anders. Er lief nie aus Furcht weg, und dazu sollte er intelligenter als alle Somohunde sein.

Die Erfindung Lamais, den Hund mit einem Stock anzubinden, war im ganzen Dorfe bekannt geworden, und mit einem Stock wurde Jerry in Nalasus Haus angebunden. Aber es war doch nicht dasselbe. Nie wurde der Blinde auch nur ein einziges Mal ungeduldig, viele Stunden täglich hockte er auf dem Boden nieder und streichelte Jerry. Aber wenn er es auch nicht getan hätte, so würde Jerry, der Nalasus Brot aß und sich allmählich daran gewöhnte, den Gebieter zu wechseln, ihn als Herrn anerkannt haben. Zudem hatte Jerry ein ausgesprochenes Gefühl, daß der Teufel-Teufel-Medizinmann, nachdem er ihn gebunden und unter die andern hilflosen Hunde auf den Schlachtplatz geworfen, aufgehört hatte, sein Herr zu sein. Und da Jerry seit seiner frühesten Kindheit nie ohne Herrn gewesen war, erschien es ihm als eine Notwendigkeit, daß er einen Herrn haben müsse.

Und so geschah es, daß er, als der Tag kam, da der Stock von seinem Halse losgebunden wurde, doch freiwillig in Nalasus Haus blieb. Als der alte Mann die Überzeugung gewonnen hatte, daß Jerry nicht mehr weglaufen würde, begann er mit seiner Erziehung. Und der Unterricht schritt langsam und gradweise vorwärts, bis er mehrere Stunden täglich dieser Arbeit opferte.

Zuerst lernte Jerry auf einen neuen Namen, Bao, zu hören und zu kommen, wenn er, aus immer wachsender Entfernung, auch noch so leise gerufen wurde. Nalasu rief immer leiser, bis es gar kein Wort mehr, sondern nur noch ein Flüstern war. Jerrys Ohren waren scharf geworden.

Ferner wurde Jerrys eigenes Gehör durch Übung noch mehr geschärft. Viele Stunden nacheinander saß er neben Nalasu oder stand in einiger Entfernung von ihm und mußte sich darin üben, auch das schwächste Geräusch, jedes Rascheln im Busch aufzufangen. Endlich wurde er dazu erzogen, die verschiedenen Geräusche im Busch zu unterscheiden und danach sein Knurren, mit dem er Nalasu aufmerksam machte, einzurichten. War ein Rascheln zu hören, das nach Jerrys Überzeugung von einem Schwein oder einem Huhn herrührte, so knurrte er überhaupt nicht. War er sich nicht ganz klar über die Art des Geräusches, so knurrte er ganz leise. Wurde das Geräusch jedoch von einem Mann oder einem Knaben erzeugt, der sich mit großer Vorsicht bewegte und daher verdächtig war, so mußte Jerry laut knurren; war das Geräusch laut und ungeniert, so knurrte Jerry ganz gedämpft.

Es fiel Jerry nie ein zu fragen, warum er dies alles lernen mußte. Er tat es nur, weil es der Wunsch seines Herrn war. Alles dies und noch viel mehr lehrte Nalasu ihn, und er erweiterte seinen Wortschatz, so daß sie auf einige Entfernung kurze, aber doch ganz deutliche Gespräche miteinander führen konnten.

So konnte Jerry auf eine Entfernung von fünfzig Fuß durch ein leises »Whuff!« Nalasu mitteilen, daß er ein ihm unbekanntes Geräusch hörte, und Nalasu konnte ihm durch verschiedene Zischlaute verständlich machen, daß er stillstehen, noch leiser bellen, ganz ruhig sein oder geräuschlos zu ihm kommen, oder auch sich in den Busch begeben und untersuchen sollte, woher das fremde Geräusch kam. Dann wieder mußte er mit lautem Bellen drauflosstürzen und angreifen.

Fing Nalasu mit seinen scharfen Ohren ein fremdes Geräusch von der entgegengesetzten Seite auf, so konnte er wieder Jerry fragen, ob er es gehört hätte. Und Jerry, der vor lauter Eifer auf den Zehenspitzen stand, konnte, indem er sein »Whuff!« anders oder länger oder kürzer ausstieß, Nalasu zuerst melden, daß er nichts vernahm, dann daß er es hörte, und endlich vielleicht, daß es ein fremder Hund, eine Waldratte, ein Mann oder ein Knabe war, und das so leise, daß die Worte fast nur ein Hauch waren, lauter einsilbige Wörter, eine völlige Stenographie der Rede.

Nalasu war ein merkwürdiger alter Mann. Er wohnte ganz für sich in einer kleinen Grashütte am Rande des Dorfes. Das nächste Haus war ein gutes Stück entfernt, und seine eigene Hütte stand auf einer Rodung im dichten Busch, der nirgends näher als sechzig Fuß war. Ferner hielt er diese Rodung dauernd rein von der schnell wachsenden Vegetation. Er hatte offenbar keinen Freund, wenigstens kam nie ein Besucher zu ihm. Es war mehrere Jahre her, seit er dem letzten Besucher die Lust zum Wiederkommen genommen hatte. Verwandte hatte er auch nicht. Seine Frau war längst gestorben, und seine drei noch unverheirateten Söhne hatten auf einem Raubzug jenseits der Grenzen von Somo ihre Köpfe auf den Buschpfaden zwischen den hohen Hügeln verloren und waren von ihren Mördern im Busch aufgefressen worden.

Für einen Blinden war er sehr arbeitsam. Er wünschte keine Hilfe von andern Menschen und verschaffte sich seinen Lebensunterhalt ganz allein. Auf der Rodung um sein Haus pflanzte er Jams, süße Kartoffeln und Taro. Auf einer andern Rodung – er hielt es für klüger, keine Bäume in der Nähe seines Hauses zu haben – hatte er Platanen, Bananen und ein Dutzend Kokospalmen gepflanzt. Obst und Gemüse tauschte er dann im Dorfe gegen Fleisch, Fische und Tabak ein.

Ein gut Teil seiner Zeit verbrachte er mit der Erziehung Jerrys, und hin und wieder verfertigte er Bogen und Pfeile, die bei seinen Stammesgenossen so geschätzt waren, daß er so viele, wie er wollte, verkaufen konnte. Kaum ein Tag verging, ohne daß er sich im Gebrauch von Pfeil und Bogen übte. Er schoß nur nach dem Gehör, und jedesmal, wenn Lärm oder Rascheln im Busch zu hören war und Jerry ihm mitgeteilt hatte, um was es sich handelte, pflegte er einen Pfeil danach zu schießen. Dann war es Jerrys Pflicht, vorsichtig den Pfeil wiederzuholen, falls er sein Ziel verfehlt hatte.

Eine Merkwürdigkeit an Nalasu war, daß er nur drei Stunden am Tage und nie in der Nacht schlief, und daß der kurze Schlaf, den er sich am Tage gönnte, nie im Hause stattfand. Im dichtesten Teil des nahen Busches war eine Art Nest verborgen, zu dem kein Pfad führte. Er kam und ging stets einen andern Weg, so daß die Tropenvegetation auf dem reichen Boden immer wieder jede Spur seiner Anwesenheit auslöschte. Und wenn er schlief, mußte Jerry die Wache halten und durfte nie einschlafen. Nalasu hatte alle Ursache zu seiner unendlichen Vorsicht. Der älteste seiner Söhne hatte bei einer Schlägerei einen gewissen Ao getötet. Ao war einer der sechs Brüder vom Stamme Annos gewesen, der in einem der höher belegenen Dörfer wohnte. Nach dem Gesetz Somos hatte das Geschlecht Annos das Recht, Blutrache am Geschlecht Nalasus zu üben, wurde aber um sein Recht betrogen, weil Nalasus drei Söhne im Busch fielen. Und da das Gesetz Somos Leben um Leben hieß und Nalasu der einzige Überlebende seines Geschlechts war, wußte jeder im Stamme, daß das Geschlecht Annos sich nicht zufrieden geben würde, ehe es nicht das Leben des Blinden genommen hatte.

Aber Nalasu war selbst sowohl als Krieger wie als Vater dreier so kriegerischer Söhne berühmt. Zweimal hatte das Geschlecht Annos die Blutschuld einzutreiben versucht, das erstemal, als Nalasu noch im Besitze seines Augenlichts gewesen war. Nalasu hatte die ihm gestellte Falle entdeckt, sie umgangen und aus dem Hinterhalt Anno selbst, den Vater, getötet, so daß die Blutschuld verdoppelt wurde.

Dann war das Unglück über ihn gekommen. Beim Laden häufig gebrauchter Sniderbüchsen-Patronen war das Pulver explodiert und hatte ihm beide Augen zerstört. Unmittelbar darauf, als er noch seine Wunden pflegte, hatte das Geschlecht Annos ihn überfallen. Er hatte dies erwartet und sich darauf vorbereitet. In dieser Nacht traten zwei Oheime und ein Bruder in vergiftete Dornen und starben einen schrecklichen Tod. Und so waren es denn im ganzen fünf Leben, die das Geschlecht Annos zu rächen hatte, während ein Blinder die ganze Blutschuld bezahlen sollte.

Seitdem hatten die Annoleute die Dornen zu sehr gefürchtet, als daß sie wieder einen Versuch gemacht hätten, obwohl ihre Rachgier beständig unter der Asche glühte und sie auf den Tag hofften, da Nalasus Kopf ihren Deckenbalken schmücken sollte. Unterdessen war die Situation weniger ein Waffenstillstand als ein Schachmatt. Der alte Mann konnte nichts gegen sie tun, und sie wagten nichts gegen ihn zu unternehmen. Erst, als er Jerry adoptiert hatte, machten die Annoleute eine Erfindung, wie man in ganz Malaita noch keine gekannt hatte.

 

Unterdessen verstrichen die Monate, der Südost-Passat verwehte, der Monsun begann zu atmen, und Jerry wurde sechs Monate älter, wurde schwerer, größer und kräftiger. Das halbe Jahr, das er bei dem alten Mann verbracht hatte, war eine angenehme Zeit gewesen, trotzdem Nalasu ein recht strenger Lehrmeister war, der tagein, tagaus der Erziehung Jerrys mehr Stunden widmete, als es sonst Hunden beschieden ist. Aber nicht ein einziges Mal schlug er Jerry oder sagte ihm auch nur ein unfreundliches Wort. Dieser Mann, der vier von den Annoleuten, drei davon sogar als Blinder, und der noch mehr Menschen in seiner wilden Jugend erschlagen hatte, erhob nie seine Stimme im Zorn gegen Jerry und regierte ihn nie durch ein schärferes Mittel als freundschaftliches Schelten.

In geistiger Beziehung bewirkte die strenge Schule, die Jerry in dieser Zeit durchmachte, daß alle seine Fähigkeiten für sein ganzes Leben geschärft wurden. Nie hat vielleicht ein Hund in der ganzen Welt soviel verschiedene Laute auszustoßen vermocht wie er, und zwar aus drei Gründen: seiner eigenen Intelligenz, der genialen Erziehungsmethode Nalasus und der langen, seiner Erziehung gewidmeten Stunden.

Sein stenographischer Wortschatz war für einen Hund verblüffend. Man könnte fast sagen, daß er sich stundenlang mit dem Manne unterhielt, obwohl es nur sehr wenige verschiedene Gesprächsstoffe für sie gab. Jerry konnte ihm ebensowenig von Meringe oder der Arangi erzählen, wie von der Liebe, die er für Schiffer, und dem Haß, den er gegen Baschti gefühlt hatte. Und Nalasu konnte ihm seinerseits nichts von der Blutfehde mit den Annoleuten und dem Unglück, durch das er das Augenlicht verloren hatte, berichten.

Ihre Gespräche beschränkten sich so gut wie ausschließlich auf die Gegenwart, wenn sie sich auch ein wenig auf die unmittelbare Vergangenheit erstrecken konnten. Nalasu konnte Jerry eine Reihe von Aufträgen erteilen. Zum Beispiel: allein auf Kundschaft zu gehen, sich zum Nest zu begeben, es dann in einem weiten Bogen zu umkreisen, nach der andern Rodung zu laufen, wo die Obstbäume standen, auf dem Hauptwege nach dem Dorf bis zu dem großen Bananenbaum zu gehen und dann auf dem schmalen Pfade nach Nalasus Haus zu laufen. Und das alles konnte Jerry vollkommen richtig ausführen und bei seiner Rückkehr Bericht darüber erstatten. Also etwa: Beim Nest nichts Ungewöhnliches, außer einem Habicht in der Nähe; auf der andern Rodung drei heruntergefallene Kokosnüsse – denn Jerry konnte mit unfehlbarer Sicherheit bis fünf zählen –; zwischen der andern Rodung und dem Wege fünf Schweine; auf dem Hauptwege ein Hund, mehr als fünf Weiber und zwei Kinder; und auf dem kleinen Pfad, der zur Hütte führte, ein Kakadu und zwei Knaben.

Aber er konnte Nalasu nicht erzählen, was sich ihm im Gehirn und im Herzen regte und ihn mit seinem jetzigen Dasein nicht völlig zufrieden sein ließ. Nalasu war kein weißer Gott, nur ein Nigger-Gott. Und Jerry haßte und verachtete alle Nigger mit einziger Ausnahme von Lamai und Nalasu. Er ergab sich in sein Schicksal und hegte für Nalasu sogar eine gewisse ruhige, milde Ergebenheit. Aber er liebte ihn nicht, und konnte es auch nicht.

Bestenfalls waren sie nur Götter zweiten Ranges, und er konnte die großen weißen Götter, wie Schiffer, Herrn Haggin und auch Derby und Bob nicht vergessen. Die waren etwas andres, etwas Besseres als all diese schwarzen Wilden, unter denen er jetzt lebte. Sie lebten im Jenseits, in einem unerreichbaren Paradies, dessen er sich ganz deutlich erinnerte, nach dem er sich sehnte, zu dem er aber den Weg nicht wußte, und das – er hatte eine unklare Vorstellung von der Vergänglichkeit aller Dinge – in das große Nichts verschwunden sein mochte, das bereits Schiffer und die Arangi verschlungen hatte.

Vergebens mühte sich der alte Mann ab, Jerrys Herz zu gewinnen. Er konnte nicht gegen die vielen Vorbehalte und Erinnerungen Jerrys aufkommen, wenn er auch seine absolute Treue und Ergebenheit gewann. Nicht leidenschaftlich, wie er bis zu seinem letzten Augenblick für Schiffer gekämpft hätte, aber treu bis zu seiner letzten Stunde würde er für Nalasu kämpfen. Und der alte Mann ahnte nie, daß er Jerrys Herz nicht ganz gewonnen hatte.

Dann kam der Tag der Annoleute, an dem einer von ihnen die bewußte Erfindung machte. Sie bestand aus dick geflochtenen Sandalen, mit denen sie ihre Füße gegen die vergifteten Dornen schützten, die bereits dreien von ihnen das Leben gekostet hatten. Der Tag war eigentlich eine Nacht, eine schwarze Nacht, so schwarz und finster, daß man einen Baumstamm keinen Achtelzoll vor seiner Nase sehen konnte. Und die Annoleute drangen, ein Dutzend Mann stark, mit Sniderbüchsen, Reiterpistolen, Tomahawks und Streitkeulen bewaffnet, in Nalasus Lichtung ein und traten trotz ihrer so dicken Sandalen sehr vorsichtig auf, aus Furcht vor den Dornen, die Nalasu gar nicht mehr pflanzte.

Jerry, der zwischen Nalasus Knien saß und schläfrig nickte, warnte ihn zuerst. Der alte Mann saß angespannt lauschend vor der Tür, wie er jetzt Jahr für Jahr jede Nacht gesessen. Er lauschte noch angespannter in den langen Minuten, in denen er nichts hörte, während er gleichzeitig flüsternd Auskunft von Jerry verlangte und ihm befahl, ganz leise zu sprechen, und Jerry teilte ihm mit »Whuffs« und »Whiffs« und all den Hauchlauten, die den stenographischen Wortschatz bildeten, mit, daß sich Männer näherten, viele Männer, mehr als fünf Männer.

Nalasu griff nach dem Bogen, hielt einen Pfeil bereit und wartete. Schließlich fing sein eignes Ohr ein ganz schwaches Rascheln auf, das erst von einer, dann von der andern Seite und zuletzt von allen Seiten kam. Indem er Jerry weiter die größte Vorsicht auferlegte, holte er Bestätigung von dem Hunde ein, dem sich das Haar auf dem Nacken sträubte, und der jetzt die Nachtluft sowohl mit der Nase wie mit den Ohren »las«. Und Jerry, der ebenso vorsichtig wie Nalasu war, teilte ihm wieder mit, daß es Männer, viele Männer, mehr als fünf Männer waren.

Mit der Geduld des Alters saß Nalasu, ohne sich zu regen, bis er in unmittelbarer Nähe, am Rande des Buschs, keine sechzig Fuß entfernt, das bestimmte Geräusch eines bestimmten Mannes hörte. Er spannte den Bogen, schoß den Pfeil ab und wurde durch ein Keuchen und ein unmittelbar darauffolgendes Stöhnen belohnt. Zuerst hielt er Jerry zurück, welcher den Pfeil wiederholen wollte, der, wie er wußte, getroffen hatte, und dann legte er einen neuen Pfeil auf den Bogen.

Eine Viertelstunde verstrich in völligem Schweigen. Der Blinde saß wie in Stein gehauen da, während der Hund, der unter der vielsagenden Berührung seiner Finger vor Eifer zitterte, seinem Gebot gehorchte und nicht einen Laut von sich gab.

Jerry wie auch Nalasu wußten, daß der Tod in der Finsternis um sie her raschelte und lauerte. Wieder ertönte ein leises Geräusch, diesmal noch näher als zuvor; aber der ausgesandte Pfeil traf nicht. Sie hörten ihn in der Ferne in einen Baumstamm schlagen, dann folgte ein wirres Durcheinander von schwachen Lauten, das den schnellen Rückzug des Feindes anzeigte. Dann befahl Nalasu, als es eine ganze Weile still gewesen war, Jerry durch ein Zeichen, den Pfeil zurückzuholen. Er war gut abgerichtet, denn sogar ohne daß Nalasu, dessen Ohren schärfer als die eines sehenden Mannes waren, es hören konnte, folgte er der Richtung des Pfeiles und brachte ihn im Maul zurück.

Wieder wartete Nalasu, bis man den Kreis sich raschelnd enger zusammenziehen hörte, worauf er, von Jerry begleitet, alle seine Pfeile nahm und sich geräuschlos im Halbkreis fortbewegte. Und im selben Augenblick, als er seinen alten Platz verlassen hatte, krachte eine Sniderbüchse, die dorthin gezielt hatte.

So hielten der Blinde und der Hund von Mitternacht bis Tagesanbruch stand gegen zwölf Mann, die mit Pulver und den weitreichenden, durchschlagenden pilzartigen Kugeln aus weichem Blei versehen waren.

Und der Blinde hatte nur den einen Bogen und hundert Pfeile zu seiner Verteidigung. Aber er gab Hunderte von Schüssen ab, und Jerry brachte ihm die abgeschossenen Pfeile immer wieder. Er half ihm tapfer und gut und gesellte Nalasus scharfem Gehör sein eignes, noch schärferes, indem er lautlos das Haus umkreiste und meldete, wo die Angreifer am stärksten waren.

Viel von ihrem kostbaren Pulver verschwendeten die Annoleute nutzlos, denn es war wie ein Spiel zwischen unsichtbaren Geistern. Nichts war zu sehen, außer dem Aufblitzen der Büchsen. Nicht ein einziges Mal sahen sie Jerry, obwohl sie sich schnell darüber klar wurden, daß er sich, wenn er die Pfeile suchte, in ihrer Nähe befand. Als einer von ihnen einmal nach einem Pfeil tastete, der ihm sehr nahe gekommen war, stieß er gegen Jerrys Rücken und stieß ein wildes Schmerzensgeheul aus, als der Hund ihm das Fleisch mit seinen Zähnen zerriß. Sie versuchten, nach dem singenden Klang von Nalasus Bogen zu feuern, aber jedesmal, wenn Nalasu geschossen hatte, wechselte er den Platz. Mehrere Male hatten sie gemerkt, daß Jerry in der Nähe war, und auf ihn geschossen, und einmal war ihm die Schnauze sogar ein wenig vom Pulver verbrannt worden.

Als der Tag anbrach mit der plötzlichen Dämmerung, die in den Tropen den Sprung von der Dunkelheit zum Sonnenschein kennzeichnet, gaben die Annoleute den Kampf auf, während Nalasu, der sich aus dem Licht in sein Haus zurückgezogen hatte, dank Jerry noch achtzig Pfeile hatte. Das Endergebnis war ein Toter, während niemand sagen konnte, wie viele sich mit Pfeilschüssen im Körper fortschleppten.

Und den halben Tag saß Nalasu über Jerry gebeugt da, streichelte und liebkoste ihn zum Dank für das, was er getan. Dann ging er, von Jerry begleitet, ins Dorf und erzählte von der Schlacht. Ehe der Tag zu Ende war, stattete Baschti ihm einen Besuch ab und sprach ernst mit ihm.

»Als ein alter Mann zu einem alten Manne spreche ich zu dir«, begann Baschti. »Ich bin älter als du, o Nalasu; ich habe nie Furcht gekannt. Aber nie bin ich tapferer gewesen als du. Ich wünschte, jeder Mann im Stamme wäre so tapfer wie du. Und doch machst du mir große Sorge. Welchen Wert haben deine Tapferkeit und Schlauheit, wenn du keine Nachkommen hinterläßt, in denen dein Mut und deine Schlauheit weiterleben?«

»Ich bin ein alter Mann«, begann Nalasu.

»Nicht so alt wie ich«, unterbrach ihn Baschti. »Nicht zu alt, um zu heiraten, so daß dein Samen die Kraft des Stammes vermehren kann.«

»Ich war verheiratet, lange verheiratet, und setzte drei tapfere Söhne in die Welt. Aber sie sind tot. Ich lebe nicht so lange wie du. Ich denke an meine jungen Tage wie an schöne Träume, deren man sich nach dem Erwachen erinnert. Aber mehr denke ich an den Tod und das Ende von allem. Ans Heiraten denke ich gar nicht. Ich bin zu alt, um zu heiraten. Ich bin alt genug, um mich zum Tode zu bereiten, und ich bin sehr neugierig, was mir nach dem Tode widerfahren wird. Werde ich in alle Ewigkeit tot sein? Werde ich weiterleben in einem Traumland, selbst der Schatten eines Traumes, der sich der Tage erinnert, da er in der warmen Welt lebte, die feurigen Säfte des Hungers im Munde und die Liebe zu den Frauen in der Brust?«

Baschti zuckte die Achsel.

»Auch ich habe viel darüber nachgedacht«, sagte er. »Aber doch komme ich zu keinem Ergebnis. Ich weiß nichts. Du weißt nichts. Wir werden nichts wissen, ehe wir tot sind, wenn es denn so sein sollte, daß wir etwas wissen, wenn wir nicht mehr sind, was wir sind. Aber das wissen wir, du und ich: der Stamm lebt. Der Stamm stirbt nie. Und deshalb müssen wir, wenn unser Leben überhaupt einen Sinn haben soll, den Stamm stark machen. Deine Arbeit für den Stamm ist noch nicht getan. Du mußt heiraten, daß deine Klugheit und dein Mut nach dir leben können. Ich habe eine Frau für dich – nein, zwei Frauen, denn deine Zeit ist kurz, und ich werde sicher noch den Tag erleben, da ich dich neben meinen Vätern unter dem Deckenbalken des Kanuhauses hängen sehe.«

»Ich will nicht bezahlen für eine Frau«, wandte Nalasu ein. »Ich will nicht bezahlen für eine Frau, wer sie auch sei. Ich will nicht ein einziges Stück Tabak oder auch nur eine geplatzte Kokosnuß für das beste Weib in Somo bezahlen.«

»Darüber mach' dir keine Sorgen«, sagte Baschti ruhig. »Ich werde den Preis für die Frau, für die zwei Frauen für dich bezahlen. Da ist Bubu. Für eine halbe Kiste Tabak will ich sie dir kaufen. Sie ist breit und derb, hat runde Schenkel und breite Hüften und volle, üppige Brüste. Da ist Nena. Ihr Vater verlangt einen hohen Preis für sie – eine ganze Kiste Tabak. Auch sie will ich dir kaufen. Deine Zeit ist kurz. Wir müssen uns beeilen.«

»Ich will nicht heiraten«, erklärte der alte Mann erregt.

»Du mußt. Ich habe gesprochen.«

»Nein, sage ich, und wieder nein, nein, nein! Frauen sind eine Last. Sie sind jung, und ihre Köpfe sind voller Torheit. Ihre Zungen sind lose mit müßiger Rede. Ich bin alt und lebe ein stilles Leben, denn die Glut des Lebens in mir ist erloschen, und ich ziehe es vor, allein im Dunkel zu sitzen und zu denken. Schwatzende junge Geschöpfe um mich zu haben, in deren Köpfen und auf deren Lippen nichts ist als Schaum und Rauch, würde mich toll machen. Wirklich, sie würden mich toll machen, so toll, daß ich in jede Muschelschale speien, dem Mond Gesichter schneiden, mich selbst in die Arme beißen und heulen würde.«

»Und wenn auch – wenn nur dein Samen nicht zugrunde geht! Ich will den Vätern den Preis für die Frauen bezahlen und sie dir binnen drei Tagen schicken.«

»Ich will nichts mit ihnen zu tun haben«, sagte Nalasu außer sich.

»Doch, du willst«, erwiderte Baschti ruhig. »Denn wenn du es nicht tust, mußt du mich bezahlen, und ich werde ein harter, strenger Gläubiger sein. Ich will dir jedes Glied in deinem Körper zerbrechen lassen, daß du wie eine Qualle wirst, wie ein fettes Schwein, dem man die Knochen herausgenommen hat, und dann will ich dich an einen Pfahl mitten auf dem Hundeschlachtplatz binden, daß du unter Schmerzen in der Sonne schwillst. Und was von dir übrigbleibt, will ich den Hunden vorwerfen, daß sie es fressen. Dein Samen soll nicht aussterben in Somo. Ich, Baschti, sage dir dies. In drei Tagen werde ich dir deine zwei Frauen schicken . . .«

Er schwieg, und lange war es ganz still zwischen ihnen.

»Nun?« wiederholte Baschti. »Willst du die Frauen haben oder in der Sonne an den Pfahl gebunden werden? Du kannst wählen, aber bedenke dich wohl, ehe du dir die Glieder zerbrechen läßt.«

»In meinem Alter, da ich längst die Plagen der Jugend hinter mir habe!« klagte Nalasu.

»Wähle. Du wirst mitten auf dem Hundeschlachtplatz Plage und Leben zum Überdruß finden, wenn die Sonne auf deine wehen Glieder brennt, bis der Saft deiner Magerkeit siedet wie das weichliche Fett eines gebratenen Spanferkels.«

»So schicke mir denn die Frauen«, brachte Nalasu endlich nach einer langen Pause hervor. »Aber schicke sie in drei Tagen, nicht in zweien oder morgen.«

»Es ist gut«, nickte Baschti ernst. »Du hast überhaupt nur durch die gelebt, die vor dir waren, und die jetzt längst das Dunkel verschlungen hat, die wirkten, damit der Stamm leben konnte und du selbst erstehen konntest. Du bist. Sie bezahlten den Preis für dich. Das ist die Schuld, die du abzutragen hast. Du kamst zur Welt mit dieser Schuld auf dir. Du mußt sie bezahlen, ehe du das Leben verläßt. Das ist das Gesetz. Es ist sehr gut.«

 


 << zurück weiter >>