Jack London
Jerry der Insulaner
Jack London

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Solange das dauerte, vergaß Jerry Meringe ganz. Wie er noch genau wußte, hatte der Habicht einen scharfen Schnabel und scharfe Krallen gehabt. Man mußte sich also hüten vor diesem flatternden Ungeheuer, das mit Donnergepolter hin und her sauste. Und Jerry hielt, sprungbereit und immer nach einem Halt suchend, die Augen fest auf das Großsegel gerichtet und ließ jedesmal, wenn es sich eine Bewegung erlaubte, ein gedämpftes Knurren hören.

Die Arangi suchte sich ihren Weg zwischen den Korallenflecken durch den engen Kanal geradeswegs in den frischen Passat hinein. Das erforderte häufiges Kreuzen, so daß das Großsegel über Jerrys Kopf beständig von Backbordhalsen nach Steuerbordhalsen und wieder zurückschlug, wobei es ein Geräusch wie Flügelschlagen hervorbrachte, die Seisinge einen förmlichen Zapfenstreich trommelten und die Großschoot mit lautem Knarren den Bügel entlangfuhr. Ein halb dutzendmal sprang Jerry, wenn es in seinen Bereich kam, mit offenem Maul zu, um zuzuschnappen, und fletschte die weißen Welpenzähne, daß sie wie Elfenbein in der Sonne schimmerten.

Als alle Sprünge mißglückten, bildete Jerry sich schließlich sein Urteil. Nebenbei bemerkt, bildete er sich dies Urteil lediglich durch bewußtes Denken. Eine Reihe von Beobachtungen dieses Dinges, das ihn wieder auf dieselbe Weise anzugreifen drohte, hatte ihm gezeigt, daß es ihm nichts zuleide tat, ihn nicht einmal berührte. Und deshalb – wenn er sich auch nicht die Zeit nahm, sich zu überlegen, daß er überlegte – war es nicht so gefährlich und vernichtend, wie er zuerst geglaubt hatte. Wohl mußte man sich vor ihm in acht nehmen, aber es hatte in seinem Bewußtsein schon seinen Platz unter den Dingen gefunden, die schrecklich aussahen, ohne es zu sein. So hatte er auch gelernt, das Heulen des Windes zwischen den Palmen nicht zu fürchten, wenn er sicher auf der Veranda des Plantagenhauses lag, und auch nicht den Ansturm der Wogen, die zischend und lärmend am Strande vor seinen Füßen zu harmlosem Schaum wurden.

Und im Laufe des Tages hob Jerry oft den Kopf mit einem wachsamen und doch nachlässigen, fast neckischen Augenaufschlag zum Großsegel, wenn es plötzlich eine Stoßbewegung machte oder seine knarrende Schoot lockerte und straffte. Aber er sprang nicht mehr danach. Es war seine erste Lehre gewesen, und er hatte sie schnell begriffen.

Als das Großsegel erledigt war, kehrten Jerrys Gedanken zu Meringe zurück. Aber es war kein Meringe, keine Biddy, kein Terrence am Strande; kein Herr Haggin, kein Derby und kein Bob; kein Strand, kein Land mit Palmen in der Nähe und Bergen, die in der Ferne ihre ewig grünen Gipfel bis in die Wolken hoben. Und immer, wenn er seine Vorderfüße auf die sechs Zoll hohe Steuerbord- oder Backbordreling setzte und nach dem Lande Ausschau hielt, sah er nur den Ozean mit seiner gebrochenen, unruhigen Oberfläche, auf der doch die weißköpfigen Seen in Reih' und Glied vor dem Passat dahermarschierten.

Hätte Jerry die Augen eines Menschen, fast anderthalb Meter höher als die seinen über dem Deck, und dazu noch die geübten Augen eines Seemanns gehabt, so würde er die niedrigen Umrisse Isabels im Norden und die Umrisse Floridas im Süden gesehen haben, die jedesmal deutlicher wurden, wenn die Arangi dicht am Winde mit vollen Segeln beim Backbordschlage dahinfuhr. Und hätte er ein Glas gehabt wie das, mit dem Kapitän Van Horn seinen Gesichtskreis erweiterte, so würde er im Osten die Berge von Malaita sich wie verschleierte hellrosa Wölkchen aus dem Meere haben heben sehen.

Aber im Augenblick gab es etwas sehr Unmittelbares für Jerry. Er hatte früh das eiserne Gesetz des Unmittelbaren gelernt, das gebot, lieber zu nehmen, was war, als für fernliegende Dinge zu kämpfen. Das Meer war. Das Land war nicht mehr. Die Arangi war sicherlich mit all dem Leben, von dem ihr Deck wimmelte. Und er begann sich mit dem, was war, bekannt zu machen – kurz, seine neue Umgebung kennenzulernen und sich ihr anzupassen.

Seine erste Entdeckung war prachtvoll – ein wildes Hündchen aus dem Isabel-Busch, das einer der von Meringe Retournierten mit nach Malaita nehmen wollte. Sie waren von gleichem Alter, aber von sehr verschiedenem Schlage. Der Wildhund war, was er war: ein Wildhund, kriecherisch und schleichend, mit stets hängenden Ohren, den Schwanz zwischen den Beinen, stets in der Erwartung neuen Ungemachs und schlechter Behandlung, immer furchtsam und übelnehmerisch, bereit, drohenden Gefahren mit den scharfen, in einem boshaften Grinsen entblößten Milchzähnen zu begegnen, laut jammernd in Angst und Schmerz und stets bereit zu einem verräterischen Ausfall, wenn sich eine Gelegenheit bot, es ohne Gefahr zu tun.

Der Wildhund war reifer als Jerry, größer und bewanderter in Schlechtigkeiten: aber Jerry war von auserwähltem blauen Blut und tapfer. Der Wildhund war auch das Ergebnis einer strengen Zuchtwahl, die aber eine ganz andre Richtung eingeschlagen hatte. Seine Vorfahren hatten sich im Busch gehalten, weil sie auserwählt waren in der Furcht. Sie hatten nie freiwillig gegen die Übermacht gekämpft. In freiem Felde hatten sie nie angegriffen, wenn die Beute nicht schwach und wehrlos war. Statt mutig zu sein, krochen und schlichen sie und versteckten sich vor der Gefahr. Sie waren blind von der Natur auserwählt worden, in einer grausamen, unedlen Umgebung, wo der Preis des Lebens hauptsächlich gewonnen wurde durch die Schlauheit der Feigheit und, gelegentlich, wenn man in die Enge getrieben war, durch den Mut der Verzweiflung.

Jerry hingegen war auserwählt in Liebe und Tapferkeit. Seine Vorfahren waren wohl überlegt und bewußt von Männern gewählt worden, die, irgend einmal in entschwundener Zeit, den Wildhund genommen und zu dem gemacht hatten, was sie sich ausmalten, bewunderten und wünschten. Er durfte nie wie eine Ratte im Winkel kämpfen, weil er nie einer Ratte gleichen und nie in einen Winkel kriechen durfte. Jeder Rückzug mußte undenkbar sein. Die Hunde, die sich in der Vorzeit zurückgezogen hatten, waren von den Menschen verworfen worden. Sie hatten sich nicht unter den Vorfahren Jerrys befunden. Die zu Jerrys Vorfahren auserwählten Hunde waren die tapferen, die aufsässigen, die herausfordernden gewesen, die der Gefahr trotzten, die kämpften und starben, aber nie wichen. Und da der Apfel nicht weit vom Stamme fällt, war Jerry, was Terrence war, und was die Vorfahren von Terrence seit langem gewesen waren. Daher kam es, daß Jerry, als er auf den Wildhund stieß, der sich schlau in der Lee-Ecke zwischen Großmast und Kajütsskylight vor dem Winde verkrochen hatte, daß Jerry sich keine Zeit ließ, darüber nachzudenken, ob dies Geschöpf größer und stärker als er selber sei. Alles, was er wußte, war, daß dies der alte Feind war – der Wildhund, der nicht an das Feuer der Menschen gekommen war. Mit einem wilden Jubelgesang, der die alles hörenden Ohren und die alles sehenden Augen Kapitän Van Horns auf ihn lenkten, sprang Jerry zum Angriff. Der Wildhund kam mit unglaublicher Schnelligkeit auf die Füße und befand sich schon in voller Flucht, als die Wucht von Jerrys Körper ihn zu Boden riß, daß er kopfüber das schräge Dach hinabrollte. Und im Rollen fühlte er scharfe Zähne seine Haut durchdringen, und er schnappte und knurrte und wimmerte und wütete vor Schrecken, Schmerz und kriecherischer Unterwürfigkeit.

Und Jerry war ein Edelmann, oder vielmehr: er war ein Edelhund. So auserwählt war er: Weil dieses Ding keinen Widerstand leistete, weil es kroch und wimmerte, weil es hilflos unter ihm lag, gab er den Angriff auf und löste sich aus dem Knäuel, in dem er nach den Lee-Speigatten gerutscht war. Er dachte nicht darüber nach. Er tat es, weil er so geschaffen war. Stolz stand er auf dem schaukelnden Deck mit einem Gefühl außerordentlicher Befriedigung über den köstlichen Geruch von Wildhundhaar in Maul und Bewußtsein, und in Ohren und Bewußtsein den lobenden Zuruf Kapitän Van Horns: »Gut gemacht, Jerry! Du bist ein guter Hund, Jerry, was? Ein guter Hund!«

Als Jerry wegstolzierte, zeigte er – das sei zugegeben – deutlich, wie stolz er auf seine Leistung war, denn er schritt ein wenig steifbeinig und sah den Wildhund über die Schulter hinweg in einer Weise an, die deutlicher als Worte sagte: »Na, ich denke, für diesmal ist es genug. Ein andermal kommst du mir schon nicht in den Weg.«

Jerry setzte die Untersuchung seiner neuen, winzigen Welt fort, die sich nie zur Ruhe begab, sondern sich auf der bewegten Meeresfläche immer hob, schwankte und rollte. Da waren die Retournierten von Meringe. Er machte es sich zur Aufgabe, sie alle zu erkennen, und sie empfingen ihn mit Knurren und scheelen Blicken, die er mit Ausfällen und Drohungen beantwortete. Er war so erzogen, daß er ihnen überlegen war, trotzdem er auf vier Beinen ging, während sie Zweibeiner waren: aber er hatte stets unter dem Schutze des großen zweibeinigen und hosentragenden Gottes, Herrn Haggin, gelebt. Dann waren da die fremden Retournierten, von Penduffryn und der Bucht der tausend Schiffe. Sie alle mußte er kennenlernen. Ihre Bekanntschaft konnte gelegentlich für ihn eine Notwendigkeit werden. Er dachte das zwar nicht. Er versorgte sich lediglich mit Kenntnissen für seine Umgebung, ohne sich seiner Voraussicht bewußt zu sein, und ohne sich Sorgen um die Zukunft zu machen.

In seiner eignen Art, sich Kenntnisse anzueignen, entdeckte er schnell, daß, wie sich die Hausboys auf der Plantage von den Feldarbeitern unterschieden, es auch auf der Arangi eine Klasse von Schwarzen gab, die sich von den Retournierten unterschied. Das war die Schiffsbesatzung. Die fünfzehn Schwarzen, die sie ausmachten, standen Kapitän Van Horn näher als die andern. Sie schienen in einem engeren Verhältnis zur Arangi und zu ihm zu stehen. Sie arbeiteten unter ihm und nach seinen Befehlen, steuerten am Rade, hißten und fierten an Tauen, gossen Wasser, das sie von draußen holten, über das Deck und schrubbten es mit Besen.

Gerade wie Jerry von Herrn Haggin gelernt hatte, daß er freundlicher gegen die Hausboys als gegen die Feldarbeiter sein mußte, wenn sie den Hof betraten, so lernte er nun von Kapitän Van Horn, daß er freundlicher gegen die Schiffsbesatzung als gegen die Retournierten sein müßte. Er durfte sich weniger gegen sie herausnehmen als gegen die andern. Solange Kapitän Van Horn nicht wünschte, daß er seine Besatzung jagte, solange war es Jerrys Pflicht, sie nicht zu jagen. Anderseits vergaß er nie, daß er der Hund eines weißen Gottes war. Wenn er gewisse Schwarze auch nicht jagen durfte, so lehnte er doch jede Vertraulichkeit mit ihnen ab. Er behielt sie im Auge. Er hatte gesehen, wie Neger, die dieselben Vorrechte wie diese genossen, in Reih' und Glied aufgestellt und von Herrn Haggin ausgepeitscht wurden. Sie nahmen eine Art Mittelstellung in der Weltordnung ein, und man mußte ihnen gut auf die Finger sehen für den Fall, daß sie nicht auf dem ihnen angewiesenen Platz blieben. Sie hatten Daseins-, aber keine Gleichberechtigung. Bestenfalls konnte er ihnen eine kühle Liebenswürdigkeit bezeigen.

Einer gründlichen Untersuchung unterzog er die Kombüse, eine kunstlose Einrichtung, die, Wind, Regen und Sturm ausgesetzt, offen an Deck stand. Es war nicht einmal eine richtige Kombüse, sondern nur ein kleiner Ofen, auf dem zwei Schwarze mit Hilfe von Schnüren und Keilen und in Rauch gehüllt das Essen für die achtzig Menschen an Bord zubereiteten.

Dann interessierte ihn das seltsame Vorhaben eines Teiles der Besatzung. Aufrechtstehende Rohre, die als Stützen dienten, wurden oben an die Reling geschraubt und mit drei Reihen Stacheldraht versehen, der um das ganze Schiff lief und nur an der Laufplanke durch eine schmale Öffnung von fünfzehn Zoll unterbrochen war. Daß dies eine Vorsichtsmaßregel gegen irgendeine drohende Gefahr war, fühlte Jerry, ohne weiter darüber nachzudenken. Von seinen ersten Eindrücken an hatte er sein ganzes Leben inmitten von Gefahren verbracht, die beständig von den Schwarzen drohten. Im Plantagenhaus auf Meringe hatten die paar weißen Männer stets die vielen Schwarzen, die für sie arbeiteten und ihnen gehörten, schief angesehen. Im Wohnzimmer, wo Speisetisch, Billard und Grammophon standen, befanden sich auch Gewehrgestelle, und in jedem Schlafzimmer hatte es neben jedem Bett in Reichweite Revolver und Gewehre gegeben. Sowohl Herr Haggin wie Derby und Bob hatten stets Revolver im Gürtel getragen, wenn sie das Haus verließen und sich unter ihre Schwarzen begaben.

Jerry kannte diese lärmerzeugenden Dinge und wußte, was sie waren – Werkzeuge für Vernichtung und Tod. Er hatte gesehen, wie lebende Wesen von ihnen vernichtet wurden, wie zum Beispiel Puarkas, Ziegen, Vögel und Krokodile. Mit Hilfe dieser Dinge überwanden die weißen Götter mit ihrem Willen den Raum; ohne ihre Körper bewegen zu müssen, und vernichteten lebende Wesen. Wenn er etwas zerstören wollte, mußte er seinen Körper durch den Raum bewegen, um hinzugelangen. Er war anders. Er war begrenzt. Alles Unmögliche war möglich für die unbegrenzten, zweibeinigen weißen Götter. Gewissermaßen war diese Fähigkeit, über den Raum hinweg zu vernichten, eine Verlängerung von Krallen und Zähnen. Ohne darüber nachzudenken oder sich dessen bewußt zu sein, nahm er es hin als etwas Gegebenes, gerade wie er die sonstige, geheimnisvolle Welt rings hinnahm.

Einmal hatte Jerry sogar seinen Herrn Haggin den Tod auf eine andre lärmende Weise aus der Ferne aussenden sehen. Von der Veranda hatte er ihn Stöcke mit explodierendem Dynamit in eine schreiende Masse von Schwarzen schleudern sehen. Die waren auf einem Beutezug aus dem Jenseits in langen geschnitzten und mit Perlmutter eingelegten langschnäbeligen Kriegskanus gekommen, die sie auf den Strand von Meringe gezogen und dort liegen gelassen hatten.

Viele Vorsichtsmaßregeln der weißen Götter hatte Jerry beobachtet, und deshalb fühlte er instinktiv, daß der Stacheldrahtzaun um seine schwimmende Welt etwas Selbstverständliches war, das zur Abwehr einer beständig drohenden Gefahr diente. Tod und Verderben lauerten stets in der Nähe auf eine Gelegenheit, sich auf das Leben zu stürzen und es zu Boden zu reißen. Leben mußte sehr lebendig sein, um leben zu dürfen, das war das Gesetz, das Jerry aus dem bißchen, was er vom Leben kannte, gelernt hatte.

Während Jerry noch dastand und zusah, wie der Stacheldrahtzaun angebracht wurde, hatte er sein nächstes Abenteuer, eine Begegnung mit Lerumie, dem Retournierten aus Meringe, den Biddy heute morgen vor der Abfahrt am Strande umgeworfen und mit seiner ganzen Habe in die Brandung gewälzt hatte. Die Begegnung fand steuerbord vom Skylight statt, neben dem Lerumie stand, sich in einem billigen Spiegel betrachtete und sein krauses Haar mit einem handgefertigten Holzkamm kämmte. Jerry, der von der Gegenwart Lemmies kaum Notiz genommen hatte, kam vorbeigetrottet auf dem Wege nach achtern, wo Borckman das Anbringen des Stacheldrahts an den Stützen beaufsichtigte. Und Lerumie warf einen Seitenblick auf ihn, überlegte, ob er seinen Vorsatz ungesehen ausführen könnte, und versetzte dann dem Sohn seiner vierbeinigen Feindin einen Tritt. Sein bloßer Fuß traf Jerry an dem empfindlichen Ende seiner erst kürzlich gestutzten Rute, und Jerry, der diese schimpfliche Behandlung direkt als ein Sakrileg betrachtete, geriet sofort außer sich.

Kapitän Van Horn, der achtern an den Backborddillen stand und den Winddruck auf die Segel und das recht mittelmäßige Steuern des Schwarzen am Rade beobachtete, hatte Jerry nicht gesehen, weil das Skylight dazwischen lag. Aber er hatte die Schulterbewegung Lerumies bemerkt, nach der er auf einem Fuße balancieren und mit dem andern treten mußte. Und nach dem, was jetzt erfolgte, erriet er das, was bereits geschehen war.

Die Laute, die Jerry ausstieß, als er herumwirbelte, sprang und schnappte, war echtes, gekränktes Welpengeheul. Als ihn der Fuß zum zweitenmal in der Luft traf, schnappte er nach ihm und dem Knöchel, und wenn er auch bis zu den Speigatten über das glatte Deck rutschte, hinterließen seine nadelscharfen Welpenzähne doch rote Streifen auf der schwarzen Haut. Immer noch mit einem Wutgeheul, klomm er auf der steilen Holzschräge zurück. Lerumie, den ein weiterer Seitenblick belehrt hatte, daß er beobachtet wurde, wagte nicht, weiter zu gehen. Er floh am Skylight entlang, um über die Laufbrücke zu entkommen, wurde aber von Jerrys scharfen Zähnen am Schenkel gepackt. Jerry, der blind angriff, geriet dem Schwarzen zwischen die Füße. Der stolperte, und als sich in diesem Augenblick das Schiff überlegte, fuhr er geradeswegs in die drei Reihen Stacheldraht auf der Lee-Reling. Die Schwarzen an Deck schrien vor Freude, und Jerry, dessen Wut unvermindert und dessen unmittelbarer Gegner kampfunfähig gemacht war, mißverstand die Situation und glaubte, daß das Gelächter der Schwarzen ihm galt. Er machte kehrt und stürzte sich auf die vielen Beine, die vor ihm flohen. Sie polterten die Laufbrücke zur Kajüte und zum Vorderkastell hinunter, kletterten aufs Bugspriet und sprangen in die Takelung, bis sie überall wie riesige Vögel saßen. Zuletzt war Jerry unbestrittener Herr des Decks, auf dem außer ihm nur noch die Mannschaft zu sehen war, denn er hatte schon den Unterschied begriffen. Kapitän Van Horn spendete Jerry frohe Lobworte, rief ihn zu sich und klopfte ihn in freudiger Bewunderung wie einen richtigen Mann. Dann wandte sich der Kapitän an seine vielen Passagiere und hielt ihnen eine Rede auf Trepang-Englisch.

»Heh! Ihr fella Jungens. Ich machen ihm groß fella Rede. Dies fella Hund, er gehören mir. Ein fella Junge tut diesem fella Hund etwas – mein Wort! – mich werden furchtbar böse auf diesen fella Jungen. Ich lassen Glocken läuten hören diesen fella Jungen. Ihr nehmen in acht eure Beine. Ich nehmen in acht meinen Hund. Savve?«

Und die Passagiere, die immer noch oben in der Luft hingen und sich mit funkelnden schwarzen Augen und kreischenden Stimmen ihr Leid klagten, beugten sich vor dem Gesetz des weißen Mannes. Selbst Lerumie, den der Stacheldraht übel zugerichtet hatte, murrte und drohte nicht. Statt dessen rief er ein schallendes Gelächter seitens seiner Kameraden und ein lustiges Augenzwinkern seitens des Schiffers hervor, als er sich die Schrammen rieb und murmelte: »Mein Wort! Ein großer fella Hund dies fella!«

Nicht, daß Jerry unfreundlich war. Wie Biddy und Terrence war er hitzig und unerschrocken, ein Erbe seiner Vorfahren, und wie Biddy und Terrence liebte er die Niggerjagd, was wiederum eine Folge seiner Erziehung war. Von seinen ersten Welpentagen an war er dazu erzogen worden, Nigger waren Nigger, Weiße aber waren Götter, und die weißen Götter hatten ihn dazu erzogen, Nigger zu jagen und sie in der untergeordneten Stellung zu halten, die ihnen in der Welt zukam. Der weiße Mann hielt die ganze Welt in seiner hohlen Hand. Aber die Nigger – hatte er nicht immer gesehen, wie sie gezwungen wurden, in ihrer untergeordneten Stellung zu verharren? Hatte er nicht gelegentlich gesehen, wie sie an den Palmen der Meringe-Plantage aufgehängt und von den weißen Göttern ausgepeitscht wurden, daß ihnen die Haut in Fetzen vom Rücken hing? Kein Wunder, daß ein hochgeborener, von den weißen Göttern verhätschelter irischer Terrier auf die Nigger mit den Augen des weißen Gottes herabsah und die Nigger in einer Weise behandelte, die ihm Lob und Belohnung seitens der weißen Götter eintrug.

Es war ein heißer Tag für Jerry. Alles auf der Arangi war neu und seltsam, und so voll war sie, daß immer etwas Aufregendes geschah. Er hatte noch eine Begegnung mit dem Wildhund, der ihm verräterisch aus einem Hinterhalt in die Flanke fiel. Die Kisten der Schwarzen waren unordentlich aufgestapelt, so daß eine kleine Lücke zwischen zwei Kisten in der untersten Reihe war. Aus dieser Höhle fuhr der Windhund, als Jerry auf dem Wege zum Schiffer vorbeitrottete, auf ihn los, grub ihm seine scharfen Milchzähne in die gelbe Samthaut und sprang dann wieder in seinen Schlupfwinkel. Wieder waren Jerrys Gefühle verletzt. Einen Flankenangriff konnte er verstehen. Oft hatten er und Michael das Spiel gespielt, aber es war eben nur ein Spiel gewesen. Aber sich kampflos zurückzuziehen, wenn man einmal angefangen hatte, das war Jerrys Natur vollkommen fremd. Mit gerechtem Zorn setzte er seinem Feinde nach. Aber hier, im Winkel, kämpfte der Wildhund am besten. Als Jerry in die enge Höhle sprang, schlug er mit dem Kopf gegen die obere Kiste, und im nächsten Augenblick fühlte er, wie der andre knurrend die Zähne gegen seine eignen Zähne und seinen Kiefer schlug.

Er konnte den Wildhund nicht packen und hatte auch keine Möglichkeit, sich aus voller Kraft auf ihn zu stürzen. Jerry konnte nichts tun, als zappeln, sich winden und auf dem Bauche vorwärtskriechen, und immer stieß er auf einen knurrenden Rachen voller Zähne. Aber doch würde er schließlich mit dem Wildhund fertig geworden sein, wäre Borckman nicht vorbeigekommen, hätte hineingelangt und Jerry an einem Hinterbein herausgezogen. Wieder rief Kapitän Van Horn, und Jerry trottete gehorsam ab.

Auf Deck, im Schatten des Besans, war das Essen angerichtet, und Jerry, der zwischen den beiden Männern saß, erhielt sein Scherflein. Er hatte schon die Beobachtung gemacht, daß von den beiden der Kapitän der vornehmere Gott war, der viele Befehle gab, denen der Steuermann gehorchte. Der Steuermann wiederum gab den Schwarzen Befehle, nie aber dem Kapitän. Dazu kam noch, daß Jerry den Kapitän liebzugewinnen begann und sich daher eng an ihn drückte. Wenn er seine Nase in den Teller des Kapitäns steckte, erhielt er eine gelinde Zurechtweisung. Als er aber einmal an der dampfenden Teetasse des Steuermanns schnüffelte, bekam er einen Stubbs auf die Nase von dem schmutzigen Zeigefinger Borckmans. Und der Steuermann bot ihm auch nichts zu essen an.

Kapitän Van Horn gab ihm zuallererst ein Schälchen Hafergrütze mit einer reichlichen Menge Dosenmilch und einem großen Löffel voll Zucker. Dann gab er ihm noch ab und zu einen Bissen Butterbrot und ein Stück gebratenen Fisch, aus dem er erst sorgfältig die feinen Gräten entfernt hatte.

Sein geliebter Herr Haggin hatte ihn nie bei Tisch gefüttert, und Jerry war ganz außer sich vor Freude über dies wundervolle Erlebnis. Und da er jung war, ließ er seinen Eifer mit sich durchgehen, so daß er bald zur Unzeit den Kapitän um mehr Fisch und Butterbrot anbettelte. Einmal bellte er sogar, um seinen Wunsch verständlich zu machen. Das gab dem Kapitän einen Einfall, und er fing gleich an, ihn »sprechen« zu lehren.

Ehe fünf Minuten vergangen waren, hatte Jerry schon gelernt, leise zu sprechen, und zwar nur einmal – ein weiches, glockenreines Bellen, das nur aus einer einzigen Silbe bestand. Ebenfalls in den ersten fünf Minuten hatte er »niedersitzen« gelernt, was etwas anderes als »niederlegen« war, er mußte niedersitzen, wenn er sprach, mußte sprechen, ohne aufzuspringen oder sich sonst zu rühren, und er mußte warten, bis das Futter ihm gereicht wurde. Ferner hatte er seinen Wörterschatz bereits um drei Wörter bereichert. In Zukunft bedeutete »sprich« für ihn sprechen, »niedersetzen« niedersetzen und nicht niederlegen. Das dritte neue Wort war »Schiffer«. Das war der Name, mit dem er den Steuermann Kapitän Van Horn anreden hörte. Und wie Jerry wußte, daß, wenn ein Mensch »Michael« rief, der Ruf sich auf Michael und nicht auf Biddy, Terrence oder ihn selber bezog, so wußte er jetzt, daß Schiffer der Name des zweibeinigen weißen Herrn dieser neuen schwimmenden Welt war.

»Das ist kein gewöhnlicher Hund«, äußerte Van Horn dem Steuermann gegenüber. »Es sitzt ganz sicher hinter den braunen Augen ein menschliches Gehirn. Er ist sechs Monate alt. Ein sechsjähriger Junge wäre ein Wunderkind, wenn er in fünf Minuten alles das lernte, was der Hund jetzt gelernt hat. Gott verdamm mich, das Gehirn eines Hundes muß genau wie das eines Menschen sein. Wenn er wie ein Mensch handelt, muß er wohl auch wie ein Mensch denken.«

 

Die Kajütstreppe war eine steile Leiter, die Jerry nach dem Essen vom Kapitän hinuntergetragen wurde. Die Kajüte war ein langer Raum, der sich über die ganze Breite der Arangi erstreckte und achtern an den Vorratsraum, vorn an eine kleine Kabine stieß. Vor dieser Kabine lag, durch ein dichtes Schott davon getrennt, das Vorderkastell, in dem die Schiffsbesatzung wohnte. Die kleine Kabine wurde von Van Horn und Borckman geteilt, während die große Kajüte den über sechzig Retournierten zugewiesen war. Sie nahmen den ganzen Fußboden sowie die langen niedrigen Schlafbänke ein, die in der vollen Länge der Kajüte an beiden Seiten entlangliefen.

In der kleinen Kabine warf der Kapitän in einer Ecke eine Decke auf den Boden, und er hatte keine Schwierigkeit, Jerry begreiflich zu machen, daß dies sein Bett war. Und für Jerry, der satt und müde von all den neuen Eindrücken war, war es auch nicht schwer, sofort einzuschlafen.

Eine Stunde später wurde er durch den Eintritt Borckmans geweckt. Als er mit seinem Schwanzstummel wedelte und ihn freundlich mit den Augen anlächelte, warf ihm der Steuermann einen ärgerlichen Blick zu und stieß ein gereiztes Brummen aus. Jerry machte keine weiteren Annäherungsversuche, sondern blieb still und wachsam liegen. Der Steuermann wollte sich etwas zu trinken holen. Um die Wahrheit zu gestehen, stahl er von Van Horns Vorräten. Das wußte Jerry nicht. Er hatte oft auf der Plantage die weißen Männer trinken sehen. Aber irgend etwas in Borckmans Benehmen fiel ihm auf. Er hatte das unklare Bewußtsein, daß hier etwas Unrechtes geschähe. Was das war, wußte er nicht, aber er fühlte, daß etwas nicht stimmte, und paßte scharf auf.

Als der Steuermann gegangen war, würde Jerry wieder eingeschlafen sein, wäre nicht die nachlässig geschlossene Tür mit einem Krach wieder aufgesprungen. Während er in Erwartung eines feindlichen Besuches aus dem Unbekannten mit offenen Augen dalag, beobachtete er eine große Schabe, die die Wand herabkroch. Als er auf die Beine kam und sich ihr vorsichtig näherte, lief sie mit einem leisen Rascheln fort und verschwand in einer Ritze. Jerry hatte Schaben sein ganzes Leben gekannt, aber er sollte manches Neue lernen von der besonderen Art, die sich auf der Arangi befand.

Nach einer oberflächlichen Untersuchung der Kabine begab er sich in die Kajüte. Es wimmelte von Schwarzen, aber Jerry hielt sich seinem Schiffer gegenüber verpflichtet, jeden einzelnen zu beschnüffeln. Sie warfen ihm böse Blicke zu und murrten leise, wenn er sie bei seinem Schnüffeln mit der Nase berührte. Einer wagte ihm mit Prügeln zu drohen, aber statt sich aus dem Staube zu machen, wies Jerry die Zähne und machte sich sprungbereit. Der Schwarze ließ hastig die erhobene Hand sinken und suchte ihn reuig zu besänftigen, während andre kicherten, und Jerry ging weiter. Es war nichts Neues. Schläge waren stets von den Schwarzen zu erwarten, wenn kein Weißer in der Nähe war. Sowohl Steuermann wie Kapitän befanden sich an Deck, und Jerry setzte seine Untersuchungen trotz aller Unerschrockenheit mit großer Vorsicht fort.

Aber bei dem unverschlossenen Eingang zum Vorratsraum schlug er alle guten Vorsätze in den Wind und stürzte vorwärts, um einem neuen Geruch zu folgen, der ihm in die Nüstern drang. In dem niedrigen, finsteren Raum befand sich ein Fremder, den er nie zuvor gesehen hatte. Auf einer groben Schilfmatte, die über einem Haufen Tabakskisten und Fünfzigpfunddosen Mehl ausgebreitet war, lag ein mit einem Hemd bekleidetes schwarzes Mädchen. Sie hatte etwas Heimtückisches, Lauerndes an sich, das Jerry sofort bemerkte, und er wußte längst, daß es stets etwas Böses bedeutete, wenn ein Schwarzer lauerte oder scheel blickte. Sie schrie vor Furcht auf, als er bellend auf sie losfuhr. Obwohl seine Zähne ihren bloßen Arm ritzten, schlug sie nicht nach ihm und schrie auch nicht zum zweiten Male. Sie kauerte sich zitternd zusammen, ohne sich zur Wehr zu setzen. Ohne ihr dünnes Hemd aus den Zähnen zu lassen, riß und zerrte er an ihr, knurrte, kläffte und heulte, um Schiffer oder den Steuermann zu rufen. Während des Kampfes stieß das Mädchen gegen die Kisten und Dosen, die das Übergewicht bekamen, so daß der ganze Haufen zusammenprasselte. Das veranlaßte Jerry, noch toller anzugeben, während die Schwarzen, die von der Kajüte aus zuguckten, ein grausames Gelächter anstimmten.

Als Schiffer kam, wedelte Jerry mit seinem Stummelschwanz, legte die Ohren flach an den Kopf und zerrte schärfer als je an dem dünnem Baumwollhemd des Mädchens. Er erwartete ein Lob für seine Tat, als aber Schiffer ihm befahl, loszulassen, gehorchte er mit der Überzeugung, daß dieses lauernde entsetzte Geschöpf anders war und behandelt werden mußte als andre lauernde Geschöpfe. Entsetzt war sie, halbtot vor Angst. Van Horn nannte sie einen Nagel zu seinem Sarge und wünschte nur, diesen Nagel loszuwerden, ohne daß er vernichtet würde. Vor dieser Vernichtung hatte er sie bewahrt, als er sie für ein fettes Schwein kaufte.

Beschränkt, dumm, krank, erst zwölf Jahre alt, ohne Anziehungskraft für die jungen Männer in ihrem Dorfe, war sie von ihren enttäuschten Eltern für den Kochtopf bestimmt worden. Als Kapitän Van Horn sie zum ersten Male traf, hatte sie die Hauptrolle in einer kläglichen Prozession gespielt, die sich am Ufer des Balebuli entlang bewegte.

Eine Schönheit ist sie nicht – hatte er gedacht, als er die Prozession eines Pau-Waus, einer Unterredung, wegen anhielt. Abgezehrt durch Krankheit, die Haut mit den trocknen Schuppen übersät, die eine Folge von der Krankheit Bukua sind, war sie an Händen und Füßen gebunden, wie ein Schwein an eine dicke Stange gehängt, die auf den Schultern der Träger ruhte. Offenbar hatte man die Absicht, Mittagessen aus ihr zu machen. Da sie zu hoffnungslos war, um Gnade zu erwarten, flehte sie nicht um Hilfe, obgleich ihre furchtbare Angst in ihren wild starrenden Augen zu lesen war.

In dem überall gebräuchlichen Trepang-Englisch erfuhr Kapitän Van Horn, daß ihr Gefolge sie nicht gerade als Leckerbissen betrachtete, und daß man gedachte, sie bis zum Hals in das fließende Wasser des Balebuli zu stecken. Ehe man sie jedoch an den Pfahl band, wollte man ihr die Gelenke ausrenken und die großen Arm- und Beinknochen brechen. Das war kein religiöser Brauch, kein Versuch, die rohen Dschungelgötter zu besänftigen. Es geschah einfach aus gastronomischen Gründen. Lebendiges, auf diese Weise behandeltes Fleisch wurde zart und wohlschmeckend, und wie ihr Gefolge betonte, bedurfte sie wahrlich eines derartigen Prozesses. Zwei Tage im Wasser, sagten sie zu dem Kapitän, würden genügen. Dann wollten sie sie totschlagen, das Feuer anzünden und ein paar Freunde einladen.

Nach halbstündigem Feilschen, bei dem Kapitän Van Horn immer wieder auf die Wertlosigkeit des Objektes hingewiesen hatte, kaufte er sie für ein fettes Schwein im Werte von fünf Dollar. Da er das Schwein mit Waren bezahlt und auf die Waren wiederum hundert Prozent Gewinn aufgeschlagen hatte, kostete ihn das Mädchen in Wirklichkeit zwei Dollar und fünfzig Cent.

Und dann hatten die Annehmlichkeiten für Kapitän Van Horn begonnen. Er konnte das Mädchen nicht loswerden. Er kannte die Eingeborenen von Malaita zu gut, als daß er sie ihnen auf der Insel zurückgelassen hätte. Der Häuptling Ischikola hatte fünfmal zwanzig Kokosnüsse für sie geboten, und Bau, ein Buschhäuptling, zwei Hühner am Strande von Malu. Aber dieses Gebot war von einem spöttischen Lächeln begleitet gewesen, das deutlich zeigte, welche Verachtung der alte Fuchs für dies magere Gestell von Mädchen hegte. Da der Kapitän die Missionarbrigg Western Croß verfehlte, auf der sie nicht gefressen worden wäre, war er genötigt gewesen, sie trotz des beschränkten Platzes auf der Arangi bei sich zu behalten, bis er sie vielleicht einmal später den Missionaren abliefern konnte.

Aber das Mädchen hegte keine Dankbarkeit für ihn, weil sie keinen Verstand im Kopfe hatte. Sie, die für ein fettes Schwein verkauft worden war, meinte, daß ihr trauriges Los unverändert war. Nahrung war sie gewesen, und Nahrung blieb sie. Nur ihr Bestimmungsort hatte sich geändert, und dieser dicke fella weiße Gebieter der Arangi sollte sicher ihr Bestimmungsort werden, wenn sie hinreichend gemästet war. Seine Absichten mit Bezug auf sie waren durchsichtig gewesen seit dem ersten Augenblick, da er versucht hatte, sie zu mästen. Aber sie führte ihn an der Nase herum, indem sie nicht einen Bissen mehr aß, als sie durchaus zur Erhaltung ihres Lebens mußte.

Die Folge war, daß sie, die ihr ganzes Leben im Busch verbracht und nie einen Fuß in ein Kanu gesetzt hatte, sich jetzt in einer immerwährenden Todesfurcht auf dem weiten Ozean wiegte und rollte. In dem Trepang, das von den Schwarzen auf den tausend Inseln und mit zehntausend Dialekten gesprochen wurde, versicherten ihr die stets wechselnden Passagiere der Arangi immer wieder, welches Geschick ihrer wartete. »Mein Wort, du fella Mary,« sagte einer von ihnen zu ihr, »kurze Zeit bleiben, dies große fella weiße Herr dich kai-kai.« Und ein andrer: »Groß fella weiß Herr kai-kai dich, mein Wort, Magen ihm herumgehen allzuviel.«

Kai-kai war das Trepangwort für essen. Selbst Jerry wußte das. »Essen« gehörte nicht zu seinem Wortschatz, wohl aber kai-kai, und das bedeutete sowohl als Verb wie als Substantiv genau das gleiche.

Aber das Mädchen antwortete nie auf die Neckereien der Schwarzen. Sie sprach überhaupt nie ein Wort, selbst nicht zu Kapitän Van Horn, der nicht einmal wußte, wie sie hieß.

Es war spät am Nachmittag, als Jerry, nachdem er das Mädchen im Vorratsraum entdeckt hatte, wieder an Deck kam. Kaum hatte ihn Schiffer, der ihn die steile Leiter hinaufgetragen hatte, niedergesetzt, als er auch schon eine neue Entdeckung machte – Land. Er sah es nicht, aber er roch es. Er hob die Nase und schnüffelte in den Wind, der ihm die Botschaft brachte, und las den Geruch mit der Nase, wie ein Mensch eine Zeitung liest – las den Salzduft der Küste und den dumpfigen Geruch der Mangrovensümpfe bei Ebbe, den würzigen Hauch von Tropenpflanzen und das schwache, ganz schwache Kribbeln von Rauch, von qualmenden Feuern.

Der Passat, der die Arangi in den Schutz dieser vorspringenden Landspitze von Malaita geführt hatte, flaute jetzt ab, so daß das Schiff auf der leichten Dünung zu rollen begann, Schoote und Takelung knarrten, und die Segel donnernd schlugen. Jerry warf nur einen neckischen Seitenblick auf das Großsegel, das über ihm seine Sprünge machte. Er kannte schon die Ohnmacht seiner Drohungen, nahm sich aber vor den Großschootblöcken in acht und ging um den Bügel herum, statt darüber hinwegzusetzen.

Kapitän Van Horn, der die Windstille benutzen wollte, um die Besatzung Schießübungen machen zu lassen, damit sie mit den verschiedenen Waffen vertraut wurden, nahm die Lee-Enfield-Gewehre von ihrem Platz oben auf dem Kajütsskylight. Jerry kauerte plötzlich nieder und schritt dann mit steifen Beinen über das Deck. Aber der Wildhund, der sich drei Fuß weit von seinem Schlupfwinkel zwischen den Kisten befand, schlief nicht. Er beobachtete Jerry und knurrte drohend. Es war kein angenehmes Knurren. In der Tat, es war ein Knurren, so garstig und wild, wie sein ganzes Leben gewesen war. Die meisten kleinen Geschöpfe fürchteten sich vor diesem Knurren, aber es machte keinen Eindruck auf Jerry, der sich nicht stören ließ und ruhig weiter ging. Als der Wildhund mit einem Satz in seiner Höhle unter den Kisten verschwand, sprang Jerry ihm nach, und um ein Haar hätte er seinen Feind gepackt. Unterdessen hatte Kapitän Van Horn Holzstücke, Flaschen und leere Konservendosen über Bord geworfen und gab einem Teil der eifrigen Besatzung Befehl, loszuknallen. Jerry war außer sich vor Freude über das Schießen, und sein Kläffen vermehrte noch den Spektakel. Wenn die leeren Messingpatronenhülsen ausgeworfen wurden, entstanden wilde Schlägereien unter den Retournierten an Deck. Jeder wollte sie haben, sah sie für etwas äußerst Kostbares an und steckte sie, noch warm, in die leeren Löcher in seinen Ohrläppchen. Die waren vielfach durchbohrt, und die kleinsten Löcher waren gerade groß genug für die Patronenhülsen, während in den größten Tonpfeifen, Tabakstücke und sogar Streichholzschachteln steckten. Einige waren sogar so groß, daß dreizöllige geschnitzte Holzzylinder hineingestopft waren.

Steuermann und Kapitän trugen Repetierpistolen im Gürtel, mit denen sie nun losknallten und eine Patrone nach der andern verschossen, während die Besatzung in atemloser Bewunderung über diese Schießfertigkeit zusah. Die Schwarzen waren nicht einmal mittelmäßige Schützen, aber Kapitän Van Horn wußte wie jeder Kapitän im Salomonarchipel, daß die Busch- und Salzwasserleute noch schlechter schossen, und daß er sich auf die Schießfertigkeit seiner Besatzung verlassen konnte – wenn sie sich nicht gelegentlich gegen das Schiff wandte.

Borckmans Pistole klemmte sich fest, und Van Horn erteilte ihm einen Verweis, weil er sie nicht rein gehalten und geölt hatte. Dann neckte der Kapitän den Steuermann und fragte ihn, wieviel er getrunken hätte, und ob das schuld daran wäre, daß er schlechter als sonst schösse. Borckman erklärte, daß er einen Fieberanfall habe, und Van Horn äußerte seinen Zweifel erst, als er einige Minuten später im Schatten des Besans hockte und Jerry, den er auf dem Arm hielt, alles erzählte.

»Sein Unglück ist der Schnaps, Jerry«, erklärte er. »Gott verdamm mich, deshalb muß ich alle meine Wachen gehen und die Hälfte von den seinen noch dazu. Und dann sagt er, es sei das Fieber. Glaub's ihm nicht, Jerry. Es ist der Schnaps. Er ist ein guter Seemann, wenn er nüchtern ist. Wenn er sich aber besoffen hat, ist er ganz verrückt. Dann dreht sich ihm ein Mühlrad im Kopf herum, und er ist ein blöder Hund, der in einem Orkan schnarchen und bei Windstille ganz aus dem Häuschen geraten kann. – Jerry, du bist gerade erst auf deinen vier weichen Pfötchen ins Leben gesprungen, und wenn du auf den Rat eines Mannes hören willst, der Bescheid weiß, so laß den Schnaps. Glaub' mir, Jerry, mein Junge – hör' auf deinen Vater – Schnaps ist für nichts gut auf der Welt.«

Worauf Kapitän Van Horn Jerry dem Vergnügen überließ, den Wildhund zu jagen, und in seine winzige Kabine ging, wo er einen tüchtigen Schluck aus derselben Flasche nahm, aus der Borckman stahl.

Die Jagd auf den Wildhund wurde ein prachtvoller Sport, jedenfalls für Jerry, der so geschaffen war, daß er keinem etwas nachtrug, und dem die Sache ungeheuren Spaß machte. Sie gab ihm auch ein angenehmes Gefühl seiner eignen Überlegenheit, denn der Wildhund floh stets vor ihm. Unter den Hunden war Jerry unbestreitbar Nummer eins an Deck der Arangi. Er zerbrach sich nicht einen Augenblick den Kopf darüber, wie sein Benehmen auf den Wildhund wirkte, aber er machte ihm in der Tat das Leben zur Hölle. Nur wenn Jerry unten war, wagte sich das wilde Tier mehr als ein paar Fuß von seinem Schlupfwinkel fort, und er verging fast vor Angst und Schrecken vor dem kleinen, dicken Hündchen, das sich nicht von seinem Knurren einschüchtern ließ.

Spät nachmittags trottete Jerry, nachdem er dem Wildhund noch eine Lehre erteilt hatte, nach achtern und fand Schiffer, mit dem Rücken gegen die niedrige Reling gelehnt und mit hochgezogenen Beinen an Deck sitzen. Der Mann starrte ganz geistesabwesend nach Luv, und Jerry beschnüffelte seinen bloßen Schenkel – nicht, um sich zu überzeugen, wen er vor sich hatte, sondern nur als eine Art freundschaftlichen Grußes, und weil es ihm Spaß machte. Aber Van Horn nahm keine Notiz von ihm und fuhr fort, übers Meer zu starren. Übrigens war er sich auch gar nicht der Anwesenheit des Hundes bewußt.

Jerry legte den ganzen Unterkiefer auf Schiffers Knie und blickte Schiffer lange und ernsthaft ins Gesicht. Diesmal merkte Schiffer es und fühlte sich angenehm berührt, gab aber immer noch kein Lebenszeichen von sich. Jerry versuchte einen neuen Kniff. Schiffers Unterarm ruhte auf dem andern Knie, und die halb geöffnete Hand hing schlaff herab. In diese Hand steckte er seine weiche goldene Schnauze bis zu den Ohren und blieb dann ganz still liegen. Wenn er hätte sehen können, würde er ein lustiges Aufblitzen in Schiffers Augen bemerkt haben, die jetzt nicht mehr über das Meer, sondern auf ihn herabblickten. Aber Jerry konnte nichts sehen. Er blieb noch eine Weile still liegen, dann schnaufte er, daß es weit fort zu hören war.

Das war zuviel für Schiffer, der jetzt in ein schallendes Gelächter ausbrach, so laut und herzlich, daß Jerry in demütiger Liebe die seidenweichen Ohren nach hinten legte mit der einschmeichelnden Bitte, sich im Lächeln des Gottes sonnen zu dürfen. Dazu setzte das Lachen Schiffers Jerrys Rute in wilde Bewegung. Die halb geöffnete Hand schloß sich mit einem festen Griff und packte das lockere Fell auf der einen Seite von Jerrys Schnauze. Dann begann ihn die Hand mit einer solchen Kraft hin und her zu schütteln, daß er mit allen vieren springen mußte, um das Gleichgewicht zu bewahren. Es war die reine Seligkeit für Jerry. Mehr noch: wahre Verzückung. Denn Jerry wußte, daß das rauhe Schütteln nichts Böses bedeutete, war es doch ein Spiel, das er und Michael oft zusammen gespielt hatten. Hin und wieder hatte er auch mit Biddy so gespielt und sie aus lauter Liebe tüchtig geschüttelt. Und bei ganz seltenen Gelegenheiten hatte Herr Haggin ihn liebevoll geschüttelt. Es waren Worte für Jerry, nicht mißzuverstehende Worte.

Als das Schütteln rauher wurde, ließ Jerry sein grimmigstes Knurren hören, das immer grimmiger wurde, je heftiger er geschüttelt wurde. Aber auch das war Spiel – zu tun, als wolle er wirklich dem etwas zuleide tun, den er doch viel zu sehr liebte. Er riß und zerrte an der Hand, die ihn hielt, und versuchte den Kopf so weit zu drehen, daß er die Zähne gebrauchen konnte.

Als Schiffer mit einem schnellen Ruck die Hand zurückriß und ihn von sich schob, kam er zähnefletschend und knurrend wieder, um wieder gefangen und geschüttelt zu werden. Das Spiel nahm unter wachsender Erregung Jerrys seinen Fortgang. Einmal war er Schiffer zu schnell, und Jerry bekam die Hand zwischen die Zähne, biß aber nicht zu. Er preßte die Zähne liebevoll zusammen, so daß sie sich auf der Haut abzeichneten, aber von Beißen konnte keine Rede sein.

Das Spiel wurde immer heftiger, und Jerry ging ganz darin auf. Er wurde so aufgeregt, daß das Spiel Wirklichkeit wurde. Jetzt war es Kampf, ein Gefecht mit der Hand, die ihn packte, schüttelte und fortschob. Die Wildheit, die er bisher vorgetäuscht hatte, wurde echt. Wenn er fortgeschoben war und sich anschickte, zum Angriff vorzuspringen, stieß er ein schrilles, hysterisches Geheul aus. Als Kapitän Van Horn das merkte, streckte er plötzlich, statt zuzupacken, die flache Hand aus als das Friedenszeichen, das so alt ist wie die menschliche Hand selbst. Und gleichzeitig sprach er laut das eine Wort: »Jerry!« Aber in diesem Wort waren alle Vorwürfe, aller Befehl und die inständige Bitte der Liebe ausgedrückt.

Jerry verstand und kam sofort zu sich. Im selben Augenblick war er lauter Zerknirschung, weiche Demut, die Ohren legten sich zurück mit der Bitte um Verzeihung und Beteuerungen, die aus einem warmen, bebenden, von Liebe überströmenden Herzen kamen. In einem Nu war er aus einem bissigen Hund, der zähnefletschend und sprungbereit dagestanden, in ein kleines seidenweiches Etwas verwandelt, das zu der geöffneten Hand trottete und sie mit einer Zunge küßte, die zwischen den weißen schimmernden Zähnen wie ein purpurroter Edelstein hervorlugte. Und im nächsten Augenblick lag er in Schiffers Armen, den Kopf gegen dessen Wange gepreßt, und wieder fuhr die Zunge heraus in einer so deutlichen Sprache, wie sie einem Geschöpf möglich ist, dem die menschliche Rede versagt ist. Es war ein wahres Liebesfest zu gleicher Freude für alle beide.

»Gott verdamm mich!« sagte Kapitän Van Horn zärtlich. »Du bist ja nichts als ein Bündel hochgespannter Gefühle mit einem goldenen Herzen in der Mitte und in eine goldene Haut gewickelt. Gott verdamm mich, Jerry, du bist Gold, reines Gold innen und außen, und kein Hund auf der ganzen Welt kann sich mit dir messen. Du hast ein Herz von Gold, du goldener Hund; sei gut zu mir und hab' mich lieb, dann will ich auch gut zu dir sein und dich lieb haben, jetzt und in alle Ewigkeit.« Und Kapitän Van Horn, der barbeinig, mit einem Lendenschurz und einer Unterjacke zu sechs Pence über die Arangi herrschte, der schwarze Kannibalen auf seinem Sklavenschiff hin und zurück fuhr, der, wachend und schlafend, eine Pistole im Gürtel trug, und dessen Kopf in Dutzenden von Salzwasserdörfern und Buschfestungen verfallen war, der als einer der zähesten Schiffer im Salomonarchipel galt, wo nur zähe Männer das Leben fristen können und Zähigkeit zu schätzen wissen, Kapitän Van Horn blinzelte mit den Augen, die sich plötzlich mit Tränen füllten, und konnte einen Augenblick das Hündchen nicht sehen, das, am ganzen Leibe vor Liebe zitternd, in seinen Armen lag und ihm die salzigen Tropfen der Rührung von den Augen küßte.

 


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