Jack London
Jerry der Insulaner
Jack London

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An Bord zurückgekehrt, ließ Van Horn augenblicklich den Anker lichten, setzte Segel und kreuzte die zehn Meilen durch die Lagune nach der Luvseite von Somo. Unterwegs legte er in Binu an, um den Häuptling Johnny zu begrüßen und ein paar Retournierte an Land zu setzen. Dann ging es weiter nach Somo, wo für die Arangi und viele der an Bord Befindlichen die Reise für immer ein Ende haben sollte.

Der Empfang, der Van Horn in Somo zuteil wurde, war das Gegenteil von dem in Langa-Langa. Nachdem die Retournierten an Land geschafft waren, womit der größte Teil des Nachmittags verging, lud Van Horn den Häuptling Baschti ein, an Bord zu kommen. Und Häuptling Baschti kam, sehr behende und beweglich, trotz seines hohen Alters, und sehr liebenswürdig – ja, so liebenswürdig, daß er darauf bestand, drei seiner ältesten Frauen mit an Bord zu bringen. Das war etwas ganz Unerhörtes. Nie hatte er einer seiner Frauen erlaubt, sich vor einem Weißen zu zeigen, und Van Horn fühlte sich so geehrt, daß er jeder von ihnen eine hübsche Tonpfeife und zwölf Stück Tabak überreichte.

So spät am Tage es auch war, ging das Geschäft doch glänzend, und Baschti, der sich den Löwenanteil von den Löhnen genommen hatte, der den Vätern zweier verstorbener Arbeiter zukam, kaufte großzügig von den Waren der Arangi. Als Baschti eine Menge frischer Rekruten versprach, wollte Van Horn, der den Wankelmut der Eingeborenen kannte, daß sie sich sofort einschrieben. Baschti wurde gleich bedenklich und schlug vor, es am nächsten Tage zu tun. Van Horn behauptete, daß damit nichts gewonnen wäre, und vertrat seinen Standpunkt so gut, daß der alte Häuptling schließlich ein Kanu an Land schickte, um die Leute aufzugreifen, die ausersehen waren, mit der Arangi nach den Plantagen zu ziehen.

»Wie denken Sie darüber?« fragte Van Horn Borckman, dessen Augen stark verschwommen waren.

»Ich habe den alten Gauner noch nie so freundlich gesehen. Führt er was im Schilde?«

Der Steuermann starrte auf die vielen Kanus, die längsseits lagen, bemerkte die zahlreichen Weiber in ihnen und schüttelte den Kopf.

»Wenn sie was vorhaben, schicken sie die Marys stets in den Busch«, sagte er.

»Bei diesen Niggern kann man nie wissen«, brummte der Kapitän. »Die Kerle mögen nicht viel Phantasie besitzen, aber hin und wieder haben sie doch einen neuen Einfall. Und Baschti ist der gerissenste alte Nigger, den ich je gesehen habe. Warum sollte er uns nicht mal bluffen und gerade das Gegenteil von dem tun, was wir von ihm erwarten? Haben sie noch nie ihre Weiber mitgenommen, wenn es Lärm gab, so ist das noch kein Grund, daß sie es immer ebenso machen müssen.«

»Selbst Baschti hat nicht Grütze genug, um sich so was auszudenken«, wandte Borckman ein. »Er ist eben mal guter Laune. Er hat doch schon für vierzig Pfund Waren gekauft. Deshalb will er uns wieder einen Haufen Nigger verschaffen, und ich möchte wetten, er hofft, daß die Hälfte stirbt, so daß er auch deren Lohn ausgeben kann.«

Das klang alles sehr vernünftig, aber doch schüttelte Van Horn den Kopf.

»Passen Sie jedenfalls gut auf«, ermahnte er ihn. »Und denken Sie daran, daß wir nie beide zugleich in der Kajüte sein dürfen. Und ja keinen Schnaps mehr, ehe wir mit dem ganzen Kram fertig sind, verstanden?«

Baschti war unglaublich mager und ungeheuer alt. Wie alt er war, wußte er selber nicht. Er wußte nur, daß noch keiner von seinem Stamm gelebt hatte, als er ein Knabe war. Er erinnerte sich der Zeit, da einige der ältesten Lebenden geboren wurden, aber im Gegensatz zu ihm waren das hinfällige zitternde Greise mit rinnenden Augen, zahnlos, taub oder lahm. Er hingegen war noch vollkommen rüstig. Er konnte sich sogar eines Dutzends arg mitgenommener Zähne rühmen, die bis auf den Gaumen abgenutzt, aber doch noch brauchbar zum Kauen waren. Obwohl er nicht mehr so ausdauernd wie in seiner Jugend war, dachte er noch selbständig und klar wie je. Seinem Verstand hatte der Stamm es zu danken, daß er jetzt stärker war als zu der Zeit, da Baschti ans Ruder kam. Im Kleinen war er ein melanesischer Napoleon gewesen. Als Krieger hatte seine überlegene Begabung ihm ermöglicht, das Gebiet der Buschleute einzuengen, und die Narben an seinem welken Körper bezeugten, daß er stets in der vordersten Reihe gekämpft hatte. Als Gesetzgeber hatte er seinen Stamm ermutigt und stark und tüchtig gemacht. Als Staatsmann war er stets weitsichtiger gewesen als die Nachbarhäuptlinge, wenn es galt, Verträge zu schließen oder Konzessionen zu erteilen.

Und in seinem Gehirn, das immer noch sehr lebhaft arbeitete, hatte er jetzt einen Plan ausgeklügelt, um Van Horn anzuführen und das mächtige britische Reich, von dem er wenig ahnte, aber noch weniger wußte, übers Ohr zu hauen.

Denn Somo hatte eine Geschichte. Es war ein merkwürdiger Widerspruch: ein Salzwasserstamm, der an einer Lagune auf dem Festland lebte, wo man sonst nur Buschleute vermuten konnte. Die graue Vorzeit lebte noch in alten Sagen. Eines Tages, vor so langer Zeit, daß man keinen Maßstab für sie hatte, war Somo, der Sohn Lotis, des Häuptlings der Inselfeste Umbo, mit seinem Vater in Streit geraten und mit einem Dutzend Kanus voll jungen Männern vor seinem Zorn geflohen. Ganze zwei Monsune waren sie auf dem Wasser umhergeirrt, hatten der Sage nach zweimal Malaita umfahren und sehr viele Raubzüge bis nach Uri und San Christoval auf der andern Seite des großen Meeres unternommen.

Weiber hatten sie sich natürlich nach siegreichen Kämpfen geraubt, und zuletzt waren Somo und seine Leute mit Weibern und Kindern auf dem Festland gelandet, hatten die Buschmänner vertrieben und die Salzwasserfeste Somo gegründet. Sie war wie eine Inselfeste am Wasser erbaut, mit Mauern aus Korallenblöcken umgeben, um dem Meere und Räubern, die vom Meere kommen sollten, standzuhalten. Nach rückwärts reichte die Feste bis an den Busch, und hier glich sie jedem andern ausgedehnten Buschdorfe. Aber Somo, der weitsichtige Vater des neuen Stammes, hatte seine Grenzen tief in den Busch, bis zu den Ausläufern der Berge gesteckt, und auf jeder Erhebung hatte er ein Dorf erbaut. Nur den wirklich Tapferen, die zu ihm geflohen waren, hatte Somo erlaubt, sich dem neuen Stamm anzuschließen; Schwächlinge und Feiglinge waren schleunigst aufgefressen worden, und der schier unglaubliche Bericht von ihren vielen Köpfen, welche die Kanuhäuser schmückten, gehörte mit zur Sage.

Und dieser Stamm und das Gebiet um diese Festung waren Baschti schließlich als Erbe zugefallen, und er hatte sein Erbteil gemehrt. Er war auch jetzt nicht darüber erhaben, es weiter zu mehren. Lange hatte er sorgsam alle Einzelheiten des Planes überdacht, den er jetzt ausführen wollte. Vor drei Jahren hatte der Ano-Ano-Stamm viele Meilen weiter abwärts an der Küste einen Werber gekapert, ihn mit der ganzen Besatzung vernichtet und fabelhafte Mengen Tabak, Kattun, Perlen und Handelswaren aller Art, nebst Gewehren und Munition erbeutet.

Und der Preis, den sie dafür bezahlen mußten, war gering genug gewesen. Ein halbes Jahr später hatte ein Kriegsschiff die Nase in die Lagune gesteckt, hatte Ano-Ano bombardiert und die Bewohner Hals über Kopf in den Busch gejagt. Die Leute vom Schiff hatten sie nutzlos verfolgt. Schließlich hatten sie sich damit begnügt, vierzig fette Schweine zu töten und fünfzig Kokospalmen zu fällen. Kaum aber befand sich das Schiff wieder auf hoher See, als das Ano-Ano-Volk auch schon wieder ins Dorf zurückkehrte. Granatenfeuer wirkt nicht besonders verheerend auf leichte Grashütten, und nach einigen Stunden Arbeit für die Weiber war alles wieder in Ordnung. Was die vierzig toten Schweine betraf, so stürzte sich der ganze Stamm auf die Leichen, briet sie zwischen hohen Steinen unter der Erde und hielt ein Festmahl von ihnen. Die zarten Sprossen der gefällten Kokospalmen wurden ebenfalls gegessen, während die Tausende von Kokosnüssen von ihren Schalen befreit, in Streifen geschnitten, an der Sonne gedörrt und geräuchert wurden, bis alles zu Kopra geworden war, die dem ersten Handelsschiff, das in die Nähe kam, verkauft werden konnte.

So war die Buße, die man ihnen auferlegt hatte, der Anlaß zu Fest und Freude geworden – und das alles sprach die betriebsame, berechnende Seele Baschtis in hohem Maße an. Was gut für Ano-Ano war, mußte seiner Meinung nach erst recht gut für Somo sein. Da es die Art der unter der britischen Flagge fahrenden weißen Männer war, Schweine totzuschlagen und Kokospalmen zu fällen, um Blutvergießen und Kopfraub zu rächen, konnte Baschti nicht einsehen, warum er nicht wie Ano-Ano Nutzen daraus ziehen sollte. Der Preis, der später möglicherweise gelegentlich bezahlt werden mußte, stand in einem schreienden Mißverhältnis zu den Reichtümern, die er sich jetzt verschaffen konnte. Außerdem war es über zwei Jahre her, daß sich das letzte britische Kriegsschiff im Salomon-Archipel gezeigt hatte.

Und so beugte Baschti, dessen Hirn einen herrlichen neuen Gedanken geboren hatte, sein weises Haupt, um seine Zustimmung kundzugeben und seinem Volke zu erlauben, in großen Scharen an Bord zu kommen und Einkäufe zu machen. Nur sehr wenige wußten, was er im Schilde führte oder daß er überhaupt etwas im Schilde führte.

Der Handel wurde immer lebhafter, je mehr Kanus längsseits kamen, und schwarze Männer und Weiber füllten das Deck. Dann kamen die geworbenen Arbeiter, neu eingefangene junge Wilde, scheu wie Hirsche, aber gehorsam dem strengen Gesetz der Väter und des Stammes, und begaben sich einer nach dem andern, begleitet von ihren Vätern, Müttern und Verwandten, jede Familie für sich, in die Kajüte der Arangi, um vor den großen weißen Kapitän zu treten, der ihre Namen in ein geheimnisvolles Buch eintrug und sie den Kontrakt, der sie zu dreijähriger Arbeit verpflichtete, anerkennen ließ, indem sie mit der rechten Hand den Federhalter, mit dem er schrieb, berühren mußten, worauf er ein Jahr Vorschuß in Waren an das Oberhaupt der betreffenden Familie auszahlte.

Der alte Baschti saß in der Nähe und nahm seinen üblichen, reichlichen Zehnten von jedem Vorschuß, während seine drei alten Frauen demütig zu seinen Füßen niederkauerten und durch ihre Nähe allein schon dazu beitrugen, Van Horn sicher zu machen, der entzückt über das glänzende Geschäft war. Auf diese Weise konnte er seine Fahrt nach Malaita abkürzen und bald mit vollem Schiff wieder abfahren. An Deck, wo Borckman scharf nach allen möglichen Gefahren Ausschau hielt, strich Jerry umher und schnüffelte an den unzähligen Beinen all der vielen Schwarzen, die er nie zuvor gesehen hatte. Der Wildhund war mit den Retournierten an Land gegangen, und von den Retournierten war nur einer wieder an Bord gekommen. Das war Lerumie, und Jerry stolzierte immer wieder mit steifen Beinen und gesträubten Haaren an ihm vorbei, ohne daß Lerumie ihn jedoch beachtete. Lerumie ignorierte ihn kühl, ging einmal in die Kajüte hinunter, kaufte sich einen Handspiegel und versicherte nach seiner Rückkehr dem alten Baschti mit einem Blick, daß alles bereit sei, und daß es losgehen könne, sobald eine günstige Gelegenheit sich biete.

Es war Borckman, der ihnen diese Gelegenheit verschaffte. Und er würde es nicht getan haben, wenn er sich nicht der Unvorsichtigkeit und des Ungehorsams gegen den Befehl seines Kapitäns schuldig gemacht hätte. Er konnte den Schnaps nicht lassen. Er fühlte nicht, was in der Luft lag. Das Achterdeck, wo er stand, war fast ganz verlassen. Mittschiffs und vorn war das Deck voll von Schwarzen beiderlei Geschlechts, die mit der Besatzung freundschaftlich schwatzten. Er ging zu den Jamssäcken, die achtern vom Besanmast festgesurrt waren, und holte die Flasche hervor. Ehe er trank, warf er mit einem letzten Rest von Vorsicht einen Blick über die Schulter zurück. In seiner Nähe stand eine harmlose Mary in mittleren Jahren, fett, verwachsen, unschön, ein zweijähriges säugendes Kind rittlings auf der Hüfte. Von dieser Seite brauchte man jedenfalls keine Gefahr zu fürchten. Dazu war es ganz offensichtlich eine unbewaffnete Mary, denn sie trug nicht einen einzigen Fetzen am Körper, wo sie eine Waffe hätte verstecken können. Und dicht an der Reling, zehn Fuß entfernt, stand Lerumie und betrachtete sich selbstgefällig in dem Spiegel, den er sich soeben gekauft hatte.

In dem Spiegel sah Lerumie, wie sich Borckman über die Jamssäcke beugte, sich wieder aufrichtete und, die Flasche senkrecht am Munde, den Kopf zurückbog. Lerumie hob die rechte Hand als Zeichen für eine Frau in einem Kanu neben dem Schiffe. Sie bückte sich hastig und warf Lerumie einen Gegenstand zu. Es war ein langschäftiger Tomahawk, eine Zimmermannsaxt an einem Stiel von einheimischer Arbeit aus schwarzem, blank poliertem, hartem Holz, mit Perlmutter in sehr primitivem Muster eingelegt und mit Kokosfasern umwickelt, so daß er sich gut fassen ließ. Die Schneide war scharf geschliffen wie ein Rasiermesser.

So lautlos, wie der Tomahawk durch die Luft in Lerumies Hand flog, ebenso lautlos flog er im nächsten Augenblick durch die Luft aus seiner Hand in die der fetten Mary, die hinter dem Steuermann stand und ihr Kind stillte. Sie packte den Schaft mit beiden Händen, während das Kind, das rittlings auf ihrer Hüfte saß, sich festhielt, indem es sie mit beiden Ärmchen halb umklammerte.

Noch wartete sie, denn solange Borckman mit zurückgelegtem Kopfe dastand, war es nicht möglich, ihm das Rückgrat eben unterhalb des Nackens durchzuhauen. Viele Augen sahen die bevorstehende Tragödie. Jerry sah sie, verstand sie jedoch nicht. So feindlich er auch sonst gegen die Schwarzen gestimmt war, hatte er diesen Angriff aus der Luft doch nicht erraten. Tambi, der sich zufällig in der Nähe des Skylights befand, sah sie und streckte im selben Augenblick die Hand nach einem Lee-Enfield-Gewehr aus. Lerumie sah Tambis Bewegung und gab der Frau durch einen Zischlaut zu verstehen, daß sie eilen müsse.

Borckman, der von dieser, der letzten Sekunde seines Lebens so wenig wußte, wie er von der ersten Sekunde seines Lebens gewußt, ließ die Flasche sinken und beugte den Kopf vor. Die scharfe Schneide tat ihre Schuldigkeit. Was Borckman in dem Nu, als sein Gehirn von seinem Körper getrennt wurde, gefühlt oder gedacht haben mag, wenn er denn überhaupt etwas fühlte oder dachte, das ist ein Geheimnis, das kein lebendes Wesen lösen kann. Kein Mensch, dessen Rückgrat auf diese Weise zerhauen wurde, hat je mit einem Worte verraten, was er gefühlt und gedacht hat. Ebenso schnell, wie die Axt fiel, sank Borckman auf dem Deck zusammen. Er wankte weder, noch stürzte er. Er wurde schlaff wie ein Ballon, aus dem plötzlich die Luft entweicht, oder wie eine Blase, die ein Loch bekommt. Die Flasche glitt aus seiner toten Hand auf die Jamssäcke, ohne zu zerbrechen, wenn auch der Rest des Inhalts ganz still auf das Deck gluckste.

So schnell folgten einander die Ereignisse, daß die erste Kugel aus Tambis Gewehr die Mary verfehlte, ehe Borckman noch ganz auf das Deck gesunken war. Er kam nicht ein zweites Mal zum Schuß, denn die Mary ließ den Tomahawk fallen, faßte das Kind mit beiden Händen, stürzte zur Reling und sprang in das Kanu, das zufällig unter ihr lag und unter ihrem Gewicht kenterte.

Dann geschah alles auf einmal. Von den Kanus zu beiden Seiten kam ein funkelnder, glitzernder Regen von Tomahawks mit perlmuttereingelegten Schäften. Sie wurden von den Somomännern an Deck aufgefangen, während die Weiber niederkauerten und sich in Sicherheit brachten. Im selben Augenblick, als die Mary, die Borckman getötet hatte, über Bord sprang, bückte Lerumie sich nach dem Tomahawk, und Jerry, der fühlte, daß es jetzt um Leben und Tod ging, grub seine Zähne in die Hand, die sich nach der Waffe ausstreckte. Lerumie richtete sich auf, alle Wut und aller Haß, die sich seit Monaten gegen das Hündchen in ihm aufgespeichert hatten, machten sich in einem lauten Geheul Luft, und als Jerry ihm an die Beine fuhr, gab er ihm aus aller Macht einen Fußtritt, der ihn unter dem Bauche traf und hochschleuderte.

Und in der Sekunde, oder in dem Bruchteil der Sekunde, als Jerry hochgeschleudert wurde und über den Stacheldrahtzaun ins Wasser flog, wurden Gewehre von allen Seiten aus den Kanus an Bord gereicht, und feuerte Tambi seinen nächsten Schuß ab. Und Lerumie, der den Fuß, mit dem er Jerry getreten hatte, noch nicht wieder auf das Deck gesetzt hatte, und der sich wieder nach dem Tomahawk bücken wollte, wurde von der Kugel gerade ins Herz getroffen und stürzte nieder, um gemeinsam mit Borckman in den Frieden des Todes hinüberzugleiten.

Ehe Jerry noch das Wasser erreicht hatte, war Tambis Stolz über seinen wundervollen Schuß ausgelöscht, denn in dem Augenblick, als er den Drücker losließ, durchschnitt ein Tomahawk seine Wirbelsäule eben unter dem Schädelansatz und verlöschte für ewig das strahlende Bild der meerumspülten sonnenflammenden Tropenwelt. Und ebenso schnell – denn alle Begebenheiten erfolgten fast gleichzeitig – erlitt die übrige Besatzung den Tod, und das Deck wurde die reine Schlachtbank.

Mitten im Knallen der Büchsen und im Todeskampf der Menschen tauchte Jerrys Kopf aus dem Wasser auf. Ein Mann streckte aus einem Kanu die Hand aus, packte ihn am Nacken und zog ihn ins Boot. Er knurrte und suchte seinen Retter zu beißen, war aber weniger erbittert als von der wahnsinnigsten Angst um Schiffer ergriffen. Ohne darüber nachzudenken, wußte er, daß das schwerste Unglück des Lebens die Arangi betroffen hatte – das Unglück, das alles Lebende instinktiv sich nähern fühlt, und das nur die Menschen kennen und »Tod« nennen. Er hatte gesehen, wie Borckman getroffen wurde. Er hatte gehört, wie Lerumie getroffen wurde. Und jetzt hörte er Büchsenschüsse und dazwischen Siegesgeheul und Angstschreie.

Und deshalb brüllte und heulte er jetzt, als er mit einer kräftigen Faust im Nacken in der Luft hing, er schnappte nach Luft und fauchte, bis der Schwarze wütend wurde und ihn ärgerlich auf den Boden des Kanus warf. Mit großer Mühe kam er wieder auf die Beine und machte zwei Sprünge, den einen auf den Rand des Kanus, den andern in hoffnungsloser Verzweiflung, ohne an sich zu denken, in der Richtung der Arangi.

Er sprang einen ganzen Meter zu kurz und stürzte kopfüber ins Wasser. Als er wieder an die Oberfläche kam, schwamm er wie ein Rasender, halb erstickt von dem Salzwasser, das ihm in die Lunge drang, weil er in seiner Sehnsucht nach Schiffer beständig heulte, jammerte und bellte.

Aber ein zwölfjähriger Knabe in einem andern Kanu, der das Abenteuer des ersten Schwarzen mit Jerry angesehen hatte, behandelte ihn ungenierter. Er schlug den Hund, der noch im Wasser schwamm, erst mit der Breitseite, dann mit der Kante eines Paddelruders auf den Kopf. Und die Finsternis der Bewußtlosigkeit überflutete das kleine, klare Hirn mit all seiner Liebespein, so daß der schwarze Knabe ein schlaffes, unbewegliches Hündchen in sein Kanu zog.

Unterdessen war – noch ehe Jerry nach Lerumies Tritt das Wasser erreicht hatte – unten in der Kajüte Van Horn dem Tode in einer kurzen, bedeutungsvollen Sekunde, oder vielmehr dem Bruchteil einer Sekunde begegnet. Nicht umsonst hatte der alte Baschti am längsten von allen Männern seines Stammes gelebt und am weisesten in der ganzen langen Reihe von Herrschern seit Somos Tagen geherrscht. Wären ihm Zeit und Ort günstiger gewesen, so hätte er leicht ein Alexander, ein Napoleon oder ein dunkelhäutiger Kahehameha werden können. Aber auch jetzt machte er seine Sache gut, ja ausgezeichnet in Anbetracht seines engbegrenzten kleinen Königreichs an der Küste der finsteren Kannibaleninsel Malaita.

Und wie gut er es machte! Kaltblütig, liebenswürdig, immer unter Berufung auf die Rechte, die ihm seiner Häuptlingswürde zufolge zukamen, hatte er Van Horn zugelächelt, hatte er seine königliche Erlaubnis gegeben, daß seine jungen Männer sich zu dreijähriger Plantagenarbeit verpflichteten, hatte er seinen Anteil an dem Vorschuß gefordert, der jedem von ihnen für das erste Jahr ausbezahlt wurde. Aroa – man konnte ihn wohl seinen Premierminister und Schatzmeister nennen – hatte die Abgaben ebenso schnell in Empfang genommen, wie die Beträge ausbezahlt wurden, und sie in große Beutel aus fein geflochtenen Kokosfasern getan. Auf dem Rande der Koje hinter Baschti saß ein glatthäutiges dreizehnjähriges Mädchen, das die Fliegen mit dem königlichen Fliegenwedel von seinem königlichen Haupte verjagte. Zu seinen Füßen kauerten seine drei alten Frauen, deren älteste, zahnlos und ziemlich hinfällig, ihm jedesmal, wenn er nickte, einen Korb aus lose geflochtenen Pandangblättern reichte.

Und Baschti, dessen scharfe Ohren auf das erste ungewöhnliche Geräusch an Deck warteten, nickte beständig und steckte die Hand in den Korb – bald nach einer Betelnuß, Kalk und dem grünen Blatt, in das dieser Bissen unweigerlich eingepackt wurde, bald nach Streichhölzern, mit denen er seine Pfeife anzündete, die offenbar nicht gut zog und immer wieder ausging.

Zuletzt war der Korb die ganze Zeit dicht bei seiner Hand gewesen, und jetzt griff er zum letztenmal hinein. Das geschah in dem Augenblick, als die Axt Borckman getroffen und Tambi seinen ersten Schuß abgefeuert hatte. Und Baschtis welke alte Hand, auf deren fleischlosem Rücken sich ein ganzes Netz stark hervortretender Adern befand, zog eine mächtige Pistole hervor, die so alt war, daß sie ausgezeichnet von einem von Cromwells Rundköpfen getragen worden sein oder Quiros oder La Perouse begleitet haben konnte. Es war eine Steinschloßpistole, so lang wie der Unterarm eines Mannes, und sie war am selben Nachmittag von Baschti in eigener hoher Person geladen worden.

Fast ebenso schnell wie Baschti war auch Van Horn. Aber doch nicht schnell genug. Im selben Augenblick, als seine Hand an die moderne automatische Pistole flog, die lose, ohne Halfter auf seinen Knien lag, ging die Jahrhunderte alte Pistole los. Bei ihrer Ladung von zwei Kartätschenkugeln und einem Rundgeschoß hatte sie die Wirkung einer abgesägten Schrotbüchse. Und Van Horn spürte die Flamme und die Finsternis des Todes so plötzlich, daß sein »Gott verdammich!« unausgesprochen auf seinen Lippen starb und seine Finger die halb erhobene Pistole fallen ließen.

Und die mit Schwarzpulver überladene uralte Waffe hatte noch eine andre Wirkung. Sie zersprang Baschti in der Hand. Während Aora sich mit einem scheinbar aus dem leeren Raum geholten Messer daranmachte, dem weißen Herrn den Kopf abzuschneiden, warf Baschti einen halben Blick auf seinen rechten Zeigefinger, der an einem Hautfetzen baumelte. Er faßte ihn mit der linken Hand, riß ihn mit einem schnellen Ruck und einer Drehung der Hand ab und warf ihn dann grinsend, als sei es ein guter Witz, in den Pandangkorb, den ihm seine Frau immer noch mit einer Hand hinhielt, während sie sich mit der andern an die Stirn faßte, die von einem Splitter der Pistole getroffen war.

Unterdessen hatten sich gleichzeitig drei der neuen Rekrutierten mit Hilfe ihrer Väter und Onkel auf den einzigen von der Besatzung, der sich unten befand, gestürzt, um ihn abzutun. Baschti, der so lange gelebt hatte, daß er Philosoph war, machte sich nichts aus Schmerzen und noch weniger aus dem Verlust eines Fingers. Er lachte und zwitscherte vor Siegesstolz und Freude über den Erfolg seiner List, und seine drei Frauen, die nur lebten, um ihm Beifall zu spenden, beugten sich tief vor ihm in kriechender Lobpreisung und Anbetung. Lange hatten sie gelebt dank seiner königlichen Laune. Und deshalb lagen sie ihm zu Füßen und stießen unzusammenhängende, unartikulierte Laute aus, lagen vor ihm, dem Herrn über Leben und Tod, der so oft Beweise seiner unendlichen Weisheit gegeben und es auch diesmal wieder getan hatte.

Im Vorratsraum aber lag das magere Mädchen auf Händen und Knien wie ein banges Kaninchen in seinem Bau und sah voll Entsetzen alles mit an. Sie wußte, daß jetzt ihre Stunde geschlagen hatte, daß der Kochtopf ihrer harrte.

 

Was an Bord der Arangi geschah, erfuhr Jerry nie. Er wußte nur, daß eine Welt vernichtet war, denn er sah ihre Vernichtung. Der Knabe, der ihn mit dem Paddel auf den Kopf geschlagen hatte, band ihm die Beine sicher zusammen und warf ihn auf den Strand, wo er ihn in der Aufregung über die Plünderung der Arangi vergaß.

Unter großem Geschrei und Gesang wurde die schöne Teakholzjacht von den langen Kanus an Land geschleppt und dicht an der Stelle, wo Jerry lag, unter den Korallenmauern auf den Strand gesetzt. Feuer flammten am Strande, Laternen wurden an Bord angezündet, und unter mächtigem Jubel wurde die Arangi vollkommen ausgeplündert. Alles Bewegliche wurde an Land geschafft, von Ballasteisen bis zu Takelung und Segeln. Nicht ein einziger Mensch schlief diese Nacht in Somo. Selbst die kleinsten Kinder krochen ums Feuer oder lagen übersatt im Sande. Um zwei Uhr morgens wurde auf Baschtis Befehl der Rumpf angezündet, und Jerry, den nach Wasser durstete, der gejammert und geklagt hatte, bis er nicht mehr konnte, und der hilflos mit zusammengebundenen Beinen auf der Seite lag, sah die schwimmende Welt, die er nur kurze Zeit gekannt hatte, in Rauch und Flammen aufgehen. Und beim Schein des brennenden Schiffes verteilte der alte Baschti die Beute. Keiner vom Stamm war so gering, daß er nicht seinen Teil bekam. Selbst die elenden Sklaven, die seit ihrer Gefangennahme vor Angst, daß sie gefressen würden, gezittert hatten, erhielten jeder eine Tonpfeife und ein paar Stück Tabak. Den Löwenanteil an Handelswaren ließ Baschti ungeteilt in sein großes Grashaus schaffen. Der ganze Reichtum an Geräten, die man fand, wurde zur Aufbewahrung in die verschiedenen Kanuhäuser geschafft, während die Teufel-Teufel-Medizinmänner in den Teufel-Teufel-Häusern sich daranmachten, die vielen Köpfe über langsam glimmenden Feuern zu trocknen, denn außer der Besatzung gab es noch ein gutes Dutzend Eingeborener aus No-ola und ein paar aus Malu, die Van Horn noch nicht heimgebracht hatte.

Nicht alle waren übrigens erschlagen. Baschti hatte ein strenges Verbot gegen ein Blutbad größeren Stils ausgesprochen. Aber nicht etwa, weil er ein weiches Herz hatte. Eher, weil er ein ganz durchtriebener Bursche war. Totgeschlagen sollten sie nacheinander alle werden. Baschti hatte nie Eis gesehen, ahnte nichts von dessen Existenz und wußte auch nichts von Gefriermethoden. Die einzige ihm bekannte Art, Fleisch aufzubewahren, war, es am Leben zu erhalten. Und im größten Kanuhaus, dem Klubhaus der Männer, in das keine Mary ihren Fuß setzen durfte, ohne unter Tortur mit dem Tode bestraft zu werden, wurden die Gefangenen aufbewahrt. Wie Federvieh oder Schweine an Händen und Füßen gebunden, wurden sie, wie es traf, auf den hart getretenen Lehmboden geworfen, unter dem die Überreste früherer Opfer lagen, von einer dünnen Erdschicht bedeckt, während die irdischen Reste mehrerer von Baschtis unmittelbaren Vorgängern, darunter, als der letzte in der Reihe, sein eigener Vater, in Grasmatten gewickelt vom Dache herunterhingen, wo sie seit zwei vollen Generationen baumelten. Und da die magere kleine Mary jetzt gefressen werden sollte, und da Tabus für einen Menschen, der zum Gefressenwerden verurteilt ist, keine Gültigkeit mehr haben, wurde sie, an Händen und Füßen gebunden, zwischen die vielen Schwarzen geworfen, die sie geneckt und gehöhnt hatten, weil Van Horn sie mästen und fressen wollte.

Und in dies Kanuhaus wurde auch Jerry gebracht und zwischen die andern auf den Boden geworfen. Agno, der erste der Teufel-Teufel-Medizinmänner, war am Strande über ihn gestolpert, und trotz aller Einwände des Jungen, der behauptete, daß er das Hündchen gefunden habe, und daß es folglich ihm gehöre, hatte er es in das Kanuhaus bringen lassen. Als Jerry an den Feuern vorbeigetragen wurde, wo das Festmahl zubereitet wurde, hatte seine scharfe Nase ihm gesagt, woraus es bestand. Und so neu ihm auch alles war, hatten sich ihm doch die Haare gesträubt, und er hatte seine Mitgefangenen angeknurrt; denn er verstand nicht, wie kläglich es ihnen selbst ging, und da er infolge seiner Erziehung im Nigger den ewigen Feind sah, hielt er sie für verantwortlich für die Katastrophe, die die Arangi und Schiffer betroffen hatte.

Denn Jerry war ja nur ein kleiner Hund mit der Begrenzung eines Hundes und war noch nicht lange auf der Welt. Aber er machte nur eine kurze Weile seiner Wut über die Schwarzen Luft. Allmählich dämmerte ihm das Gefühl, daß sie auch nicht glücklich wären. Einige von ihnen waren schwer verwundet, und sie klagten und stöhnten. Ohne sich so recht klar darüber zu werden, fühlte Jerry doch, daß ihre Lage ebenso qualvoll war wie die seine. Und wahrlich: qualvoll war seine eigne Lage. Er lag auf der Seite, und die Stricke, mit denen seine Beine zusammengebunden waren, saßen so stramm, daß sie in sein junges Fleisch schnitten und den Blutumlauf verhinderten. Dazu kam, daß der Durst ihn fast überwältigte, so daß er stöhnend, mit trockner Zunge und trocknem Maul in der Gluthitze lag.

Ein trauriger Ort war dies Kanuhaus, erfüllt von Seufzen und Stöhnen, mit Leichen unter dem Fußboden und als Teil des Fußbodens selbst, voller Geschöpfe, die auch bald Leichen sein sollten, und voll Leichen, die unter dem Dache hin und her schaukelten. Dazwischen standen lange schwarze Kanus mit hohen Steven wie geschnäbelte, raubgierige Ungeheuer, die sich undeutlich im Schein eines glimmenden Feuers abhoben, an dem ein Ältester vom Somo-Stamme saß und seiner ewigen Beschäftigung nachging, die im Dörren eines Buschmannkopfes bestand. Er war eingeschrumpft, blind und altersschwach, und er schwatzte vor sich hin und schnitt Grimassen wie ein riesiger Affe, während er immer wieder den im scharfen Rauch hängenden Kopf wandte und eine Handvoll verrotteten Feuerschwamm nach der andern in das glimmende Feuer warf.

Sechzig Fuß im Quadrat maß dieses Haus, und durch die dunkeln Querstreben schimmerte im Feuerschein hin und wieder der Endbalken, der mit Kokosgeflecht in barbarischen Schwarzweiß-Zeichnungen bedeckt und von jahrelangem Rauch geschwärzt war, bis alles fast denselben schmutzig-braunen Ton angenommen hatte. Von den hohen Querstreben hingen an langen Kokosfaserschnüren die Köpfe von Feinden, die bei Dschungelkämpfen und Raubzügen übers Meer gefangengenommen waren. Die ganze Stätte atmete Tod und Verfall, und der blöde Greis, der im Rauche dasaß und, vor Gicht zitternd, das Symbol des Todes zubereitete, stand am Rande des Grabes und der Vernichtung.

Gegen Morgen schleppten Dutzende von Somomännern unter lautem Geschrei noch eines der großen Kriegskanus herbei. Sie bahnten sich den Weg mit Händen und Füßen, traten, stießen, warfen und schleppten die gefesselten Gefangenen beiseite, um Platz für das Kanu zu schaffen. Sie waren alles eher als milde gegen das Fleisch, das das Glück und Baschtis Klugheit ihnen verschafft hatte.

Eine Weile blieben sie im Hause sitzen, pafften ihre Tonpfeifen, lachten und schwatzten und erzählten sich mit ihren merkwürdigen dünnen Fistelstimmen die Ereignisse der Nacht und des gestrigen Nachmittags. Dann streckten sie sich einer nach dem andern aus und schliefen ein, ohne sich zuzudecken, denn so nackt hatten sie, die gerade unter dem Pfade der Sonne lebten, seit dem Tage, an dem sie geboren waren, geschlafen.

Als die Dunkelheit zu weichen begann, wachten nur noch die Schwerverwundeten oder die zu stramm Gefesselten sowie der hinfällige Greis, der jedoch nicht so alt wie Baschti war. Als der Knabe, der Jerry mit einem Schlag seines Paddels betäubt und ihn nachher als seine besondere Beute gefordert hatte, sich ins Kanuhaus schlich, hörte der Greis ihn nicht. Da er blind war, sah er ihn nicht, und er fuhr fort, vor sich hin zu schwatzen und zu lachen, den Kopf des Buschmannes über dem Feuer hin und her zu wenden und Feuerschwamm in das glimmende Feuer zu werfen. Es war dies keine Arbeit, die ausdrücklich des Nachts hätte besorgt werden müssen, selbst nicht für ihn, der vergessen hatte, was er sonst tun sollte. Aber die Aufregung über die Eroberung und Plünderung der Arangi hatte sich auch seinem umnebelten Hirn mitgeteilt, die undeutliche Erinnerung an die Kraft, die in einem siegreichen Leben lag, tauchte in seinem Hirn auf, und er stürzte sich mit fieberhafter Freude in den Siegesrausch, der in Somo herrschte, indem er aus aller Macht an der Zubereitung des Kopfes arbeitete, der an sich schon der gegenständliche Ausdruck der Siegesfreude war.

Aber der zwölfjährige Bengel, der sich hereinschlich, schritt vorsichtig über die Schlafenden hinweg und bahnte sich seinen Weg zwischen den Gefangenen hindurch. Er tat es, obgleich ihm das Herz bis zum Halse schlug. Er wußte, welche Tabus er verletzte. Nicht alt genug, die Grashütte seines Vaters zu verlassen und im Kanuhaus der Jünglinge, geschweige denn in dem der unverheirateten Männer zu schlafen, wußte er, daß er sein Leben mit all seinen Mysterien und stolzen Träumen wagte, wenn er sich derart ohne Erlaubnis das geheiligte Vorrecht der erwachsenen reifen Somomänner aneignete.

Aber er wollte Jerry haben, und er bekam ihn. Nur die magere kleine Mary, die, an Händen und Füßen gebunden, auf das Gefressen werden wartete und mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen starrte, sah, wie der Knabe Jerry an den zusammengebundenen Beinen ergriff und aus dieser Katakombe lebenden Fleisches, von der sie selbst einen Teil ausmachte, wegtrug. Und Jerry, diese heldenmütige kleine Seele, würde geknurrt und Widerstand geleistet haben, wäre er nicht zu kraftlos und wären Maul und Kehle nicht zu trocken gewesen, als daß er einen einzigen Laut hätte hervorbringen können. Verzweifelt und hilflos, kaum seiner mächtig, wie eine willenlose Marionette in den Krallen eines bösen Traumes, wie ein Schlafender, der aus einem Alp erwacht, merkte er, daß er aus dem nach Tod stinkenden Kanuhause durch das Dorf, wo die Luft nicht viel reiner war, fortgetragen wurde, auf einem Pfad unter hohen, weit ausladenden Bäumen, die sich im ersten schwachen Hauch des Morgenwindes zu regen begannen.

 

Lamai hieß der Knabe, wie Jerry später erfahren sollte, und nach Lamais Haus wurde Jerry getragen. Es war nicht viel Staat zu machen mit diesem Hause, nicht einmal im Vergleich zu andern Menschenfressergrashütten. Auf dem Lehmboden, der eine festgetretene Masse von jahrelangem Schmutz war, lebten Lamais Vater, Mutter und vier jüngere Brüder und Schwestern. Ein Strohdach, durch das es bei jedem kräftigeren Regenschauer tropfte, ruhte dicht über dem Boden auf einem wackligen Balken. Die Wände waren noch durchlässiger für den Regen. Wirklich war die Hütte, die Lumai, Lamais Vater, gehörte, die elendeste in ganz Somo.

Lumai, der Herr des Hauses und das Oberhaupt der Familie, war im Gegensatz zu den meisten Malaitern fett. Und seine Korpulenz schien seine Gutmütigkeit und die damit verwandte Faulheit erzeugt zu haben. Aber eines störte seine gemütliche Unverantwortlichkeit, und das war seine Frau, die schlimmste Xantippe von Somo, die ebenso mager wie ihr Mann rundlich war, die ebenso gereizt und scharf, wie er milde und freundlich sprach, deren Energie mit seiner Faulheit wetteiferte, und die ebenso sauertöpfisch wie er lebensfroh war.

Der Knabe guckte eben ins Haus hinein und sah Vater und Mutter unbedeckt je in einer Ecke liegen, während seine vier nackten Brüder und Schwestern wie junge Hunde in einem Klumpen auf dem Boden lagen.

Aber dieses Haus, das eigentlich kaum etwas anderes als eine Tierhöhle war, lag inmitten eines Paradieses. Die Luft war würzig und süß, schwer vom Dufte wilder, wohlriechender Pflanzen und prachtvoller Tropenblumen. Die Hütte wurde überragt von drei Brotfruchtbäumen, deren stolze Äste sich ineinander verflochten. Bananen und Platanen hingen übervoll von großen Fruchtbüscheln, die ihrer baldigen Reife entgegensahen, und mächtige goldene, reife Papaa-Melonen standen wie Kugeln aufrecht auf den Bäumen, deren schlanke Stämme kaum ein Drittel des Durchmessers der Früchte maßen, die sie trugen. Aber das wunderbarste für Jerry war ein gurgelnder, rieselnder Bach, der sich unsichtbar seinen Weg über bemooste Steine unter einer Decke von feinen leichten Farren bahnte. Kein Treibhaus eines Königs konnte sich mit diesem wilden Überfluß an sonnensatter Vegetation messen. Jerry, der bei dem Geräusch des Wassers ganz außer sich geriet, mußte sich erst gefallen lassen, von dem Knaben, der auf dem Boden kauerte, sich hin und zurück wiegte und ein seltsames, kleines, zärtliches Lied vor sich hinsang, umarmt und geliebkost zu werden. Und Jerry, dem die Gabe der Rede fehlte, hatte kein Mittel, ihm von dem Durst zu erzählen, der ihn fast zu Tode quälte.

Dann band Lamai ihn gut mit einer Kokosschnur fest, die er ihm um den Hals legte, worauf er ihm die Stricke löste, die ihm ins Fleisch schnitten. So gefühllos war Jerry aus mangelndem Blutumlauf, und so schwach, weil er einen Teil eines Tropentages und eine ganze Tropennacht gedurstet hatte, daß er sich erhob und hinfiel und immer wieder hinfiel bei seinen Versuchen, auf die Füße zu kommen. Und Lamai verstand oder erriet, was ihm fehlte. Er nahm eine am Ende einer Bambusstange befestigte Kokosnußschale, tauchte sie in die Farren und reichte sie, bis zum Rand mit dem teuren Wasser gefüllt, Jerry.

Jerry lag zuerst beim Trinken auf der Seite, bis mit dem Wasser das Leben in die ausgetrockneten Kanäle seines Körpers zurückfloß. Bald aber konnte er aufstehen und stand nun, zwar noch immer schwach und unsicher, mit gespreizten Beinen da und trank eifrig. Der Knabe lachte und zwitscherte vor Freude bei dem Anblick, und bald hatte Jerry sich soweit erholt, daß er Zeit fand, mit seiner Zunge, mit der ganzen Beredsamkeit des Herzens, die ein Hund entfalten kann, zu reden. Er hob die Schnauze von der Schale und leckte mit seiner schmalen, rosenroten Zunge Lamais Hand. Und Lamai, der begeistert war, daß sie jetzt eine Sprache hatten, in der sie sich verständigen konnten, hielt Jerry immer wieder die Schale hin, und Jerry trank immer wieder.

Er trank weiter. Er trank, bis seine in der Sonne eingeschrumpften Flanken wie ein Ballon gefüllt waren, wenn zwischen dem Trinken auch immer längere Pausen entstanden, in denen seine Zunge auf der schwarzen Haut von Lamais Hand die Sprache der Dankbarkeit redete. Und alles ging gut und würde weiter gut gegangen sein, wäre nicht Lamais Mutter, Lenerengo, erwacht, zu ihrem schwarzen Sprößling getreten und hätte mit kreischender Stimme gegen ihren Erstgeborenen protestiert, weil er den Haushalt mit einem neuen Mund und viel Mühe belastete.

Hierauf folgte ein lauter Zank, von dem Jerry nicht ein Wort verstand, wenn er den Sinn auch herausfühlen mochte. Lamai war mit ihm und für ihn, Lamais Mutter aber war gegen ihn. Sie schalt und kreischte und verlieh ihrer unerschütterlichen Überzeugung Ausdruck, daß ihr Sohn verrückt, ja schlimmer als das sei, weil er nicht mit einem Gedanken daran gedacht hätte, welche Rücksicht er einer armen abgearbeiteten Mutter schuldete. Sie appellierte an den schlafenden Lumai, der schwer und fett aufwachte und in seinem Somodialekt einige friedliche Bemerkungen murmelte, die darauf ausgingen, daß es eine sehr brave Welt sei, daß junge Hunde und erstgeborene Söhne etwas sehr Schönes wären, daß er noch nie verhungert und daß Frieden und Schlaf das Herrlichste sei, was einem Sterblichen zuteil werden könne. Und zum Beweis ließ er sich in den Frieden des Schlafes gleiten, drückte mangels eines Kissens die Nase gegen seinen Oberarmmuskel und begann zu schnarchen.

Aber Lamai stampfte mit trotzigen Blicken auf den Boden und vergewisserte sich, ob er ungehindert weglaufen könnte, wenn sie auf ihn losführe. Er wollte sein Hündchen behalten, und nach einer langen Rede über die Jämmerlichkeit von Lamais Vater ging Lenerengo schließlich hinein, um weiterzuschlafen.

Ein Gedanke zeugt den andern. Lamai hatte den erstaunlichen Durst Jerrys entdeckt. Das brachte ihn auf den Gedanken, daß er ebenso hungrig sein könnte. Darum legte er trockene Zweige auf die schwelenden Holzkohlen, die er aus der Asche des Herdfeuers ausgrub, und machte ein großes Feuer an. Als das Feuer um sich griff, legte er viele Steine von einem danebenliegenden Haufen hinein, die alle von Rauch geschwärzt waren, so daß sie ersichtlich schon oft auf ähnliche Weise gebraucht worden waren. Und dann grub er unter dem Wasser des Baches einen geflochtenen Beutel hervor, und ans Tageslicht kam eine fette Waldtaube, die er tags zuvor in einer Schlinge gefangen hatte. Er wickelte die Taube in grüne Blätter, legte heiße Steine aus dem Feuer um sie herum und bedeckte Taube und Steine mit Erde.

Als er nach einiger Zeit die Taube herausholte und die versengten Blätter entfernte, verbreitete sich ein so lebhafter Geruch, daß Jerry die Ohren spitzte und seine Nüstern sich weiteten. Nachdem der Knabe den dampfenden Braten in zwei Stücke gerissen und gekühlt hatte, begann Jerry zu fressen und hörte nicht eher auf, als bis das letzte Stückchen Fleisch von den Knochen gerissen und die Knochen selbst zerbissen, zermalmt und verschlungen waren. Und während der ganzen Mahlzeit machte Lamai Jerry Liebeserklärungen, wiederholte immer wieder sein kleines zärtliches Lied, streichelte und liebkoste ihn.

Jerry indessen erwiderte jetzt, da Wasser und Fleisch ihn erfrischt und gestärkt hatten, die zärtlichen Annäherungsversuche des Knaben nicht mehr ganz so warm. Er war höflich und nahm die Liebkosungen mit weichen, strahlenden Augen, mit Schwanzwedeln und den üblichen Körperverdrehungen entgegen, aber er war unruhig, lauschte beständig nach fernen Geräuschen und sehnte sich aus ganzem Herzen fort. Das entging nicht der Aufmerksamkeit des Knaben, und ehe er sich schlafen legte, befestigte er denn auch das Ende der Schnur, die er um Jerrys Hals gebunden hatte, gehörig an einem Baum.

Nachdem Jerry einige Zeit an der Schnur gezerrt und gezogen hatte, gab er seine Versuche auf. Aber nicht für lange. Der Gedanke an Schiffer ließ ihm keine Ruhe. Er wußte und wußte doch nicht, welch nicht wieder gutzumachendes Unglück Schiffer begegnet war. Und so kam es, daß er nach kurzem leisen Jammern und Winseln mit seinen scharfen Milchzähnen die Kokosschnur benagte, bis sie durchgebissen war.

Frei wie eine Brieftaube, die nach der Heimat zurückfliegt, stürzte er blind nach dem Strande und dem salzigen Meer, wo die Arangi sich, mit Schiffer auf der Brücke, auf den Wellen gewiegt hatte. Somo war so gut wie ausgestorben, und die wenigen Menschen, die er traf, lagen in tiefem Schlummer. Folglich störte ihn niemand, als er über die gewundenen Pfade zwischen den vielen Häusern hindurch trottete, vorbei an den unanständigen Königsstatuen mit ihrem Totemwappen, aus ganzen Baumstämmen geschnitzten menschlichen Figuren, die in den aufgerissenen Rachen von Haien saßen. Denn Somo, das seinen Ursprung auf Somo, den Gründer des Stammes, zurückführte, verehrte den Haigott und die Salzwassergötter, wie auch die Gottheiten, die über Busch und Sumpf und Berg geboten.

Jerry bog rechts ab, bis er, an der Kaimauer vorbei, an den Strand kam. Von der Arangi war auf der ruhigen Oberfläche der Lagune nichts zu sehen. Überall lagen die traurigen Reste des Festmahls umher, und er konnte den schwelenden Geruch von ausgehenden Feuern und verbranntem Fleisch spüren. Viele der Teilnehmer am Feste hatten sich nicht erst die Mühe gemacht, nach Hause zu gehen, sondern lagen rings in der Morgensonne im Sande, Männer, Frauen und Kinder, wie der Schlaf sie zufällig überrascht hatte.

So dicht am Wasser, daß er sich die Vorderpfoten benetzte, setzte Jerry sich nieder. Sein Herz wollte vor Sehnsucht nach Schiffer fast brechen, und er hob die Schnauze zur Sonne und klagte seine Not, wie Hunde es getan, seit sie aus den wilden Wäldern zu den Lagerfeuern der Menschen kamen.

Und hier fand Lamai ihn, versuchte zuerst, ihn in seinem Kummer zu trösten, indem er ihn an seine Brust drückte und liebkoste, und trug ihn dann zur Grashütte am Bache zurück. Wasser bot er ihm, aber Jerry konnte nicht mehr trinken. Liebe bot er ihm, aber Jerry konnte seine nagende Sehnsucht nach Schiffer nicht vergessen. Zuletzt wurde Lamai wütend auf das unvernünftige Hündchen, er vergaß in knabenhafter Heftigkeit seine Liebe, schlug Jerry rechts und links auf den Kopf und band ihn an, wie wohl noch nie der Hund eines weißen Mannes angebunden worden war. Auf seine Art war Lamai ein Genie. Er hatte es noch nie mit einem Hunde tun sehen, und doch hatte er ohne weiteres die glänzende Idee, Jerry mit einem Stock anzubinden. Der Stock war aus Bambus und vier Fuß lang. Das eine Ende band er mit einer ganz kurzen Schnur an Jerrys Hals, das andre mit einer ebenso kurzen Schnur an einen Baum. Jerry konnte mit seinen Zähnen nur den Stock erreichen, und ein alter, zäher Bambusstock hält den Zähnen eines Hundes leicht stand.

 


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