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Die Otter

»Jetzt wird es schön,« denkt die Maus, die in dem krausen Stechpalmenbusch wohnt, der unter der breitästigen Hüteeiche steht.

Ein feines Versteck hat sie da. Die Hütejungen haben sich dort eine Moosbank gemacht, in der eine Maus schon wohnen kann, vorzüglich, weil sich dort nebenbei immer allerlei zu fressen findet, das es anderswo nicht gibt, Brotkrümchen, Wursthaut, Käsebrocken, Apfelschale, Pflaumenkerne und sonst noch allerlei.

Es ist darum kein Wunder, daß die Waldmaus so kugelrund aussieht, trotzdem der Winter hart und lang war. Es wächst ja soviel Pfeifengras auf dem Damme, am Grabenrand wuchert die Heide; beider Samen finden sich in Masse. Der Wald ist nicht weit, und da liegen die Früchte von Fichte und Erle, Kiefer und Birke und dürre Beeren aller Art, und an allerlei Geziefer ist auch kein Mangel.

»Wie schön warm es heute ist!« denkt das rote Mäuschen und macht vor Freude einen Hopser nach dem andern. »Sitzt da nicht ein fetter Käfer? Natürlich!« Schwupp, hat sie ihn, beißt ihn tot, reißt Flügel und Beine ab und verspeist ihn, auf den Keulen sitzend und die Beute in den Vorderfüßchen haltend. »Und das da, das ist ja eine von den saftigen, bekömmlichen Raupen! Ach ja, die gute Zeit ist da!«

Genau dasselbe denkt das Ungetüm, das breit und faul unter dem Stechpalmenbusche liegt und sich von der Aprilsonne bescheinen läßt. Schon seit einer Stunde liegt die Kreuzotter da und läßt die Maus nicht aus den Augen. So, wie sie daliegt, sieht sie wie eine braune, mit schwarzen Moospolsterchen bewachsene Kiefernwurzel aus, und nur die roten Mörderaugen und die ab und zu hervorzuckende Zunge zeigt, daß es ein Wesen von Fleisch und Blut ist.

Vom Herbste bis zum Frühling lag sie steif und starr unter der Moosbank, und über ihr wohnte die Maus. Als die Sonne wieder warm schien, im Graben frisches Grün auftauchte und die Zitronenfalter flogen, erwachte die Otter, kroch aus ihrem Verstecke, trank sich am Tau satt und wärmte sich an der Sonne, bis sie wieder geschmeidig wurde. Dann kroch sie so lange zwischen den Heidkrautstengeln umher, bis ihre alte Haut als silbergraues Netzwerk darin hängen blieb, erholte sich von der Anstrengung und merkte dann, daß sie sehr hungrig war.

»Sieh da, sieh da, eine Maus!« denkt sie. Eben war sie da, jetzt ist sie dort. Mäuse sind flink, Ottern sind langsam; aber Mäuse sind unvorsichtig und Ottern haben Zeit. Die roten Augen gehen immer dahin, wo die Maus ist. Ganz langsam schiebt die Otter sich vorwärts, dahin, wo die Maus eben hinsprang. Sie weiß, sie kommt denselben Weg wieder zurück. Da ist sie auch schon. Eine Fliege mit verkrüppelten Flügeln hüpft hilflos im Sande hin und her. Das lockt die Maus. Ein Sprung, und sie hat die Fliege, und die Mahlzeit beginnt.

Langsam hebt die Otter den Kopf, blitzschnell läßt sie ihn nach der Maus zucken und schlägt ihr die Giftzähne in den Nacken. Das Mäuschen piept auf, läßt die Fliege fallen, macht einen Sprung und noch einen, fällt um, zittert und verendet. Langsam kriecht die Schlange näher, bezüngelt ihre Beute, reißt den Rachen auf, umfaßt den Kopf der Maus und würgt sie hinab. Dann kriecht sie auf ihren Lauerplatz zurück. Eine Stunde liegt sie fast regungslos da, dann aber kommt wieder Leben in ihre Augen. Ein Sumpfmeisenpärchen turnt in dem Schlehenbusch umher, der an der anderen Seite der Eiche steht. Behutsam schiebt das Untier sich voran; sind auch die Meisen oben im Busch, vielleicht kommen sie tiefer.

»Sieh, sieh da, da!« ruft das Meisenmännchen und pickt ein Räupchen nach dem anderen aus den Blütenknospen. Aber da unten, dicht über der Erde, sind die Knospen schon aufgeblüht, und aus jeder dritten läßt sich ein dickes, fettes Räupchen an einem Faden in das Moos hinab. Immer tiefer turnen die beiden grauen, schwarzmützigen Vögelchen, und jetzt huscht das eine auf den Boden und pickt die Räupchen aus dem Moose. »Piep!« sagt es auf einmal, flattert in die Höhe, fällt herunter, schlägt mit den Flügeln, zittert und bleibt tot liegen. Entsetzt fliegt das Männchen näher, jammert schrecklich und flattert hin und her, und schließlich fliegt es zu dem Weibchen hin. Da schnellt der Otterkopf noch einmal aus dem welken Grase heraus, und gleich darauf liegt auch das Männchen tot da.

Zwei Tage und zwei Nächte verdaut die Otter, dann bekommt sie neuen Hunger. Eine Wasserspitzmaus, die am Grabenrande nach Raupen sucht, fällt unter den Giftzähnen, und ein Moorfrosch, der sich an der Sonne freut und auf Mücken jagt, hat dasselbe Schicksal. Auch das Zaunkönigweibchen, das in dem Schlehenbusche nach Spinnen sucht, stirbt einen schnellen Tod, und die Feldmaus, die hastig durch das alte Laub huscht, hält mitten im Laufen inne, piept auf und fällt um. Die alte Otter war gar nicht dumm, als sie sich diese Stelle hier als Stand wählte; Feld, Moor, Weide und Wald stoßen hier zusammen, und so gibt es Beute von aller Art, Feldmäuse, Waldmäuse, Zwergmäuse, Spitzmäuse, vielerlei Frösche für den Notfall und so manchen kleinen Vogel. Es läßt sich hier schon leben.

Das meinen die Hütejungen auch, die mit ihren Kühen angesungen kommen. Da ist der Wald, in dem es später allerlei Beeren und auch Nüsse gibt; hier ist der Teich, darin kann man baden, wenn es sehr heiß ist. Und dort ist die Moosbank, auf der es sich so weich sitzt, und von der aus man, ein tüchtiges Butterbrot in der Hand, so weit über die Feldmark und das Moor bis zu dem blauen Walde sehen, den Storch in der grünen Wiese und den Bussard am blauen Himmel beobachten kann. Hasen kommen an, Rehe ziehen vorüber, Kiebitze, Krähen und Elstern zeigen sich, am Graben huschen Eidechsen, quaken Frösche. Bunte Käfer rennen hastig über den Sandweg; wenn sie auffliegen, blitzen sie wie Edelsteine. Allerlei Schmetterlinge fliegen und rote Wespen, die Spinnen und Raupen in ihre Erdlöcher schleppen. Es ist sehr viel los an dieser Stelle.

Aber die Moosbank ist über Winter etwas baufällig geworden; sie muß ausgebessert werden. Konrad geht Moos holen, und Krischan räumt das alte Laub und das verwelkte Gras fort. Gerade als Konrad mit dem alten Sack, der ihm als Regenmantel dient, voller Moos zurückkommt, schreit Krischan auf und hält seinem Bruder mit kreidebleichem Gesicht die Hand entgegen. Er ist der Otter zu nahe gekommen, und sie hat ihn in den Finger gebissen. Im Sturmschritt rennen beide Jungen dem Dorfe zu. Der Vater unterbindet die Wunde, die Mutter macht einen Umschlag von dicker Milch, der Knecht spannt an, und der Vater fährt, so schnell die Pferde nur laufen können, zum Kirchdorfe, wo der Arzt wohnt. Der schneidet den Finger an und macht Einspritzungen, und nach vierzehn Tagen kann Krischan den Arm wieder bewegen; wenn aber ein Gewitter heraufzieht, tut ihm der Arm noch sehr weh.

Es war ein schwüler Maitag gewesen, als die Otter den Jungen biß, einer von den Tagen, an denen die Ottern Heißhunger haben. Da nun die Jungen bei der Moosbank soviel Unruhe gemacht hatten, ließ sich weder Maus noch Vogel blicken, und da es mit der Anstandsjagd nichts wurde, ging die Schlange auf die Pirsche. Sie war schon dicht bei dem Waldrande, in dessen Vorbüschen sie Jungvögel nach Futter piepen hörte, da flog ein großer Vogel aus der Zitterpappel. Es war der Bussard, der hier auf Mäuse lauerte. Froh über die fette Beute, stieß er herab, faßte die Otter hinter den Kopf und über den Rücken, biß ihr den Kopf entzwei und flog gerade auf, um sie seinen Jungen zuzutragen, da kam der Jäger um die Ecke, riß das Gewehr an den Kopf und schoß den guten Vogel tot.

Als er ihn aber aufnahm, sah er, daß der eine Kreuzotter in den Fängen hielt, und da schämte er sich doppelt; denn im vorigen Sommer war ihm seine Teckelhündin an dem Bisse einer Otter eingegangen.


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