Rudolf Lindau
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Rudolf Lindau

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VII

Der Monat Juni ist in Schanghai gewöhnlich sehr warm. Im Jahre 1866 war die Hitze ausnahmsweise stark. Wilson, dessen Gesundheitszustand bereits seit längerer Zeit eine Klimaveränderung verlangte, und den die letzten Ereignisse angegriffen hatten, war durch das Wetter sehr ermattet. Er konnte, nachdem die Familie Thorn Schanghai verlassen hatte, nicht mehr dazu gebracht werden auszugehen, und er war gewöhnlich allein, da er Besuche, mit Ausnahme der von Jenkins und Weber, zurückwies.

Am 9. Juni wurde ihm vom Telegraphenamt in Schanghai mitgeteilt, daß die Drahtverbindung zwischen Kiachta und St. Petersburg eine kurze Unterbrechung erlitten habe, und daß seine Depesche nach London mit einer Verzögerung ankommen werde. Dies konnte nicht als ein außergewöhnliches Ereignis bezeichnet werden und war von Weber seinerzeit in Erwägung gezogen worden. Dessenungeachtet wurde Wilson durch die Nachricht peinlich überrascht und zeigte darüber große Besorgnis.

Weber versuchte, ihn zu beschwichtigen. Er bewies ihm, daß es sich schlimmstenfalls nur um einen kurzen Aufschub handle, daß Irwing, dessen ganze Stellung in Schanghai wurzele, nicht plötzlich verschwinden könne, daß die »Bank von Kalifornien« ihn sicherlich und in jedem Fall auffinden werde, und daß Wilsons Besorgnis geradezu »kindisch, eines vernünftigen Mannes kaum würdig« sei.

Wilson wurde über diese und ähnliche Reden keineswegs ungehalten; aber er ließ sich auch auf keinen Wortwechsel ein und antwortete nur mürrisch und eigensinnig: »Das verstehen Sie nicht.« – Sein Gesundheitszustand wurde dadurch verschlechtert, daß die Wunde an seiner Hand immer noch nicht zuheilen wollte. Doktor Jenkins vermutete, daß er den nicht seltenen Fall einer sogenannten Lackvergiftung durch japanischen Firnis vor sich habe, und behandelte den Kranken demgemäß. Die Heilmittel schlugen jedoch nicht besonders an. Wilson war gezwungen, untätig zu sein. Er konnte weder schreiben noch reiten, noch kegeln, er langweilte sich und wurde darüber immer mißmutiger und reizbarer.

Am 21. Juni kam eine Depesche aus London an, welche meldete, daß das Telegramm aus Schanghai am 15. nach San Franzisko weiter befördert worden sei. Vier Tage später endlich, am 25., empfing Wilson das mit großer Ungeduld erwartete Telegramm der »Bank von Kalifornien«. Es besagte, daß Herr Irwing, zwei Tage vor Ankunft der Depesche aus London, mit der »Amerika« wohlbehalten angekommen sei und dem Direktor der Bank einen Besuch gemacht habe, um ihm zu sagen, er werde in zwei oder drei Monaten nach San Franzisko zurückkehren, Briefe, die für ihn einträfen, möge man aufheben. Er sei im nächsten Tage nach Sakramento weitergereist, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Nachforschungen, die man auf telegraphischem Wege in dieser Stadt angestellt hätte, seien ohne Erfolg geblieben.

Wilson las das Telegramm mit anscheinender Ruhe von Anfang bis zu Ende durch. Dann blieb er lange Zeit, starr vor sich hinblickend, unbeweglich sitzen. Darauf erhob er sich und ging, leise pfeifend, mehrere Male im Zimmer auf und ab. Er war sehr blaß, seine Augen leuchteten. – Endlich rief er den Boy und ließ sich ankleiden. Es kostete große Mühe und verursachte ihm heftige Schmerzen; aber er schien es nicht zu beachten. Er beschied den Stallknecht zu sich und befahl ihm, Excentric zu satteln.

Der Chinese sah seinen Herrn mit Verwunderung an. Es war zwei Uhr nachmittags, Schanghai war in eine glühende Atmosphäre eingehüllt. Excentric wurde seit vier Wochen täglich spazieren geführt. Niemand außer dem kleinen, federleichten Stalljungen, der ihm das Futter gab, hatte es gewagt, das bösartige, wilde Tier zu besteigen; daß Herr Wilson, der augenscheinlich krank und schwach war und seine rechte Hand nicht gebrauchen konnte, es reiten wollte, schien dem Manne unvernünftig. Er glaubte schlecht gehört zu haben und ließ sich den Befehl wiederholen. Selbst dann protestierte er noch, indem er demütig sagte: »Excentric ist seit vier Wochen nicht geritten worden . . . Es ist sehr heiß.« – Wilson stampfte zornig mit dem Fuße und sagte, man solle das Pferd sofort vorführen. – Nach wenigen Minuten stand es gesattelt im Hofe.

Wilson trug den rechten Arm in einer Schlinge und mußte, um in den Sattel zu kommen, auf einen Stuhl treten, da ihm die eine Hand jeden Dienst versagte und das unruhige Pferd sich nicht langsam besteigen lassen wollte. Der Stallknecht hielt dem Tiere mit seiner Jacke die Augen zu, während der junge Bursche, der besondere Freund des Pony, ihm den Hals streichelte. Es gelang auf diese Weise endlich, es etwas zu beruhigen; aber sobald es Wilson im Sattel fühlte, machte es einen so wilden Satz, daß es den Stallknecht, der die Zügel hielt, beinah umwarf und mehrere Schritte mit sich fortschleifte. Dann blieb es heftig zitternd, laut schnaufend, die Beine ausgespreizt, stehen.

Der Stallknecht sagte noch einmal in flehendem Tone: »Herr, reiten Sie nicht!«

Wilson rief ungeduldig: »Gib ihm den Kopf frei!« – und ritt sodann, ruhiger als es die Umstehenden erwartet hatten, zur Hoftür hinaus.

Die europäische Niederlassung in Schanghai ist nicht groß, und man gelangt daraus schnell in das flache, freie Land. Sobald Wilson dort angekommen war, drückte er dem Pferde die Hacken in die Weichen und jagte in wütendem Karriere mit ihm fort. Excentric ging durch, und Wilson machte nicht den leisesten Versuch, ihn aufzuhalten. Er hielt die linke Hand niedrig, so daß sie den Sattelknopf beinahe berührte, und stand hoch in den Bügeln über dem Sattel, als gelte es, in einem Wettrennen zu reiten. Das Pferd flog über Hecken und Gräben, seinen wütenden Lauf in schnurgrader Richtung fortsetzend. Wilson atmete tief und regelmäßig. Eine eigentümliche Ruhe, ja ein Ausdruck von Befriedigung lag auf seinen abgemagerten Zügen.

Die guten chinesischen Ponies sind sehr kräftig und ausdauernd. Excentric fühlte das leichte Gewicht, das er auf dem breiten Rücken trug, kaum, und erst als er Schanghai weit hinter sich gelassen hatte, ermattete er und verfiel aus der ungestümen Gangart in regelmäßigen langgestreckte Galopp. Wilson fühlte, daß er das Pferd wieder in der Hand habe und versetzte es allmählich in ein langsameres Tempo und endlich in Schritt.

Die Sonne brannte unbarmherzig. Alles, was atmete, hatte sich vor ihren Strahlen verborgen. Die Felder waren leer. Excentric, mit Schaum und Schweiß bedeckt, ging, den trotzigen Kopf gesenkt, träge und ermattet in der Richtung nach Schanghai zurück. Es war nahe an sechs Uhr, als Wilson dort wieder einzog.

Im Ma-lu, der Hauptstraße der chinesischen Neustadt, begegnete er dem Doktor Jenkins, der, in weißem Anzug, einen großen Sonnenschirm in der Hand, bedächtig aus einem Hause trat und soeben in seinen Wagen steigen wollte. Er blieb wie versteinert stehen, als er Wilson erblickte. Dieser hatte sein Pony angehalten.

»Sind Sie von Sinnen?« rief Jenkins. »Wo kommen Sie her?«

»Ich habe einen kleinen Ritt gemacht.«

»Einen Ritt bei diesem Wetter . . . bei Ihrem Zustande? – Sie sehen erschrecklich aus! Dies ist wirklich zu arg! Man sollte meinen, Sie seien gestern hier angekommen, wenn man sieht, wie Sie sich benehmen.«

»Ich konnte es zu Hause nicht aushalten. Ich mußte mir etwas Bewegung machen. Ich hoffe, es hat mir gut getan.«

»Ich wünsche es. – Ich bin in zehn Minuten bei Ihnen.«

Wilson lächelte und nickte und ritt weiter. Es war ein ganz eigenes Lächeln, wie man es bei Sterbenden manchmal sehen kann: unendlich sanft, traurig, hoffnungslos.

Wilsons chinesische Dienerschaft wartete ungeduldig auf die Rückkehr »des Herrn«. Der Stallknecht hatte eine lange Unterhaltung mit dem Comprador und dem Boy gehabt und hatte diesen auseinandergesetzt, wie unvernünftig der Ritt auf Excentric sei. Bei dem Pferde hätte man mehr als genug für zwei gesunde Hände zu tun, meinte er, und er fürchte Unglück. Ein zufriedenes Lächeln flog über sein flaches, gelbes Gesicht, als er Wilson unversehrt zurückkommen sah.

»Zu sehr heiß«, sagte er nur. »Der Herr wird sich ermüdet haben.«

Dieser antwortete nicht und trat in das Haus. Aber kaum hatte er zwei Schritte getan, als er plötzlich erbleichte, taumelte und umfiel. Der Boy, der ihm auf den Hacken folgte, fing ihn in seinen Armen aus. Er rief einen andern Diener zu Hilfe, und die zwei trugen den anscheinend leblosen Körper auf ein Ruhebett. Wenige Minuten darauf erschien Doktor Jenkins.

Wilson war gefährlich krank. Jenkins verließ ihn nur auf wenige Stunden; in seiner Abwesenheit wachte Weber bei ihm. Wilson war besinnungslos und lag mit halbgeöffneten Augen, die nichts mehr sahen, kurz und schwer atmend da. Bei jedem Atemzuge machte er eine schwingende, regelmäßige Bewegung mit dem Kopfe von einer Schulter zur andern. Es war entsetzlich, ihn in diesem Zustande zu sehen.

Am Abend, um zehn Uhr, trat Jenkins einen Augenblick in den Klub. Er war sofort von allen Anwesenden umringt, die Nachricht von Dick Wilson haben wollten.

»Ich sehe keine Rettung«, sagte Jenkins. – Dann, nach einer kurzen Pause, schlug er mit der Hand heftig auf den Tisch und setzte finster hinzu: »Heute früh war der Mensch noch kerngesund, und es fehlte ihm nichts, als was uns allen fehlt: eine ordentliche Dosis frischer, reiner Luft. – Lunge, Leber, Herz – alles war gesund bei ihm. Er war etwas angegriffen wie jeder, der sieben Sommer hintereinander in diesem heißen Neste verlebt hat; aber eine Reise nach Europa hätte ihn in kurzer Frist wieder hergestellt. Er hatte noch für fünfzig Jahre Leben in sich.«

»Was hat ihn krank gemacht?«

»Ein Sonnenstich. – Und ist das zu verwundern? Wir hatten heute über dreißig Grad im Schatten, und er ist dabei im freien Felde wie ein Wahnsinniger umhergeritten. Sein Stallknecht sagt mir, er sei über drei Stunden unterwegs gewesen, und Excentric habe ausgesehen, als ob er lange und schnell querfeldein galoppiert worden wäre. – Wilson mußte nicht recht bei Sinnen sein.«

Doktor Jenkins begab sich vom Klub wieder zu seinem Patienten. Der Zustand desselben hatte sich nicht verändert. Er atmete laut und schwer, und der Kopf bewegte sich noch immer regelmäßig, ohne Unterbrechung, wie ein in Schwingung versetztes Pendel.

Gegen Mitternacht wurde das Atmen kürzer und leiser. Weber und Jenkins standen mit gefalteten Händen am Bette des Sterbenden. Leiser und leiser kam und ging der Atem – jetzt war er nur noch ein kaum vernehmbares Röcheln. – Dann lag der Kopf plötzlich unbeweglich auf dem vom Todesschweiß genäßten Kissen . . . Das Atmen hatte aufgehört.

»Tot«, flüsterte Jenkins.

Weber bedeckte sich das Gesicht mit der Hand und weinte.

 

Wilson hatte ein Testament gemacht, das auf dem englischen Konsulate hinterlegt worden war, und zwar vor einigen Monaten bereits, als er den Plan gefaßt hatte, mit Irwing nach Europa zurückzukehren. Er ernannte darin Irwing – in dessen Abwesenheit Weber – zu seinen Testamentsvollstreckern und vertraute diesen die Liquidation seines Geschäftes an für den Fall, daß sie zur Zeit seines Todes noch nicht beendet sein sollte. Sein Vermögen an barem Gelde vermachte er seinem Vater, Weber hinterließ er seine Taschenuhr und einen wertvollen Ring, den dieser ihm vor Jahren zur Erinnerung an die Fahrt nach Su-tschau geschenkt hatte. Alles andere, was ihm gehört hatte: einige Schmucksachen, Silberzeug, Bücher, Waffen, Sättel, Pferde usw., sein halber Anteil endlich an dem Mobiliar des von ihm und Irwing gemeinschaftlich bewohnten Hauses, sollten seinem »guten Freunde Francis Irwing« zufallen.

In Wilsons Schreibpult fand Weber einen versiegelten Umschlag mit der Aufschrift: »Nachschrift zu meinem Testamente«. Er enthielt auf einem kleinen Bogen Papier, unter dem Datum vom 6. Juni, dem Tage der Abreise von Mary Thorn, folgende kurze Bestimmung: »Aus dem Anteile meines Vermächtnisses an meinen Vater behalte ich eine Summe von fünfhundert Pfund vor. Ich bestimme sie zum Ankauf eines Armbandes, das ich Fräulein Mary Thorn zum Andenken an ihren Aufenthalt in Schanghai anzunehmen bitte.«

Darunter stand ein »Postskriptum«, zwei Tage später datiert:

»Ferner zweihundert Pfund aus demselben Teile meiner Hinterlassenschaft zum Ankauf eines Ringes für meine liebe Kusine May Foster.«

Weber schüttelte nachdenklich den Kopf, als er dies las.

Mit der nächsten amerikanischen Post schrieb er, nachdem er bereits unmittelbar nach Wilsons Tode nach San Franzisko telegraphiert hatte, folgenden Brief an Irwing, den er an die »Bank von Kalifornien« richtete.

Schanghai, den 7. Juli 1866.

»Lieber Irwing!

Ich bestätige mein Telegramm vom 26. vorigen Monats, in dem ich Ihnen den Tod unseres armen Freundes Wilson meldete. Ich schreibe Ihnen heute, um Ihnen ausführliche Mitteilungen über den Trauerfall zu geben.

Wilson war, wie Sie selbst bemerkt haben werden, seit einiger Zeit angegriffen. Jenkins, der ihn seit Jahren kannte, und der ihn wie seinen eigenen Bruder gepflegt hat, sagte mir schon vor mehreren Monaten, Wilson müsse Schanghai endlich einmal verlassen. Er mißbilligte entschieden, daß dieser für die letzten Rennen trainierte, und ich hörte, wie er ihm den Rat gab, ähnliche gefährliche Spielereien jüngeren und frischeren Leuten zu überlassen und nicht zu vergessen, daß man nach siebenjährigem Aufenthalt in Schanghai ein ›alter Resident‹ sei. Wilson antwortete damals, es sei dies das letzte Mal, daß er chinesische Ponies reite, da er vor dem Herbstrennen Schanghai verlassen haben werde, und Jenkins möge ihm dies Vergnügen nicht durch übertriebene Vorsicht verderben.

Das Trainieren griff ihn, wie der Doktor es vorhergesehen hatte, sehr an. Nach den Rennen schien er sich zu erholen; aber bald kam ein Rückschlag. Ihr Unwohlsein beunruhigte ihn in hohem Maße, und er wurde dadurch in einer Weise aufgeregt, die nur durch seinen bereits geschwächten Gesundheitszustand erklärt werden kann. Jenkins sagt mir, er habe ihm förmlich das Haus eingelaufen, und obgleich er zwanzig Male gehört habe, daß Ihr Zustand kein bedenklicher sei, so habe er doch mit ängstlicher Besorgnis bei jedem Besuche die Frage wiederholt, was Ihnen fehle?

Bald nach Ihrer Abreise glaubte er die Entdeckung zu machen, daß Sie Fräulein Thorn lieben. Er war darüber sehr unglücklich: nicht etwa seinetwegen, sondern weil er annahm, daß seine Bewerbung um die Hand des jungen Mädchens Sie krank gemacht und aus Schanghai vertrieben habe. – Ich darf, ohne indiskret zu sein, von der Angelegenheit sprechen, da Wilson mir alles anvertraute, was ihm in dieser Beziehung das Herz bekümmerte. Es wird Sie deshalb auch nicht in Erstaunen setzen, wenn ich Ihnen mitteile, daß ich seinen letzten Brief an Sie, dem Inhalt nach, kenne. Ich weiß, daß Wilson zu Ihren Gunsten auf Fräulein Thorn verzichtet hat. Ob er dies Opfer mit Leichtigkeit brachte, vermag ich nicht zu sagen. Er hatte ein starkes Herz und konnte wohl verbergen, was er geheim halten wollte. Aber ich kann Sie versichern, daß er ohne Zögern, unbedingt entsagte, sobald er die Überzeugung gewonnen hatte, daß er, gegen seinen Willen, Ihr Nebenbuhler gewesen war.

Von diesem Augenblick an schien er nur noch einen Wunsch zu haben, den, Sie bald wiederzusehen. Seine Sorge um Sie verließ ihn nie. Die Aufregung nagte an ihm, er wurde krankhaft gereizt. – Sein Zustand verschlimmerte sich noch infolge eines körperlichen Leidens. Er hatte sich eine Verletzung an der rechten Hand zugezogen, die sehr schmerzhaft war, und die ihn verhinderte zu arbeiten oder sich in anderer Weise zu zerstreuen.

Als er erfuhr, daß sein Telegramm an Sie verspätet befördert worden sei, war er ganz außer sich. Es gelang mir nicht, ihn zu beruhigen, obgleich ich mir große Mühe gab, um dies zu erreichen. Das letzte Telegramm aus Kalifornien endlich, das ihm anzeigte, daß Sie San Franzisko verlassen hätten, ohne Ihre Adresse aufzugeben, scheint ihn vollständig verwirrt zu haben.

Ich selbst habe ihn seit Ankunft des Telegramms nicht mehr bei Besinnung gesehen und kann nur Vermutungen aussprechen. – Der Boy, der ihm die Depesche gebracht hatte, erzählte mir, Wilson habe ihn bald darauf gerufen, um sich beim Anziehen helfen zu lassen. Dann habe er, zwischen zwei und drei Uhr nachmittags, bei zweiunddreißig Grad Hitze, Excentric satteln lassen und sei erst nach vier Stunden von seinem Ritt zurückgekehrt. Beim Absteigen wäre er ihm schwerfällig vorgekommen; aber er habe dies darauf geschoben, daß sein Herr sich der rechten Hand nicht bedienen konnte. Kaum sei Wilson in das Haus getreten, so sei er umgefallen.

Mehr weiß niemand zu erzählen. Wilson hat kein Wort mehr gesprochen. Er ist nicht wieder zur Besinnung gekommen. Es wird Sie beruhigen zu erfahren, daß sein Tod, der für seine Freunde so traurig ist, für ihn schmerzlos war. – Wir haben ihn am 28. morgens um sechs Uhr beerdigt. Die ganze fremde Gemeinde ist seinem Sarge gefolgt.

Einliegend überreiche ich Ihnen eine Abschrift des Testaments. Ich habe den Wünschen unseres Freundes gemäß die Vollstreckung desselben vorläufig übernommen; aber ich vermute, daß Sie sich die Ehre nicht nehmen lassen wollen, die letzten Bestimmungen des Verstorbenen auszuführen, und ich erwarte Sie deshalb mit dem nächsten Boote von San Franzisko.

Stets der Ihrige                
Julius Weber.«

Sechs Wochen nach Abgang des Briefes erhielt Weber ein Telegramm aus Kalifornien: »Ich werde Anfang Oktober mit der ›Japan‹ in Schanghai eintreffen – Irwing.«

Irwing hatte bei seiner Abreise von China im Monat Mai elend und traurig ausgesehen, und Weber bemerkte keine Veränderung an ihm, als er am bestimmten Tage in Schanghai eintraf. Er erzählte Weber, daß er gegen Anfang August von einem Ausfluge in den Prärien und in der Sierra Nevada nach San Franzisko zurückgekehrt sei und dort Wilsons Telegramm und letzten Brief, sowie Webers telegraphische und schriftliche Mitteilungen vom Tode seines Freundes gleichzeitig vorgefunden habe. – Kein Wort der Klage kam über seine Lippen. Aber als er mit Weber in das kleine Arbeitszimmer trat, in dem Wilson ihm an demselben Pulte sechs Jahre lang gegenüber gesessen hatte, da warf er einen Blick hilfloser Verzweiflung um sich, und dann bedeckte er das Gesicht mit den Händen und beugte den Kopf nieder auf den verlassenen Tisch und weinte laut.

Er blieb einen Monat in Schanghai, ohne außer Weber und Jenkins irgend jemand zu sehen. Von diesen ließ er sich nach dem Kirchhof an das Grab seines Freundes führen, und dorthin kehrte er während seiner Anwesenheit in Schanghai täglich zurück. Den Namen Mary Thorn sprach er nicht ein einziges Mal aus. Auch Weber erwähnte ihrer in Irwings Gegenwart nicht. Er hatte, ohne mit diesem Rücksprache zu nehmen, das testamentarisch vermachte Armband durch Wilsons Vater in London kaufen und an Fräulein Thorn abschicken lassen, und es war ihm mitgeteilt worden, daß »die junge Dame ein passendes Dank- und Beileidsschreiben« an den Vater gerichtet habe. Weber betrachtete damit die Sache für erledigt. Die hübsche Amerikanerin war ihm unsympathisch geworden.

Zu Anfang des Monats November kehrte Irwing nach Kalifornien zurück. Er hatte alles Geschäftliche gut und beinahe vollständig geordnet, und Weber übernahm gern, das wenige, was noch zu tun blieb, zu besorgen. Die meisten der ihm von seinem verstorbenen Freunde hinterlassenen Sachen ließ Irwing sorgfältig verpackt nach England an den alten Herrn Wilson schicken, mit dem er seit Jahren in Briefwechsel stand, und den er bat, diese Reliquien für ihn aufzuheben. Wilsons Jagdflinte und Büchse, dessen Revolver, das in Su-tschau eroberte große Messer und einen soliden Sattel, den Wilson zum Trainieren zu benutzen pflegte – diese Gegenstände und einige kleine Schmucksachen nahm Irwing mit sich nach Amerika.

Mehrere Jahre vergingen, ohne daß man in Schanghai von ihm hörte. Weber hatte inzwischen sein Geschäft in China aufgegeben und war nach Hamburg, seiner Heimat, zurückgekehrt, um dort sein wohlerworbenes Vermögen in Ruhe zu genießen. Er hatte in London Wilsons Vater und Schwester besucht, aber auch diese waren seit 1866 ohne Nachricht von Irwing.

Die geliebtesten Toten werden mit der Zeit vergessen, und den Abwesenden geht es in dieser Beziehung wie den Toten. Im Jahre 1870 tauchte der Gedanke an den verstorbenen Wilson und den verschollenen Irwing nur noch selten in Webers Geiste auf. – In China dagegen, wo man weniger Zerstreuung hat als in Europa und deshalb auch alten Freuden und Freunden ein treueres Andenken bewahrt, sprach man im englischen Klub und besonders im »Renn-Klub« noch häufig von den alten Helden der Rennbahn. – Arthur Mitchell, der frühere Buchhalter von Wilson & Irwing, fand deshalb auch einen aufmerksamen Zuhörerkreis, als er im Frühjahr 1871, am Tage seiner Rückkehr von England, wo er einen sechsmonatigen Urlaub verbracht hatte, im »Bar-Room« des Klubs gesprächsweise erwähnte:

»Habe ich schon gesagt, daß ich Irwing in Kalifornien gesehen habe?«

»Nein. – Wo sahen Sie ihn? – Was treibt er? – Was hat er Ihnen gesagt?«

Mitchell, von allen Seiten mit Fragen bestürmt, stellte sich mit dem Rücken gegen die »Bar« und berichtete wie folgt über sein Zusammentreffen mit Irwing:

»Ich bin, wie Sie sich erinnern, via San Franzisko nach Hause gegangen. Ich wollte den Pacific Rail-Road kennen lernen und wollte den alten Leuten zu Hause erzählen können, daß ich die Reise um die Welt gemacht habe. Ich hatte einen Kreditbrief auf die ›Bank von Kalifornien‹ und lernte, als ich mich dort vorstellte, in dem jüngern Direktor einen gefälligen Menschen kennen. Als ich ihm sagte, daß ich früher für Wilson & Irwing häufig mit ihm korrespondiert hätte, antwortete er mir, es habe ihm leid getan, daß das junge Haus, das so schnell vorwärts gegangen, nach wenigen Jahren bereits wieder verschwunden sei. Ich erzählte ihm, wie Wilson gestorben ist, und fragte, ob er niemals wieder etwas von Irwing gehört habe. – Er antwortete mir, Irwing habe ein kleines Guthaben auf der Bank und käme in langen Zwischenräumen, vielleicht alle Jahre einmal, unerwartet nach San Franzisko, um Geld zu hinterlegen oder zu entnehmen. Er sei ein kräftiger Mann, dem man es ansehe, daß er viel in der freien Luft lebe, denn er sei so braun wie ein Indianer. Er sei äußerst zurückhaltend, und er, der Direktor, habe keine Ahnung davon, wo und wie er eigentlich lebe.

›Viel Fragen ist nicht unsere Sache,‹ meinte er, ›denn wir haben unter unseren Kunden so manchen, der nicht gern von seiner Vergangenheit oder von seinen Geschäften spricht. Es ist deshalb eine allgemeine Regel bei uns, daß wir uns um Leute, die keinen Kredit beanspruchen, nicht mehr bekümmern, als ihnen dies angenehm zu sein scheint. – Wären Sie vierzehn Tage früher gekommen, so hätten Sie Ihren alten Prinzipal hier angetroffen, denn es sind gerade zwei Wochen her, daß er hier am Pulte neben mir stand und eine Quittung für ein paar hundert Dollars unterschrieb, die er entnommen hatte. Der Portier im Occidental-Hotel, wo er abgestiegen war, sagte mir, er habe ein Billet für ihn nach Ogden gelöst. Es wäre also wohl möglich, daß Sie ihn "irgendwo" auf dem Central-Road anträfen.‹

Es ist ein weiter Weg zwischen San Franzisko und dem Salzsee, und ich hatte wenig Hoffnung meinen Chef wiederzusehen. Der Zufall begünstigte mich.

In einem kleinen Orte, inmitten der Humboldtwüste, wo wohl niemals irgend jemand daran gedacht hat, sich zu seinem Vergnügen aufzuhalten, sollte gefrühstückt werden. – Als wir uns in der unmittelbaren Nähe der Station befanden und der Zug bereits langsam fuhr, drängten sich alle Reisenden auf die Plattform der Wagen, um so schnell wie möglich zum Büfett gelangen zu können. – Es ist nämlich mit dem Restaurationswesen in der Mitte von Amerika noch nicht sonderlich gut bestellt, und vorsichtige Reisende, die Hunger haben, richten sich immer so ein, daß sie mit unter den ersten einen Stuhl und ein Gericht bekommen. – Ich befand mich im letzten Wagen, dicht an der Treppe, und wartete darauf, ohne Gefahr abspringen zu können. Da sah ich im langsamen Vorbeifahren, rechts vom Gleis, dem Bahnhofsgebäude schräg gegenüber, eine Gruppe, aus einem Mann, einem Pferd, einem Maulesel und zwei großen schottischen Windhunden bestehend. Das Pferd war gesattelt, der Maulesel mit einem Zelte, mit Decken, Schaufeln, einer Art und ähnlichen Gerätschaften bepackt. Ich sah das alles über meine Schulter, ohne sonderlich aufzupassen. – Der Mann, der ein weites, rotes Flanellhemd trug, drehte dem Zuge den Rücken zu und war damit beschäftigt, etwas am Sattel seines Pferdes festzuschnallen. Die Hunde, ein Paar schöne starke Tiere, lagen links und rechts, die Nasen zwischen den Vorderbeinen, neben ihm.

Als ich zwei Minuten später beim Frühstück saß, kamen meine Gedanken unwillkürlich wieder auf den Mann zurück, den ich draußen gesehen hatte. Es war in der Erscheinung etwas mir Bekanntes, das mich an alte Zeiten erinnerte; aber ich konnte mir nicht klar machen, was dies sei. – Ich hatte nicht viel Muße zum Grübeln und aß unverdrossen weiter, als plötzlich zum Einsteigen gerufen wurde. – Wenn dies einmal geschehen ist, so hat man in Amerika nicht viel Zeit zu verlieren, denn der Zug geht gewöhnlich gleich darauf fort, ohne sich darum zu kümmern, ob seine Reisenden wieder eingestiegen sind oder nicht. Ich bezahlte also schnell und sprang in meinen Wagen – und in demselben Augenblick setzte sich der Zug auch schon in Bewegung.

Zwanzig Schritte von mir stand der Mann mit seinen Packtieren und Hunden. Er war mit seiner Arbeit fertig und hatte sich dem Zuge zugewandt, um ihn abfahren zu sehen. Die Sonne schien ihm hell ins Gesicht, und ich erkannte Irwing. Ich rief ihn so laut ich konnte, und er wußte sofort wer ich war. – Er winkte mit der Hand und rief zurück: ›Gruß an die Freunde in Schanghai!‹ Und plötzlich, ehe ich mich dessen versah, war er auf sein Pferd gesprungen und galoppierte neben uns her.

Eine lange Unterredung konnten wir nicht haben, denn er ritt ein schweres Tier, das mehr zum Lasttragen als zum Wettrennen mit einer Lokomotive gebaut war; – aber zwei oder drei Minuten hielt er es mit uns aus. Da fragte er nach Weber und Jenkins und Ralston und nach zwei oder drei anderen, und auch nach seinem alten Comprador und Boy, ohne mir viel Zeit zu geben, mich nach ihm zu erkundigen.

›Wie geht es Ihnen?‹ rief ich ihm endlich zu. – ›Gut!‹ antwortete er; aber nun war er schon einige fünfzig Schritte hinter dem Zuge. Da richtete er sich in den Steigbügeln in die Höhe und setzte beide Hände an den Mund und rief aus voller Brust, so daß alle Leute im Zuge die Köpfe aus den Fenstern steckten: ›Gruß an die Freunde in Schanghai! Gruß an den Rennklub-Vorstand!‹ – Darauf hielt er sein Pferd an und blieb unbeweglich stehen, bis er mir aus den Augen verschwand.

Er sah gut aus auf dem hohen schwarzen Pferde, mit einer Büchse auf dem Rücken und einem Revolver und einem großen Messer im Gürtel. Er sah nicht aus wie einer, der sich vor Indianern oder Goldgräbern zu fürchten hat. Die beiden langhaarigen Windhunde, die mitgelaufen waren, und die das Wettrennen noch lange Zeit ausgehalten haben würden, standen zur Rechten und Linken des Pferdes. Es war eine hübsche Gruppe, und wenn ich ein Maler wäre, so hätte ich sie gezeichnet: die flache, baumlose öde Ebene, und in der Mitte der einsame, bewaffnete Reitersmann mit seinen zwei Hunden.«

Man sprach an jenem Abend und am folgenden Tage noch viel in Schanghai von dem Zusammentreten zwischen Mitchell und Irwing. – Strachan, Webers Nachfolger in dem Ehrenamt eines Sekretärs des »Renn-Klub«, ein enthusiastischer Verehrer der Reitertalente des verstorbenen Wilson und seines verschollenen Freundes, war der Meinung, daß irgend etwas geschehen müsse, um »dem verehrten ehemaligen Mitgliede des Klubs einen Dank für den übersandten Gruß und einen Gegengruß zu übermitteln«. Es wurde daher in der nächsten öffentlichen Sitzung des Vorstandes vorgeschlagen und einstimmig angenommen, daß »der ehrenwerte Sekretär, Herr James Strachan, ermächtigt sei, aus den Mitteln des Renn-Klubs eine Summe von einhundertundfünfzig Dollars zu verwenden, um in den vorzüglichsten amerikanischen und englischen Blättern einen Gruß der Gemeinde von Schanghai an das abwesende Mitglied des Renn-Klubs, Herrn Francis Irwing zu veröffentlichen.«

Diese Anzeige erschien unter andern im »New York Herald« und in der »Times«, und dort las sie auch Julius Weber, der dabei an seinen alten Freund zurückdachte, und Frau Henri Benson, geborene Mary Thorn.

Sie hatte ein volles Jahr auf Irwing gewartet. Sie hätte fünfzig Jahre warten können, ohne daß er sich ihr je wieder genaht hätte. Er wollte sein Glück nicht dem Tode seines Freundes verdanken. Mary konnte das nicht wissen und würde es nicht verstanden haben, wenn man es ihr gesagt hätte. – Sie wurde des Wartens müde und fing an, wie ihre Standes- und Altersgenossinnen dies taten, sich von der eleganten New-Yorker Herrenwelt den Hof machen zu lassen. Sie galt für die »Belle« der großen Stadt, und sie fand, daß »Flirtation« ein höchst angenehmer Zeitvertreib ist. Es fehlte nicht an Bewerbern um ihre Hand. Einmal hieß es, sie werde den reichen Merival heiraten, dann den noch reichern Burton, schließlich verlobte sie sich mit dem allerreichsten Benson.

Dieser, ein hochschulteriger, engbrüstiger junger Mann, mit langen, dünnen Beinen, die er, wenn er sich setzte, in seltsamer Weise kreuzte, so daß es aussah, als schlinge er damit einen Knoten, – hatte ein vornehmes schmales, knochiges Gesicht, mit einer großen Adlernase, fein wie ein Messerrücken, schwarze stechende Augen, schmale blutlose Lippen und ein langes, spitzes Kinn. Er konnte seine Braut im Zentralpark mit zwei Vollbluttrabern spazieren fahren, welche die englische Meile in drei Minuten zurücklegten, und die zehntausend Dollars gekostet hatten. Er beschenkte sie mit den kostbarsten Spitzen, mit Perlen und Diamanten, um die eine Königin sie hätte beneiden können. Sie war sehr schön an ihrem Hochzeitstage, sehr stolz auf die Bewunderung, die sie erregte und vollständig zufrieden.

Man findet Witwen berühmter großer Männer, die nach dem Tode des geliebten Gatten, sofort nach Ablauf der gesetzlichen Frist, irgendeinen beliebigen Gecken geheiratet haben und mit diesem in glücklicher Ehe leben. – Irwing war kein großer berühmter Mann gewesen, und Mary Thorn hatte ihm niemals angehört. Es ist kein Wunder, daß sie ihn nicht zu lange betrauerte. – Auf ihren Reisen nach London und Paris, wo sie sechs Monate des Jahres zubrachte, hatte sie die größten Erfolge. Prinzen von königlichem Geblüt und aus der Finanzwelt, ja auch Prinzen der Kunst und Wissenschaft umringten sie und brachten ihr ihre Huldigungen dar. Sie empfing Sonette auf ihre »wunderbaren, blauen Augen«, ihr »goldenes Loreleihaar«, ihren »rosigen Mund«. Man verglich sie mit der Sonne, dem Mond, den Sternen, mit verschiedenen Blumen und mehreren Göttinnen. – Wie konnte da das Andenken an den schlichten Irwing bestehen, der ihr nie ein zärtliches Wort gesagt hatte?

Und doch dachte sie noch manchmal an ihn, und dieser Gedanke machte ihre Augen träumerisch und noch schöner blicken und verlieh ihrem Antlitz einen noch größern Reiz. Sie wußte es und verscheuchte das verschönernde Bild nicht und lächelte wehmütig und geheimnisvoll, wenn einer ihrer Anbeter teilnehmend fragte, weshalb sie so traurig sei?

Das Armband, das Wilson ihr vermacht hatte, verließ sie nie. Sie trug es mit jedem Schmuck, und man wußte, daß ihre bezaubernde Schwermut damit in irgendeiner Verbindung stehe: denn ihr Narr von Mann hatte mit wichtiger Miene angedeutet, daß sich an diesen Schmuck eine höchst tragische Geschichte knüpfe. Er war stolz auf den Roman im Leben seiner Frau, und es hätte ihn nicht verdrossen, wenn ein halbes Dutzend Wilson und Irwing ihretwegen Glück und Leben eingebüßt hätten. Das machte sie noch interessanter und ihn noch stolzer, sie zu besitzen.

Eines Abends, als Frau Henri Benson in Paris in der großen Oper in ihrer Loge saß, und viele Blicke auf ihre strahlende Erscheinung gerichtet waren, während sie, nachlässig zurückgelehnt, das Haus mit halbgeschlossenen müden Augen musterte, trat das Bild des Erstgeliebten unerwartet und lebhaft vor ihre Seele. – Sie sah, wie im Traume, die hohe, männliche Gestalt, das stille, ernste Gesicht mit den ruhigen Augen . . . Und plötzlich ging er in leiblicher Gestalt an ihr vorüber.

Der Vorhang war während eines Zwischenaktes gefallen, und die Zuschauer in den Sperrsitzen verließen langsam den Saal, um im Foyer die übliche Promenade zu machen . . . Und da, ihr gerade gegenüber, ging Irwing!

Sie erkannte ihn auf der Stelle. Er war wenig verändert, noch beinahe ebenso wie sie ihn in Yokohama vor seiner Krankheit gesehen hatte. Nur war er von der Sonne stark gebräunt und erschien ihr, im Vergleich zu den zierlichen Stutzern, in deren Mitte er sich befand, noch herrlicher und stolzer. Er bewegte sich zwischen den Sitzen, langsam seitwärts gehend, der Tür zu, das hellbeleuchtete Gesicht voll der Loge zugewandt, in der sie sich befand. – Sie beugte sich weit über die Brüstung, sie flüsterte seinen Namen, sie hätte ihn rufen wollen. Ihre Nachbarn rechts und links warfen verwunderte Blicke auf sie. Sie kümmerte sich um nichts. Sie sah nur ihn. Noch einen Schritt – und er war aus der Tür verschwunden.

Sie erhob sich schnell und nahm den Arm eines der Herren, die mit ihr in der Loge saßen, und eilte in das Foyer. Sie suchte dort überall, sie wartete noch lange, als der nächste Akt bereits angefangen hatte, und sie setzte ihren Begleiter, einen wirklichen Herzog, in maßloses Erstaunen, indem sie auf eine höfliche Bemerkung, die er ihr machte, kurz angebunden antwortete: »Lassen Sie mich jetzt in Ruhe!« Sie kehrte endlich in ihre Loge zurück und musterte von dort aus einen jeden Sitz im Parkett. – Ein einziger Platz, gerade in der Reihe, wo Irwing ihr erschienen war, blieb leer. Es mußte wohl der seine gewesen sein, denn all ihr Suchen und Spähen blieb erfolglos. Sie sah ihn nicht wieder, und sie hat ihn auch seitdem nie wieder gesehen. – Er ist verschollen.

Die Welt ist klein, und es hält schwer, sich darin aus dem Wege zu gehen. Irwing und Mary sind jung und werden sich wohl noch einmal begegnen. Aber was kann das nützen? – Sie sind bis zum Grabe voneinander geschieden. – Beider Leben ist ein anderes geworden, als sie gewünscht hatten. Sie mögen glauben, daß dies ihr Unglück sei. – Aber ist es ein Unglück? Ist nicht vielleicht am Ende doch alles am besten gerade so, wie es schließlich gekommen ist? – » Can see, can sabee« sagen die Philosophen in Schanghai. – Das, was nie geschehen ist, kann nicht beurteilt werden – und den Verlust eines Gutes, das man nie besessen hat, soll man nicht beklagen.


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