Rudolf Lindau
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Rudolf Lindau

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II

Das Boot, das Weber den beiden Abenteurern zur Verfügung gestellt hatte, war am 1. August von Schanghai abgefahren. Wilson und Irwing hatten sich gegen Mitternacht in die Kajüte zurückgezogen und schliefen dort. Die beiden chinesischen Diener, die sie begleiteten, ruhten ebenfalls. Die Bootsleute allein wachten, ihre Arbeit mit kurzen, halblauten Rufen und dem tiefen, eigentümlichen Stöhnen und Ächzen begleitend, mit dem chinesische Lastträger und Schiffer jede anstrengende Arbeit zu verrichten pflegen. – Es war stille, tiefe Nacht geworden. Die leise plätschernde Flut, von vier schweren, breiten und langen Rudern in Kadenz geschlagen, trug das kleine Fahrzeug rasch vorwärts. Das Geräusch der großen Stadt war längst verstummt. Der volle Mond war aufgegangen. Sein Licht lag wie ein silberner Nebelschleier auf der weiten Ebene, die der Kanal durchschneidet, und spiegelte sich in den wellenlosen schwarzen Wassern. Von Zeit zu Zeit glitt das Boot an einer großen dunklen Junke vorüber, die vor Anker lag, oder begegnete einem andern Fahrzeuge. Dann bellten die wachsamen, wolfsähnlichen Hunde, welche die chinesischen Schiffer mit sich führen, und die den Fremden auf große Entfernung wittern, und die Leute der beiden Boote wechselten einige Worte miteinander. Das verhallte aber bald, und dann versank wieder alles in den tiefen Frieden der Nacht.

Der Tag dämmerte bereits, als Wilson und Irwing, die sich angekleidet auf ihre Betten geworfen hatten, durch lautes Schreien aus dem Schlafe geweckt wurden. – Man muß in China gewesen sein, um zu wissen, welchen Lärm ein Wortstreit machen kann. – Wilson und Irwing waren daran gewöhnt und wurden dadurch nicht beunruhigt. Sie verließen die Kajüte und begaben sich langsam auf das Verdeck, um zu sehen, was den Lärm verursachte.

Das Boot lag vor einer Brücke, die durch eiserne Ketten und einen schweren hölzernen Balken versperrt war. Der Brückenwärter, von einem Dutzend schreiender und gestikulierender Gehilfen umgeben, weigerte sich, diese Hindernisse fortzunehmen. Wilson, der einige Worte chinesisch sprach, und sich das, was er nicht verstand, durch seinen Boy verdolmetschen ließ, brachte nach wenigen Minuten in Erfahrung, daß die Brücke auf Befehl des Stadtobersten von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang gesperrt sei. Er ließ sich darauf an das Ufer fahren, sprang ans Land, und nachdem er drei oder vier Chinesen, die ihm im Wege standen, wenn auch nicht gerade unhöflich, so doch mit großer Bestimmtheit beiseite geschoben hatte, begrüßte er den Brückenmeister, zeigte ihm einige chinesische Papiere, durch die er sich als ein in Schanghai ansässiger europäischer Kaufmann zu erkennen gab, und schloß seine kurze Rede, indem er dem Mann einen Dollar in die Hand drückte. Der Balken wurde darauf unter erneuertem lautem, aber diesmal nicht mehr feindseligem Schreien fortgezogen, und das Boot passierte die Brücke. – Es befand sich nun in einem ansehnlichen Dorfe, dessen Hauptstraße der Kanal bildete. Aber es war noch sehr früh, und nur hie und da erblickten Wilson und Irwing, die auf dem Verdeck geblieben waren, den Kopf eines Neugierigen oder Ängstlichen, den das Hundegebell und das Schreien der Brückenwächter aus dem Schlafe gestört hatte.

Als das Boot das lange Dorf hinter sich gelassen hatte, sahen die Reisenden zur Rechten und zur Linken eine weite, vollständig flache, grüne Ebene, aus der nur hie und da einige niedrige, mit Bäumen bepflanzte Hügel – chinesische Gräber – hervorragten. Alles war ruhig und still. Die Sonne war aufgegangen und beleuchtete das fruchtbare Land, auf dem es grünte und blühte und alles zur Arbeit und Ernte einlud. Aber kein Feldarbeiter, kein menschliches Wesen war zu erblicken. Alles war öde und tot; nur einige große Raubvögel zogen trägen Flügelschlages durch die graue Morgenluft. – Wilson und Irwing hatten den schmalen friedlichen Landstrich erreicht, der das Lager der Rebellen von dem der Kaiserlichen trennte. Von letzteren hatten sie noch nichts bemerkt, es sei denn, daß der Brückenwärter und seine schreienden Gefährten Soldaten des kaiserlichen Heeres gewesen waren. – Die Leiche einer Frau, die mit aufwärts gekehrtem Gesichte still auf dem Kanale lag und dem vorwärts getriebenen Boote langsam entgegen zu schwimmen schien, zeigte, daß man sich den Aufständischen näherte.

Nach einer Stunde einförmiger Fahrt gelangte das Boot an eine der hohen, aus einem Bogen bestehenden Brücken, wie man sie zu Tausenden auf den chinesischen Kanälen antrifft. Wilson und Irwing stiegen dort aus, um sich zu orientieren, und gewahrten, als sie auf der Brücke standen, ein Rebellenlager in unmittelbarer Nähe. Die Wachen, deren äußerste Vorposten sich der Brücke bis auf hundert Schritte näherten, schienen zunächst unentschlossen, was sie zu tun hätten, und bedeuteten sodann durch Zeichen, daß das Boot anhalten solle. Unsere Freunde setzten sich darauf nieder und warteten geduldig. Sie sahen, wie einer der Soldaten dem Lager zulief und nach kurzer Zeit mit einer Gruppe von fünf anderen Soldaten zurückkam. Sie gingen diesen entgegen und trafen bald mit der zerlumpten und gefährlich aussehenden Gesellschaft zusammen.

»Die Leute haben wahrscheinlich nichts Böses im Sinn«, sagte Wilson. »Ich habe ähnliches Gesindel auf meiner letzten Reise überall angetroffen. Aber es ist doch immer besser, vorsichtig zu sein. Verlieren Sie sie nicht aus den Augen, gestatten Sie ihnen nicht, hinter Sie zu treten, und halten Sie Ihren Revolver in der Tasche bereit. Zeigen dürfen Sie ihn nicht, denn die Kerle sind dermaßen erpicht auf einen guten ›Colt‹, daß sie, um einen solchen zu bekommen, ihre eigenen Brüder abschlachten würden.«

Unter den neuangekommenen Chinesen befand sich ein Rebellenoffizier, der an Wilson, nachdem er ihn höflich begrüßt hatte, einige Fragen richtete. Aber der Angeredete antwortete darauf nicht und begnügte sich damit, einen von dem Oberbefehlshaber in Su-tschau unterschriebenen und besiegelten Paß vorzuzeigen, und dem Rebellenoffizier zu verstehen zu geben, daß er nicht gesonnen sei, sich auf lange Unterhandlungen einzulassen, und bäte, sein Boot, das in friedlicher und freundlicher Absicht nach Su-tschau gehe, ungehindert weiterfahren zu lassen. – Wilson hatte eine ihm eigentümliche Art und Weise zu sprechen. Trotz seines schlechten Chinesisch merkten die Changmoas wohl, daß er nicht einzuschüchtern sei und nicht gestatten werde, daß man ihn unnütz aufhalte. Der Offizier, der zu Anfang etwas prahlerisch aufgetreten war, änderte den Ton und bat nur, man möge ihm Zeit gönnen, in das Lager zurückzukehren und dem Kommandanten Bericht zu erstatten. Damit war Wilson einverstanden, empfahl jedoch dem Boten größte Eile an und kehrte, nachdem dieser sich wieder entfernt hatte, mit Irwing nach seinem Beobachtungsposten auf der hohen Brücke zurück.

Nach kurzer Zeit erschien derselbe Offizier wieder. Er sagte, der General wünsche die geehrten fremden Reisenden zu sehen, und bat um die Erlaubnis, das Boot besteigen zu dürfen, um es selbst bis nach der am Kanale gelegenen Wohnung des Generals zu begleiten.

Das Lager bestand aus einem Dutzend erbärmlicher, halb zerstörter Häuser und aus dreißig bis vierzig Zelten; es schien ungefähr tausend Mann zu fassen. Vor dem Hause und jedem Zelte wehten kleine, an langen Bambusstangen befestigte Flaggen. Die meisten waren viereckig: weiß mit einem schwarzen Viereck in der Mitte; andere waren dreieckig und buntfarbig oder mit chinesischen Buchstaben bemalt. Der ganze Kanal vor dem Lager war mit verdeckten Booten angefüllt, von denen ein jedes, außer den Ruderern, acht bis zwölf Mann tragen zu können schien.

Die Wohnung des Generals befand sich in der Mitte des Lagers. Der Rebellenoffizier ließ dort Halt machen und ersuchte Wilson und Irwing, auszusteigen und ihm zu folgen. Sobald die Fremden Fuß ans Land gesetzt hatten, waren sie von einer Schar Neugieriger umringt. Es waren meist zerlumpte, kräftige Gestalten, mit schmutzigen, wenig Vertrauen einflößenden Gesichtern. Sie unterschieden sich von anderen Chinesen hauptsächlich durch ihre Kopftracht. Zwar hatten sie den Zopf nicht abgeschnitten, aber das Haupthaar um den Zopf, das die anderen Chinesen rasieren, war ungeschoren und wohl einen Fuß lang. Der Zopf war um den Kopf gewickelt und am Ende desselben ein großes blutrotes Tuch eingeflochten, welches das ganze Haupt wie mit einem Turban bedeckte.

Der General, ein Mann in den Dreißig, groß und hager, hatte kleine, glänzende, schwarze, schiefe Augen, die nicht gerade wohlwollend auf den Eintretenden ruhten. Aber Wilson ließ sich dadurch keineswegs außer Fassung bringen, zeigte seinen Paß vor und erklärte ziemlich unwillig, daß er hoffe, die unnützen Verzögerungen würden nun ein Ende haben und man werde ihm gestatten weiterzuziehen. Der General antwortete nur wenig, beeilte sich jedoch, eine Art Visa auf den Paß zu setzen und den Fremden mitzuteilen, daß sie wahrscheinlich noch vor Abend eine größere Militärstation erreichen würden, deren Befehlshaber die Verantwortlichkeit übernehme, sie weitergehen zu lassen oder zurückzuschicken. Damit wurden sie entlassen und konnten ihre Reise fortsetzen.

»Wie kommt es,« sagte Irwing, als die beiden wieder im Boote saßen, »daß die Leute, die sich doch gewiß einbilden, daß es bei uns etwas zu plündern gibt, uns nicht anfallen? Ehrlich sehen sie gerade nicht aus, und Furcht können wir zwei ihnen doch nicht einflößen.«

»Nun, etwas Furcht haben sie doch«, meinte Wilson; »man hat ihnen Wunderdinge von uns erzählt, und sie betrachten uns ein wenig wie ambulierende feuerspeiende Berge, denen man sich nicht ohne Gefahr nahen darf. Die Hauptsache ist aber, daß sie wirklich strengen Befehl haben, Fremde unbehelligt zu lassen, und daß sie wissen, wie schnell es mit dem Kopfabschlagen geht, wenn sie ungehorsam sein sollten. Der verrückte Taï-ping-wang bildet sich ein, wir könnten mit der Zeit seine Verbündeten werden und ihm in seinem Kampfe gegen den Kaiser in Peking beistehen. Solange dieser harmlose Wahn uns zugute kommt, mag er ihn behalten!«

Während des ganzen Tages zogen Wilson und Irwing ruhig weiter. Ein günstiger Wind hatte sich erhoben und gestattete den Bootsleuten, das viereckige Segel aufzuziehen und die anstrengende Arbeit des Ruderns auf einige Zeit zu unterbrechen. Sie legten sich darauf, nachdem sie eine leichte Mahlzeit eingenommen hatten, zur Ruhe und schliefen bald ein. Das Boot glitt vollständig geräuschlos durch den verödeten Kanal. Nach allen Seiten hin erstreckte sich unübersehbar weit das tote Land. Viele Dörfer wurden durchfahren, aber sie standen alle leer. Die Augustsonne brannte glühend heiß, die Unterhaltung zwischen Wilson und Irwing, die seit langer Zeit träge geworden war, ermattete mehr und mehr, und endlich schliefen die beiden jungen Leute ebenfalls ein. – Als sie erwachten, lag das Boot unbeweglich still. Der Wind hatte sich gelegt, das Segel war heruntergelassen worden, und sämtliche Bootsleute, der Steuermann mit inbegriffen, schliefen fest. Wilson weckte sie und befahl ihnen weiterzurudern, und bald glitt das Boot wieder schnell durch die wellenlose, fast strömungslose Flut.

»Wir können nicht mehr sehr weit vom großen Lager sein,« bemerkte Wilson, »und es liegt mir daran, es in vollem Tageslichte zu erreichen und vor der Nacht zu verlassen. Ich habe bei meiner letzten Reise den dortigen Befehlshaber kennen gelernt. Er hat mich mit allerhand Freundschaftsversicherungen überhäuft, aber besser ist es doch, wir bringen die Nacht nicht in seiner unmittelbaren Nähe zu. In ein paar Stunden müssen wir Halt machen, um die Leute frisch zu erhalten. Es ist kein Spaß, bei vierzig Grad Hitze das schwere Boot vorwärts zu treiben. – Weber hatte recht, seinen Lauder zu loben. Er ist ein tüchtiger Schiffer und hat sich eine gute Equipage ausgesucht.«

Nachdem die Bootsleute noch eine Stunde lang ununterbrochen kräftig gerudert hatten, kam das zweite Rebellenlager in Sicht. Es befand sich in einer am Kanal gelegenen, ziemlich großen Stadt, die von altertümlichen, verwitterten Wällen umgeben war. Auf denselben flatterten Hunderte von buntfarbigen Fahnen und Fähnchen. Sobald man das Fahrzeug, das eine englische Flagge am Maste trug, von der Stadt aus erblickt hatte, stieß ein Kahn vom Ufer und kam ihm entgegen. In diesem Kahn befand sich, außer den Ruderern, ein Offizier, in dem Wilson einen Bekannten begrüßte, und der diesen auf das freundlichste bewillkommte. Dieser Offizier war ein ungemein beweglicher kleiner Mann, der in großer Hast allerhand Fragen an Wilson richtete und gar nicht zu bemerken schien, daß sie unbeantwortet blieben. Er hatte übrigens ein so freundliches, hübsches Gesicht, und sein seidenes Kleid und seine seidene Kappe waren so reinlich und gaben ihm ein so anständiges Aussehen, daß Wilson, dessen Geduld in der Regel nicht lange vorhielt, sich seine Schwätzereien eine Zeitlang ruhig lächelnd gefallen ließ. Dann machte er ihm jedoch durch seinen Boy, der herbeigerufen war, um Dolmetscherdienste zu versehen, klar, daß er keine Zeit zu verlieren habe und bald weiter reisen müsse. Da gab es nun vieles Hin- und Herreden: – der General wünschte die fremden Freunde zu sehen, er hatte Silber, er hatte Seide, er wollte Waffen kaufen. Weshalb beständen die Fremden darauf, weiter zu gehen? Gastfreundliche Aufnahme sollte ihnen bereitet werden. – Aber Wilson beharrte bei seinem Willen und bewog den kleinen Offizier schließlich nachzugeben, indem er ihm einen Revolver schenkte und versprach, ihm auf der Rückreise, in vier bis sechs Tagen, eine Büchse zu hinterlassen. Auf der Hinreise, sagte er, dürfe er sich seiner Waffen nicht entäußern, da er sie möglicherweise gegen schlechtes Gesindel zu gebrauchen haben könne. Der Offizier nickte darauf bedeutsam mit dem kleinen, klugen Kopf und sagte, es gäbe in der Tat viel schlechte Menschen auf der Welt. Zum Schluß überreichte er Wilson einen Paß und empfahl ihm an, diesen nur vorzuzeigen, nicht abzugeben, da er ihm auch auf der Rückreise wieder dienlich sein könnte. Die äußersten Vorposten des Lagers, setzte er hinzu, würden die englischen Freunde am See finden, den sie bei gutem Rudern in anderthalb bis zwei Stunden erreichen könnten.

»Bis zum See müssen wir in der Tat vor Einbruch der Dunkelheit noch kommen« – meinte Wilson, nachdem das Boot die Mauern der großen Stadt, auf denen Hunderte neugieriger Chinesen die Fremden begafften, hinter sich gelassen hatte. – »Hier im engen Kanale zu übernachten, wo wir vom Ufer aus überfallen werden könnten, wäre nicht ratsam. In der Mitte des Sees dagegen können wir wie in Abrahams Schoße ruhen. Es ist heller Mondschein, und so leicht wird sich kein Boot auf Schußweite an uns heranwagen. – Mut, Lauder! Heiho! Vorwärts: In einer Stunde könnt ihr alle schlafen gehen. Und doppelten Lohn für den Tag, wenn wir vor einer Stunde am See sind!«

Die hageren, sehnigen Bootsleute, nackt bis zum Gürtel, die gelbe ölige Haut mit Schweiß bedeckt, legten sich mit erneuter Kraft auf die schweren Ruder. Ihr kurzes Schreien und Stöhnen: »haihiha . . . haihiha!« ertönte in immer schnellerem Tempo. Das Boot schien über den Kanal zu fliegen.

»Wenn es einmal zum Ausreißen kommen sollte,« sagte Wilson, zufrieden lächelnd, »so haben wir wenigstens gute Beine zum Fortlaufen. Die Kerle rudern wirklich ausgezeichnet.«

Nach einer Weile ermatteten die Bootsleute von der übermäßigen Anstrengung. Das Tempo wurde wieder langsamer, das einförmige Rudern ertönte nur noch wie ein schweres Röcheln. Aber in unmittelbarer Nähe erblickte man den See. Am Eingange desselben, den Weg versperrend, lagen zwei große beflaggte Boote, von denen ein jedes eine Mannschaft von zwanzig Soldaten enthielt. Wilson zeigte den Paß vor, den ihm der kleine Offizier gegeben hatte, der Befehlshaber der Kriegsboote nickte ihm darauf vertraulich zu, und unsere Freunde fuhren weiter.

Der See hatte einen Durchmesser von anderthalb bis zwei englischen Meilen. Das Boot wurde langsam und gelassen bis in die Mitte desselben gefahren; dann ließ der Lauder die Ruder einziehen, warf einen kleinen Anker aus, und eine Minute darauf saß er, inmitten seiner Leute, rauchend und schwatzend auf dem Vordeck, während einer der Schiffer sich damit beschäftigte, die Abendmahlzeit, aus Reis, getrocknetem Fisch und Tee bestehend, zuzubereiten.

Nicht weit vom Boote schwamm ein Zug wilder Enten.

»Ich habe Lust, etwas für unser Abendbrot zu schießen«, sagte Irwing, auf die Vögel deutend.

»Dann müssen Sie es mit der Büchse versuchen,« antwortete Wilson, »denn ein Gewehr und Schrot habe ich nicht mitgenommen.«

Irwing stieg in die Kajüte hinunter und erschien bald wieder mit einer Büchse bewaffnet. Er legte an, zielte eine kurze Weile und feuerte. Die Enten erhoben sich mit lautem Flügelschlag und zogen dem Ufer zu. Eine von ihnen blieb zuckend auf dem Wasser liegen.

»Bravo!« rief Wilson. »Das war ein guter Schuß!«

Irwing lächelte und antwortete: »Büchsen- und Pistolenschießen ist stets eine Liebhaberei von mir gewesen.«

Einer der Bootsleute lag bereits im Wasser und schwamm schnell und leicht der Stelle zu, wo der tote Vogel lag. Nach wenigen Minuten hatte er ihn an Bord geworfen.

Es war nun wieder Abend geworden. Rings umher herrschte feierliche Stille. An den Ufern des Sees erkannte man im Lichte des verschwindenden Tages zahlreiche Ortschaften, hie und da erhob sich eine hohe Pagode oder das mächtige schwere Dach eines Tempels; aber nirgends rauchte eine Feuerstelle, nirgends erblickte man einen Menschen. Alles schien wie ausgestorben. Fern am Horizont schimmerte ein dunkelrotes, unheimliches Licht, in dem es von Zeit zu Zeit schwefelgelb aufleuchtete.

»Da wird wieder gesengt und gemordet«, bemerkte Wilson. – »Es ist kein Kinderspiel, diese Rebellion. Unser Konsul in Schanghai, der während der letzten Jahre ziemlich genau Buch und Rechnung über die Verwüstungen geführt hat, schätzt die Verluste an Menschenleben bis jetzt auf sieben Millionen. Wie er das beweisen will, weiß ich nicht; aber nach dem, was ich selbst gesehen habe, und was Sie wohl auch noch sehen werden, scheint mir die Zahl gar nicht so unwahrscheinlich. Unter einer Bevölkerung von dreihundert Millionen gibt es viel zu morden. – Die Einnahme von Hang-tschau allein soll vierzigtausend Menschen das Leben gekostet haben. Su-tschau werden Sie selbst sehen. Vor einem Jahr lebten dort zwei Millionen Leute. Heute besteht die ganze Bevölkerung aus einigen fünfzigtausend verhungernder Bettler und Banditen; die anderen Einwohner sind entflohen, ermordet oder haben sich selbst umgebracht. Selbstmord ist hier zu Land eine nationale Einrichtung. So leicht verzweifelt der Chinese nicht. Er ist sogar recht zähe und hält schlechte Behandlung länger aus als der Europäer. Aber wenn es gar zu schlimm wird, oder wenn sich panischer Schrecken seiner bemächtigt, so erscheint ihm Selbstmord als das einfachste Mittel, aller Unruhe und allen Qualen ein gründliches Ende zu machen. Dann erhängt oder vergiftet oder ertränkt er sich. Erschießen und Halsabschneiden ist weniger beliebt. In Hang-tschau sind die Menschen beim Nahen der Changmaos zu Tausenden in das Meer gelaufen und haben sich ertränkt. – Jeder hat so seinen Geschmack. Der meine wäre es, glaube ich, nicht, mir das Leben zu nehmen.«

Irwing hatte während des ganzen Tages keine hundert Worte gesprochen und antwortete auch jetzt wieder nicht. Aber Wilson konnte sich doch recht gut mit ihm unterhalten. Irwing war ein aufmerksamer und verständiger Zuhörer, sobald jemand ernsthaft mit ihm sprach. Nur er selbst konnte nicht viel Worte machen. Er war etwas schwerfällig und außerordentlich wortkarg. Er besaß nicht eine Spur von schlagfertigem Witz. Jeder schwatzhafte Narr hätte ihn in einem Wortstreite mit Leichtigkeit überwältigen können. Aber er war ein vorzüglicher Ingenieur und löste jede Aufgabe, die ihm gestellt war, so schwierig sie auch sein mochte, so gut wie einer. Nur mußte man ihm Zeit geben und mußte ihn ganz allein lassen. Dann saß er, mit den Händen in den dichten blonden Haaren, die Ellenbogen aufgestützt, die tiefen Augen unverwandt auf einen Fleck gerichtet, still nachsinnend da, bis es plötzlich in dem ernsten Gesichte hell aufleuchtete und er mit einer freudigen, schnellen Bewegung aufstand. Dann hatte er gefunden, was er suchte, und dann blieb es ihm für alle Zeiten. Auch sein Herz wurde nur durch lang anhaltende Eindrücke wirklich berührt. Ungerechtigkeit und Grausamkeit konnten ihn wohl sofort bis zum Jähzorn aufreizen, und der Anblick fremden Elends machte ihn weich bis zur tiefsten Rührung; aber dies waren rasch vorübergehende Eindrücke, die sein kindliches Herz empfing. Liebe, Freundschaft, Haß, Verachtung konnten dort nur langsam Wurzel schlagen.

Das heitere, gesunde, frische Temperament Wilsons zog Irwing an. Seine Gesellschaft war ihm immer angenehm gewesen. Den Vorschlag, mit ihm in das Innere zu gehen, hatte er gern angenommen. Daß er sich dabei irgendeiner Gefahr aussetzte, war ihm nicht in den Sinn gekommen. Er hatte noch nie eine Gefahr gekannt; und er fürchtete sich nicht. Seine Furchtlosigkeit hatte nichts mit dem modernen Mute gemein, der in den meisten Fällen aus Gehorsam vor den Gesetzen der Ehre und Pflicht entspringt. Sie war angeborener, ungebeugter Trotz, wie die Alten ihn besser kannten als wir, wie man ihn heute bei den Irländern und den nordischen Völkerschaften noch am häufigsten, aber auch dort nur selten findet.

Wilson war ebenso verwegen und furchtlos wie Irwing, und es war ein seltener Zufall, der die beiden jungen Männer zusammengeführt hatte. Aber die Welt ist klein, und merkwürdige Begegnungen gibt es darin kaum, und es ist deshalb auch nicht zu verwundern, daß Wilson und Irwing sich getroffen hatten.

Die beiden saßen an jenem Abend noch lange auf dem Verdecke des Bootes. Die Schiffsleute und die Boys schliefen fest. Der See lag still, wie tot da. Aber aus weiter Ferne kamen, über das Wasser daher, schwache, langgezogene, unheimliche Laute, wie Klagen und herzzerreißendes Jammern.

Irwing schauderte zusammen. – »Hörten Sie das?« fragte er. »Was war das?«

»Die Rebellen haben vielleicht noch einige unglückliche Landbewohner gefunden, die sich zu früh in ihre Wohnungen zurück gewagt haben, und treiben nun ihr gewöhnliches Handwerk: sie morden.«

Der rote Feuerschein am Himmel war erloschen.

»Es ist besser, wir gehen zu Bett«, sagte Wilson nach einer langen Pause. »Morgen abend sind wir in schlechter Gesellschaft und werden nicht so ruhig dasitzen können wie heute.«


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