Rudolf Lindau
Liquidiert
Rudolf Lindau

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IV

Das Glück fuhr fort, Wilson und Irwing zu begünstigen. Nachdem sie fünf Jahre lang zusammen in demselben Geschäfte gearbeitet hatten, galten sie in Schanghai für wohlhabende Leute und waren es auch. Sie hatten sich vollständig aneinander gewöhnt und lebten zusammen wie zwei Brüder, die zugleich Freunde sind. Des Morgens in aller Frühe traf man sie auf dem Rennplatz. Sie ritten gut und scheuten weder Mühe noch Geld, um sich die schnellsten Ponies zu verschaffen. Wilson, der klein und leicht war, galt für den besten Hindernis-Reiter in Schanghai; der schwere Irwing konnte in den Rennen nicht reiten, aber er hatte sich ein starkes Pferd aus Sidney kommen lassen, und er war stets an Wilsons Seite, wenn dieser für die Rennen trainierte. Beide waren oft gestürzt, denn sie gingen keinem Hindernis aus dem Wege und verachteten jeden, der nicht reiten konnte »wie die Krähe fliegt«; aber sie waren immer ohne schwere Verletzung davon gekommen.

Den Tag über saßen sie zusammen in derselben kleinen Schreibstube, währenddem ihr einziger Gehilfe, ein tüchtiger Buchhalter, im Nebenzimmer arbeitete. Es gab nicht immer etwas zu tun, und die jungen Leute hatten viel Zeit zum Sprechen. Dann machte Wilson goldene Pläne für die Zukunft, und Irwing, mit einem zufriedenen Lächeln auf dem stillen Gesichte, hörte aufmerksam zu und billigte oder gestattete sich einen Änderungsvorschlag, der dann von seinem Genossen stets in ernste Erwägung gezogen wurde. – Eine Stunde vor dem Essen sah man sie auf kleinen Booten auf dem Whampoaflusse. Sie waren bei den Regatten wie bei den Pferderennen gleich gut bekannt und gern gesehen. Auf der Rennbahn trug Wilson die Palmen davon; bei den Regatten war der schwere, starke Irwing stets einer der Sieger. – Am Abend aßen sie zusammen in ihrem Hause oder bei gemeinschaftlichen Bekannten. Niemand würde daran gedacht haben, den einen ohne den andern einzuladen. Sie waren unzertrennlich. Man nannte Wilson: »Irwings Schatten« und Irwing: »Wilsons«. – Nach dem Essen endlich fand man sie in der Kegelbahn. Dort allein standen sie sich als Gegner gegenüber, denn beide spielten so gut, daß die Seite, auf der sie zusammen waren, stets gewinnen mußte. – Von der Kegelbahn schlenderten sie nach Hause, saßen noch eine Stunde lang im Nachtanzuge, das heißt in »Pudjamas und Slippers« auf der Veranda, und dann zog sich jeder in sein Zimmer zurück. – Für Damengesellschaft hatte keiner von ihnen großen Geschmack. Wilson erzählte von einer Kusine, die er vor Jahren, als er Europa verließ, in England gesehen hatte, und die nach seiner Beschreibung himmelhoch über allen Schönheiten stand, die Schanghai aufweisen konnte.

»Das Mädchen muß jetzt zwei- oder dreiundzwanzig Jahre alt sein,« sagte er, »und ich bekomme jedesmal, wenn die Post nach Europa schließt, die größte Lust, den Dampfer zu nehmen und nach England zu gehen, um sie mir zu holen. Zwei Sachen nur verhindern mich, dies zu tun: primo weiß ich nicht, ob May sich noch nicht verheiratet hat, denn ich habe nun seit sechs Jahren nie wieder etwas von ihr gehört; und secundo bin ich mir nicht recht klar darüber, ob sie, für den Fall sie noch frei wäre, meinen Antrag annehmen würde oder nicht. Diese Zweifel allein halten mich zurück: denn nach England gehen, nur um einen Korb nach Schanghai zurückzubringen, scheint mir ein mäßiges Vergnügen.«

Irwing meinte, sein Freund solle doch an irgendeinen Verwandten schreiben und sich erkundigen, was aus seiner hübschen Kusine geworden sei; aber dann antwortete Wilson, so wichtig sei die Sache nicht, und er wolle sie sich erst noch einmal ordentlich überlegen. Irwing schloß daraus, daß die Liebe für May seinen lebenslustigen Genossen nicht geradezu verzehren müsse, und dieser entgegnete darauf mit freundlichem Lachen: »Das Herz soll es mir nicht brechen, wenn meine Kusine mich nicht haben will oder schon einen andern genommen hat. Es gibt der Mädel viele auf der Welt!«

Mit der Zeit wurde Wilsons Lachen weniger laut und frisch, und Irwing, früher ein Bild männlicher Kraft und Gesundheit, fing an, blaß und hohläugig auszusehen. Das Klima von Schanghai, das keines Europäers Freund ist, begann die jungen, starken Naturen anzugreifen. Wilson und Irwing bekamen, ohne daß sie sich Rechenschaft davon ablegten, das im fernen Osten so häufige »Europaweh«.

Gegen Ende des Monats Januar 1865, als die Freunde eines Abends allein waren und ein jeder von ihnen eine Abschrift der »Bilanz von Wilson & Irwing für das Jahr 1864« in der Hand hielt, die der Buchhalter soeben fertig gemacht hatte, sagte Wilson nach einigem Nachdenken:

»Wir sind nun wohlhabende Leute, und ich schlage vor, wir erklären uns mit dem, was wir haben, vorläufig zufrieden. China ist am Ende doch kein ordentliches Land für unsereinen. Es ist ganz gut, in Schanghai Geld zu verdienen; aber leben kann man hier eigentlich nicht. Was meinen Sie dazu, wenn wir liquidierten? Dann gehen wir nach England, kaufen uns ein hübsches Gut, verheiraten uns – wenn nicht alle hübschen Mädchen bis dahin unter die Haube gekommen sind –, halten uns ein paar gute Jagdpferde und vergnügen uns so lange, bis wir der Sache müde geworden sind. Das dauert wohl einige Jahre, und bis dahin finden wir schon etwas anderes zu tun.«

Irwing war damit einverstanden, und Wilson legte sofort einen Plan vor, um den gefaßten Vorsatz zur Ausführung zu bringen. Bis zum Monat März wollten beide noch zusammen in Schanghai arbeiten, dann sollte einer von ihnen einen sechswöchentlichen Urlaub nehmen und nach Tschi-fu im Norden oder nach Yokohama in Japan gehen, um einen »Klimawechsel« zu haben und sich zu erholen. Nach seiner Rückkehr sollte sodann der andere eine ähnliche Vergnügungsreise machen. Darüber würde es Juni oder Juli werden, und bis dahin würde die Liquidation so weit vorgeschritten sein, daß die letzte Abwicklung des Geschäftes leicht irgendeinem guten Bekannten, Julius Weber vielleicht, übertragen werden könnte.

»Dann nehmen wir den Pacific-Mail-Steamer,« schloß Wilson, »sehen uns Kalifornien an, reiten mit dem ›Ponies-Expreß‹ nach den Oststaaten, schiffen uns in New York ein und kommen gerade zur Jagdzeit nach England.«

Auch diese Vorschläge stießen bei Irwing auf keinen Widerspruch.

»Sie sind ein ordentlicher Mensch«, sagte Wilson; »mit Ihnen läßt sich doch ein vernünftiges Wort reden. – Ich glaube, wir haben uns nie gezankt«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort.

»Nein, wir haben uns nie gezankt«, bestätigte Irwing; – und nach einer Weile setzte er langsam und nachdenklich hinzu: »Wissen Sie wohl, daß es sich eigentlich recht glücklich für mich traf, daß Sie mit mir zusammen in Su-tschau waren.«

»Wieso?«

»Nun,« fuhr Irwing bedächtig fort, »wenn Sie mir nicht vor Assings Hause und später im Kanale zur Seite gestanden hätten, so wäre es mir vielleicht doch recht schlecht ergangen. Allein wäre ich mit den Changmaos niemals fertig geworden . . . und wenn ich mir die Sache ordentlich überlege, so haben Sie mir damals das Leben gerettet.«

Wilson lachte laut auf. »Langsam aber sicher!« rief er. »Das haben Sie heute entdeckt? Und weiter nichts? Mann! Wenn Sie nicht, wie ein Terrier vor einem Rattenloch, an der Godowntüre gestanden hätten und jeden Piraten, der herauskriechen wollte, ins Genick gepackt und halb oder ganz totgeschüttelt hätten, – was wäre aus mir geworden? Gespießt und gebraten hätten mich die Spitzbuben! – In dem Augenblicke, als Sie mir im Boote die Wunden verbanden, wußte ich, daß ich Ihnen mein Leben schuldete; . . . . und, Gott sei Dank! ich habe es nicht vergessen und ich hoffe, ich werde es nie vergessen.« Er wurde plötzlich ernst, stand auf und näherte sich Irwing. »Wenn wir Abrechnung halten wollten,« sagte er, »so wären wir vielleicht quitt; aber ich denke, wir fahren unser Leben lang fort, für gemeinschaftliche Rechnung zu arbeiten und trennen uns nicht wieder.«

»Das hoffe ich auch«, bestätigte Irwing mit feierlichem Ernste. Darauf reichte Wilson seinem Freunde die Hand, die dieser so kräftig drückte, daß Wilson, der gewiß nicht verweichlicht war, zusammenzuckte.

Das Wilsonsche Programm wurde getreulich ausgeführt. Alles ging zunächst nach Wunsch. Zu Anfang des Monats März reiste Irwing, der angegriffener erschien als sein Geschäftsgenosse, nach Japan, um sich dort durch sechs Wochen lange Ferien auf die letzten und angreifenden Arbeiten der Liquidation vorzubereiten. Er stieg in Yokohama in dem Hause eines Geschäftsfreundes, des Herrn Thomas Young, ab. Jede Post aus Schanghai brachte ihm ausführliche Briefe. Sie enthielten nur wenig Geschäftliches, sprachen aber desto ausführlicher von den nahe bevorstehenden Rennen, auf die Wilson sich mit jugendlichem Eifer vorbereitete und freute.

»Sie müssen jedenfalls zum 20. April wieder hier sein,« schrieb er in einem Briefe, »denn die Freude, die Sie diesmal an unserem Stall haben sollen, wird Ihnen gewiß ebenso wohl tun wie die japanische Luft. ›Mammon‹ und ›Excentric‹ sind zwei Ponies, wie sie die Sonne noch gar nicht beschienen hat. Da haben Sie einen guten Griff getan, als Sie die beiden Tiere unter den fünfzig neuen Ponies herausfanden. Ich bin ganz sicher, daß sie alles, wofür sie rennen, gewinnen werden, und Sie sehen aus einliegender Rennkarte, daß ich sie, wo nur irgendmöglich, eingetragen habe. – Für den ›Great-Welter‹ hat man diesmal das Gewicht um drei Pfund erhöht; wenn Sie also etwas trainieren wollen, so können Sie dies Rennen ganz gut reiten. Mir bleiben fünf andere übrig, darunter das große Hindernisrennen und ein Hürdelrennen. Das genügt mir, ist sogar etwas zu viel für mich, denn ich bin nicht recht stark. Ich mache Ihnen also kein Zugeständnis, sondern handle im gemeinschaftlichen Interesse, wenn ich Ihnen vorschlage, daß Sie Mammon im ›Great-Welter‹ reiten. Ich habe ein kleines Vermögen auf die Pferde gewettet; aber ich bin durchaus nicht besorgt. Sie sollen sehen, wir gewinnen alles › hands down‹ und schlagen unsere Stallunkosten für die nächsten drei Jahre heraus.«

Irwing antwortete auf diesen Brief folgendes: »Ich werde mit der Costa-Rica, die zur Abreise nach Schanghai via Hiogo und Nangasaki zum 10. April angezeigt ist, von hier fortgehen und denke also, da wir uns nur einen Tag unterwegs aufhalten, spätestens am 18. in Schanghai zu sein. Den ›Great-Welter‹ werde ich reiten, obgleich ich nicht in sonderlicher Kondition bin. Der Aufenthalt hier hat mir übrigens wohl getan. Ich habe in Youngs Hause die Bekanntschaft einer amerikanischen Familie gemacht. Der Vater hat einen Anteil in Ralston & Co. und will einen Monat in Schanghai bleiben. Sie werden ihn und seine Frau und Tochter also auch kennen lernen. Sie reisen nämlich ebenfalls mit der Costa-Rica.«

Am 18. April, des Morgens in aller Frühe, legte sich das amerikanische Postschiff von Japan in Schanghai vor Anker. Das Dampfboot war wie gewöhnlich bereits zwei Stunden vor seiner Ankunft von Wusung aus signalisiert worden, und Wilson hatte Zeit gehabt, sich anzuziehen und sich mit dem Hausboot an Bord des Fahrzeuges zu begeben, um dort seinen Freund in Empfang zu nehmen. Er schüttelte diesem herzhaft die Hand, und seine ersten Worte waren: »Nun, Japan hat Ihnen wirklich wohlgetan! Sie sehen wieder so frisch und gesund aus wie vor fünf Jahren.« Wilson im Gegenteil erschien Irwing abgemagert und elend. Als er sich darüber äußerte, antwortete jener: »Ich habe etwas zu stark trainiert; aber ich befinde mich ganz wohl. Ich gehe gleich nach den Rennen nach Tschi-fu und komme von dort in sechs Wochen mit ebenso roten Backen zurück, wie Sie aus Japan mitgebracht haben.«

Ehe die beiden das Dampfschiff verließen, nahm Irwing von einem Herrn und zwei Damen, die dicht an der Landungstreppe standen, flüchtig Abschied. Sein Begleiter warf einen gleichgültigen und schnellen Blick auf die Gruppe, der jedoch genügte, um ihm zu zeigen, daß eine der drei Personen ein hübsches, blondes junges Mädchen sei.

»Das sind wohl Ihre neuen amerikanischen Freunde?« fragte er, als er mit Irwing im Hausboote Platz genommen hatte.

»Ja.«

»Und wie heißen sie?«

»Herr und Frau Thorn und Fräulein Mary Thorn. Ich werde sie Ihnen heute oder morgen vorstellen.«

»Nein,« antwortete Wilson, »heute und morgen haben wir keine Zeit. Übermorgen ist der große Tag, und bis dahin werde ich wenig aus dem Stall und vom Rennplatze kommen. Nach dem Rennen bin ich Ihr Mann; oder vielleicht können Sie mich am 20. auf der Tribüne vorstellen . . . Halt! da fällt mir noch etwas ein!« setzte er nach einer kurzen Pause hinzu. »Weber, der sich als Sekretär unseres Ausschusses unendliche Mühe gegeben hat, damit alles schön und ordentlich verlaufe, teilte mir gestern abend jammernd mit, daß er noch keine junge Dame für den Damenpreis gefunden habe. Schanghai ist nicht reich an unverheirateten hübschen Mädchen. Ihre Mary Thorn kommt wie gerufen. Ich werde ihr den kleinen Julius noch heute zusenden, und sie soll den Damenpreis überreichen. Da ich ihn zu gewinnen hoffe, so kann ich bei der Gelegenheit gleich als ruhmgekrönter Sieger vorgestellt werden.«

Irwing war damit einverstanden. Den Rest des Tages verbrachte er mit Wilson, wie dieser gesagt hatte, in Gesellschaft von Jockeis und Pferden. Aber am Abend, kurz vor dem Essen, zog er sich mit großer Sorgfalt an und ging zu Ralston, um dort der Familie Thorn einen Besuch zu machen. Mary hatte Herrn Weber bereits gesehen und war sehr aufgeregt in dem Gedanken, daß sie übermorgen vor der ganzen Gesellschaft von Schanghai als Überreicherin des »Damenpreises« eine hervorragende Rolle zu spielen haben werde. Weber hatte ihr gesagt, sie müsse den Preis, mit einigen »passenden Worten« begleitet, übergeben, und sie war nun sehr verlegen, wie sie ihre kleine Rede halten sollte. Irwing beruhigte sie, indem er versicherte, sie könne sich damit begnügen zu sagen: »Die Damen von Schanghai überreichen Ihnen durch mich den Damenpreis, den Sie so wohl verdient haben.«

»Ich habe bei ähnlichen Gelegenheiten niemals längere Reden gehört,« setzte er hinzu, »und Sie brauchen sich keine Mühe zu geben, mehr zu tun, als Ihre Vorgängerinnen getan haben. Übrigens ist es wahrscheinlich, daß Wilson den Preis gewinnen wird, und wenn Sie es wünschen, werde ich ihm sagen, daß er, sobald er Sie stocken sieht, zu sprechen anfängt. Er ist nie verlegen und wird schon verhindern, daß Sie es werden.«

Mary nahm das Anerbieten dankend an, und Irwing verabschiedete sich, nachdem er mit Frau Thorn, die der Unterredung beiwohnte, verabredet hatte, daß er sie übermorgen auf der Tribüne antreffen und ihnen in seiner Eigenschaft als Mitglied des Vorstands die Honneurs des Rennplatzes machen werde. – »Ich reite nur in einem Rennen mit«, schloß er, »und stehe während der ganzen übrigen Zeit zu Ihrer Verfügung. Wilson ist bei dieser Gelegenheit der eigentliche Vertreter unserer gemeinschaftlichen Interessen. Er reitet fünfmal – und Sie werden sehen, wie er reitet.«

Der von ganz Schanghai mit Ungeduld erwartete Tag – denn die Rennen waren ein großes Ereignis für die durch Festlichkeiten wenig verwöhnten Bewohner der fremden Niederlassung – verlief wie die meisten Renntage zu verlaufen pflegen. Die Tribünen waren mit geputzten Leuten gefüllt. Die Jockeis und die Mitglieder des Vorstandes sahen ernst und wichtig aus, als ob das Wohl der Welt von ihrem Gebaren abhinge. Die Leute, die zum Wetten das richtige Pferd erwählt und infolgedessen gewonnen hatten, lachten, sprachen laut und waren vergnügt. Die Verlierenden klagten über den Staub und die Hitze. Das Publikum endlich, das gekommen war, um ein hübsches Schauspiel mit anzusehen, klatschte und rief jedem Sieger Beifall zu, ohne sich um die Verlierenden zu kümmern.

Wilson war der Held des Tages. Er hatte bereits zwei Rennen gewonnen und galoppierte nun wieder auf einem kleinen, breiten, mutigen Excentric, der das Aussehen eines Kürassierpferdes hatte, dem die Beine einen Fuß lang abgeschnitten wären, in ruhigem Galopp an der Tribüne vorüber, um seinen Platz unter den Bewerbern für den Damenpreis einzunehmen.

Weber und Irwing standen auf der Tribüne neben Mary Thorn und nannten dieser die Namen der Ponies und ihrer Reiter.

»Wenn Sie Handschuhe gewinnen wollen,« sagte Weber, sich an das junge Mädchen wendend, »so müssen Sie auf Excentric wetten. Sehen Sie nur das schöne Tier. Es könnte mit Leichtigkeit vierzehn ›Stones‹ tragen, und Sie sollen einmal sehen, wie es mit Wilsons zehn ›Stones‹ fliegen wird! – Und was für ein Jockei ist nicht Wilson! Immer ruhig, immer kaltblütig. Er sitzt auf dem Pferde leicht wie eine Feder und doch so fest, als wäre er mit ihm zusammengewachsen!«

Irwing lächelte wohlgefällig, das Lob seines Freundes zu hören.

Die Pferde jagten gut zusammen vor der Tribüne vorüber, nahmen beinahe gleichzeitig den breiten Graben, der dort, als eines der Haupthindernisse, zur Befriedigung der Schaulust der Zuschauer angebracht war, verschwanden hinter den Bäumen, kamen, noch immer ziemlich gut zusammen, wieder zum Vorschein und bildeten bald darauf eine Linie, die länger und länger wurde und an deren Spitze die mit Gläsern Bewaffneten Wilson auf Excentric erkannten.

»Natürlich muß Wilson gewinnen«, sagte Weber – und er gewann auch, ohne daß ihm der Sieg einen Augenblick streitig gemacht worden wäre. Aber Mary Thorn war dessen ungeachtet sehr unruhig, und als Wilson ihr vom Präsidenten des Rennklubs vorgestellt wurde, um den Damenpreis aus ihren Händen zu empfangen, war sie blutrot und stotterte und stammelte und konnte kaum die wenigen Worte hervorbringen, die Irwing ihr vor zwei Tagen vorgesagt hatte. Dieser schien von der Befangenheit des jungen Mädchens ebenso zu leiden wie sie selbst; aber Wilson war, wie sein Freund vorausgesagt hatte, durchaus nicht verlegen. Die Anstrengung des Rennens hatte seine Wangen leicht gerötet, und seine klaren blauen Augen blitzten noch heller und verwegener als gewöhnlich. Er war in seinem gutgemachten Jockeianzuge, der das Ebenmaß seiner kleinen, kräftigen Gestalt auf das vorteilhafteste zeigte, eine in ihrer Art beinahe vollkommene Erscheinung. Sobald er die Verlegenheit des jungen Mädchens bemerkte, unterbrach er sie, indem er in scherzhaft übertriebener Weise seinen Dank für den Preis, der ihm von so »schönen Händen« überreicht wurde, aussprach. Dann machte er eine tiefe Verbeugung, winkte Irwing zu, ihm zu folgen, und entfernte sich schnell wieder, so daß die Aufmerksamkeit der ganzen Tribüne, die während dieses Auftritts auf Mary Thorn und Richard Wilson gerichtet gewesen war, nun wieder auf andere Gegenstände abgelenkt wurde.

In einem der nächsten Rennen zeichnete sich Irwing aus, indem er auf Mammon den ›Great-Welter‹ gewann. Während dieser Zeit stand Wilson, der sich von Weber Herrn und Frau Thorn hatte vorstellen lassen, hinter Mary, und diese mußte nun aus dem Munde Wilsons dasselbe Lob über Irwing hören, das dieser und Weber kurz vorher dem Sieger des Damenpreises gespendet hatten.

Gut reiten zu können ist unter allen Umständen eine beneidenswerte Eigenschaft und wird von den meisten Menschen als eine solche anerkannt; aber auf dem Rennplatze, unter Pferdeliebhabern, inmitten der Aufregung und des Enthusiasmus, den ein jedes Rennen zu erzeugen pflegt, wird ein kühner Reiter gewissermaßen ein Held, der kaum genügend bewundert werden kann. – Mary fühlte sich stolz, von Wilson und Irwing ausgezeichnet zu werden, und auch der alte Herr Thorn, der auf Webers Zuraten einige Dollars auf Mammon und Excentric gewettet und gewonnen hatte, teilte etwas von der Begeisterung seiner Tochter für die Helden des Tages. Er flüsterte seinem Geschäftsgenossen Ralston einige Worte zu, und nachdem dieser dazu rasch und freundlich genickt hatte, lud er Wilson und Irwing ein, am Abend des nächsten Tages an Ralstons gastfreundlichem Tische mit ihm zu speisen. Die jungen Leute nahmen die Einladung, die ganz und gar mit den Sitten und Gebräuchen von Schanghai im Einklang stand, gern an. Der Tag endete mit einem vollständigen Triumphe für Wilson, der auch das letzte Rennen noch gewann und darauf, in einen langen Überrock gehüllt, von Irwing nach Hause gefahren wurde.

Das Essen in Ralstons Hause verlief in angenehmster Weise. Wilson, als das ältere Mitglied des Geschäfts, hatte, den in Schanghai streng beobachteten Gesetzen der Etikette gemäß, den Ehrenplatz zwischen Frau Thorn zu seiner Linken und Fräulein Mary zu seiner Rechten. Irwing saß auf der andern Seite der Dame des Hauses, zu weit von Mary entfernt, um sich mit dieser unterhalten zu können. Aber Frau Thorn war keine Fremde für ihn. Er hatte während seines fünfwöchentlichen Aufenthaltes in Yokohama, im Hause von Thomas Young, beinahe täglich mit ihr gegessen, und es wurde ihm nicht schwer, sich auch jetzt wieder mit ihr zu unterhalten. Wilson und Mary auf der andern Seite waren in unterbrochenem und eifrigem Gespräche. Nach dem Essen wurde Musik gemacht. Mary spielte ganz hübsch Klavier und ließ sich nicht nötigen, sich hören zu lassen. Wilson saß ihr wie verzaubert gegenüber und verlor sie nicht eine Sekunde aus den Augen. Irwing war in einer Ecke des großen Zimmers mit Herrn Thorn in den Berechnungen einer Schachpartie vertieft. Weber, der ebenfalls eingeladen worden war, und dessen Augen alles sahen, was um ihn her vorging, beobachtete Irwing mit Erstaunen. Er hatte ihn niemals Fremden gegenüber so aufmerksam gesehen. Schon die Gesprächigkeit, die er bei Tisch Frau Thorn gegenüber gezeigt hatte, war ihm aufgefallen. Daß er jetzt mit dem alten Herrn Thorn Schach spielte, war noch bemerkenswerter.

»Zukünftiger Schwiegerpapa, zukünftige Schwiegermama!« sagte Weber lächelnd vor sich hin. »Irwing ist ein Intrigant. Er will Vater und Mutter erobern, ehe er sich um die Tochter bewirbt. Ein hübsches Mädchen! Sie kann sich rühmen, wenn sie Irwing ihre Hand reicht, einen Mann zu bekommen, wie es keinen bessern gibt.«

Dann wandte er die Augen nach der andern Gruppe und beobachtete Mary und Wilson. – »Hm,« fuhr er in seinem Selbstgespräch fort, »der andere scheint mir auch verliebt; aber das ist Strohfeuer!«

Als die beiden Freunde am späten Abend jenes Tages auf der Veranda saßen, um vor dem Schlafengehen das letzte Glas Sodawasser zu trinken und den letzten Cheroot zu rauchen, unterbrach Wilson eine längere Pause plötzlich, indem er sagte:

»Irwing, ich habe große Lust mich zu verheiraten.«

»Das fällt Ihnen alle vierzehn Tage ein. – Warten Sie, bis Sie Ihre May wiedergefunden haben.«

»Nein, ich denke nicht an May. Ich will mich hier verheiraten.«

Die Veranda war dunkel. Man hatte die Lampen im Zimmer gelassen, um von den Moskitos nicht belästigt zu werden. Wilson konnte Irwings Gesicht nicht sehen, das plötzlich bleich geworden war. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Was meinen Sie dazu, Irwing?«

»Wozu?« entgegnete dieser halblaut.

Wilson war an die kurzen Antworten seines Freundes gewöhnt. Seine Einsilbigkeit hatte nichts Auffallendes.

»Wozu?« wiederholte er. »Nun zu meiner Idee natürlich! Dazu, daß ich mich verheirate!«

»Mit wem wollen Sie sich verheiraten?« fragte Irwing mit tonloser Stimme.

»Mit wem?« rief Wilson, seinem Gefährten durch diese Wiederholung gleichsam einen Vorwurf machend. »Sie haben zu gut gegessen, alter Freund! Sie sind schwerfällig, sonst würden Sie nicht eine solche Frage an mich richten. – Mit wem kann ein vernünftiger Mensch sich heuzutage verheiraten wollen? – Mit Mary Thorn natürlich! – Gibt es ein Mädchen auf der Welt, das den Vergleich mit ihr aushalten könnte? – Diese wunderbaren blauen Augen! Und diese Wimpern! Ich hatte, als ich mit ihr sprach, fortwährend die größte Lust um Erlaubnis zu bitten, sie messen zu dürfen. Sie sind dreiviertel Zoll lang, darauf wette ich! – Und dann die blonden Haare und die kleinen Zähne! Von den Händen und den Füßen, von der ganzen Figur gar nicht zu sprechen! Alles ist vollkommen schön. Und wie spielt sie! Sie ist eine vollkommene Künstlerin! – Und ihre Unterhaltung erst! Wir waren schon bei den Früchten angelangt, und ich hätte geschworen, wir säßen noch keine fünf Minuten bei Tische. In meinem ganzen Leben habe ich nicht so angenehme Stunden verbracht wie heute. – Mit wem, alter Irwing, kann sich ein vernünftiger Mensch verheiraten wollen? – Mit Mary Thorn natürlich, mit Mary Thorn und mit keiner andern! Ich habe mir die Sache reiflich überlegt. Ich kann ohne sie nicht glücklich sein, und ich heirate sie – oder es gibt ein Unglück!«

»Reiflich überlegt« – wiederholte Irwing leise und bitter – »wann denn?«

»Wann denn? – Sie sind heute unausstehlich! Den ganzen Abend, bei Tische, nach Tische, während des Zuhausegehens, jetzt! Ich habe in meinem Leben noch nichts halb so lang und halb so gründlich überlegt, und niemand hat mir jemals vorgeworfen, daß ich kopflos zu handeln pflege. – Ja, mit Ihnen ist es etwas anderes. Sie gehen langsamer zu Werk als ich. Wie viel gute Gelegenheiten mögen Sie nicht schon ungenützt haben vorübergehen lassen! . . . Mann, Freund, Bruder! Wenn ich an Ihrer Stelle in Yokohama gewesen wäre und sechs Wochen mit Mary Thorn unter einem Dache gewohnt hätte! – Wir wären jetzt schon ein-, zwei-, dreimal aufgeboten und hätten vor dem Altare gestanden, und ich hätte Ihnen die neue Madame Wilson vorgestellt, anstatt daß Sie mich mit Fräulein Mary Thorn bekannt gemacht haben.«

Irwing antwortete nicht. Wie eine furchtbare Last lag es ihm auf dem Herzen. Er konnte kaum atmen. Er wagte nicht aufzustehen, aus Furcht sich zu verraten. Er wischte sich die Schweißtropfen ab, die ihm auf der Stirn perlten und trank hastig einen Schluck Sodawasser; dann beugte er sich wieder zurück und blieb still und unbeweglich im Dunklen liegen.

»Nun erzählen Sie mir einmal,« fuhr Wilson gelassen fort, »was Sie von der Familie Thorn wissen. Haben Sie irgend etwas bemerkt, was Ihnen nicht ganz in Ordnung schiene? – Sind Vater und Mutter ordentliche Leute? Und haben Sie etwas gesehen, woraus Sie den Schluß ziehen können, daß Mary Thorn nicht so vollkommen liebenswürdig ist, wie sie heute erscheint? – Sprechen Sie, Mann! Können Sie ein Wort sagen, um mich in meinem Vorsatze schwankend zu machen?«

»Nein!« brachte Irwing mit großer Mühe hervor.

»Das ist also eine abgemachte Sache. Dann handelt es sich nur noch darum, meinen Antrag so vorzubringen, daß er nicht zurückgewiesen wird. Und dazu, alter Freund, müssen Sie mir behilflich sein. Ich rechne darauf, daß Sie mit Herrn und Frau Thorn in einer Weise sprechen, die die Leute im voraus für mich einnimmt. Sie müssen schon einmal, mir zu Gefallen, ein kleines Opfer bringen und aus Ihrer Schweigsamkeit hinaustreten. Ich verlange nicht mehr von Ihnen, als daß Sie das Gute von mir sagen, was Sie von mir denken und wissen. Sie können sogar auch das Schlechte hinzufügen. Es ist nicht viel, das weiß ich. Bringen Sie also den Leuten im Laufe des Gesprächs meine Biographie bei: Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt. Mein Vater ist ein geachteter, guter Jurist in London, meine Mutter ist tot, Brüder habe ich nicht, und meine Schwester ist an einen wohlhabenden, angesehenen Kaufmann in der City verheiratet. Über meinen Charakter kann jedermann in Schanghai, Ralston an der Spitze, Auskunft geben. Was meine Vermögensverhältnisse anbetrifft, so habe ich gar nichts dagegen, wenn Sie dem Vater Thorn eine Abschrift unserer letzten Bilanz zur Verfügung stellen. Er wird daraus sehen, daß ich in der Lage bin, seine Tochter anständig zu ernähren. – Sind Sie imstande, ihm dies alles klar und deutlich zu machen?«

»Ich will es versuchen.«

»Haben Sie sich erkältet? Sie sprechen ganz heiser.«

»Nein.«

»Zur größern Sicherheit werde ich Ihnen übrigens einen Gehilfen geben. Ich will Weber anweisen, in dem von mir gewünschten Sinne zu sprechen. Er ist ein guter Mensch, er hält etwas auf uns und hat den Mund auf dem rechten Flecke. Ich werde morgen früh zu ihm gehen und die Sache in Ordnung bringen. Jetzt schläft er vermutlich schon, sonst würde ich ihn gleich aufsuchen. – Aber das ist noch nicht alles. Ich verlange noch etwas von Ihnen . . . Mit den Eltern kann Weber zur Not schon fertig werden; aber die Tochter, Irwing, die Tochter, die müssen Sie übernehmen. – Was werden Sie der von mir erzählen? Glauben Sie sich geschickt genug, um mich in ihren Augen als einen Menschen darzustellen, dem sie sich mit Sicherheit anvertrauen kann? – Schade, daß die Rollen nicht umgetauscht sind! Wenn ich für Sie zu werben hätte, dann sollten Sie einmal sehen, wie ich einen Freund loben kann. Einen solchen Menschen wie Irwing gibt es gar nicht mehr auf der Welt, würde ich sagen: treu wie Gold, weich wie ein Kind, mutig und stark wie ein Löwe, der erste Ingenieur des neunzehnten Jahrhunderts, dem es vorbehalten bleibt, den Tunnel oder die Brücke zwischen England und Frankreich herzustellen oder die Sahara zu einem Mittelmeer zu machen. – Ja ja, Sie sollten Ihre Freude an mir haben, Irwing! Nicht wahr, das wissen Sie und zweifeln nicht daran?«

»Ja, das weiß ich.«

»Nun, ich zweifle auch nicht an Ihnen und rechne auf Sie.«

Wilson war aufgestanden und hatte sich dem großen Sessel genähert, auf dem Irwing noch immer unbeweglich lag.

»Schlagen Sie ein, alter Freund«, sagte er und streckte Irwing die Rechte entgegen. Dieser reichte ihm die Hand.

»Ihre Hand ist eiskalt. Fehlt Ihnen etwas?«

Irwing antwortete nicht. Er versuchte sich aufzurichten; aber er fiel auf den Sitz zurück. Wilson war so weit entfernt, an irgend etwas Außergewöhnliches in dem Zustande seines Freundes zu denken, daß ihm diese Bewegungen kaum auffielen. Er wiederholte seine Frage, ob Irwing etwas fehle, und erst als er auch diesmal ohne Antwort blieb, beugte er sich hinunter, um das Gesicht seines Freundes zu sehen. Er erkannte im Halbdunkel, daß Irwings Augen geschlossen waren, und er hörte ihn schwer und beklommen atmen. Nun ging er schnell in das Zimmer, um Licht zu holen. Beim Schein der Lampe, die er herbeigetragen hatte, sah er Irwing aschgrau, mit geschlossenen Augen, die weißen Lippen fest zusammengekniffen, einer Leiche ähnlich daliegen. Er lief in sein Zimmer und kam mit einer Flasche Eau de Cologne zurück. Gleichzeitig rief er den Boy und sandte ihn zum Doktor mit dem Auftrag, dieser möge sofort kommen.

»Irwing hat sich gestern zu sehr angestrengt«, dachte er. »Es war sehr heiß. Er war in schlechter Kondition, und ich hätte ihn nicht reiten lassen sollen. Ich selbst war gestern abend matt zum Umfallen.«

Lange ehe der Arzt erschien, nach wenigen Minuten bereits, kam Irwing wieder zu sich. »Was fehlt Ihnen?« fragte Wilson teilnehmend.

»Ich bin etwas angegriffen . . . Die Hitze . . .«

»Jawohl, das ist es! Es war gestern zu heiß, und Sie hatten nicht trainiert. Das dachte ich mir gleich. Wir sind sechs Jahre älter geworden, seitdem wir uns kennen, und sechs Jahre in Schanghai, das ist kein Spaß. Kommen Sie, stehen Sie auf! Stützen Sie sich fest auf mich, ich will Sie in Ihr Zimmer begleiten. Ich habe für alle Fälle Doktor Jenkins rufen lassen, der Ihnen, nach meiner Meinung, etwas Beruhigendes verschreiben muß. Wenn Sie die Nacht über ordentlich schlafen, so sind Sie morgen früh wieder frisch und gesund. Kommen Sie! Ein bißchen Courage, alter Mann!«

Er hob den schweren Irwing halb in die Höhe, nötigte ihn, sich fest auf seine Schulter zu stützen, und begleitete ihn in das Schlafzimmer. Irwing hatte auf der Veranda im Nachtanzuge gesessen und warf sich, wie er war, auf sein Bett. Dort drehte er den Kopf gegen die Wand und sagte ungeduldig, man möge ihn allein lassen, dann würde er wohl einschlafen.

Wilson entfernte sich auf den Zehenspitzen; aber er blieb draußen im Gange, wo er alles hören konnte, was in Irwings Zimmer vorging, stehen und wartete, bis der Doktor kam. Als er mit diesem, eine halbe Stunde später, an das Bett trat, schien Irwing eingeschlafen zu sein. Er hatte seine Lage nicht verändert und atmete schwer. Der Doktor nahm ein Licht, und näherte sich ihm. Er ergriff die Hand des Leidenden, um den Puls zu fühlen, dann drehte er ihm den Kopf halb herum, um das Gesicht sehen zu können. Irwing öffnete die Augen und sah den Arzt fest und ruhig an. Auf die Frage, was ihm fehle, antwortete er leise, er habe sich plötzlich, ohne daß er irgendeinen Grund dafür angeben könne, unwohl gefühlt: er schiebe es auf die Hitze von gestern.

Dies war auch die Meinung des Doktors, und er verordnete demgemäß verschiedene Heilmittel, die Wilson sofort aus der Apotheke holen ließ, und die Irwing geduldig einnahm. Dann wiederholte er, diesmal sanft und freundlich, die Bitte, man möchte ihn allein lassen. Wilsons Vorschlag, bei ihm zu wachen, wies er zurück. Das einzige, was er auf Zureden seines Freundes endlich gestatten wollte, war, daß einer der Boys vor der Tür schlafe, um, für den Fall er sich wieder unwohler fühlen sollte, Wilson oder den Doktor rufen lassen zu können.

Wilson stand in der Nacht zweimal auf und schlich sich auf den Fußspitzen in Irwings Zimmer. Die Tür war nur angelehnt, und er konnte sich dem Bette nähern, ohne das geringste Geräusch zu machen. – Irwing lag, mit beiden Händen vor dem Gesichte, noch immer in derselben Stellung, der Mauer zugekehrt. Er träumte wohl, und er schien einen bösen Traum zu haben, denn er stöhnte und ächzte, und Wilson glaubte die Worte: »Mein Gott, mein Gott, was soll ich tun?« die sich immer wiederholten, zu verstehen. Er fragte sich, ob er den Schlafenden nicht wecken sollte, um ihn von dem Alp zu befreien, der ihn quälte. – Aber der Kranke wurde etwas ruhiger, und Wilson schlich darauf ungehört, wie er gekommen war, wieder aus dem Zimmer.

Am nächsten Morgen stand Irwing zur gewöhnlichen frühen Stunde auf. Er war noch blaß, aber er ging seinen Geschäften ruhig, in alter Weise nach. Wilson wollte ihn daran verhindern.

»Tun Sie mir den Gefallen und bleiben Sie heute ruhig auf der Veranda oder in Ihrem Zimmer«, sagte er. »Es ist nichts für Sie zu tun. Ich kann alles besorgen.«

Aber Irwing antwortete verdrießlich: »Ich bitte bekümmern Sie sich nicht um meinen Zustand. Es macht mich ungeduldig. Ich bin nicht krank. Lassen Sie mich nur ganz ruhig!«

Er hatte in sechs Jahren niemals so wenig freundlich mit seinem Genossen gesprochen; aber dieser sah darin nichts als ein Anzeichen der Krankheit und fügte sich den Wünschen seines Freundes, ohne weiter ein Wort zu sagen. Er ging jedoch gerades Weges zum Doktor und hatte mit diesem eine lange Unterredung über den Zustand des Kranken. Der Arzt meinte, die Sache habe nichts zu bedeuten und werde in wenigen Tagen beseitigt sein. Irwing habe wahrscheinlich Kopfschmerzen und sei infolgedessen übler Laune, das Beste, was man für ihn tun könne, wäre, ihn nicht zu ärgern, nicht ungeduldig zu machen und ihm seinen Willen zu tun.

Vor Tische machte Wilson den Thorns einen Besuch und erzählte diesen von dem Unwohlsein Irwings. Er sprach während der halben Stunde, wo er bei ihnen saß, von nichts anderem. Alle: der Vater, die Mutter, die Tochter schienen den regsten Anteil an dem Zustande seines Freundes zu nehmen, und Herr Thorn sagte, daß er noch im Laufe des Abends kommen werde, um sich nach dem Befinden des Kranken zu erkundigen.

Während der Mahlzeit berichtete Wilson darauf von seinem Besuche und teilte gleichzeitig mit, daß Herr Thorn sein Kommen angezeigt habe. Irwing wurde darüber wieder ungeduldig und murmelte zwischen den Zähnen, er sei nicht zum Sprechen aufgelegt und sähe am liebsten keine fremden Gesichter. Wilson benutzte dies, um ihm freundschaftlichst Vorwürfe zu machen, daß er so menschenscheu sei und selbst Leute, die es aufrichtig gut mit ihm meinten, mit abschreckender Zurückhaltung behandle.

»Wenn Sie gehört hätten,« fügte er hinzu, »mit welcher Teilnahme man sich nach Ihnen erkundigte, so würden Sie, schon aus Dankbarkeit, bereit sein, dem alten Thorn ein freundliches Gesicht zu zeigen. Mary wurde ordentlich blaß, als ich erzählte, was Ihnen gestern zugestoßen sei.«

Irwing hob den Kopf nicht in die Höhe und schien aufmerksam mit dem beschäftigt, was vor ihm auf dem Teller lag.

Am Abend machte Herr Thorn den angezeigten Besuch und überbrachte dem Kranken die herzlichsten Grüße von seiner Frau und Tochter. Irwing antwortete, Wilson habe die Sache schlimmer gemacht, als sie sei: er fühle sich schon wieder wohl, nur sei er noch etwas matt; aber er denke, morgen ausgehen zu können.

Als Herr Thorn wieder gegangen war, sagte Wilson: »Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich mir meine eigenen Angelegenheiten nicht aus dem Kopfe schlagen kann. Die Liebe macht egoistisch. Das wissen Sie noch nicht, junger Mann, aber das werden Sie seinerzeit erfahren, wenn Sie Ihre Mary gefunden haben wie ich nun die meine. – Bitte, versäumen Sie nicht, wenn Sie die Thorns morgen sehen, meine Sache einzufädeln. Thorn will nur vier Wochen hier bleiben, und ich habe nicht viel Zeit zu verlieren. Aber wenn ich Jahre vor mir hätte, so würde ich es deshalb nicht weniger eilig haben. – Also nicht wahr? Das ist abgemacht! Wenn Sie morgen wohl genug sind, um überhaupt auszugehen, so machen Sie auch den Thorns einen Besuch und sprechen in der verabredeten Weise.«

»Ja ja ja!« antwortete Irwing ungeduldig. Dann erhob er sich, ging auf die Veranda und warf sich in der dunkelsten Ecke auf einen langen Stuhl, wo er einzuschlafen schien.

Wilson ging mißmutig im Zimmer auf und ab. Er war auf Irwing böse. Es kam ihm vor, als sei dieser seit vierundzwanzig Stunden ein ganz anderer, ein unliebenswürdiger Mensch geworden, und er wußte nicht, worauf er diese Veränderung zurückführen sollte. Schließlich warf er sich seinen Unmut über Irwing als eine Ungerechtigkeit gegen diesen vor: »Der arme Mann ist krank,« sagte er sich, »das ist alles. Er leidet vielleicht mehr, als er mir oder dem Doktor bekennen will.« Darauf ging er hinaus auf die Veranda und stellte sich neben Irwings Stuhl und sagte zutraulich: »Nun, alter Mann, wie geht es? Wollen Sie eine Tasse Tee oder ein Glas Soda trinken? Was kann ich für Sie tun?«

Irwing hatte mit der linken Hand das Gesicht bedeckt und sagte leise: »Danke, lieber Wilson, ich gebrauche nur Ruhe.« Es kam Wilson vor, als klinge die Stimme wie die eines Mannes, der geweint hat. Es war ihm, als ob er einen Stich in die Brust empfangen hätte. – Woran litt Irwing? Was mochte ihm nur fehlen?


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