Rudolf Lindau
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Rudolf Lindau

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III

Wilson und Irwing langten am Abend des zweiten Tages, nachdem sie Schanghai verlassen hatten, wohlbehalten in Su-tschau an. Dieser letzte Teil der Reise war freilich höchst beschwerlich und unangenehm gewesen. Das Land, durch das der Weg führte, war überall auf das schrecklichste verwüstet. Geplünderte und niedergebrannte Ortschaften bildeten gewissermaßen die Ufer des Kanals. Verwesende Leichname, die man häufig und zahlreich vorfand, verbreiteten einen pestilenzialischen Geruch. Friedliche Landbewohner waren nirgends zu erblicken, und die einzigen menschlichen Wesen, denen die Reisenden begegneten, waren Soldaten der Rebellenarmee, die in Anzug und Gebärde den schlimmsten Banditen glichen. Die Schiffsleute und die Boys wurden ängstlich; sie baten, man möge doch nach Schanghai zurückkehren. Wilson beruhigte sie nur mit großer Mühe; ja zuletzt mußte er drohen, er werde sie den Changmaos ausliefern, wenn sie nicht den in Schanghai versprochenen Gehorsam leisteten. – Das Boot wurde nicht selten zum Anhalten gezwungen. Die Papiere, die Wilson vorzeigen konnte, und das hochmütige, energische Wesen, mit dem er den Rebellen überall entgegentrat, hatten jedoch zur Folge, daß die Weiterreise nach kleinen Verzögerungen immer wieder gestattet wurde.

Wilson hatte während der Fahrt erzählt, daß er vor vierzehn Tagen in Su-tschau die Bekanntschaft mit einem wohlhabenden chinesischen Kaufmann erneuert habe, der früher nach Schanghai zu kommen pflegte, dem es wahrscheinlich durch Bestechungen gelungen sei, das Wohlwollen einiger Rebellenhäuptlinge zu gewinnen, und der diesen und sich selbst nun erhebliche Dienste leiste, indem er, wenn auch vorläufig noch mit beschränkten Mitteln, den Versuch mache, einen Handelsverkehr mit Schanghai, auf den die umsichtigen Rebellen ebenfalls großen Wert legten, herzustellen. An diesen Kaufmann, namens Assing, dessen Wohnung in Su-tschau Wilson kannte, waren das Opium, die Waffen und die Munition, die er mit sich führte, so gut wie verkauft. Auch durfte er erwarten, bei ihm einige vierzig bis sechzig Ballen Seide zu finden.

»Das Geschäft wird sich natürlich nicht so leicht abwickeln, als wenn wir in Schanghai in unserem Hause säßen,« setzte Wilson hinzu, »denn Freund Assing, der ein ganz durchtriebener Halunke zu sein scheint, wenn er auch nicht gerade ein Spitzbube ist, weiß sehr wohl, daß er keine Konkurrenz zu fürchten hat, und wird zunächst auf unsere Bedingungen nicht eingehen wollen; aber schließlich muß er mir doch nachgeben. Er hat den Rebellen versprochen, ihnen Waffen zu verschaffen, und er weiß, daß er erst dann auf neue und bedeutende Zufuhren aus Schanghai rechnen kann, wenn sich dort die Nachricht verbreitet hat, daß man im Rebellenlager nicht geradezu mit Halsabschneidern verkehren muß.«

Su-tschau, seit dem Fall von Nanking die Hauptstadt der Provinz Kiangsu, die nahe an vierzig Millionen Einwohner zählt, galt noch zu Anfang des Jahres 1860 als eine der reichsten und schönsten Städte von ganz China. Man wagte es, sie mit London und Paris zu vergleichen; und im Munde der Chinesen gab es ein altes, geflügeltes Wort, das man in Schanghai oftmals hören konnte: »Oben ist der Himmel; aber auf der Erde Su und Hang« (Su-tschau und Hang-tschau).

Im Frühjahr 1860, nachdem HoKwei-tsing, der Generalgouverneur der Provinz Kiangsu, von den Aufständischen, denen er sich mit einer starken Armee entgegengestellt hatte, geschlagen worden war, füllte sich Su-tschau mit flüchtigen kaiserlichen Soldaten. Sü, der Gouverneur, ließ darauf die großen und reichen Vorstädte niederreißen, in der Hoffnung, daß es ihm gelingen werde, Su-tschau selbst, das mit hohen, festen Mauern umgeben war, gegen das drohende Anstürmen der Changmaos zu schützen. Aber die flüchtigen Soldaten, die keine Disziplin mehr kannten, und die sich durch Plündern in den Vorstädten bereichert hatten, verweigerten den Gehorsam, noch ehe die Rebellen in Sicht kamen. Sü erhängte sich darauf an einem Baum im Hofe seines Palastes, nachdem er seine Frauen und Kinder in ein Haus eingesperrt und dort verbrannt hatte. Er wagte nicht zu entfliehen, aus Furcht vor dem Zorne seines kaiserlichen Herrn; und er wollte nicht, daß er oder ein Mitglied seiner Familie lebend in die Hände der Changmaos fiele.

Nach seinem Tode, im Monat Mai, suchten die meisten Bürger von Su-tschau ihr Heil in der Flucht. Ein Teil der Unglücklichen gelangte bis nach Schanghai; Tausende und aber Tausende starben auf der Reise, brachten sich selbst um das Leben oder wurden von den Changmaos und von Räuberbanden, die sich schnell gebildet hatten, ausgeplündert und niedergemetzelt. Su-tschau selbst fiel am 9. Juni ohne Schwertstreich in die Hände der Aufständischen.

Die geflüchteten Einwohner hatten an tragbarer, wertvoller Habe mit sich genommen, was sie nur irgend retten konnten; aber viel kostbare Möbel, Waren und Gerätschaften hatten sie zurücklassen müssen. Alles dies wurde von den Rebellenhorden geraubt oder mutwillig zerstört. Die engen langen Straßen, in denen vor wenigen Wochen noch reiches, gesundes Leben geherrscht hatte, waren nun verödet: zerschlagene Möbel, aufgerissene, besudelte Ballen und Kisten Waren aller Art versperrten den Weg an vielen Stellen, die Türen und Fenster der Häuser waren eingeschlagen, alles Verschlossene war dort gewaltsam erbrochen worden, und inmitten der furchtbaren Verwüstungen verwesten Tausende von Leichen, zeigten sich starke Rudel wolfsähnlicher verwilderter Hunde und vegetierten einige blödsinnige, halbverhungerte Greise und Greisinnen. Die Changmaos, nachdem sie im Innern der Stadt das Werk der Zerstörung vollendet, hatten sich auf die, an den äußeren Kanälen gelegenen, größeren Straßen zurückgezogen, die sie im Interesse der eigenen Sicherheit von Leichen gesäubert hatten.

In einem dieser Kanäle der Vorstadt, in der Nähe der kolossalen, neunstöckigen Pagode Pok-tsu, eine der berühmtesten Bauten von Su-tschau und von ganz China, befahl Wilson, vor einem massiven Gebäude Halt zu machen. Das Haus hatte eine niedrige, schmale, mit dickem Eisenblech beschlagene Tür, die vier bis fünf Fuß über dem Spiegel des Kanals gelegen war. Eine steinerne Landungstreppe von wenigen Stufen führte zu der Tür. An der Treppe lag ein kleiner Kahn, in dem ein Bootsmann lang ausgestreckt schlief.

In den Kanälen von Su-tschau, die, wie in Venedig, die Stadt nach allen Richtungen hin durchschneiden, findet man ebensoviel kleinere und größere Fahrzeuge, wie man in den belebten Straßen einer europäischen Hauptstadt Equipagen und Wagen antrifft. Das in Schanghai nach einem chinesischen Modell gebaute Boot, auf dem sich Wilson und Irwing befanden, und das von chinesischen Schiffsleuten gerudert wurde, war, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, nach seinem Bestimmungsorte gelangt. Wilson hatte die englische Flagge, die bis dicht vor Su-tschau oben auf dem Maste geweht hatte, herunterziehen lassen und war mit Irwing in die Kajüte getreten, um den Blicken der Vorüberfahrenden zu entgehen. Sobald das Boot aber an der Treppe angelegt hatte, begab er sich in das Haus, aus dem er nach wenigen Minuten mit einem freundlich lächelnden, anständig gekleideten Chinesen zurückkam. Dies war Assing. Wilson stellte ihm seinen Reisegefährten vor, nötigte ihn zum Sitzen und machte es sich dann selbst auf einem der langen Sophas bequem, die während der Nacht als Bettstellen dienten.

Der Neuangekommene sprach die in Schanghai zwischen Europäern und Chinesen gebräuchliche Umgangssprache, das sogenannte Pidgin-Englisch, mit großer Geläufigkeit, so daß die Unterhaltung zwischen ihm und Wilson ohne jede Schwierigkeit geführt werden konnte.

Nachdem die gewöhnlichen Begrüßungsformeln ausgewechselt, Wilson einige Nachrichten aus Schanghai, und der chinesische Kaufmann die letzten Neuigkeiten aus dem Rebellenlager erzählt hatte, kam Assing endlich auf den eigentlichen Gegenstand seines Besuches, indem er fragte, was Wilson an Waren mit sich führe.

»Ein paar gute Büchsen und Revolver und ein paar Kisten Opium und Munition,« war die Antwort.

Der chinesische Kaufmann fragte darauf, ob er Proben dieser Sachen sehen könne, und nachdem ihm diese gezeigt waren und er sie mit der Miene eines Kenners in Augenschein genommen hatte, erkundigte er sich mit einem etwas verlegenen Lächeln nach den Preisen, welche man dafür verlange.

Die Antwort, die er auf diese Frage erhielt, setzte selbst den gelassenen Irwing in Erstaunen. Wilson, der lang ausgestreckt dalag, die Hände hinter dem Kopfe gekreuzt, eine brennende Zigarre im Munde und die Augen durch den Schirm seines vorgeschobenen großen Helmes halbverdeckt, nannte mit großer Ruhe vier- und fünffach höhere Preise als die in Schanghai in dem Augenblicke üblichen.

Assing sprang, als ob er entsetzt wäre, in die Höhe und näherte sich dem Ausgange. Wilson rührte sich nicht. Der Chinese besann sich auch bald wieder eines andern, blieb in der Mitte der Kajüte stehen und sagte mit einem Tone zärtlichen und komischen Vorwurfes, Herr Wilson beliebe wohl zu scherzen. Dieser entgegnete kein Wort. Assing zog darauf einen noch nicht sehr alten Preiskurant von Schanghai aus der Tasche und versuchte, auf die dort gedruckten Zahlen sich stützend, seinem Geschäftsfreunde zu beweisen, daß die von ihm gestellten Anforderungen geradzu unvernünftige wären.

Wilson ließ den Mann eine ganze Weile ungestört sprechen. Dann setzte er die Beine auf den Boden, schob den Helm in den Nacken zurück, stützte die Hände auf die Knie, und den Chinesen mit seinen klaren, scharfen Augen fest ansehend, sagte er – ziemlich gelassen, aber dennoch in unverhohlen schlechter Laune:

»Glauben Sie etwa, Freund Assing, daß ich die Reise von Schanghai bis zu diesem verdammten Raubneste zu meinem oder zu Ihrem Vergnügen unternommen habe? – Nicht einen Cent lasse ich mir von den von mir geforderten Preisen abhandeln; und wenn Sie ihn nicht annehmen, so kehre ich heute nacht noch nach Schanghai zurück. Dort warten Schiffsladungen von Waren für Sie und Ihre Rebellenfreunde; aber Sie wissen wohl, daß nicht eine Unze Opium, nicht ein Pfund Pulver den Weg nach Su-tschau finden wird, wenn ich berichte, daß hier kein Geschäft zu machen ist. Also halten Sie mich und sich nicht unnütz auf, und sagen Sie ohne weiteres ›Ja‹ oder ›Nein‹ zu meinem Vorschlage. Sie verdienen ja doch noch genug bei dem Geschäft und übernehmen dabei nicht die halbe Gefahr, die ich gelaufen habe.«

Die chinesischen Kaufleute sind äußerst gewandt und zeigen in ihren Unterhandlungen mit Fremden eine Sicherheit und Schnelligkeit des Entschlusses, die man, so lange man sie nicht kennt, gar nicht bei ihnen vermutet. Assing wollte sich nicht gleich für vollständig geschlagen erklären. Er handelte und bat noch lange, man möge ihm doch einige, wenn auch geringe Zugeständnisse machen. Wilson blieb unerschütterlich. Nach einer halben Stunde endlich, nachdem der Chinese die Liste sämtlicher zu verkaufenden Waren noch einmal aufmerksam mit traurigem Kopfschütteln und Seufzen geprüft hatte, flog plötzlich, ganz unerwartet, ein freundliches, verschmitztes Lächeln über seine Züge und er sagte: »Sehr wohl, das Geschäft ist gemacht; – aber Sie sind ein sehr harter Mann, Herr Wilson.« Darauf er hob sich dieser und sagte gelassen: »Alles ist in Ordnung« – und beide, Wilson und Assing, klappten sodann dreimal in die Hände als Zeichen, daß der Vertrag mündlich abgeschlossen sei. Wenige Minuten später folgten die beiden Engländer der Einladung des Kaufmanns, der sie bat, eine Tasse Tee bei ihm einzunehmen. Ehe jedoch die drei das Boot verließen, wurden einige handfeste Kulis, Diener Assings, gerufen, um das Fahrzeug während der Abwesenheit der Besitzer gegen etwaige Angriffe vereinzelter Banditen zu schützen.

In dem kleinen Stübchen des chinesischen Kaufmanns wurden nun alle Einzelheiten zur vollständigen Regelung des soeben abgeschlossenen Geschäftes besprochen. Assing wünschte die Ladung noch während der Nacht in Empfang zu nehmen und in seinem Godown (Magazin) unterzubringen. Er war erfreut zu hören, daß die Ankunft der Fremden kein Aufsehen erregt hatte. Das Geld für die Waffen versprach er im Laufe des nächsten Tages in vollwichtigen mexikanischen Silberdollars oder in Sycee-Shoes (Silberbarren) auszuzahlen. Wilson war mit diesen Vorschlägen einverstanden und zögerte nicht einen Augenblick, dem Kaufmann die Waren zu überlassen, ehe er das Geld dafür empfangen habe. Er kannte den Mann von Schanghai her, er wußte, daß er dort bedeutende Geschäfte machte, und er würde nicht angestanden haben, ihm noch größeres Vertrauen, als im gegenwärtigen Augenblick beansprucht wurde, zu schenken.

Im allgemeinen ist der Verkehr mit den Chinesen außerordentlich sicher. Wirkliche Betrügereien kommen nur selten vor. Die in China ansässigen fremden Kaufleute wissen dies: sie gewähren den einheimischen Kaufleuten großen Kredit und haben bis jetzt nur selten Gelegenheit gehabt, es zu bereuen. Der Chinese ist, mit nur wenigen Ausnahmen, sehr habgierig. Dies erklärt den großen Wert, den er auf Pünktlichkeit in Geldsachen legt, und die peinliche Genauigkeit, mit der er seinen Verpflichtungen in dieser Beziehung nachzukommen sucht. Auf der anderen Seite erträgt er Geldverluste, ja vollständigen Ruin, mit bewunderungswerter Gelassenheit. Er ist sehr besorgt um seinen kaufmännischen Ruf und imstande, bedeutende Opfer zu bringen, um in den Augen seiner Geschäftsfreunde einen ehrenwerten Namen aufrecht zu erhalten. Wilson wußte dies alles, und der Vorschlag Assings fand deshalb bereitwilliges Entgegenkommen bei ihm. – Die Ablieferung der Waffen und des Opiums ging während der Nacht ruhig vonstatten.

Am nächsten Morgen teilte Wilson seinem Genossen mit, daß er sich nun, nachdem der erste Teil des Geschäftes in befriedigender Weise erledigt sei, um den zweiten Teil, nämlich um den Einkauf von Seide, bekümmern werde. Er sah voraus, daß dies auf etwas größere Schwierigkeiten stoßen würde, da Seide für die Chinesen selbst einen so hohen Wert hat, daß gar nicht daran zu denken war, beim Einkauf der Seide ebenso günstige Bedingungen zu erzielen, wie beim Verkauf der Waffen und des Opiums erreicht worden waren. Doch hoffte er mit Sicherheit, ein gutes Geschäft machen zu können, da Assing bei den unruhigen Zeiten, in denen man lebte, das leicht zu verbergende Silber jeder, wenn auch noch so kostbaren Ware vorziehen würde.

Der Chinese, wahrscheinlich um glauben zu machen, daß ihm am Verkauf der Seide wenig gelegen sei und daß er das mit Wilson gemachte Geschäft als vollständig abgeschlossen betrachte, ließ noch im Laufe des Vormittags das in großen Säcken verpackte, gewissermaßen verborgene Silber, nachdem es in seinem Hause bei verschlossenen Türen und Fenstern als vollgültig und richtig befunden worden war, in die Kajüte des Schanghaibootes bringen. Dort wurde es an einem möglichst geheimen Ort untergebracht. Nach dem Frühstück, das der Chinese mit seinen englischen Freunden eingenommen hatte, kamen Wilson und Assing jedoch ganz natürlich auf das Seidengeschäft zu sprechen und einigten sich schließlich dahin, daß man den Nachmittag benutzen wolle, um fünfzig Ballen Seide, die sich in einem feuerfesten Godown, in geringer Entfernung von der Stadt, befänden, in Augenschein zu nehmen. Wilson, um während der Fahrt auf den belebten Kanälen keine Aufmerksamkeit zu erregen, zog sich ein langes chinesisches Kleid an, wie es von den einheimischen Kaufleuten getragen wird, und verbarg sein helles Haar, so gut er es konnte, unter einer kleinen Kappe, über die er zum Schutze gegen die Sonnenstrahlen einen großen, breitränderigen Strohhut setzte. Er machte sich sodann mit Assing auf den Weg, nachdem er Irwing anempfohlen hatte, auf dem Boote Wache zu halten und es unter keiner Bedingung von einem fremden Chinesen betreten zu lassen.

Ein Diener Assings, der ebenfalls das sogenannte Pidgin-Englisch sprach, blieb bei Irwing, um ihm bei etwaigen mündlichen Auseinandersetzungen mit anderen Chinesen behilflich zu sein. Wilson riet seinem Freund an, einige geladene Revolver und »Henry-Rifles« bereit zu halten, und begab sich sodann, über das Schicksal des Zurückbleibenden und des Geldes, das dieser bewachte, vollständig beruhigt, mit Assing und drei Rebellenoffizieren, die sich zu ihnen gesellt und wahrscheinlich Anteil an dem Geschäfte hatten, nach dem Packhaus, in dem die zu verkaufende Seide verwahrt war.

Die Wacht, die Irwing während dieses langen Sommernachmittags zu halten hatte, war nicht leicht. Trotz aller angewandten Vorsicht hatten doch einige Neugierige die Anwesenheit der Fremden bemerkt, und wenige Stunden, nachdem Wilson fortgegangen war, kamen mehrere kleine Kähne herangeschwommen, die mit zerlumptem, bewaffnetem Gesindel gefüllt waren. Sie näherten sich dem Boot auf kurze Entfernung und begannen eine schreiende Unterhaltung mit dem Lauder und mit Assings Diener. Dieser kam bald darauf in die Kajüte, um stammelnd zu berichten, daß die Leute an Bord des Bootes zu kommen wünschten, um den Fremdling selbst und die sich in der Kajüte befindlichen ausländischen Möbel in Augenschein nehmen zu können.

Irwing antwortete einfach: »Sie dürfen nicht kommen«, – und als das Schreien fortdauerte und immer lauter wurde, steckte er sich zwei Revolver in die Tasche, nahm einen starken Rohrstock, dessen Griff eine schwere Bleikugel bildete, in die Hand, stellte eine geladene Büchse im Innern der Kajüte an die Tür und ließ von dem Boy einen Sessel auf das Verdeck tragen. Nachdem er diese Vorbereitungen mit großer Ruhe getroffen und sich durch einen Blick aus dem Kajütenfenster überzeugt hatte, daß sein Boot dicht an der Mauer von Assings Hause lag, so daß also nur von einer Seite ein Angriff möglich war, trat er langsam zur Türe hinaus und stieg auf das niedrige, kleine, durch das Dach der Kajüte gebildete Verdeck.

Das Schreien verstummte einen Augenblick, als die Chinesen den großen, blonden Mann erblickten, der sich, nachdem er sie längere Zeit gemustert, auf dem für ihn bereitgestellten Stuhle niederließ. Nach wenigen Minuten jedoch fing der Lärm von neuem an.

Einige zwanzig Kähne, von denen ein jeder drei bis fünf Mann trug, hatten sich nun bereits versammelt. Sie sperrten die Durchfahrt in dem Kanale beinahe vollständig, und es war vorauszusehen, daß das Gedränge und Geschrei mehr und mehr zunehmen werde. Aber alles dies kümmerte Irwing nicht. Er saß auf dem Verdeck und bewachte den ihm von Wilson anvertrauten Schatz wie ein guter treuer Hofhund, der nur seine Pflicht kennt, und der die scharfen Zähne zeigt und knurrt, wenn sich Diebe nahen, unbekümmert, ob ihrer zwei oder zwanzig ihn bedrohen.

Eine ganze Stunde lang begnügten sich die Chinesen einfach damit zu schreien. Keiner von ihnen hatte den Mut, sich zuerst auf das von dem fremden Manne verteidigte Boot zu wagen. Mehrere von ihnen trugen schlechte Gewehre auf den Schultern; aber der Europäer hatte ihnen noch nichts getan, es war ihnen von ihren Vorgesetzten befohlen, die »rothaarigen Freunde« aus Schanghai mit Achtung zu behandeln; und obgleich Disziplin im Rebellenheere wohl nicht einmal dem Namen nach gekannt war, so wußten die Soldaten doch, daß für gewisse Missetaten Enthauptung die sichere und schnelle Strafe zu sein pflegte. Diejenigen, welche nun Irwing begafften und anschrien, waren nicht ganz sicher, ob ein Angriff auf den »Barbaren« nicht vielleicht eine jener verpönten Taten sein könnte.

Plötzlich änderte sich das Bild, und das Geschrei verstummte. Ein staatliches, von sechs Ruderern vorwärts getriebenes Boot, auf dem mehrere dreieckige gelb und schwarze Flaggen wehten, kam rasch dahergeschwommen. Die kleinen Kähne wichen scheu nach allen Richtungen hin aus. Das Boot machte Irwing gegenüber in einer Entfernung von wenigen Schritten halt, und einer der Leute, die sich am Bord desselben befanden, rief unserem Freunde etwas zu. Assings Diener, der sich ängstlich in der Kajüte versteckt gehalten hatte, und dessen Aufmerksamkeit durch das plötzliche Verstummen des Lärms erregt worden war, erschien darauf auf dem Verdeck und beantwortete unter höflichen Verbeugungen die von dem Neuangekommenen an ihn gerichteten Fragen. Nach einigem Hin- und Herreden und nachdem der fremde Chinese zweimal in die Kajüte seines Bootes gestiegen war, um seinem dort wartenden Herrn Bericht von dem was vorging abzustatten, verdolmetschte Assings Diener Irwing endlich, der Herr in dem Boote sei ein hoher Taïpingoffizier, der um Erlaubnis bitte, dem »fremden Freunde« einen Besuch machen zu dürfen. Dies war Irwing bereit zu gestatten, unter der Bedingung jedoch, daß der Offizier allein käme.

»Mit einem dieser Kerle werde ich unter allen Umständen fertig werden,« dachte er sich, »und möglicherweise macht der Besuch dem Spektakel ein Ende, der mir unangenehm zu werden anfängt.«

Der Taïpingoffizier, ein junger, reichgekleideter Mann, der nun auf dem Verdeck seines Fahrzeuges erschien, war bereit auf Irwings Vorschlag einzugehen, und sein Boot wurde deshalb dicht an das andere herangezogen. Der junge Engländer ging ihm entgegen und bot ihm sogar die Hand, um ihm beim Einsteigen in sein Boot behilflich zu sein; als aber zwei andere Chinesen aus der Begleitung des Offiziers ihrem Herrn folgen wollten und bereits den Fuß auf Irwings Verdeck gesetzt hatten, sprang dieser ihnen, sobald er ihrer ansichtig wurde, mit einem Satze entgegen und versetzte einem jeden einen so heftigen Stoß, daß sie zurücktaumelten, das Gleichgewicht verloren, und der eine in das Wasser, der andere in das chinesische Boot fiel.

Nun entstand plötzlich wieder großes Geschrei: der Taïpingoffizier wurde grünlich blaß; aber Irwing, als sei nichts Außergewöhnliches geschehen, näherte sich ihm und nötigte ihn freundlich, in die Kajüte zu treten. Der Changmaos zögerte eine Sekunde; dann hob er den Arm und gebot mit lauter, zorniger Stimme Ruhe. Als diese hergestellt war, folgte er Irwing.

Assings Diener war ebenfalls in die Kajüte getreten, und mit seiner Hilfe führten nun der Changmaos und Irwing eine längere, freundliche Unterhaltung. Als der Offizier sich zurückziehen wollte, überreichte Irwing ihm einen Revolver, den der Chinese mit freudestrahlendem Gesichte annahm. Er eilte in sein Boot, kam sofort wieder zurück und gab Irwing mit den lebhaftesten Freundschaftsbezeugungen eine ziemlich große, aus Jadstein kunstreich geschnittene Büchse. Dann entfernte er sich, wiederholt und höflich grüßend. Seine Schiffsleute riefen dem Gesindel, das sich noch immer nicht verzogen hatte, aber in ehrerbietiger Entfernung geblieben war, einige drohende Worte zu, und das große Fahrzeug ruderte sodann schnell weiter.

Eine Viertelstunde blieb alles ruhig; dann begann der Lärm von neuem: erst schüchtern, dann lauter und lauter. Auch näherten sich die Kähne wieder. Irwing, der seit dem Besuche des Offiziers in der Kajüte geblieben war, nahm darauf seinen alten Sitz auf dem Verdeck wieder ein. Plötzlich, ehe er es sich versah, hatten zwei der Kähne eine schnelle Bewegung gemacht, an der Spitze und am Steuer seines Bootes angelegt, und fünf Kerle, in zerlumpten und schmutzigen Kleidern mit roter Schärpe und rotem Turban, waren an Bord des Bootes gesprungen.

Irwing hob den Revolver und feuerte zweimal. Zwei der Banditen, die vom Steuer her auf ihn zurannten, fielen getroffen nieder. Er wandte sich darauf nach links und sprang den von der Spitze her Eindringenden entgegen. Der schwere Stock, den er in die rechte Hand genommen hatte, hob und senkte sich drei, viermal; – dann ertönte Heulen und Winseln, und die drei Chinesen lagen sich krümmend auf dem Verdeck.

Irwing ergriff den ersten, der zu seinen Füßen gefallen war, hob ihn in die Höhe und schleuderte ihn mit großer Gewalt in das Wasser. Nun wurde das Geheul und Geschrei ganz furchtbar, auch knallten Gewehre, und Irwing hörte einige Kugeln in die Mauer hinter sich einschlagen. Er sprang sofort wieder auf das Verdeck, die verwundeten Chinesen vorläufig ihrem Schicksal überlassend, da sämtliche Kähne, jetzt, wie auf ein gegebenes Signal, schnell auf ihn zugerudert wurden. Er feuerte, mit tödlichem Ziele, noch rasch hintereinander vier Schüsse ab, und hatte soeben den zweiten Revolver gehoben, um den Kampf fortzusetzen, als ihn lautes Hurrarufen den Kanal hinauf blicken ließ. – Assings großes Boot, in rascher Fahrt vorwärts getrieben, näherte sich, und an der Spitze stand Wilson. Er hatte den chinesischen Rock, der ihn in seinen Bewegungen hätte hindern können, abgeworfen und sich des Hutes und der Kappe entledigt. Sein blondes Haar, sein weißes Gesicht, seine hellen Augen strahlten zwischen den braunen Fratzen, die das Boot umdrängten. Er hielt eine lange, schwere mit einem eisernen Haken versehene Stange in der Hand, wie sich die Schiffer deren beim Landen bedienen und hieb damit unbarmherzig auf jeden ein, an dem sein schnelles Fahrzeug vorbeiglitt und den er erreichen konnte. Auf dem Hinterdeck erkannte Irwing die drei Offiziere, die vor einigen Stunden mit Wilson und Assing ausgezogen waren. Sie gestikulierten lebhaft und schrien ebenso laut wie das Gesindel, welches sie umringte.

»Gerade zur rechten Zeit, wie es scheint!« rief Wilson, indem er auf das Verdeck neben Irwing sprang.

»Ja, die Leute wurden in der Tat unbequem,« antwortete dieser. »Aber sieh' da!« fügte er lächelnd hinzu, »sie sind wie weggeblasen!«

Der Kanal war in der Tat plötzlich leer geworden, und von dem schreienden, raub- und mordsüchtigen Pack, das noch vor wenigen Minuten das ganze Fahrwasser versperrt hatte, war nichts mehr zu hören und zu sehen. Sämtliche Kähne hatten sich, sobald sie in dem ankommenden Boote höhere Offiziere erkannt, in die nächstgelegenen Seitenkanäle geflüchtet, um der Verfolgung und Bestrafung für den von ihnen geplanten Angriff auf das englische Boot zu entgehen.

Assing gesellte sich nun ebenfalls zu seinen Gästen und bemühte sich, die Unannehmlichkeiten, denen Irwing ausgesetzt gewesen war, zu entschuldigen. Er sagte, sie könnten nur einem unglücklichen Zufall oder Mißverständnis zuzuschreiben sein, denn sämtliche Changmaos erblickten Freunde und Verbündete in den Fremden; jedenfalls würde er Sorge tragen, daß in Zukunft nichts derartiges vorfallen könnte: das Boot solle eine Wache haben, die es vor jedem Angriff schützen werde.

Irwing meinte, die Sache wäre abgetan und es verlohne sich nicht der Mühe, weiter darüber zu sprechen. Darauf sah er sich nach den verwundeten Chinesen um, die er während des Kampfes unberücksichtigt gelassen hatte. Nur einer von ihnen war schwer, keiner tödlich verwundet. Sie blickten ihn mit seitwärts, von unten her auf ihn gerichteten Blicken flehend an wie Hunde, die gepeitscht werden sollen, und baten, man möge ihnen gestatten sich zu entfernen: sie hätten niemals böse Absichten gehabt, sie seien nur aus Neugierde an Bord gekommen, und der fremde Herr möge sie nicht zu streng für ihr Vergehen bestrafen, indem er sie an die Offiziere ausliefere.

Irwing zuckte die Achseln und sagte, sie möchten sich seinetwegen zum Teufel scheren. Nach einigen Minuten hatten sie das Boot verlassen und entfernten sich in einem Kahne, den sie, als er gerade am Boot vorüberfahren wollte, angerufen hatten.

Als die beiden Freunde eine halbe Stunde später wieder ruhig und ungestört in der Kajüte saßen, erzählte Wilson, nachdem Irwing mit zwanzig Worten die Geschichte seiner Wacht erledigt hatte, daß das Geschäft mit Assing in befriedigender Weise beendigt sei, und daß sie morgen früh um vier Uhr Su-tschau verlassen würden, um die Seide an dem Orte, wo sie in Sicherheit lagere, in Empfang zu nehmen.

»Ich kalkuliere,« schloß Wilson seinen Bericht, »daß wir an den fünfzig Ballen, die ich gekauft habe, sechs bis acht Schilling verdienen: das macht fünfundzwanzig Prozent. Alles in allem werden wir also für unsere Reise recht gut bezahlt werden. Aber das Beste kommt möglicherweise noch. Der eine Offizier, den Sie soeben gesehen haben, der magere große Mann, hat mir, während Assing ihn nicht beobachtete, mitgeteilt, daß er in einem andern Packhause, an einem kleinen Seitenkanale gelegen und das er mir von Assings Godown aus gezeigt hat, einen Vorrat von dreißig Ballen habe, den er mir für einen Spottpreis ablassen wolle. Der Mann hat die Seide, wenn er sie überhaupt besitzt, worüber ich noch einige Zweifel hege, jedenfalls gestohlen. Das tut mir des ehrlichen Eigentümers wegen leid; aber daran können wir nun einmal nichts ändern, und jedenfalls ist es besser, daß uns die Geschichte zugute kommt als einem andern, der später den Weg hieher finden wird. Der Changmaos hat mir das größte Geheimnis anempfohlen, und ich habe mit ihm folgendes verabredet: Nachdem wir morgen früh Assings Seide in Empfang genommen haben, fahren wir ein paar Meilen weiter bis zu einem alleinstehenden, verwüsteten Tempel, dessen Lage der Mann mir genau beschrieben hat. Dort warten wir bis zur Dunkelheit, und dann begeben wir uns nach dem Godown zurück, wo die dreißig Ballen lagern sollen. Sind sie wirklich dort, so werden wir sie schon für das Geld und die paar Waffen, die wir noch haben, bekommen; hat mir der Mann etwas vorgelogen, worauf ich vollständig gefaßt bin, so ist das auch kein großes Unglück. Wir haben dann einen Tag verloren, den wir während der Nacht, wenigstens teilweise, wieder einholen können.«

Spät am Abend, nachdem der größte Teil des Silbers aus dem Boote wieder in Assings Hände gewandert war, als Gegenzahlung für die Seide, die am nächsten Morgen in Empfang genommen werden sollte, folgten unsere beiden Freunde der Einladung ihres Wirtes, mit diesem einen längeren Spaziergang durch die verwüstete Stadt zu machen. Der Anblick des unbeschreiblichen Elendes, das ihnen überall unverhüllt und schrecklich entgegentrat, ekelte sie jedoch dermaßen an, daß sie sich bereits nach einer Stunde wieder nach ihrem Boote zurückbegaben. Sie schlossen sich dort in der Kajüte ein, überließen dem Lauder und den Boys auf dem Verdeck Wache zu halten und schliefen ruhig, bis Assing sie um vier Uhr morgens weckte. Als der Tag eben heraufdämmerte, verließen sie Su-tschau, um halb sechs Uhr langten sie an dem Seidenmagazin an, und um acht Uhr bereits, nachdem die fünfzig Ballen so gut wie möglich in der Kajüte und teilweise auf dem Hinterdeck untergebracht waren, wurde die Rückreise nach Schanghai angetreten. Assing nahm auf das freundlichste Abschied von ihnen und bat sie, je eher je lieber nach Su-tschau zurückzukehren.

Den langen Tag verbrachten Wilson und Irwing ungestört in dem Tempel, der an einem Seitenkanal gelegen war, und den Wilson, nach den Andeutungen des Rebellenoffiziers leicht gefunden hatte. Gegen neun Uhr abends ruderten sie dem Gebäude zu, in dem, nach der vorher getroffenen Verabredung, dreißig Ballen Seide in Empfang genommen werden sollten.

Wilson und Irwing hatten, um auf alle Fälle vorbereitet zu sein, einen kleinen Feldzugsplan verabredet. Darnach sollte das Boot dem Packhause gegenüber, in der Mitte des Kanals, halten und sich dem Ufer erst dann nähern, wenn einer von ihnen dem Lauder dies bedeuten würde; ferner sollte Irwing, mit dem schweren Stock und zwei Revolvern bewaffnet, sich stets in der Nähe der Tür des Godown aufhalten, bis man ganz sicher geworden sei, daß man keinen hinterlistigen Anfall gegen sie geplant habe. Wilson selbst wollte sich, anscheinend unbefangen, im Magazine bewegen, aber er werde immer auf seiner Hut sein und sich nicht überraschen lassen.

»Sobald einer von uns etwas sieht, was verdächtig erscheint,« schloß Wilson seine Rede, »so übernimmt er für den Augenblick das Kommando, und der andere gehorcht ihm dann blindlings. Zu längeren Auseinandersetzungen ist möglicherweise keine Zeit. Weder Sie noch ich werden so leicht den Kopf verlieren, und wenn Sie mir also irgend etwas zurufen, so tue ich ohne Bedenken, was Sie von mir verlangen. Dasselbe darf ich wohl von Ihnen erwarten für den Fall ich der erste sein sollte, der Unrat merkt.«

Irwing antwortete darauf sein gewöhnliches: »Das ist ganz in Ordnung.«

Es war eine dunkle, gewitterschwüle Nacht. Der Himmel hatte sich mit dichtem schwarzen Gewölk überzogen, und nirgends war ein Stern zu erblicken. Wilson und der Lauder hatten sich jedoch am Tage bereits so gut orientiert, daß sie ohne Mühe das gesuchte Gebäude fanden. Es war, wie die meisten chinesischen massiven Godowns, ein viereckiges Haus mit kleinen hochgelegenen Fenstern, die durch eiserne Fensterladen feuerfest verschlossen werden konnten. Die Tür war nur wenige Fuß breit und gerade hoch genug, um einem Mann, der einen Ballen Seide auf dem Kopfe getragen hätte, Durchgang zu gewähren. Wilson und Irwing, ersterer eine Laterne in der Hand, die ihm gestattete, einen Umkreis von zehn bis zwanzig Schritt zu übersehen, näherten sich dem Hause vorsichtig. Draußen war kein lebendes Wesen zu erblicken; aber aus der halbgeöffneten Tür fiel ein schwacher Lichtschein.

Wilson stieß diese Tür mit dem Fuße auf, hob die Laterne in die Höhe und musterte das Innere eines großen, viereckigen halbdunklen Raums. In der Mitte desselben stand ein kleiner Tisch, an dem auf zwei hohen Stühlen der Offizier, dessen Bekanntschaft Wilson am vorhergehenden Tage gemacht hatte, und ein anderer Chinese, beide aus kurzen Messingpfeifen rauchend, ruhig dasaßen. Auf dem Tische brannte eine gewöhnliche chinesische Öllampe. Das Licht, das sie verbreitete, war jedoch zu schwach, um Wilson zu gestatten, sich genau davon Rechenschaft abzulegen, was sich in den in Halbdunkel gehüllten Ecken des Saales befinden möge. Undeutlich erkannte er an der der Eingangstür gegenüber gelegenen Mauer einen großen, mit dickem Packpapier verhängten Haufen, der einige zehn Fuß lang und fünf bis sechs Fuß hoch sein mochte.

Der Taïpingoffizier erhob sich, sobald er die Eintretenden erkannte, und kam ihnen freundlich lächelnd und grüßend entgegen. Er wollte sie nötigen, auf den Stühlen Platz zu nehmen, die er und sein Freund verlassen hatten; aber Wilson verweigerte höflich, dies anzunehmen, indem er vorgab, er habe große Eile und wünsche die Seide sofort zu sehen, um womöglich das ihm vorgeschlagene Geschäft abschließen zu können. Irwing war, der getroffenen Verabredung gemäß, in der unmittelbaren Nähe der Tür stehen geblieben. Der Offizier bat ihn, er möchte sich doch nähern; aber Irwing tat, als ob er nicht verstände, und verharrte unbeweglich auf seinem Posten. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, ihn von dort zu entfernen, und nachdem Wilson bereits einige unverkennbare Zeichen von Ungeduld gegeben hatte und endlich äußerte, er würde fortgehen, wenn man nun nicht gleich anfinge geschäftlich zu verhandeln, gab der Offizier, mit sichtbarem Widerstreben jedoch, nach und sagte mit der Hand auf den verdeckten Haufen deutend, dort läge die Seide, und der fremde Herr könne sie sogleich in Augenschein nehmen.

Aber kaum hatte Wilson einige Schritte gemacht, als der Offizier plötzlich einen Schrei ausstieß, und in demselben Augenblick auf Wilson zusprang, um ihn von hinten zu packen. – In einer Sekunde vollständiger Verwirrung bemerkte Irwing, wie das Papier, das die Seide verdecken sollte, schnell heruntergerissen wurde und mehrere bewaffnete Kerle auf seinen Freund losstürzten. Dieser aber war mit einem großen Satze wieder an dem Tisch, und Irwing sah nur noch, wie er dies Möbel samt der darauf befindlichen Lampe umstieß. Das Licht erlosch im Nu, und es wurde pechfinster in dem großen Raume.

»An die Tür draußen, und schlag' jeden nieder, der herauskommt!« so rief Wilson.

Irwing war mit einem Schritt im Freien und blieb an der Mauer, unmittelbar neben der Tür, den schweren Stock in der Rechten, schlagbereit, unbeweglich stehen und lauschte . . . und wartete.

In dem dunklen Raume wurde auf Leben und Tod gekämpft. Irwing hörte unruhiges Hin- und Herlaufen, dumpfes Schlagen, lautes Schreien; dann wieder Ächzen und Röcheln; – aber Wilson war verstummt. Irwing horchte . . . lauschte, als ob sein Leben von jedem Tone, den er hörte, abhinge . . . Wilsons Stimme ließ sich nicht wieder vernehmen. – Plötzlich erschien eine dunkle Gestalt in der Tür. Gleich darauf lag sie, von Irwings wuchtigem Schlag niedergeschmettert, röchelnd am Boden. Zwei andere Chinesen ereilte in wenigen Minuten, im Augenblick, wo sie aus dem Hause entfliehen wollten, dasselbe Schicksal. Ein vierter der Bande, der mit einem großen Satz durch die Tür ins Freie sprang, entkam. Darauf trat eine längere Pause ein und dann wurde es totenstill.

»Ich bin's,« hörte Irwing endlich flüstern, und Wilson stand neben ihm. »Können Sie Licht anzünden?« – Seine Stimme klang heiser und fremd.

»Ja.«

Wilson machte die Tür des Godown zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Er atmete laut und schwer. Als Irwing ein Schwefelholz angezündet hatte, sah er während einiger Sekunden, daß Wilsons Gesicht und Hände und sein weißer Anzug mit Blut besudelt waren. Er hielt ein langes amerikanisches Messer, ein sogenanntes »Bowieknife« in der Hand. Mehr konnte Irwing nicht erkennen: das Lichtchen ging schnell aus, und es wurde wieder dunkel.

»Sind Sie schwer verwundet?« fragte er besorgt.

»Nein, ich glaube nicht. Aber wir müssen eine Laterne finden. Stecken Sie noch ein Schwefelholz an und leuchten Sie in den Saal hinein.«

Wilson öffnete die Tür, und der andere tat wie ihm geheißen. Dicht am Eingange lag Wilsons Laterne. Irwing hob sie auf. Die Tür wurde wieder von außen zugemacht und die Laterne angesteckt.

»Können wir wegen dieser Halunken ruhig sein?« fragte Wilson, auf die drei Körper deutend, die Irwing niedergeschlagen hatte.

»Ich denke ja,« war die Antwort, »aber wir können uns leicht vollständige Sicherheit verschaffen.« – Der eine der Elenden war, wie sich nun ergab, tot. Irwing hatte ihn mit der schweren Bleikugel auf den Kopf getroffen und ihm den Schädel zerschmettert. Die beiden anderen lebten noch; aber ihre totbleichen, ängstlichen Gesichter ließen sie als augenblicklich ungefährlich erscheinen.

»Nun, Sie haben ja recht hübsch gearbeitet,« meinte Wilson. »Ich bin neugierig zu sehen, was ich eigentlich angerichtet habe. Halten Sie Ihren Revolver bereit und feuern Sie auf alles, was sich bewegt.«

Er öffnete die Tür und blickte mit hochgehobener Laterne in dem Saal umher. Dort sah es wüst aus. – Zwei Chinesen lagen, aus gräßlichen Wunden blutend, anscheinend leblos am Boden. In einer Ecke kauerten zwei andere, die schwarzen glänzenden Augen furchtbar geöffnet und auf die Fremden gerichtet. Wilson näherte sich ihnen vorsichtig, in der linken Hand die Laterne, in der rechten einen Revolver tragend. Einer der beiden Leute bedeckte sich das Gesicht mit den weiten Ärmeln seines Rockes, des Todes gewärtig; der andere warf sich auf die Knie und berührte den Boden mit der Stirn. Der Mann, der sich das Gesicht verhüllte, war der Offizier. Wilson erkannte ihn und wandte sich an Irwing.

»Das ist der Spitzbube, der die ganze Geschichte angerichtet hat,« sagte er. »Ist es der Mühe wert, ihn totzuschießen?«

»Nein!« antwortete Irwing.

Wilson ließ den Arm, in dem er den Revolver hielt, und den er in die Höhe gehoben hatte, wieder sinken und ging weiter. Unter dem Papiere versteckt fand er einen dritten Chinesen, der aus einer tiefen Wunde am Halse blutete. Er richtete einen flehenden, furchtsamen, jämmerlichen Blick auf Wilson und warf sich zu seinen Füßen nieder. – Dieser ließ ihn liegen und vollendete die Besichtigung des Saales, in dem er aber niemand weiter fand. Irwing bemerkte, daß sein Genosse hinkte und langsam und schwerfällig ging. Er forderte ihn auf, an Bord des Bootes zurückzukehren und sich verbinden zu lassen; aber Wilson meinte, man müsse die Leute zunächst für einige Zeit ungefährlich machen. Er rief darauf den Lauder, der nach wenigen Minuten mit einer Laterne erschien, und ließ durch diesen die zwei verwundeten Chinesen, die vor der Tür lagen, in das Haus tragen.

Der Lauder tat wie ihm befohlen, ohne Erstaunen oder Schrecken zu zeigen. Er sagte nur: »Heija!« und kicherte, als ob er etwas höchst Spaßhaftes gesehen hätte.

Darauf wurde die schwere Tür des Hauses mit einigen großen Steinen, die man in der Nähe fand verrammelt, und dann bestiegen Wilson, Irwing und der Lauder das am Ufer wartende Boot.

»Mit wieviel Leuten haben wir eigentlich zu tun gehabt?« fragte Wilson.

»Mit neun!«

Wilson zählte im Kopfe nach. »Ich finde nur acht,« sagte er.

»Einer ist entflohen,« erklärte Irwing – und er erzählte, daß ein Chinese mit einem großen Satz aus der Tür gesprungen und gleich darauf in der Dunkelheit verschwunden sei.

»Desto besser für die Verwundeten dort im Hause,« meinte Wilson, »denn der Entflohene wird morgen früh jedenfalls wiederkommen, um nachzusehen, was aus seinen Diebesbrüdern geworden ist; aber auch ein Grund mehr, daß wir uns hier nicht zu lange aufhalten. – Vorwärts, Lauder! Was die Leute nur arbeiten können! Es ist hier nicht geheuer, und wir müssen vor allen Dingen den großen Kanal wieder erreichen.«

Die Bootsleute legten sich mit Macht auf die schweren Ruder; sie wußten, daß sie im Fall einer Überrumpelung dieselbe Gefahr liefen wie ihre europäischen Herren. Nach dreiviertel Stunden anstrengender, ununterbrochener Arbeit hatte das Fahrzeug den großen Kanal wieder erreicht. Dort fühlten sich unsere Freunde in Sicherheit, und die Reise konnte nun wieder ruhiger fortgesetzt werden.

Wilson hatte das Verdeck bis dahin nicht verlassen wollen; jetzt endlich gab er den wiederholten Aufforderungen Irwings nach und stieg in die Kajüte hinab, um sich umzukleiden und seine Wunden untersuchen zu lassen. Sie erwiesen sich, dem äußern Anschein nach, als nicht gefährlich. Es waren zwei leichte Schnittwunden im linken Arm, ein ziemlich tiefer Stich im Oberschenkel, endlich eine kleine, häßlich aussehende Verletzung an der rechten Hand. Irwing wusch diese Wunden sorgfältig mit Essig und Wasser aus und verband sie dann, so gut er es konnte. Während dieser Beschäftigung erzählte Wilson die Geschichte des Kampfes im Dunklen.

»Ich sah das Papier sich bewegen,« begann er »und wußte sofort, daß wir in einen Hinterhalt gefallen waren. Es kam mir vor, als ob einige zwanzig der braunen Teufel aus der Wand hervorsprangen, und das machte mich ängstlich. Hätte ich gewußt, daß wir es nur mit einer kleinen Anzahl zu tun hatten, so hätten wir einen hübscheren Kampf bei Laternen- und Lampenbeleuchtung haben können; aber ich fand nicht Zeit, lange zu zählen, und da lag mir vor allem daran, im Dunklen zu sein. Ich stieß deshalb den Tisch um, auf dem das Licht stand, und rief Ihnen zu, draußen vor der Tür Wache zu halten. Nun hatte ich schönes Spiel, denn ich wußte ja, daß ich nur Feinde treffen konnte. – Die ersten drei oder vier Schläge, die ich mit meinem Stocke tat, fielen in das Gedränge, und ich vermute, daß ich damit einen der Kerle niederschlug, die wir am Boden liegend fanden; aber dann traf ich nur noch leeren Raum vor mir. Es war stockfinster. Man konnte die Hand vor den Augen nicht sehen. Ein schwacher Schimmer zeigte, wo die Tür war. Ich ging, mit dem Stocke die Luft fegend, leise, vorsichtig umher, bis ich wieder auf einen Körper stieß. Darnach packte ich. Es war ein ganz handfester Bursche, und er gab mir zu schaffen. Er versetzte mir, so glaube ich, die beiden Schnitte. Endlich konnte ich seinen rechten Arm fassen, und ein glücklicher Zufall wollte, daß ich im Dunkeln den Griff des langen Messers fand, das er in der Hand hielt. Es ist ein ›Bowieknife‹, wie ich jetzt sehe, und es ist das erste, das ich von dieser Größe je besessen habe; ich habe es mir ehrlich erkämpft und will es behalten. Ich rang mit dem Chinesen darum, und der Hund biß mich dabei in die rechte Hand; zuletzt gelang es mir jedoch, es ihm zu entreißen: da gab ich ihm denn einen herzhaften Stoß – wohin weiß ich nicht – und er fiel nieder. Gleich darauf stolperte ich über etwas, das am Boden zu kriechen schien. Ich schlug mit dem Stock darnach und traf auch und hörte einen gellen Schrei; aber in demselben Augenblick fühlte ich, daß ich ins Bein gestochen war. Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück, und als ich darauf wieder vorwärts ging, fand ich nichts mehr. Dann schlich ich an der Mauer entlang bis ich die Tür fand – und den Rest wissen Sie.«

Irwing sollte auf Wilsons Anfrage ebenfalls erzählen, welchen Teil er am Kampfe genommen hatte. Dies war sein Bericht darüber: »Ich stand an der Tür, wie Sie mir gesagt hatten. Drei Leute kamen, einer nach dem andern, heraus: die schlug ich nieder. Ein vierter, wie ich Ihnen bereits gesagt habe, entkam. Die Sache war außerordentlich einfach.«

»Das verhindert nicht,« bemerkte Wilson, »daß Sie sich während der letzten vierundzwanzig Stunden ein nicht unbedeutendes Quantum Blut auf das Gewissen geladen haben: gestern fünf, heute drei – total acht. Es sind nur Chinesen, aber es sind doch Menschen. Haben Sie keine Gewissensbisse, Mann?«

»Ich habe niemand zuerst angegriffen; ich habe mich nur verteidigt,« antwortete Irwing ernsthaft.

Wilson blickte ihn verwundert an. »Ich sehe, daß man mit Ihnen nicht scherzen darf,« sagte er nach einer kurzen Pause. »Sie können doch nicht etwa annehmen, daß ich Ihnen vorwerfe, was Sie getan haben?«

Darauf erwiderte der andere nichts, und Wilson ließ das Gespräch ebenfalls fallen.

Am nächsten Morgen um zehn Uhr erreichte das Boot den See, auf dem unsere Freunde während der Reise nach Su-tschau eine Nacht verbracht hatten. Dort wurde bis sechs Uhr abends geruht und dann die Fahrt nach Schanghai fortgesetzt. Um acht Uhr trafen Wilson und Irwing wieder mit dem kleinen freundlichen Offizier zusammen, der ihnen den Paß gegeben hatte, und dem sie nun die versprochene Büchse schenkten. Vierundzwanzig Stunden später endlich, ohne daß sich etwas Bemerkenswertes ereignet hatte, legte das Boot an einer Landungstreppe des Hafens von Schanghai an.

Wilson stieg in einen Tragstuhl, da ihm das verwundete Bein heftige Schmerzen verursachte, und Irwing begab sich zu Weber, um diesem einen kurzen Bericht über die Reise nach Su-tschau und die dort gemachten Geschäfte zu erstatten. Während der Nacht wurde hierauf die Ladung des Bootes gelöscht, und am darauf folgenden Tage aßen Weber und Irwing bei Wilson zu Tisch. Weber, freundlicher als je hinter seiner goldenen Brille lächelnd, rechnete seinen Genossen vor, daß das Geschäft nach einem ersten Überschlag einem jeden von ihnen sechs- bis siebentausend Dollars eingetragen habe.

»Das können wir in der nächsten Woche noch einmal besorgen,« meinte Wilson, und die beiden anderen erklärten sich damit ganz einverstanden. Aber am andern Tage lag Wilson in heftigem Fieber. Irwing pflegte ihn und blieb, da das Fieber nicht nachließ, während der Nacht bei ihm. Am nächsten Tage ließ er sodann, auf ausdrückliches Bitten des Kranken, seinen Koffer von Weber holen, um während einiger Tage bei Wilson zu wohnen.

Die Krankheit zog sich mehr und mehr in die Länge. Irwing war gern bereit, während derselben Wilsons Geschäfte zu verwalten. Er zeigte dabei Umsicht und Tüchtigkeit, und da er nicht vor Verantwortlichkeit zurückschreckte, sondern dreist nach eigenem Gutdünken zu handeln wagte, so ersparte er Wilson manche Arbeit und manche Geschäftssorge. – Als dieser sich endlich nach drei Wochen zum ersten Male vom Krankenlager erhoben hatte und abgemagert und bleich in seinem Arbeitszimmer saß und sich von seinem Stellvertreter erzählen ließ, was dieser während seiner Abwesenheit für ihn getan, erfuhr er mit Verwunderung und Befriedigung, daß sein wortkarger Freund das laufende Geschäft gerade ebenso gut besorgt hatte, wie er selbst es hätte tun können.

»Wie gefällt Ihnen Ihr Zimmer in meinem Hause?« fragte er.

»Gut.«

»Und wie behagt Ihnen die Arbeit, die Sie während meiner Krankheit verrichtet haben?«

»Gut.«

»Nun, dann will ich Ihnen einen Vorschlag machen: Bleiben Sie im Hause und bleiben Sie bei der Arbeit. Werden Sie mein Geschäftsteilhaber.«

»Gern«, antwortete Irwing.


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