Rudolf Lindau
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Rudolf Lindau

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VI

»Die ›Costa-Rica‹ mit der Post von Yokohama, Yeddo, Kobe, Osaka und Nangasaki ist um ein Uhr nachmittags angekommen. Briefe werden zwischen drei bis fünf Uhr verteilt werden.«

Wilson hatte diesen Zettel, der am amerikanischen Konsulate von Schanghai angeschlagen war, zehnmal und öfter gelesen und wartete nun in seinem Schreibzimmer mit großer Ungeduld auf den Diener, der ihm die Briefe aus Japan bringen sollte.

Die drei Wochen, die seit Irwings Abreise dahingegangen, waren elende Tage für Wilson gewesen. Er hatte fortwährend an seinen abwesenden Freund denken müssen, und seine Beunruhigung über dessen Schicksal war täglich größer geworden.

Schanghai ist nicht der Ort, wo man sich ungestraft aufregen darf. – Europäer und Amerikaner, die frisch angekommen sind und noch einen ungeschmälerten Vorrat nördlicher Energie und Widerstandsfähigkeit besitzen, können sich zur Not den Luxus einer großen Gemütserregung gestatten, gerade wie es ihnen auch noch erlaubt ist, während der Mittagshitze im Sommer auszugehen; aber ältere Bewohner der ungesunden, feuchten, heißen Stadt müssen Sorge tragen, sich weder geistig noch körperlich zu sehr anzustrengen. – Ein Europäer akklimatisiert sich in China niemals. Er wird im Gegenteil mit jedem Jahre weniger geeignet, den bösen Einflüssen des ihm unfreundlichen Himmels zu widerstehen. Die Sonne wird ihm ein Feind, dem er nicht mehr zu trotzen wagt und nicht mehr ungestraft trotzen darf. Er spricht nicht von der »lachenden«, sondern von der »brennenden, stechenden« Sonne, und wenn er gezwungen wird, sich ihren Strahlen auszusetzen, so sucht er sich durch luftige Hüte, durch Schirme, durch helle Tücher im Nacken, durch gefärbte Gläser vor den Augen dagegen zu schützen. Ungeachtet aller Vorsichtsmaßregeln erschlafft seine Kraft mehr und mehr, und nach wenigen Jahren wird selbst der ursprünglich kräftige, kerngesunde Mann gezwungen, nach seiner Heimat zurückzukehren und sich durch einen längern Aufenthalt dort wieder zu stärken und zu erfrischen. Versäumt er dies, so siecht er dahin und wird vor der Zeit schwach und gebrechlich, um schließlich als ein Opfer des ihm feindlichen Klimas zu fallen.

Wilson war im Jahre 1866 ein ganz anderer, viel schwächerer Mann als zur Zeit, wo er mit Irwing zusammen die Reise nach Su-tschau unternommen hatte. Er zählte nun siebenundzwanzig Jahre. Er war von Natur durchaus nicht dazu angelegt, vorsichtig und ängstlich zu sein; aber er hatte sich, wie alle seine Bekannten und Genossen, nach und nach daran gewöhnt, ein ruhiges, wohlgeordnetes Leben zu führen. Er ging zu regelmäßigen Stunden zu Bette, er stand früh auf, und es wäre ihm niemals eingefallen, im Monat Juli oder August zwischen zehn und drei Uhr ohne Sonnenschirm auszugehen. Diese und ähnliche kleine Vorsichtsmaßregeln störten ihn weiter nicht, aber sie waren doch seiner ganzen Natur zuwider: er ärgerte sich darüber, und ein Hauptgrund, weshalb er sich von China fort und nach England zurücksehnte, war, daß er sich dort nicht mehr um seine Gesundheit zu bekümmern haben würde.

Die Unruhe, die er während der letzten drei Wochen empfunden, hatte ihn empfindlich angegriffen. Er war ungeduldig, aufgeregt, schlechter Laune, und seine Bekannten klagten, daß das Zusammenleben mit ihm mit jedem Tage schwieriger würde. Sie waren einstimmig der Meinung, daß es hohe Zeit für ihn sei, Schanghai zu verlassen und nach Europa zu gehen, um sich dort einmal wieder ordentlich aufzufrischen und zu erholen.

Wilson konnte von dem Fenster seines Zimmers aus den »Post-Boy« kommen sehen. Er ging ihm entgegen, nahm ihm im Hausflur die Briefe aus der Hand und ließ sie schnell durch seine Finger gleiten, bis er auf einem Umschlag die große, deutliche Handschrift Irwings erkannt hatte. Diesen öffnete er noch im Gehen; dann warf er sich in einen Sessel und las folgenden Brief:

Yokohama, den 18. Mai 1866.

»Mein lieber Wilson!

Wir haben eine stürmische Überfahrt gehabt, namentlich zwischen Simoda und Yokohama. Die ›Costa-Rica‹ hat sich während des schlechten Wetters sehr gut benommen. Die kleine Reise hat mir wohlgetan, und Sie können über meinen Gesundheitszustand beruhigt sein. Aber ich sehe noch immer etwas angegriffen aus, und ich muß hier von jedermann, den ich kenne und dem ich begegne, dieselbe Frage hören: ›Was fehlt Ihnen?‹ – Da mich das langweilt und da ich von einer größern Seereise vollständige Herstellung hoffe, so habe ich mich entschlossen, mit der ›Amerika‹, die morgen von hier segelt, nach Kalifornien zu gehen. – Es liegt viel Wasser und Land zwischen Schanghai und San Franzisko, und es kann so manches vorkommen, bis wir wieder zusammentreffen. – Lieber Wilson, bewahren Sie mir ein gutes Andenken! Beunruhigen Sie sich nicht, wenn Sie während einiger Monate nichts von mir hören! Ich beabsichtige, mich in den Prärien umherzutreiben, und werde nicht leicht Gelegenheit finden, Ihnen zu schreiben. Briefe erbitte ich mir unter der Adresse der ›Bank von Kalifornien‹ in San Franzisko. – Der Ordnung halber teile ich Ihnen noch mit, daß ich mir von Young 10 000 Dollars habe geben lassen, die meinem Privatkonto zu belasten sind. Grüßen Sie Julius Weber von mir.

Der Ihrige                        
Francis Irwing.«

Wilson las diesen Brief mit wachsender Beunruhigung mehrere Male durch. Beinahe alles darin war ihm unverständlich. Der Brief enthielt nicht ein Wort von den nächsten gemeinschaftlichen Zukunftsplänen. Der bevorstehenden Auflösung des Hauses Wilson & Irwing war darin gar nicht Erwähnung getan. – Was bedeutete diese plötzliche Reise nach Kalifornien, ohne daß ein Wort von der Rückkehr nach Schanghai gesagt war? Was wollte Irwing mit den zehntausend Dollars anfangen? Sie bildeten im Verhältnis zu seinem Guthaben im Hause keine große Summe; aber was konnte er mit einem solchen Kapital auf einer Vergnügungsreise anfangen wollen? Weshalb diese Bemerkung über das große Stück Erde zwischen San Franzisko und Schanghai? Die Leute in China betrachten die Kalifornier als ihre Nachbarn, und unter gewöhnlichen Verhältnissen würde Irwing gar nicht daran gedacht haben, von der Entfernung, die ihn nun von Wilson trennte, zu sprechen.

»Ich kann das nicht verstehen«, sagte sich Wilson ein über das andere Mal. – »Entweder Irwing hat den Verstand verloren, oder ich bin nicht recht bei Sinnen.« – Er öffnete die anderen Briefe in der Hoffnung, dort noch Aufklärung zu finden; aber das einzige Schreiben, in dem Irwings überhaupt Erwähnung getan wurde, war ein Geschäftsbrief von Young, der unter anderem die Stelle enthielt: »Wir hatten das Vergnügen, Ihren geehrten Herrn Irwing bei uns zu sehen, der gestern mit der ›Amerika‹ die Überfahrt nach San Franzisko angetreten hat. – Belieben Sie, uns laut einliegender Quittung für 10 000 Dollars zu erkennen, die derselbe für Rechnung Ihres geehrten Hauses bei uns entnommen hat.«

Wilson setzte seinen Hut auf und lief zu Weber, der in der Nachbarschaft wohnte. Dieser bereitete sich gerade darauf vor, einen kleinen Spazierritt zu machen, aber trat sofort wieder mit Wilson in sein Haus zurück, als dieser ihm sagte, er habe mit ihm über Irwing zu sprechen.

Sobald Weber sich gesetzt hatte, zog Wilson Irwings Brief aus der Tasche und gab ihn seinem Freunde zum Lesen. Weber studierte das Schriftstück aufmerksam durch, ohne eine Miene zu verziehen, legte es sodann auf den Tisch und blickte seinen Gast fragend an.

»Mir ist die ganze Sache unverständlich«, sagte Wilson. »Können Sie mir erklären, was dieser Brief zu bedeuten hat?«

Weber nahm den Brief wieder auf und las ihn noch einmal durch. Dann sah er Wilson fest an und sagte ruhig: »Irwing ist fortgegangen, um nicht wieder zu kommen.«

»Aber warum?« rief Wilson heftig.

»Warum? . . . Ja warum? . . . Soll ich Ihnen aufrichtig sagen, was ich denke?«

»Natürlich, so sprechen Sie doch!«

Weber schien in Verlegenheit zu sein und besann sich eine kurze Weile.

»Nun, so sprechen Sie doch«, drängte Wilson.

»Es ist eine heikle Geschichte; aber Sie sollen sie wissen . . . Ich glaube, Irwing liebt Fräulein Thorn.«

Neben Wilson stand ein kleiner japanischer Tisch. – Wilson sprang mit einem zornigen Fluch in die Höhe und schlug mit der Faust so heftig auf das leichte Möbel, daß die dünne Tischplatte zersprang und die scharfen Splitter davon ihm die Hand zerschnitten.

»Weber, weshalb haben Sie mir das nicht früher gesagt?«

»Wie konnte ich es Ihnen sagen?« beschwichtigte dieser. »Wie konnte ich es überhaupt wissen? Die Sache ist mir selbst erst nach und nach klar geworden . . . Sie kommen zu mir und erzählen mir, Sie beabsichtigen, sich um die Hand von Fräulein Thorn zu bewerben. Gut! Sie ersuchen mich, bei Herrn und Frau Thorn ein Wort für Sie einzulegen, und sagen mir gleichzeitig, daß Irwing dasselbe tun werde. – Kann ich da vermuten, daß Sie der Nebenbuhler Ihres Freundes seien?«

Wilson hatte ein weißes Tuch aus der Tasche gezogen und verband sich damit die blutende Hand. Er hatte sich wieder gesetzt und war auch anscheinend wieder ruhig geworden; aber Weber bemerkte, daß seine Lippen zuckten, und daß er blaß war. »Sehr wohl«, sagte er mit erzwungener Gelassenheit. »Bis jetzt ist alles in Ordnung; aber was später?«

»Ja, was später! . . . Später bemerkte ich, daß Irwing, der frisch und gesund aus Yokohama zurückgekehrt war, der sich während des ganzen Renntages ausschließlich mit Fräulein Mary beschäftigt hatte, der ganz gegen seine Gewohnheit Herrn und Frau Thorn gegenüber den zuvorkommenden Wirt macht, – später bemerke ich, daß Irwing plötzlich, ohne irgendwelchen erkennbaren Grund krank und trübsinnig wird. Ich beobachte ihn, denn er ist mein Freund, und ich interessiere mich für ihn. Er spricht den Namen Thorn in meiner Gegenwart nicht mehr aus, er nähert sich Fräulein Mary nicht ein einziges Mal wieder, ihre Eltern haben, dem Anschein nach, jeden Wert für ihn verloren, er wird täglich trübsinniger, geheimnisvoller . . . und auf einmal verschwindet er. – Es ist möglich, daß ich mich irre, aber ich kann mir sein rätselhaftes Benehmen nur dadurch erklären, daß ich mir sage: Irwing hat Ihnen bei Ihrer Bewerbung um Fräulein Thorns Hand nicht im Wege stehen wollen, und das ist der Grund, weshalb er fortgegangen ist.«

Wilson war noch immer mit seiner blutenden Hand beschäftigt. »Alles dies sind Vermutungen,« sagte er, ohne die Augen in die Höhe zu heben, »ich glaube selbst, daß Sie recht haben; aber denken Sie einmal nach, Weber, ob Sie nicht ein Mittel wissen, um uns darüber Gewißheit zu verschaffen.«

»Wozu würde das nützen?«

»Nun, es würde dazu nützen,« antwortete Wilson mit vollständiger Ruhe, »daß, sobald ich meiner Sache sicher wäre, ich Irwing sofort nach hier zurückberufen würde.«

»Wollen Sie Ihrer Bewerbung um Fräulein Thorn entsagen?«

Wilson zuckte mit den Achseln und blickte Weber mit einem Lächeln an, das trauriger als Tränen war. »Sie kennen mich nicht«, sagte er sanft. »Mary Thorn hat mir wohl gefallen, und ich glaube, ich würde recht glücklich gewesen sein, wenn sie mir ihre Hand gereicht hätte; aber was hat das zu bedeuten, wenn es sich um Irwing handelt?«

Wilson sprach so ernst, es wurde ihm so schwer, seine Rührung zu verbergen, daß dem heiteren, leichtherzigen Weber die Augen feucht wurden. Er rieb sich nachdenklich das Kinn und sagte nach einer längern Pause:

»Ich glaube, Mary Thorn ist die einzige Person, die Ihnen mehr Auskunft als ich geben kann. Ich besuchte sie, als Irwing soeben Abschied von ihr genommen hatte, und fand sie in einer eigentümlichen Gemütsverfassung. Sie erschien mir niedergeschlagen und war außerstande, eine gewöhnliche Unterhaltung mit mir zu führen. Ich sagte mir damals schon: Irwing liebt Mary Thorn, und sie liebt ihn, und Wilson will sie mit Irwings Zustimmung heiraten. – Ich wunderte mich über die ganze Geschichte.«

»O Weber, Weber, warum haben Sie mir damals nicht gesagt, was sie wußten?«

»Ich wußte ja nichts, Wilson; ich hatte nur Vermutungen. Setzen Sie sich an meine Stelle: was konnte ich tun?«

»Es nützt nichts, über einen geschehenen Schaden zu klagen.« Wilson war aufgestanden, als er dies sagte. »Ich will sofort zu Fräulein Thorn gehen«, fuhr er fort. »Tun Sie mir den Gefallen und bleiben Sie zu Hause, damit ich Sie nach meiner Unterredung gleich wieder sprechen kann. Es handelt sich darum, einen schnellen Entschluß zu fassen. Mir ist der Kopf ganz wirr von dem, was ich erfahren habe. Ihr guter Rat kann nützlich sein. Da steht Ihr Pferd noch. Gestatten Sie mir, es zu nehmen. Ihr Stalljunge kann nebenher laufen, dann bin ich rascher hin und zurück.«

Weber war damit einverstanden, und Wilson begab sich in schnellem Trabe nach Ralstons Wohnung. – Frau Thorn und ihre Tochter waren soeben von einer Spazierfahrt zurückgekehrt und wollten sich gerade auf ihr Zimmer begeben, um sich zum Essen anzukleiden, als Wilson angemeldet wurde. Er begrüßte die beiden Damen und sagte, noch ehe diese ein Wort gesprochen hatten: »Wollen Sie mir gestatten, gnädige Frau, daß ich mich fünf Minuten lang allein mit Fräulein Mary unterhalte. Ich habe ihr eine Mitteilung über meinen Freund Irwing zu machen.«

Herr und Frau Thorn hatten während der letzten Tage mehrere Unterredungen über das Verhältnis zwischen Wilson und ihrer Tochter gehabt. Das junge Mädchen hatte seit der Abreise Irwings unter verschiedenen Vorwänden ein zurückgezogenes Leben geführt, und die täglichen Zusammenkünfte, die sie früher mit Herrn Wilson gehabt hatte, waren abgebrochen worden. Wilson hatte sich auch seltener als während der ersten vierzehn Tage seines Bekanntwerdens mit der Familie Thorn in Ralstons Hause gezeigt. Er hatte über Kopfschmerzen geklagt, er war verstimmt gewesen, und seine Bewerbung um Marys Hand schien in Stocken geraten zu sein. Die Eltern hatten dieser Änderung in dem Verhältnis zwischen den jungen Leuten keine große Wichtigkeit beigelegt. Wilson war ihnen als zukünftiger Schwiegersohn ganz willkommen gewesen; aber auf der andern Seite beunruhigte sie sein Zurücktreten nicht. Mary war noch sehr jung. Sie war reich und schön. Die Eltern waren um einen Bewerber um sie nicht verlegen und sagten sich untereinander, daß sie in New York zehn junge Männer für einen finden könnten, die glücklich sein würden, an Wilsons Stelle zu treten. Sie waren jetzt am Vorabend ihrer Rückreise nach Amerika. Am vorhergehenden Tage noch hatte Herr Thorn seiner Frau beiläufig gesagt, daß er neugierig wäre zu sehen, ob Wilson sie abreisen lassen werde, ohne seine Absichten in bezug auf Mary erklärt zu haben. Frau Thorn hatte darauf mit den Achseln gezuckt und geantwortet, man könne das ruhig abwarten, man würde ja in wenigen Tagen wissen, woran man sich zu halten habe. – Wilsons Gesuch, mit ihrer Tochter allein sprechen zu dürfen, überraschte sie deshalb nicht. Sie vermutete, daß der junge Mann im letzten Augenblicke den Mut gefunden habe, einen Heiratsantrag zu machen, und daß er sich nun der Zustimmung der Tochter versichern wollte, ehe er mit den Eltern spräche. Die schroffe Weise, in der Wilson gebeten hatte, mit Mary allein sein zu dürfen, war ihr etwas sonderbar vorgekommen; aber sie sah darin weiter nichts als einen Mangel städtischer Sitten. Daß Wilson den Namen Irwings genannt hatte, betrachtete sie als eine harmlose Ausflucht. Sie nickte freundlich mit dem Kopf und sagte, Herr Wilson möge ihre Tochter nicht zu lange aufhalten, da man sich bei Herrn Ralston sehr pünktlich um halb acht Uhr zu Tische setze und Mary sich noch umzukleiden habe. – Damit ließ sie ihre Tochter mit deren vermeintlichem Werber allein.

Mary hatte der Nennung des Namens Irwing eine ganz andere Bedeutung beigelegt als ihre Mutter. Sie wußte, daß die Post aus Japan vor einigen Stunden angekommen war, sie erinnerte sich, daß sie Irwing bei ihrem letzten Zusammensein gebeten hatte, ihr durch Wilson Nachricht von seinem Gesundheitszustande zu geben, und sie erwartete nun, daß dieser sich eines Auftrages seines abwesenden Freundes für sie entledigen wollte. Das Herz klopfte ihr bei dem Gedanken.

»Fräulein Mary,« begann Wilson, sobald sie sich beide gesetzt hatten, »entschuldigen Sie mich, wenn ich eine ungebührliche Frage an Sie zu richten wage. Es geschieht im Interesse meines Freundes und in dem Ihrigen.«

Sie blickte ihn fragend an.

»Glauben Sie,« fuhr Wilson fort, gerade auf das Ziel lossteuernd, »glauben Sie, Fräulein Thorn, daß mein Freund Irwing Sie liebt?«

Sie fuhr erschreckt zusammen.

»Wie kommen Sie dazu,« brachte sie endlich hervor, »eine solche Frage an mich zu richten?«

»Fräulein Thorn, ich spreche in großen Ängsten. Nichts liegt mir ferner als indiskret sein zu wollen. Aber es handelt sich um das Wohl, es handelt sich viel leicht um das Leben meines Freundes. – Glauben Sie, daß er Sie liebt?«

Das junge Mädchen wußte in der Tat nicht, was sie antworten sollte. Sie hatte ein mutiges Herz, aber es war ihr unmöglich, auf diese unerwartete Anrede sofort eine Antwort zu finden. War sie sich doch selbst darüber im unklaren, ob Irwing sie liebe, und war sie doch seit drei Wochen elender, als sie sich je gefühlt hatte, einfach weil es ihr unmöglich war, sich darüber Gewißheit zu verschaffen.

»Das weiß ich wirklich nicht, Herr Wilson«, antwortete sie ausweichend.

»Denken Sie nach, Fräulein Thorn«, drängte Wilson. »Ist Ihnen nichts in Irwings Wesen aufgefallen, woraus Sie seine Liebe für Sie folgern könnten?«

»Das weiß ich wirklich nicht«, wiederholte sie mit peinlicher Verlegenheit.

Wilson sah sie mit einem Blick an, der ihr durch die Seele ging. »Ich will Ihnen mitteilen, was ich weiß,« sagte er darauf, »vielleicht wollen Sie mir dann antworten.« – Und er erzählte in ruhiger Weise, als spräche er von einem andern, daß er sich, gleich nachdem er sie kennengelernt, in sie verliebt habe, und daß Irwing von ihm aufgefordert worden sei, seine Bewerbung um ihre Hand zu unterstützen. Viele kleine Einzelheiten fielen ihm während des Erzählens ein, und er erwähnte derselben alle: wie Irwings Stimme plötzlich heiser geworden sei, als er ihn gebeten habe, für ihn zu werben, – wie er ihn gleich darauf halb ohnmächtig auf sein Zimmer geführt habe, – daß seine Krankheit von dem Augenblick herrühre, wo diese Unterredung stattgefunden habe, – endlich auch, daß Irwing ihm feierlich die Versicherung gegeben habe, was ihm damals so unnütz erschienen wäre, er habe alles getan, was in seinen Kräften stehe, um Fräulein Mary für ihn, Wilson, günstig zu stimmen.

Im Laufe des Erzählens verlor Wilson die Fassung, mit der er zuerst gesprochen hatte. Er wurde immer aufgeregter. Die Meinung, daß Weber richtig gesehen, befestigte sich in ihm in dem Maße, wie er selbst immer mehr Beweise in seinem Gedächtnis fand, daß er seinem Freunde ein furchtbares Opfer auferlegt habe. – »Ich blinder, blinder Tor!« sagte er endlich, als er geendet hatte, »daß ich dies alles nicht gesehen habe! . . . Ich weiß es jetzt bestimmt, Irwing liebte Sie! – Und nun frage ich noch einmal, Fräulein Thorn, um seines Glücks willen sagen Sie mir: wußten Sie dies? . . . Und dann sagen Sie mir noch eins: – ich habe kein Recht, Sie danach zu fragen, aber Sie müssen mich entschuldigen – dann frage ich Sie noch eins: Würden Sie den Antrag meines Freundes annehmen?«

Auf diese letzte Frage konnte und wollte Mary nicht antworten. Diese Frage hatte Irwing allein das Recht, an sie zu richten. Aber Wilsons ernste Erzählung von den Leiden seines Freundes, der Schmerz, den er in diesem Augenblick augenscheinlich selbst erduldete, seine Aufregung – alles dies wirkte ansteckend auf das junge Mädchen. Sie war tief ergriffen, und es fiel ihr nicht ein, die Frage Wilsons zum dritten Male zurückzuweisen. Nein, sie sagte ernst und ruhig, was sie wußte, und was ihr während Wilsons Erzählung eingefallen war. – Ja, sie hatte eine Zeitlang geglaubt, daß Irwing sie liebe; aber dann war eine plötzliche Umwandlung gekommen, und als er von ihr Abschied genommen, hatte er gesagt, er dürfe sie niemals wiedersehen. Er hatte, als er so sprach, sehr elend ausgesehen.

Wilson hegte keinen Zweifel mehr: »Ich habe mich schwer an Irwing vergangen, ich habe ihm großes Leid zugefügt,« sagte er, »Gott ist mein Zeuge, es ist ohne mein Wissen geschehen. Ich will sehen, ob ich die Sache wieder gut machen kann.« Er erhob sich schnell und entfernte sich, ohne Abschied zu nehmen, und wenige Sekunden darauf sah Mary über der niedrigen Gartenmauer, wie er sich auf einem rasch trabenden Pferd entfernte.

An jenem Abend gab Wilson mehrere hundert Dollars für telegraphische Depeschen aus. Er hatte mit dem ruhigen Weber genau ausgerechnet, wann Irwing frühestens in Kalifornien eintreffen könne. Eine außergewöhnlich günstige Fahrt von Yokohama bis San Franzisko mußte achtzehn Tage dauern, die gewöhnliche Fahrzeit war zweiundzwanzig bis vierundzwanzig Tage. Irwing hatte Japan am 19. Mai verlassen. Vor dem 7. Juni konnte er unmöglich in San Franzisko sein; wahrscheinlich war es, daß er am 12. oder 13. dort eintreffen werde. – Aber nun schrieb man erst den 29. Mai. Ein Telegramm nach San Franzisko über Kiachta, St. Petersburg, London und New York konnte, wenn man nicht außergewöhnliche Umstände gegen sich hatte, bis zum 6. Juni in San Franzisko sein. – Wilson sandte eine ausführliche Depesche an die zuverlässigen Agenten seines Hauses in London und ersuchte diese, sofort an die »Bank von Kalifornien« in San Franzisko zu telegraphieren, daß Herr Irwing, Inhaber des Hauses Wilson & Irwing in Schanghai, mit dem »Pacific Mail Steamer Amerika« in der ersten Hälfte des Monats Juni in Kalifornien eintreffen werde, und daß man ihn, ehe er das Schiff verlasse, aufsuchen müsse, um ihm mitzuteilen, er sollte San Franzisko unter keiner Bedingung vor Ankunft der nächsten Post aus Japan verlassen, die ihm wichtige, unerwartete, angenehme Nachrichten aus Schanghai überbringen werde.

Wilson wurde etwas ruhiger, nachdem dies Telegramm abgesandt worden war. Die Hand, die er beim Zerschlagen der Tischplatte verwundet hatte, fing an heftig zu schmerzen. Er ging zu Doktor Jenkins, um sich verbinden zu lassen. Nach diesem Besuch begab er sich todmüde nach seiner Wohnung und legte sich, ohne etwas gegessen zu haben, zu Bette.

Während der nächsten Tage war er unfähig zu arbeiten. Seine kräftige Konstitution hielt ihn noch immer aufrecht und erlaubte ihm, nach wie vor zu den gewöhnlichen Stunden in seinem Schreibzimmer zu sitzen und in den Klub zu gehen; aber er war zerstreut und einsilbig, und sein frisches Lachen, das man früher so häufig gehört hatte, war verstummt. Weber war der einzige, mit dem er sich gern und häufig unterhielt. Der Gegenstand ihrer Unterredungen war immer derselbe: Irwing.

Weber versuchte, Wilson zu beruhigen und aufzuheitern, und manchmal gelang ihm dies auch. Dann machte Wilson neue Pläne für die Zukunft. »Irwing heiratet Mary Thorn«, sagte er, »und ich werde mich mit einer beliebigen Kusine May begnügen. – Offen gestanden ist mir die Lust zum Heiraten etwas vergangen: aber Irwing könnte sich am Ende einbilden, wenn ich ledig bliebe, daß ich ihm ein großes Opfer gebracht habe. Diesen unangenehmen Gedanken will ich ihm ersparen, und darum werde ich mich, sobald ich in England bin, nach einem Ersatz für Mary Thorn umsehen. Sind wir beide, Irwing und ich, einmal verheiratet, so dürfen wir alles Ernstes wieder daran denken, unsere alten Pläne zur Ausführung zu bringen. Wer weiß, vielleicht wird am Ende noch alles gut.«

Er sprach nicht so vertrauensvoll, wie es früher seine Art war, wenn er Luftschlösser zu bauen pflegte, und Weber wurde ganz nachdenklich und fragte sich, ob nicht Wilson, indem er der jungen Amerikanerin entsagte, ein größeres Opfer bringe, als er ihn glauben machen wollte.

Die Abreise der Familie Thorn war nun festgesetzt. Sie wollte Schanghai am 6. Juni verlassen, um am 18. desselben Monats von Yokohama nach San Franzisko weiterzugehen. Herr und Frau Thorn hatten nicht in Erfahrung bringen können, was der Gegenstand der letzten Unterredung zwischen Wilson und ihrer Tochter gewesen war. Diese hatte auf die Anfrage ihrer Mutter mit großer Ruhe geantwortet, Herr Wilson habe sich mit ihr über Herrn Irwing unterhalten, und als Frau Thorn ihre Verwunderung ausgedrückt hatte, daß Wilson zu dem Zweck eine gewissermaßen geheime Unterredung nachgesucht habe, war ihr von der Tochter die Antwort geworden: »Es ist wirklich nicht der Mühe wert, so viel von der Sache zu sprechen.« – Fräulein Thorn war eine sehr selbständige junge Dame: ihre Mutter hatte sie dazu erzogen und durfte sie deswegen nicht tadeln. Diese war eine praktische Frau, die grundsätzlich jede Unruhe und Sorge soviel wie möglich von sich wies. Der Aufenthalt in Schanghai war eine kurze Episode in ihrem Leben, die mit der Abreise vollständig abgeschlossen wurde. Herr Wilson, sobald er nicht ein Bewerber um die Hand ihrer Tochter war, wurde ihr vollständig gleichgültig, und wenn Mary es vorzog, sie nicht in ihr Vertrauen zu nehmen, so wollte sie sich nicht hineindrängen. Sie ließ die Sache auf sich beruhen und sah Wilson noch mehrere Male kommen und gehen, ohne zu versuchen, von ihm Aufklärung zu erlangen.

Am 5. Juni waren Wilson und Weber von Ralston zu einem Abschiedsessen eingeladen, das zu Ehren der Familie Thorn gegeben wurde. Wilson saß auch diesmal wieder neben Fräulein Thorn; aber seine Unterhaltung mit dem jungen Mädchen war nicht so lebhaft wie an dem ersten Tage ihres Bekanntwerdens. Doch bemerkte Weber, der ihm gegenüber saß, daß er sich, unbekümmert um seine Nachbarin zur Rechten, lange und ernst mit Fräulein Thorn unterhielt. Der Gegenstand dieses Gesprächs konnte kein anderer sein als der abwesende Irwing. Wilson erzählte dem jungen Mädchen, daß sie seinen Freund jedenfalls noch in San Franzisko vorfinden werden, daß sie seine Wohnung auf der »Bank von Kalifornien« in Erfahrung bringen könne, und daß er sie bäte, einen Brief für ihn, der von größter Wichtigkeit sei, mitzunehmen und ihm diesen eigenhändig zu übergeben. Mary sagte dazu bereitwillig »Ja«, und Wilson zog darauf einen Brief aus der Tasche, den er ihr überreichte, und den sie neben sich auf den Tisch legte.

Ralston, Thorn und Weber hatten alle drei gesehen, was vorfiel, und da die Handlung ganz offen, ohne jede Geheimtuerei vor sich gegangen war, so fragte Herr Thorn seine Tochter laut über den Tisch, für wen der Brief sei? Wilson antwortete an Stelle der Angeredeten, es sei ein wichtiger Brief für seinen Geschäftsgenossen Irwing, den er Fräulein Thorn gebeten habe, diesem eigenhändig zu übergeben.

»Sie scheinen großes Vertrauen zur Pünktlichkeit meiner Tochter zu haben,« sagte Herr Thorn lächelnd, »und Sie werden darin nicht getäuscht werden. Der Brief soll am Tage unserer Ankunft abgegeben werden. Sollte Mary ihn vergessen, so werde ich daran denken. Ich freue mich sehr darauf, Herrn Irwing wieder zu sehen, und ich hoffe, ihn in guter Gesundheit zu finden.«

Damit war dieser Zwischenfall, dem Anscheine nach, erledigt. Ehe Wilson sich jedoch empfahl, trat er noch einmal zu Fräulein Thorn heran und sagte feierlich: »Ich verlasse mich darauf, Fräulein Mary, daß der Brief an Irwing sofort besorgt wird. Sein Lebensglück hängt davon ab.«

Sie blickte zur Erde und antwortete errötend: »Sie können sich darauf verlassen.«

Der Brief, den Wilson nur mit Mühe und unter großen Schmerzen geschrieben hatte – denn die Wunde an seiner rechten Hand war noch nicht geheilt, und Doktor Jenkins hatte ihm sogar streng verboten zu schreiben, lautete wie folgt:

Schanghai, den 5. Juni 1866.

»Mein lieber Irwing!

Dieser Brief wird Ihnen durch Fräulein Thorn überbracht werden, die gerade einen Monat nach Ihnen in San Franzisko eintreffen wird. Ich rechne mit Sicherheit darauf, daß Sie mein Telegramm erhalten haben, daß Sie in San Franzisko geblieben sind, und daß Fräulein Thorn Sie also ohne Mühe auffinden wird. Ich kann nicht mehr schreiben, als notwendig ist, denn ich habe eine unbedeutende, aber schmerzhafte Wunde an der Hand und muß, was ich zu sagen habe, in möglichst wenigen Worten sagen.

Weshalb, Irwing, haben Sie nicht Vertrauen zu mir gehabt? Sie hätten mir und Ihnen viel elende Tage ersparen können, wenn Sie mir gesagt hätten, was Sie in Schanghai krank gemacht hat. – Sie lieben Fräulein Thorn. Ich weiß es jetzt, und ich mache mir Vorwürfe, es nicht früher gesehen zu haben. Ich begreife Ihre Handlungsweise sehr wohl und finde darin einen neuen Beweis Ihrer guten Freundschaft für mich. Aber ich muß tadeln, daß Sie mich falsch beurteilt haben. – Wie konnten Sie sich einbilden, daß meine Zuneigung zu Fräulein Thorn eine so tiefe wäre, als daß ich derselben Ihr Glück hätte aufopfern wollen? – Fräulein Thorn gefiel mir am ersten Tage sehr gut und gefällt mir auch heute noch. Ich hatte mir, nach reiflicher Überlegung wie ich sagte, das heißt zwei Stunden nachdem ich sie kennen gelernt hatte, vorgenommen, sie zu heiraten. Ich glaube, die Wahl war keine schlechte; aber es fällt mir nicht schwer, Ihnen nun zu sagen, daß ich eine andere treffen will. May hat mir vor sechs Jahren geradesogut gefallen, wie mir Mary vor sechs Wochen gefiel, und – hundert gegen eins – finde ich in sechs Monaten, nämlich sobald ich in England bin, ein anderes Mädchen, das mir gerade ebenso lieb ist wie May oder Mary. Ich habe mich um diese nicht mehr beworben von dem Augenblicke an, wo ich erfahren habe, daß ich Ihr Rival sein würde. Das Feld ist nun also wieder frei, und ich hoffe, Sie werden den großen Preis dort gewinnen. Ich wünsche es von ganzem Herzen.

Ich bitte Sie, mir sofort nach Empfang dieses Briefes zu telegraphieren und mir in Ihrer Depesche zu sagen, wie es um Ihre Gesundheit steht, und wann Sie nach Schanghai zurückzukehren gedenken. Ich schlage folgendes vor: Sie werden diesen Brief gegen Mitte Juli empfangen. Bringen Sie Ihre Angelegenheit mit Mary sofort in Ordnung, und kommen Sie mit dem Augustdampfer nach China zurück. Die Liquidation der Firma ist so weit vorgeschritten, daß Sie mit dem Septemberboote schon wieder nach Amerika zurückkehren können. Dann verheiraten Sie sich im November, und zu Weihnachten stelle ich Sie und Ihre junge Frau meinem Vater und meiner Schwester vor. Sie sehen, ich berücksichtige, daß Sie in Amerika sind, wo, wie man mir sagt, auch Herzensangelegenheiten in geschäftsmäßiger Weise erledigt werden. Also ich gratuliere zur Verlobung, ich wünsche Ihnen glückliche Reise nach Schanghai und ich sage Ihnen: ›Auf Wiedersehen hier im September!‹

Treu der Ihrige                          
Richard Wilson.«


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