Rudolf Lindau
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Rudolf Lindau

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V

Vierzehn Tage waren wieder vergangen, ohne daß eine Änderung zum Bessern in Irwings Gesundheitszustand eingetreten wäre. Zwar klagte er über nichts und ging seinen Geschäften in üblicher Weise nach; aber er ließ sich weder auf dem Rennplatze noch in der Kegelbahn sehen, und er saß des Abends stundenlang im Dunkeln auf der Veranda und rauchte. Er hatte Wilson gebeten, ihm den Gefallen zu tun – er hatte das Wort scharf betont – ihm nicht Gesellschaft leisten zu wollen. »Ich habe etwas Kopfschmerzen,« sagte er, »und es stört mich, mich beobachtet zu fühlen. Es gibt Leute, die sich gern pflegen lassen. Ich bin keiner von ihnen. Bitte, lassen Sie mich allein!«

Wilson ging wie ein unruhiger Geist in Schanghai umher. Er erzählte jedermann, mit dem er zusammentraf, daß Irwing ihm große Sorge mache, und es verging kein Tag, ohne daß er eine lange Unterhaltung mit Doktor Jenkins gehabt hätte. Dieser war mit der Zeit auch unruhig geworden. – Leute, die längere Zeit in Schanghai gelebt haben, werden durch jedes Unwohlsein rasch und schwer angegriffen. Der Arzt hatte deshalb schließlich vorgeschlagen, der Kranke solle wieder in ein nördliches Klima gehen. Irwing war damit einverstanden und bereitete sich darauf vor, in wenigen Tagen nach Yokohama zurückzukehren.

Wilsons Bewerbung um Mary Thorn war inzwischen nicht mit der erwarteten Lebhaftigkeit weitergeführt worden; doch war sie auch nicht ganz eingeschlafen. Er besuchte das junge Mädchen fast täglich, aber er sprach mit ihr von nichts anderem als von Irwings Gesundheitszustande.

»Sehen Sie, Fräulein Mary,« sagte er, »Irwing ist der beste Mensch auf Gottes weiter Welt: treu wie Gold, weich wie ein Kind, mutig wie ein Löwe, und dabei von einer geistigen Überlegenheit, von der sich niemand, der ihn nicht so genau kennt wie ich, auch nur entfernt eine Idee machen kann. Ich halte ihn für einen der besten lebenden Ingenieure und bin fest überzeugt, daß er noch Großes vollbringen und sich einen berühmten Namen machen wird.«

Ja, Wilson verstand es in der Tat, einen abwesenden Freund zu loben, und dieser hätte mit ihm zufrieden sein müssen, wenn er ihn gehört hätte. Mary Thorn lauschte solchen Worten mit nie ermattender Aufmerksamkeit und wurde nicht müde, dieselben Sachen, wenn Wilson sie auch zum zehnten Male wiederholte, wieder anzuhören. Sie war stets für Wilson zu sprechen, sie verabredete mit ihm Zusammenkünfte in Ralstons Salon und ließ ihn niemals auch nur eine Sekunde warten. Die beiden jungen Leute sahen sich täglich, unterhielten sich jedesmal lange und eifrig mit einander und wurden dem Anscheine nach immer vertrauter; – aber sie sprachen niemals von etwas anderem als von dem abwesenden Francis Irwing.

Herr und Frau Thorn ließen ihre Tochter gewähren. Irwing hatte sein Versprechen nicht vergessen. Er hatte, trotz seines Unwohlseins, verschiedene Unterredungen mit Marys Eltern gehabt und war bei dieser Gelegenheit bemüht gewesen, in lobendster Weise von Wilson zu sprechen. Julius Weber hatte dasselbe getan, Ralston endlich, Thorns Geschäftsgenosse, den dieser um Rat gefragt hatte, war ohne Zögern bereit gewesen, alles Gute zu bestätigen, was Weber und Irwing bereits von Wilson gesagt hatten: Wilson erschien demnach als ein junger, wohlhabender Mann, der sich in jeder Beziehung des besten Rufes erfreute, und dem ein Vater seine Tochter ruhig anvertrauen konnte. – Mary war neunzehn Jahr alt; wenn sie Wilson liebte, so war es Herrn Thorn ganz recht, den jungen Mann, dessen Persönlichkeit ihm gefiel, als Schwiegersohn zu begrüßen. Weder er noch seine Frau wollten der Bewerbung im Wege stehen. Herr Thorn war deshalb immer gern bereit, Mary und Wilson ungestört miteinander sprechen zu lassen, und er war darauf vorbereitet, daß dieser sich innerhalb weniger Tage unumwunden erklären werde. Die Sache war etwas unerwartet gekommen und schien schnell zu gehen; aber das war in Herrn Thorns Augen kein Grund, sie zu verwerfen.

Irwing hatte jedoch das Versprechen, das er seinem Freunde gegeben hatte, bis jetzt nur teilweise gelöst. In Marys Gegenwart hatte er Wilsons Namen noch nicht ausgesprochen. Das junge Mädchen konnte nicht begreifen, weshalb Herr Irwing, der in Yokohama so wenig wie möglich von ihrer Seite gewichen war, sie seit ihrer Ankunft in Schanghai mied. Auf dem Rennplatze, sie erinnerte sich dessen wohl, hatte er zum letzten Male freundlich und zutraulich mit ihr gesprochen. Sie hatte ihn seitdem häufig wiedergesehen; aber er hatte sich damit begnügt, »Guten Tag« und »Guten Abend« zu sagen, und war dann wieder von ihr gegangen, um sich mit ihrem Vater und ihrer Mutter, mit Herrn Ralston oder einem andern Mitgliede der Gesellschaft zu beschäftigen. Seine Besuche waren gewöhnlich kurz gewesen, und nicht ein einziges Mal hatten ihre Augen die seinigen finden können. Er blickte, wenn er in ihrer Gegenwart war, auf ein Buch, oder aus dem Fenster, oder in das Gesicht derjenigen Person, mit der er gerade sprach. Aber auf ihrem Gesichte hatten die guten, ehrlichen Augen, die sie so häufig bis in den Traum verfolgten, nicht wieder geruht. – Hatte sie irgend etwas getan, wodurch sie Herrn Irwing verletzt hatte? – Sie konnte die Ungewißheit darüber nicht länger ertragen. Sie wollte wissen, was die plötzliche Umwandlung in seinem Wesen ihr gegenüber hervorgerufen hatte.

»Das nächste Mal, wenn ich ihn sehe,« sagte sie sich, »frage ich ihn. Das kann nicht schlecht sein. Ich habe ein Recht, wissen zu wollen, weshalb er so unfreundlich ist.«

Wilson hatte den Thorns mitgeteilt, daß Irwing auf Anraten des Doktor Jenkins nach Yokohama zurückzukehren beabsichtige und mit dem ersten Dampfboote wieder dorthin abreisen werde. Die ›Costa-Rica‹ sollte den Hafen am nächsten Morgen verlassen. Mary Thorn konnte mit Sicherheit auf Irwings Besuch rechnen. Sie hatte eine kleine, harmlose Strategie erdacht, um ihre Mutter zu entfernen und um zu den in Schanghai gebräuchlichen Besuchsstunden allein zu sein.

Während sie ungeduldig wartete, machte Irwing seinem ehemaligen Wirte und Freunde Julius Weber einen kurzen Abschiedsbesuch. Die beiden saßen in Webers Arbeitszimmer: dieser auf einem hohen Schreibstuhl, Irwing neben ihm auf einem kleinen Bambussessel. Der Sessel war sehr niedrig, und Irwing war schwerfällig hineingefallen. Jetzt hielt er sich dort unbeweglich, den Oberkörper etwas nach vorn gebeugt, die langen Beine dicht an den Sitz herangezogen und die Hände still und steif auf den Knien ruhend. Weber blickte von dem hohen Schemel auf ihn hinab und war durch den Anblick, den Irwings Gestalt bot, schmerzlich betroffen. Der junge Mann, den er so lebensmutig gekannt hatte, erschien schwach, von sonderbarer Hilf- und Ratlosigkeit. Weber musterte die langen, abgemagerten blutlosen Hände, die alle Kraft verloren zu haben schienen. Dann, als sich seine Augen auf den Kopf seines Besuchers richteten, bemerkte er, daß der einst so kräftige Nacken die eigentümliche Magerkeit angenommen hatte, die in heißen Ländern ein sicheres Zeichen großer Entkräftung ist. Die wohlgeformten Ohren schienen weiter als früher vom Kopfe abzustehen und waren wie die Hände blutleer, das schlichte blonde Haar lag spröde und glanzlos an den durchsichtigen Schläfen. Die ganze Erscheinung war die eines Mannes, der sich soeben von einer schweren Krankheit erhoben hat.

Irwing hatte Weber erzählt, daß er morgen wieder nach Yokohama zu gehen beabsichtige. Er hatte auch schon einmal Adieu gesagt und sich halb in die Höhe gerichtet, als ob er fortgehen wolle; aber er war dann wieder auf den Stuhl zurückgesunken, und seit einer Minute saß er nun da ohne zu sprechen und anscheinend in tiefes Nachdenken versunken.

Es kam Weber vor, als ob Irwing noch irgend etwas auf dem Herzen habe, was er ihm mitzuteilen wünsche. Als dieser beharrlich schwieg, wollte er ihn ermutigen und sagte in teilnehmendem Tone: »Wir sind alte Freunde, Irwing, und Sie wissen, daß Sie sich auf mich verlassen können. Wenn ich in Ihrer Abwesenheit hier etwas für Sie tun kann, was Sie aus irgendeinem Grunde einem andern nicht anvertrauen wollen, so verfügen Sie über mich.«

»Ja«, antwortete Irwing und dann stockte er wieder. Nach einer kurzen Weile fuhr er jedoch fort: »Wenn ich nicht nach Schanghai zurückkehren sollte, so will ich Ihnen hiermit gleich für längere Zeit Lebewohl sagen.« Er sprach zögernd und verlegen. Weber sah ihn betroffen an.

»Sie wollen nicht wieder nach Schanghai kommen?« fragte er.

»Ich weiß es noch nicht bestimmt; aber es ist doch möglich und für den Fall wollte ich nicht fortgehen, ohne es Ihnen gesagt zu haben. Sie haben mich zuerst freundlich aufgenommen, als ich vor sechs Jahren hier ankam, und haben mir seitdem stets zur Seite gestanden. Ich bin Ihnen dafür dankbar . . . Adieu, lieber Weber!«

Er erhob sich nun, aber er ging noch nicht fort, sondern blieb unschlüssig am Pulte stehen. »Noch eins, Weber«, fuhr er fort. »Ich bitte Sie, erzählen Sie Wilson nicht, daß ich auf längere Zeit Abschied genommen habe. Es würde ihn besorgt machen . . . Und dann noch eins« – er nahm ein Papiermesser, das auf dem Pulte lag, drehte es langsam hin und her und betrachtete es aufmerksam – »noch eins: Wenn Wilson in meiner Abwesenheit etwas Unangenehmes zustoßen sollte, so stehen Sie ihm zur Seite. Er ist nicht so stark, wie er aussieht, Schanghai hat ihn mehr angegriffen, als er selbst weiß, und er würde, wenn es ihm schlecht ginge, der Stütze bedürfen.«

»Was soll ihm denn zustoßen?« fragte Weber mit einiger Unruhe. – »Droht ihm ein Unglück?«

»Nicht, daß ich wüßte. Aber es könnte ihm doch etwas Unangenehmes vorkommen, und in dem Falle möchte ich sicher sein, daß Sie ihm in meiner Abwesenheit zur Seite stehen.«

»Irwing,« sagte Weber sehr ernst, »alles dies ist nicht in Ordnung. Sie verheimlichen mir etwas. Sprechen Sie doch frei heraus!«

»Nein, ich bin nur etwas ermattet und niedergeschlagen, und da sehe ich vielleicht schwarz.«

»Da haben Sie unrecht, lieber Irwing«, erwiderte Weber wieder mehr beruhigt. »Verbittern Sie sich Ihr Leben nicht! Freuen Sie sich desselben. Es ist zu kurz, als daß man schwarzen Gedanken nachhängen sollte.«

»Zu kurz, zu kurz!« wiederholte Irwing bitter, »es scheint mir, daß es lang genug ist . . . Nun ich will Sie aber nicht länger aufhalten . . . Adieu, Weber! Ich verlasse mich auf Sie, daß Sie Wilson nicht unnütz beunruhigen . . . und sollte ihm in meiner Abwesenheit irgend etwas zustoßen, so rechne ich auf Sie.«

Er entfernte sich endlich und ließ seinen Freund nachdenklich über das, was er gesagt und wie er es gesagt hatte, zurück.

Von Webers Wohnung begab sich Irwing langsamen Schrittes nach dem Hause Ralstons. Er konnte Schanghai nicht verlassen, ohne von der Familie Thorn Abschied genommen zu haben, und er wollte sein Versprechen lösen und mit Mary über Wilson sprechen. Er hatte diese Unterredung bis zum letzten Augenblick aufgeschoben. Nun, am Vorabend seiner Abreise, mußte sie stattfinden.

Der Diener, der in der Vorhalle von Ralstons Hause wartete, um Besuche anzumelden, antwortete Irwing, daß Frau Thorn, nach der er zuerst gefragt hatte, ausgegangen sei; Fräulein Mary aber befinde sich im Empfangszimmer. – Irwing trat darauf zögernd in das große Gemach. Es war, wie die meisten Wohnräume in Schanghai, hoch und luftig. Drei große Glastüren öffneten, dem Eingang gegenüber, nach dem Garten hin und gaben Zutritt zu einer breiten, verdeckten Veranda, die nach Norden hin lag, und auf der sich die Bewohner des Hauses während der heißen Jahreszeit vorzugsweise aufzuhalten pflegten. Auf diesem Balkon standen mehrere kleine Tische und große bequeme Rohrsessel. Eine breite, wenig Stufen hohe Treppe führte von dort in den gut unterhaltenen Garten. Die größten und schönsten Bäume erhoben sich in unmittelbarer Nähe der Veranda; ihre dicht beblätterten Zweige dämpften dort das grelle Licht des Tages zu einem ruhigen, angenehmen Halbdunkel herab.

Mary hatte Irwing kommen hören und zeigte sich nun in einer der Glastüren, um den Eintretenden zu bitten, ihr auf die Veranda zu folgen. Dort ließ sich Irwing neben dem jungen Mädchen auf einen Sessel nieder. Er saß wieder gerade und steif, wie er bei Weber dagesessen hatte. In der Rechten hielt er seinen Hut, die Linke lag unbeweglich auf dem einen Knie. Mary hatte die Ellenbogen auf einen kleinen Tisch gestützt, der zwischen ihr und Irwing stand, und das Kinn auf beide Hände gelegt. Sie betrachtete Irwing aufmerksam und traurig. Während der ganzen Unterredung, die nun stattfand, waren ihre Augen unverwandt, ängstlich forschend auf Irwing gerichtet. Dieser blickte zu Boden oder sah in den Garten hinaus.

»Ich komme, um Ihnen Lebewohl zu sagen«, fing er an. »Ich kehre morgen mit der ›Costa-Rica‹ nach Yokohama zurück.«

»Nun, hoffentlich macht Japan Sie bald wieder gesund«, erwiderte Mary. »Ich wünsche es von ganzem Herzen. Ich bedauere aufrichtig, Sie leidend zu sehen.«

Irwing antwortete nicht.

»Herr Irwing«, fuhr Mary fort. »Ich muß eine Frage an Sie richten. Seien Sie mir deshalb nicht böse! . . . Weshalb sind Sie seit unserem Hiersein so ganz anders gegen mich, als Sie in Yokohama waren? Habe ich etwas getan, wodurch ich Sie verletzt habe?«

Eine kurze Sekunde sah er sie an, und sein Blick war voll unendlicher, trostloser Traurigkeit. – »Herr Irwing,« fuhr Mary flehend fort, »sagen Sie mir, was habe ich getan, daß Sie mir zürnen?«

»Ich zürne Ihnen nicht«, antwortete er ganz leise.

»Weshalb sprechen Sie nie mehr mit mir? Weshalb vermeiden Sie mich? Was habe ich getan? Bin ich anders, als ich in Yokohama war?«

»Nein.«

»Nun weshalb sind Sie so ganz anders?«

»Ich bin nicht recht wohl. Verzeihen Sie mir!«

»Wollen Sie mir Ihre Hand geben? Wollen Sie mir sagen, daß wir noch gute Freunde sind wie früher?«

Sie wußte nicht, woher sie den Mut nahm, so zu sprechen; aber sie fühlte, daß sie ein Recht hatte, es zu tun. Sie litt unverschuldet; sie wollte und durfte ein Mißverständnis aufklären, das sie unglücklich machte.

Sie streckte ihre kleine weiße Hand Irwing entgegen. Dieser legte seine Rechte zögernd in die ihrige.

»Herr Irwing, sind wir noch gute Freunde?«

»Ja, Fräulein Mary.«

Er zog seine Hand langsam wieder zurück. Sie hätte in Tränen ausbrechen mögen. Sie bewahrte nur mit größter Mühe ihre Fassung. Aber doch konnte sie ihm nicht zürnen. Er sah so leidend aus, so elend, daß sie alles auf der Welt gegeben hätte, um ihn zu trösten.

Irwing hatte sich fest vorgenommen, sich des Auftrages, den Wilson ihm gegeben hatte, zu entledigen. Er suchte nach Worten, um dies zu tun. Er war in großer, peinlicher Verlegenheit. Eine neue Frage, die Mary an ihn richtete, gestattete ihm endlich, von seinem Freunde zu sprechen.

»Sie werden Herrn Wilson ohne Zweifel regelmäßig schreiben?« sagte sie. »Auf diese Weise werden wir dann wohl auch Nachrichten von Ihnen empfangen?«

Irwing beantwortete diese Frage nicht. Er sagte nur: »Wilson ist mein Freund.« – Er stockte und wiederholte langsam und abwesend: »Wilson ist mein Freund . . . mein einziger Freund . . .«

»Er gefällt mir sehr gut«, entgegnete Mary. »Er hat etwas so Offenes, Biederes in seinem ganzen Wesen, das sofort Vertrauen und Zuneigung einflößt . . . Er hat Sie sehr lieb. Sie glauben gar nicht, wie er um Sie besorgt ist. Sie sollten ihn nur hören, wenn er von Ihnen spricht. Er stellt Sie höher als alles andere auf der Welt.«

»Er ist der beste Mensch, den ich kenne.«

»Er sagt dasselbe von Ihnen.«

»Haben Sie Wilson lieb?« Die Frage kam so sonderbar heraus, sie schien so gänzlich unbegründet, Irwing sah dabei mit einer so eigentümlichen Starrheit im Blick in die Zweige der Bäume, daß Mary mehr verwundert als verletzt entgegnete:

»Weshalb richten Sie diese Frage an mich?«

Irwings Antwort kam in demselben teilnahmlosen Tone, von demselben teilnahmlosen Blicke begleitet: »Weil ich weiß, daß Wilson Sie liebt.«

Mary schrak zusammen. Irwing schien nichts zu sehen. Er blickte noch immer in das dunkle Laub, den Kopf halb abgewandt von Mary. – Plötzlich regte sich in der Brust des jungen Mädchens ein wilder Gedanke, der ihr das Blut in die Wangen trieb, aber dem sie Ausdruck geben mußte.

»Was würden Sie sagen, wenn ich ihn wieder liebte?« fragte sie leise, zitternd.

Irwing schien zu ersticken. Er atmete beklommen, er schaukelte sich unruhig auf dem Sitze hin und her, er legte ein Bein über das andere und wechselte diese Stellung verschiedene Male, seine trockene Zunge wollte die trockenen Lippen netzen, er strich mit der Hand über die schweißbedeckte bleiche Stirn. – Seine Stimme klang rauh und heiser, als er endlich Worte fand:

»Sie würden einen edlen Menschen lieben . . . Sie würden ihn glücklich machen . . . Sie würden glücklich sein.«

Mary erhob sich schnell und stand mit blitzenden Augen vor ihm.

»Das sagen Sie mir« – fragte sie mit tiefer, fremder Stimme, mit langem Ausdruck auf das Wort »Sie«.

»Ja« – dies kaum hörbar von Irwing.

Sie erbleichte. – »Hören Sie mich, Herr Irwing!« fuhr sie mit derselben fremden Stimme fort. – »Hören Sie mich? Wenn Sie mir anraten, Herrn Wilson meine Hand zu geben . . . aber nur wenn Sie es mir anraten . . . auf Ihre Verantwortlichkeit hin . . . hören Sie –« sie konnte kaum sprechen, sie atmete schnell und laut – »auf Ihre Verantwortlichkeit hin werde ich ihm meine Hand geben, wenn er darum anhält . . .«

Sie stockte. Er saß stumm.

»Nun so antworten Sie! Antworten Sie, Herr Irwing!« – Sie sprach lauter, sie stand ihm beinahe drohend gegenüber, ihre flammenden Augen unverwandt auf sein Gesicht gerichtet. »Soll ich ihm ›Ja‹ sagen? . . . . Ja oder nein?«

»Ja«, brachte er hervor.

»Nun dann, leben Sie wohl, Herr Irwing.« Sie wandte sich, als wollte sie gehen.

Er versuchte, sich zu erheben; seine Kräfte verließen ihn: er fiel auf den Sessel zurück, aber er machte eine verzweifelte Anstrengung und stand endlich aufgerichtet an dem kleinen Tisch, auf den er sich mit einer Hand stützte. – Mary war in der Glastür stehen geblieben und hatte sich nach ihm umgewandt. – Die Sonnenstrahlen, die durch das Laub der Bäume fielen, machten ihr Haar goldig erglänzen, die hohe, schlanke Gestalt, in ein helles Gewand gehüllt, mit dem dunklen Zimmer als Hintergrund, von der Tür wie in einen großen Rahmen gefaßt, erschien wie in einem Bilde. Sie blickte auf Irwing und sah in der ganzen Erscheinung des Unglücklichen den Ausdruck unbeschreiblichen Leidens. Tiefes, schönes, weibliches Mitleiden füllte ihre ganze Brust.

Hatte sie ihn bei Namen gerufen? – Er wußte es nicht. Er hatte es wie in einem Traume gehört, und wie im Traume näherte er sich der lichten Erscheinung, von den wunderbaren Augen, die sehnsüchtig, liebevoll, trostverheißend auf ihm ruhten, unwiderstehlich angezogen.

Er ergriff ihre Hand, die sie ihm willig überließ und sagte: »O Mary, Mary, ich darf Sie nie, . . . niemals wiedersehen!«

Seine Rechte ruhte zwischen ihren beiden Händen. Sie fühlte, wie er sie sanft zurückzog. »Nimmer, . . . nimmermehr«, wiederholte er. Er sah sie lange an; dann wandte er sich langsam ab. – Die Sinne vergingen ihr fast. – Was hatte dies alles zu bedeuten?

Er näherte sich gesenkten Hauptes der Treppe, sie sah ihm mit weitgeöffneten Augen starr, sprachlos nach. – Er stieg die wenigen Stufen hinunter und trat, ohne sich umgesehen zu haben, unter den Schatten der Bäume. – Was? Keinen Blick mehr von ihm? Er ging, ohne sich noch einmal nach ihr umgewandt zu haben? Er wollte sie nie – niemals wiedersehen? . . . Sie hörte seinen schweren, gemessenen Schritt auf dem knirschenden Kies der Allee, sie vernahm, wie die Gartentür schwingend in ihren Angeln ächzte; dann wurde es still – totenstill. Er war gegangen . . . für immer! Sie taumelte zurück und sank, einer Ohnmacht nahe, in einen Sessel.

Vor der Tür von Ralstons Hause begegnete Irwing seinem Freunde Weber.

»Noch einmal glückliche Reise und auf Wiedersehn!« begrüßte ihn dieser. »Sie kommen wohl von den Thorns? Ich will ihnen soeben einen Besuch machen.«

Irwing antwortete nur mit einem stummen Nicken.

»Ich wette,« sagte Weber vor sich hin, nachdem Irwing weiter gegangen war, »Irwing ist in Mary Thorn verliebt, und Wilson hat sie ihm fortgenommen.« Er zuckte die Achseln, als wollte er sagen: »Ich kann es nicht verhindern, und ich kann auch nicht helfen.«

Weber, ein wohlbekannter Freund des Hauses, wurde von dem Diener ohne weiteres in das Empfangszimmer geführt, das Mary noch nicht verlassen hatte. Sie erhob sich schnell und mit heftigem Herzklopfen, als sie die Tür öffnen hörte; sobald sie jedoch den neuen Besucher erkannt hatte, legte sich ihre Aufregung wieder.

Es konnte Weber nicht entgehen, daß etwas Außergewöhnliches mit Mary Thorn vorgefallen sein müsse. Sie sah blaß und verstört aus und besaß kaum Fassung genug, um die gewöhnlichen Begrüßungsformeln, mit denen er sie anredete, zu beantworten. Er vermutete, daß die augenscheinliche Verwirrung des jungen Mädchens mit dem Abschiede von Irwing zusammenhänge; aber er wußte nicht, wozu es nützen könnte, sich darüber Aufklärung zu verschaffen, und da er weder neugierig noch aufdringlich war, so bemühte er sich, unbefangen zu erscheinen, als ob er nichts Außergewöhnliches in dem Wesen Marys bemerkte. Er blieb nur kurze Zeit und empfahl sich dann wieder, ohne von etwas anderem als vom Wetter, vom Klima von Schanghai und ähnlichen Dingen gesprochen zu haben.

»Das ist eine kuriose Geschichte«, grübelte er vor sich hin, als er wieder in der Straße war: »Irwing liebt die kleine Thorn; und wenn ich mich nicht sehr irre, so liebt sie ihn. Das verhindert nicht, daß Wilson sie mit Irwings Zustimmung heiraten will . . . Es geht komisch zu in dieser komischen Welt!«

Wilson war im Godown beschäftigt, als Irwing wieder nach Hause kam, und dieser konnte unbemerkt auf sein Zimmer gehen, wo er den Boy mit dem Einpacken seiner Sachen beschäftigt fand.

»Befiehlt der Herr, seine Flinte miteinzupacken?« fragte der Diener.

Irwing nickte mit dem Kopf.

»Befiehlt der Herr, Winterzeug mitzunehmen?«

»Ja.«

Der Boy schleppte einen zweiten großen Koffer aus Kampferholz herbei, schloß ihn auf, blieb, mit dem Kopf auf einer Seite, eine Weile lang bedenklich stehen, wandte sodann einen fragenden Blick auf Irwing, als erwarte er von diesem irgendwelche Anweisungen, und schloß endlich den Koffer still wieder zu.

»Befiehlt der Herr, daß ich mit nach Yokohama gehe?«

»Nein.«

Assung, der Boy, schlich darauf geräuschlos aus dem Zimmer und erzählte dem CompradorName, den man in China dem in europäischen Häusern angestellten chinesischen Geschäftsführer gibt. , den er in der Hausflur antraf, der Herr gehe auf lange Zeit und weit fort, denn er nehme all sein Winterzeug mit und lasse ihn, Assung, in Schanghai zurück.

Der Comprador meinte, Herr Irwing werde in wenigen Wochen wieder nach Schanghai zurückkehren, aber Assung erwiderte: »Ich weiß besser« – und der Comprador, der nicht zu einer Unterhaltung aufgelegt war, und der sich im Grunde wenig um die ganze Geschichte kümmerte, schloß die Unterhaltung lakonisch mit dem üblichen: ›› Can see, can sabee‹‹ – »Wenn man es gesehen hat, so wird man es wissen.« – Jedoch hielt er es als wohlerzogener, höflicher Comprador eines geachteten Handlungshauses für seine Pflicht, für den nächsten Morgen eine Kiste mit ›› fire crackers‹‹ – chinesischem Feuerwerk – zu bestellen, damit Herr Irwing das Haus und den Hafen unter gebührenden Ehrenbezeugungen verlassen könne.

Irwing blieb in seinem Zimmer, bis es anfing zu dämmern; dann zog er sich wie gewöhnlich zum Essen an, und da der »Gong« gerade zur Tafel rief, begab er sich in den Speisesaal, wo Wilson bereits auf ihn wartete.

Die Mahlzeit ging still und traurig vorüber. Wilson war nicht nur um die Gesundheit seines Freundes besorgt; er war auch verstimmt: ja, er war gewissermaßen böse auf Irwing. Er fühlte, daß dieser ihm gegenüber nicht mehr der Alte war, daß sich etwas Fremdes, Störendes, er konnte sich nicht erklären was, zwischen ihn und seinen Genossen geschoben hatte. – Daß Irwing sich unwohl fühlen mußte, war augenscheinlich. Wilson wollte es ihm nicht verdenken; aber was er weder begreifen, noch entschuldigen konnte, war die scheue Traurigkeit seines Freundes. – Weshalb klagte er nicht? Weshalb sagte er nicht in klaren Worten, wo ihn der Schuh drückte? – »Wenn ich krank wäre,« meinte Wilson, »nun so würde ich mich zu Bette legen und würde mich von Irwing pflegen lassen. Es ist unrecht von ihm, mich wie einen Fremden zu behandeln.«

Im Laufe des Abends erzählte Irwing seinem Freunde, daß er von Fräulein Thorn Abschied genommen habe.

»Haben Sie ein Wort für mich sagen können?« fragte Wilson, ohne jedoch den Eifer zu zeigen, den er früher an den Tag gelegt hatte.

»Ja. Ich habe ihr gesagt, daß sie sich Ihnen anvertrauen könnte, daß Sie sie glücklich machen würden.«

»Sie sind ein wahrer Freund! . . . Und wie hat sie Ihre Bemerkungen aufgenommen? – Seien Sie nicht böse, alter Mann, daß ich Sie mit diesen Fragen quäle.«

»Ich bin Ihnen nicht böse.«

»Nun, wie hat sie Ihre Bemerkungen aufgenommen?«

»Ich verstehe nichts von Frauen. Wir sprachen nicht lange. Ich konnte nicht viel sagen; aber ich habe nur Gutes von Ihnen gesagt . . . Ich gebe Ihnen die Versicherung, Wilson, ich habe mein Bestes getan, um Ihnen zu nützen . . . Ich konnte nicht mehr tun, als ich getan habe.«

»Wer zweifelt daran? Weshalb geben Sie mir eine feierliche Versicherung? Sie sind mein Freund. Tun Sie mir nur den Gefallen und werden Sie schnell wieder gesund. Alles übrige wird sich finden.«

Am nächsten Tage, um sieben Uhr morgens, dampfte die ›Costa-Rica‹ aus dem Hafen. Wilson, der Irwing an Bord begleitet hatte und sich nun wieder seiner Wohnung näherte, fühlte sich niedergeschlagen wie nie zuvor. Irwing hatte ganz eigentümlich von ihm Abschied genommen. Er hatte mehrere Male wiederholt: »Bewahren Sie mir ein freundliches Andenken, Wilson,« und seine Augen waren feucht gewesen, als er ihm an der Landungstreppe die Hand gedrückt hatte. – Als er vor wenigen Wochen zum ersten Male nach Yokohama gegangen war, hatte er nicht in so feierlicher Weise Lebewohl gesagt. Damals rief er: »Auf Wiedersehen in sechs Wochen! Passen Sie auf Mammon und Excentric auf!« – und stand freundlich lächelnd und winkend auf dem Verdecke, bis er Wilson aus den Augen verloren hatte. Heute sprach er gar nicht von Wiedersehn. Er ging, als meine er nie wiederzukommen. – Was fehlte ihm? – Doktor Jenkins vermochte keine Auskunft zu geben. Wilson konnte sich die Sache nicht erklären.

»Ich werde bis zur Rückkehr der ›Costa-Rica‹ keine ruhige Minute haben«, sagte er sich. »Wolle Gott, daß der erste Brief Irwings mir gute Nachrichten bringt!«


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