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Kapitelvignette

Zwischen Theologie und Dichtung

Die Universitätsstadt Straßburg stand im Herbstgewand, als sie den zwanzigjährigen Waldelsässer aufnahm. Ein duftiger, milder, gleichsam von innen leuchtender Herbst kleidet die Münsterstadt nach der lastenden Schwüle oder dem ziehenden Staub der Sommerebene ganz besonders reizvoll.

Mein Sinn für die architektonischen Gebilde einer großen Stadt war noch wenig aufgeschlossen. Ehrfurcht vor dem erhabenen Münster war uns ja freilich eingeboren. Wir jungen Studenten umschritten denn auch sofort das riesenhafte, in den wechselnden Beleuchtungen wundersam schimmernde rotbraune Meisterwerk frommer Baukunst. Wir kletterten auf die Plattform; wir betrachteten von oben mit Staunen das wunderliche Gewimmel steiler, gedrängter Giebel und im Duft der Ferne die feinblasse Linie der verlassenen Vogesen. Der Blick hatte Bedeutung: wir schauten an einer Biegung unseres Lebenspfades noch einmal auf das Land der Jugend zurück. Aber mit einem Ruck wandte man sich dann zum Schwarzwald hinüber; dort winkten die Möglichkeiten einer Wanderung durch die deutsche Kultur, in die wir nun eingetreten waren. Die magische Kraft dieser Blickrichtung nach Osten war in mir stärker als die wehmütige Rückschau nach den westlichen Gebirgen.

Freilich, die vielgliedrige Kunst dieses zugleich anmutigen und großartigen Münsters verblüffte den unreifen Jüngling eher, als daß der hier verkörperte Rhythmus bereits unser Verständnis entzückt hätte. Das Straßburger Münster ist ja das volkstümlichste Gebäude der südwestdeutschen Ecke. Bei einer Reise nach der Stadt muß man vor allem »'s Münschter sehn«. Und es ist auf den Aussichtspunkten unsrer Wasgauberge immer das Bestreben des Wanderers, womöglich mit Hilfe einer Orientierungstafel die nadelfeine Turmspitze im Dunst der Rheinebene zu erspähen. Aber von da bis zum Begreifen des Genies, das in solchen wohlgefügten Steinen zum Ausdruck kommt, war noch ein weiter Weg.

Vorerst begeisterte den Sohn des Dorfes und der Kleinstadt die studentische Form der Freiheit und der historische Duft der alten Reichsstadt. Vom Bahnhof kommend, eingeschluckt vom Menschenstrom der schmalen Langstraße, die sich neben dem Hohen Steg als Hauptader nach dem Zentrum zieht, fühlte man sich magnetisch in die Münstergegend gelockt. In der Nähe des alles beherrschenden Domes, am alten Fischmarkt, war das Haus, aus dessen Fenstern im zweiten Stockwerk der bezopfte Studiosus Goethe auf das Treiben der Hauptstraße herabgeblickt hat. Unweit davon, am Thomasstaden, steht heute noch als geräumiges Privathaus der ehemalige »Gasthof zum Geist«: dort hat der junge Dichter seinen Herder gefunden. Und wie ich früh schon Goethe liebte, so stand ich auch hier vor allem unter dem Eindruck: Straßburg ist Goethes Studentenstadt. Von hier aus ritt er nach Sesenheim; dort in der traulich engen Knoblochgasse war die berühmte Salzmannsche Tafelrunde; von der Plattform dieses einturmigen Münsters aus leuchteten seine herrlichen Augen und sein gefüllter Römer über unsre elsässische Landschaft.

Haben wir des Dichters Worte vom Bastberg angeführt, so darf auch seine Begrüßung des Landes vom Münster aus nicht fehlen: »Und so sah ich denn von der Plattform die schöne Gegend vor mir, in welcher ich eine Zeitlang wohnen und hausen durfte: die ansehnliche Stadt, die weitumherliegenden, mit herrlichen dichten Bäumen besetzten und durchflochtenen Auen, diesen auffallenden Reichtum der Vegetation, der, dem Laufe des Rheines folgend, die Ufer, Inseln und Weiden bezeichnet... Denkt man sich nun zwischen diesen üppig ausgestreckten Matten, zwischen diesen fröhlich ausgeführten Hainen alles zum Fruchtbau schickliche Land trefflich bearbeitet, grünend und reifend und die besten und reichsten Stellen derselben durch Dörfer und Meierhöfe bezeichnet und eine solche große und unübersehliche, wie ein neues Paradies für den Menschen recht vorbereitete Fläche näher und ferner von teils angebauten, teils waldbewachsenen Bergen begrenzt: so wird man das Entzücken begreifen, mit dem ich mein Schicksal segnete, das mir für einige Zeit einen so schönen Wohnplatz bestimmt hatte.«

Wandte man sich vom Langhaus des Münsters zur Linken, so gelangte man durch die Münstergasse in die goldbraune Herbststimmung des Broglieplatzes mit seinen Kastanienbäumen. Dort hat Türkheim gewohnt, Lili Schönemanns Gatte; dem Bankier-Baron gegenüber der Bürgermeister Dietrich, in dessen Hause am 25. April 1792 Kapitän Rouget de l'Isle zum erstenmal die »Marseillaise« gesungen hat. Weiterschreitend, in die Blauwolkengasse, stehen wir vor dem ehemaligen Tribunalgebäude, jetzt Polizeipräsidium, wo einst der straffe, blasse Doktrinär Saint-Just den Straßburgern die Revolution einbleute, was gleichzeitig der ihm gegenüber am Jung-Sankt-Peterplatz hausende derbere Exmönch Eulogius Schneider mit der fahrbaren Guillotine besorgte. Durchquert man die belebte Meisengasse, so kommt man in wenig Schritten zum Kleber- oder Paradeplatz: dort, vor dem Gasthof »Rotes Haus«, hat einst das erschütterte Straßburg am Ostersonntag 1793 die Guillotine zum erstenmal in Tätigkeit gesehen.

Rundete man nun den Kreis und schritt am alten Fischmarkt entlang wieder an den Staden hinab, so konnte man unsern der Rabenbrücke ein heute noch bemerkenswertes altertümliches Haus mit Hinterhof besichtigen, den »Gasthof zum Raben«: dort hat einst Friedrich der Große geherbergt. Und schräg gegenüber erhebt sich die prachtvoll geschlossene Front des ebenso vornehmen wie einfachen Rohan-Schlosses, eines Meisterwerkes aus dem achtzehnten Jahrhundert.

An demselben Staden, unweit vom einstigen Gasthof zum Geist, steht das Thomasstift. Dies war das Gebäude, in welchem wir Studenten der Theologie Behausung und Beköstigung fanden.

Unmittelbar dahinter öffnet sich eine romantische Ecke, vollständiges Mittelalter: malerische alte Häuser am laut und wuchtig hinbrausenden Wasser. Man nennt dieses Häuserwirrsal das »Kleine Frankreich«. Ill und Breusch haben sich dort, kurz vor den »Gedeckten Brücken«, zu einer ansehnlichen Wassermasse vereinigt, die sich nun an uralten viereckigen Türmen vorüber in die Stadt ergießt und als stärkster Schutz ehedem die Festungsmauern umarmte. Man mußte herzhaft rudern, wenn man bei Hochwasser in einem der schwerfälligen Kähne, die damals dort zu mieten waren, den Wasserandrang überwinden und nach der »Grünen Warte« hinaufgelangen wollte.

Viele Altertümer birgt unser kulturaltes Elsaß. Jeder Kunstfreund wird etwa dem Schongauer-Museum in Kolmar mit den berühmten Isenheimer Altarbildern Grünewalds und mancher Abtei, Kirche und heute noch ummauerten Landstadt einen Besuch widmen. Auch unser Museum in Straßburg enthält etliche beachtenswerte mittelalterliche Meister. Aber dem Dorfjungen war dies alles noch ein versiegeltes Buch. Ein halbwüchsiger Pflastertreter der Großstadt, der in einer Gemäldesammlung öfters Strichregen abwarten und bemalte Leinwand kostenfrei betrachten kann, ist in diesem Anschauungsunterricht weiter als der damalige Student. Es galt da, eine ganz neue Welt zu erobern, nachdem man sich bisher wesentlich mit Natur und Büchern gesättigt hatte.

Immerhin: man war nunmehr hineingestellt in den Duft und Zauber altreichsstädtischer Kultur, die von französischem Geschmack und französischer Geschichte noch leis überschimmert war. Und kam ich auch wenig in die Salons der Gesellschaft, und mochte ich auch nicht tanzen lernen, da Menuettschritt nicht zu meinem herben Lebensgang paßte: so spürte man doch um sich her ein neuartig flutendes Leben und war mit guten Gesellen munter genug dabei.

Die glänzend neue Universität, außerhalb der Altstadt in viel Grün gelegen, war damals von durchschnittlich tausend Studenten besucht. Ein Jahr zuvor war der Bau mit seiner stattlich wirkenden Front, der breiten Freitreppe und der ägyptisch anmutenden Säulenhalle des Inneren eingeweiht worden. Das Fest dieser Einweihung hatte mitten in den wüsten politischen Treibereien – es war die Zeit der Protestler Kablé und Antoine – wie ein Friedensakkord gewirkt. Und einen Wohlklang solcher Art konnte man unserm idealistischen Statthalter Manteuffel kurz vor seinem Tode von Herzen gönnen.

 

Seltsame Gestalt, dieser Feldmarschall-Statthalter Edwin von Manteuffel!

Er hatte sich in den Kämpfen von 1870 bei Amiens und an der Hallue ausgezeichnet und das Bourbakische Korps nach der Schweiz geworfen. Im Herbst 1876 ernannte ihn dann sein greiser Kaiser, den er innig verehrte, zum Statthalter jenes merkwürdigen Gebildes, das man Reichsland Elsaß-Lothringen benannte, anstatt daß man es sofort an einen großen Bundesstaat anschloß. Aus dieser sonderbaren Stellung des »Reichslandes« ergaben sich von vornherein Schwierigkeiten der Verwaltung: wir wußten nicht recht, wir Elsässer, wohin wir denn in Deutschland gehörten, da wir weder selbständiger Bundesstaat noch Teil eines solchen waren, sondern ein allgemeines Reichsding mit zukünftigen Möglichkeiten. Unsre deutsch-elsässische Regierung anderseits horchte mit einem Ohr nach Berlin, sollte jedoch auch den Besonderheiten des neu errungenen Landes gerecht werden. Und so lag in dem hier gegebenen Zustand gleich zu Anfang, durch die Halbheit der Sachlage bedingt, eine verhängnisvolle Unsicherheit. Dies ward eine Hauptquelle der bekannten künftigen Übel.

Lebhaft ist mir des Statthalters hohe, aufrechte Soldatengestalt mit dem angegrauten Bartbusch, dem dichten Haar, dem kühnen und ausdrucksvollen, zunächst eher befremdenden als anziehenden Gesicht noch im Gedächtnis. Er besuchte unsre Heimatgemeinde Schillersdorf. Ich war dort zum ersten Male Festdichter – eine Gattung, der man mit Recht ausweicht – und drechselte einen kurzen Reimspruch, den ein Schulmädchen in der damals noch üblichen farbenschönen Bauerntracht aufsagen sollte. Das Kind senkte die Augen vor dem rauhbärtigen, buschigen Kopf und den Glutaugen des grauen Kriegsmannes, blieb stecken und begann zu weinen. Manteuffel nahm das Papier, gab es seinem Adjutanten und half mit einigen leutseligen Worten über das Peinliche hinweg.

Ein andermal tauchte seine scharf ausgeprägte Gestalt, die man nach einmaligem Sehen nicht wieder vergaß, im Gymnasium zu Buchsweiler auf. Ich saß in Untertertia, war noch kein Licht und wurde glücklicherweise nicht gefragt. Er trat mit seinem Gefolge in die Klasse, setzte sich auf einen Stuhl neben das Pult und lauschte nun mit der ihm eignen Ernsthaftigkeit dem lateinischen Unterricht. Wir Jungens duckten, soweit wir in Deckung saßen, die Köpfe hinter die Rücken der Vordermänner und verbissen ein krampfhaftes Lachen oder tuschelten einander faule Witze zu. Denn dieser fremdartig in die Klasse blickende Feldmarschall, der da vorn auf seinem einsamen Holzstuhl saß, während das Gefolge achtungsvoll an der Tür verharrte, mutete uns unaussprechlich komisch an. Wie konnte man nur in einer so alltäglichen Schulstube mit solchem feierlichen Ernst unserm Blödsinn lauschen!

Alberta von Puttkamer, deren Gemahl damals in hoher Staatsstellung tätig war, hat über die »Ära Manteuffel« aus eigner Anschauung ein menschlich und sachlich lesenswertes Buch veröffentlicht. Wer etwa neben diesem Werk noch die Erinnerungen eines Karl August Schneegans und des Grafen Eckbrecht von Dürckheim zu Rate zieht, dem formt sich von der politischen Stimmung jener siebziger und achtziger Jahre ein ausreichendes Bild. (Vgl. auch Ernsthausens Erinnerungen, 1894.)

Manteuffel war eine Persönlichkeit. Er machte Eindruck; er zwang zur Stellungnahme. Frau von Puttkamer schildert in warmer Tonart seine »schlanke, gereckte Gestalt, biegsam und regsam in den Bewegungen, denen aber geistige Kraft mehr die Stählung gab als körperliche; im Auge ein strenger Wille neben einer warmleuchtenden Güte – und dazu diese seltsame Stirn, hochgebaut, wie große Denker und sehr Tatkräftige sie haben; die Stimme hell und hallend, aber in ihren Modulationen den wechselnden Ton der Stimmungen klar gebend ...« Sein Lieblingsdichter war Schiller; ihn zitierte er gern, auf ihn fast allein war er eingestellt. So soll es auf die dabei Anwesenden schaurig und fast übernatürlich gewirkt haben, als der Marschall am Abend des Todestages seiner heißgeliebten Frau sich plötzlich aus tiefer Versunkenheit erhob und mit entrückter Miene Verse aus Wallensteins Tod sprach: »Die Blume ist hinweg aus meinem Leben«.

Merkwürdig war es wohl auch, wenn der Statthalter als Gastherr eine seiner programmatischen Tischreden hielt, wobei er meist in die Höhe schaute, groß aufgerichtet, als empfinge er seine Gedanken von oben. Er war eine Natur von edler Offenherzigkeit und nicht ohne Ideenkraft; er gedachte vom reingestimmten Herzen aus das Elsaß für deutsche Kultur zu gewinnen. Aber dieses ritterliche Gefühlspathos vergriff sich oft in den Mitteln; sein Liebeswerben sah sich verschlossener Unfruchtbarkeit gegenüber und erlebte Enttäuschungen; die mild geöffnete Hand mußte sich wieder zur Faust ballen – und so kam etwas Widerspruchsvolles, Sprunghaftes und Unberechenbares in Manteuffels persönliche Politik.

Frau von Puttkamer, deren Buch von feiner Einfühlung und persönlicher Bewunderung zeugt, faßt ihr Urteil dahin zusammen: »Es ist dem ersten Statthalter in seiner Politik der Vorwurf des Schwankenden, Schwachen, Unsicheren, eines gewissen experimentierenden Zickzackganges gemacht worden. Es ist auch unleugbar, daß seiner im Grunde genialen Verwaltung des Reichslandes etwas Sprunghaftes und Unsicheres anhaftete. Dies aber allein aus seinem Wesen herleiten zu wollen, aus der schillernden Kompliziertheit seiner Begabung und der spontanen Art seines stark impulsiven, schwunghaften Empfindens, das wäre kurzsichtig und würde wenig Blick für die Psychologie der Verhältnisse und Menschen verraten. Die Unsicherheit und das Schwankende ergaben sich vielmehr aus dem Charakter der Übergangszeit.«

Man muß jedoch Dürckheims herbere Meinung mit hinzuziehen. Nach seinem Gefühl hat das System Manteuffel die Notabeln zu sehr umschmeichelt, die deutschgesinnten Elsässer aber nicht genügend an die rechten Stellen gezogen. Ich weiß nicht, ob es unter Manteuffel war: aber ein Wort, das in jenen ersten Jahrzehnten aus den Kreisen der Regierung über unsern verdienten Pfarrer und Dichter Karl Hackenschmidt gefallen ist und das mir dieser selbst erzählt hat, beleuchtet die Sachlage. »Der Mann ist uns zu deutsch«, sagte ein deutscher – ein altdeutscher! – Regierungsbeamter, als man unsren elsässischen Landsmann zu einem einflußreichen Posten heranziehen wollte. Mit andern Worten: dieser »zu deutsche« Elsässer könnte uns Regierungsleuten Unbequemlichkeiten verursachen. Und das liebt man doch nun einmal nicht ...

So war es öfters nach dem Abgang des sachlichen Möller; und so war es nicht nur unter dem edlen Manteuffel. Und man sollte nicht einseitig uns Elsässer, sondern mindestens ebensosehr die Regierungsweise und ihren mangelnden Instinkt, ihren mangelnden Mut zur steten und strengen Durchführung eines großzügigen Reichsgedankens für die Mißerfolge der Westmark-Politik verantwortlich machen. Es war im Elsässer weniger ein Widerstreben gegen das Deutschtum; denn unser Stamm ist ja kerndeutsch; aber es war ein Widerstreben gegen die noch nicht ausgeglichene Regierungsweise des jungen Reiches.

Graf Dürckheim kommt in seinen Aufzeichnungen (1887) zu dem scharfen Urteil: »Man war verblüfft, einen glorreichen preußischen Soldaten, Statthalter des Deutschen Kaisers, hauptsächlich von Reichsfeinden umgeben zu sehen. Die Leute bemerkten gleich, wie er den frechsten unter ihnen Avancen und Besuche machte, die nicht einmal erwidert wurden, wie er den oft sehr unbescheidenen, ja gesetzwidrigen Begehrlichkeiten dieser Herren willfährig entgegenkam. Mit einem Wort: sie sahen alle räudigen Schafe angelockt und am Herzen gehegt, während der Deutschgesinnte an die Wand gedrückt wurde.« Der ingrimmige alte Schloßherr von Fröschweiler, der dieses mangelnde Gefühl für Reichswürde feststellt, hatte selber in der französischen Kaiserzeit eine bedeutende Stellung ehrenvoll ausgefüllt, sich dann aber mit Entschiedenheit dem deutschen Elsaß eingeordnet. In einer Anmerkung fügt er hinzu: »Meine Meinung über alles das darf ich desto unbefangener aussprechen, als ich dieselbe oftmals dem edlen Feldmarschall gegenüber freimütig und ehrlich kundgetan habe.«

Wir leichtmütigen Jung-Elsässer von damals erlebten diese politischen Sorgen und den Tod des Statthalters noch nicht mit Bewußtsein. Aber so viel bemerkten auch wir, daß man im Lande den eigenartigen Vertreter des Kaisers liebte. Oft flüchtete der einfache Bauer oder Bürger über sämtliche Akten der Zwischenbeamten hinüber hartnäckig und geradeswegs »zum Manteuffel«: aus den kalten Paragraphen in die warme Menschlichkeit. Das gab dann freilich auf den übergangenen Stellen viel Verdruß und war politisch jedenfalls kein wünschenswerter Zustand.

Mich selbst beschäftigte Politik nur in Form der Poesie und der stets herzlich geliebten Geschichte. Die Übergabe der vordem freien deutschen Reichsstadt Straßburg an Frankreich in jener Septembernacht des Jahres 1681, die der französischen Politik eine so unheilvolle Blickrichtung nach Osten gab, zog mich als dramatischer Stoff an. Das Schauspiel wurde dann auch geschrieben, eingereicht und überall abgelehnt, auch in Straßburg selber. So verwandelte ich denn später dieses dramatische Gebilde, das so viel Studien erfordert hatte und das niemand haben mochte, in eine Erzählung für die reifere Jugend! »Der Raub Strahburgs« heißt dieses Ergebnis meiner politisch-dramatischen Bemühungen. Ich empfehle es einer glücklicheren Hand zur Rückverwandlung in den dramatischen Zustand.

Einstweilen rang der Student der Theologie und Philologie mit andern Problemen.

Wie konnte Erfüllung werden, was schon dem Knaben dunkel als seine besondere geistige Sendung vorgeschwebt hatte? Dichterische Träume hatten mich gequält; sie waren ein Weilchen zurückgetreten; man saugte nun mit allen Poren die studentische Freiheit ein. Aber wie nun weiter? Konnten mich Thomasstift 113 und Theologie fördern? Auch Hölderlin und andre geniale Schwaben, wie Hegel und Schelling, waren durch theologische Bildung gegangen und hatten dem wohltätigen Zwang jenes altberühmten Tübinger Stiftes geistige Schulung zu verdanken. Manchem freilich blieb ein theologisches Geschmäckle anhaften, das er nie ganz überwinden konnte. Mir schien ein wahrhaft freies, parteiloses, unbefangenes und uneingefangenes Menschentum früh schon ein köstliches Gut, mehr wert als jede gutbesoldete Staatsstellung oder sonstige äußere Ehrung.

In einem freirhythmischen Gedicht jener Zeit spielte ich das Bekenntniswort »Christus am Kreuze« gegen die gleiche Silbenzahl »Griechische Schönheit« aus. Im Grunde aber rangen in mir Christentum und Griechentum nach Ausgleich; mein Durst nach Schönheit und Liebe war meinem Hunger nach dem Seelenheil der Erlösung ungefähr gleichwertig. Der Berg Golgatha war mir am frühesten in Sicht gekommen durch meine strengchristliche Erziehung; dann aber kam die erste Liebe, kam die wildschöne Natur unsers Hügelgeländes – und der Berg Akropolis leuchtete in der Ferne auf. Später lernte ich einen dritten symbolischen Berg aus innigem Erlebnis lieben: die Burg im Herzen der deutschen Kultur, die Wartburg.

Christentum, Griechentum, Deutschtum: dies etwa waren die Seelenkämpfe, die nun im Studenten gleich im ersten Semester ihren Anfang nahmen.

Diese stillen Kämpfe spielten sich zunächst im Thomasstift ab.

Es finden in diesem umfangreichen Bau, der sich da im Schatten der Thomaskirche erhebt und in einigen Winkeln noch von Klosterstimmung durchweht ist, etwa fünfzig Söhne meist elsässischer Eltern Kost und Wohnung. Den äußeren Betrieb leitet ein Studiendirektor, der dem anvertrauten Häuflein genügend Spielraum läßt. Um zehn Uhr abends pflegt in Straßburg eine Viertelstunde lang die Münsterglocke gemächlich über die stille Stadt zu läuten. Wenn ihr altvertrautes Schlummerlied verklungen ist, wandert – so war es wenigstens damals – der Herr Studiendirektor mit seinem Laternchen von Zelle zu Zelle, klopft an und vergewissert sich, daß seine Stiftler im Nest sind. Ich habe den damaligen Direktor Erichson in angenehmer Erinnerung. Zu meinen Theaterbesuchen schüttelte er mißbilligend den Kopf und versicherte mit seiner etwas ängstlichen und hohen Stimme glaubhaft: »Dazu hat Sie Ihr Vater nicht auf die Universität geschickt.« Auch überraschte er mich einmal gerade mit seinem freundschaftlichen Besuch, als mein Tisch mit dichterischen Manuskripten bedeckt war. Neugierig reckte der mäßig große, etwas behäbige Mann das rosige Haupt und forschte, was ich denn da gerade studiere; aber ich schob ihm rasch gefaßt den Stuhl derart zwischen Bett und Öfchen, daß er nicht herankonnte, und setzte mich selber noch zwischen ihn und den verfänglichen Tisch.

Mitunter gab es auch einmal harmlosen nächtlichen Unfug. Wenn etwa ein Wildfang (die Pfälzer galten als mutwilliger Menschenschlag) mitten in der ersten Nachtruhe ein so dröhnendes Hallo in den langen Korridor hinausdonnerte, daß man aus dem eisernen Bettgestell emporfuhr, so konnte der findigste Kopf nicht herausbringen, aus welcher der zahlreichen Zellen die ärgerliche Störung erschollen war. Oder man kletterte aus einem Gartenstübchen am Blitzableiter hinunter und entwich in die Freiheit, was aber immerhin selten war. Ich hab's scherzweise auch einmal versucht; es ging leicht. Doch im Ernstfall wurde kein Gebrauch davon gemacht. Die Freiheit, die ich meinte, war andrer Art.

Die Stiftsbibliothek soll gediegene Sachen enthalten. Auch ein geräumiger Lesesaal steht zur Verfügung; wir benutzten seine Winterwärme, wenn wir im eignen Zimmerchen Holz sparen wollten. Viel saß man auf Freundesbuden und ergab sich einem traulichen Schwatz oder geistigen Gesprächen, wobei es, wie innerhalb jeder Lebensgemeinschaft, zumal unter hitzigen jüngeren Leuten, weder an Anregung noch an Hader und heftigen Kleinkämpfen fehlte, die dann wieder zu feierlich schlichtenden Sitzungen Anlaß gaben. Im Orgelsaal fand Morgenandacht statt, nachdem Meister Obrecht, der Pförtner mit dem grauen Spitzbart – er hatte den raschen, leichten Schritt der französischen Infanterie – den Tag eingeläutet hatte. Freilich folgten meist nur spärlich hinüberhuschende Gestalten dem lockenden Rufe. Nah und gewichtig fielen in unser Tun und Treiben von der ungefügen Thomaskirche herab die ruhigen Schläge der Turmuhr und gaben uns das Gefühl, daß wir in einer behaglich alten Stadt von Kultur und Vergangenheit hausten, in der Stadt des Dominikaners Johannes Tauler, in einer Stadt, die auch in der Reformationszeit bedeutende Prediger an der Arbeit gesehen hat.

Der Weg nach der Universität führt an den vielen Wasserpritschen und den Anglern des belebten, im Winter oft recht nebelkalten Wassers entlang. Draußen erwarteten uns helle und hohe Hörsäle, ein geräumiger Lichthof und ein reinliches, feingepflegtes Lesezimmer, das ich ausgiebig benutzte.

Wir hatten an der Universität namhafte Lehrkräfte. In unsrer Theologie glänzte noch der bewegliche alte Reuß, Typus des älteren elsässischen Gelehrten, an dessen bartloses Gesicht mit dem lebhaften Mienenspiel und dem gesprächigen Vortrag ich mich noch gern und gut erinnere. Einen berühmten Namen hatte der strengwissenschaftliche Badener Holtzmann, dessen kritische Zerzupfung des Neuen Testaments, etwa in Fortsetzung der alten Tübinger Schule, den Kummer der elsässischen Orthodoxie bildete. Neben ihm trat im Alten Testament der Berliner Nowack wirksam in Tätigkeit, ein scharf hervorstechender Charakterkopf, eindringlicher im Vortrag als der mehr monologisierend vor sich hinmurmelnde Holtzmann und auch als geschickter Debatteredner bekannt. In der Philologie denke ich achtungsvoll an den Historiker Baumgarten, der mit schmalen, bartlosen Lippen einen lichtvollen und ruhigen Vortrag hielt, und an den nicht minder fesselnden Scheffer-Boichorst; an Windelbands lebensvolle und etwas unruhige Behandlung der Philosophie; an Zieglers natürliche und gewinnende Einführung in Psychologie und ähnliche Gebiete, während der Germanist Martin zwar ein seelenguter Mensch und getreuer Kleinforscher war, aber in seiner Umständlichkeit als Dozent geradezu einschläfernd wirkte. Sohm prägte uns mit entzückender Plastik Kirchenrecht ein, Zöpffel sehr anziehend Kirchengeschichte.

Es waren vortreffliche Männer. Doch kann ich nicht sagen, daß ihre Tugenden und Kräfte auf mich abgefärbt hätten. Das Spezialistentum hatte sich denn doch zu bedenklich der deutschen Wissenschaft bemächtigt. Der deutsche Gelehrte war nicht mehr geistiger Führer zum Leben im umfassenden Sinne des Wortes, sondern Arbeiter. Herz und Phantasie kamen bei dieser Ausbildung der Begrifflichkeit zu kurz. Ich fror in den Hörsälen.

Schon im November trug ich das schwarz-weiß-goldne Band und die dunkle Sammetmütze der Studentenverbindung Argentina. Sie ist bereits 1867, also noch zu französischer Zeit, auf christlicher Grundlage gegründet worden, stellte innerhalb des elsässisch-französischen Studentenlebens eine Neuheit dar und hielt von Anfang an mit dem deutschen Studentenbund »Wingolf« Fühlung, dem sie sich später völlig angegliedert hat. Deutschgesinnt waren bereits die Gründer; in Kehl, auf deutschem Boden, holten sie ihre Bänder hervor und setzten die Mützen auf. Schon in einem Verbindungsbericht aus dem Jahre 1865 stehen die Worte: »Es gehört zum wesentlichen Charakter der Argentina, ein Asyl deutscher Sprache und Sitte zu sein in einer von französischem Wesen völlig durchseuchten Umgebung.« Deutschtum und Christentum: das waren unsre studentischen Grundlagen.

Am Eintrittsabend mußte jeder neu aufgenommene Fuchs seine »Pauke« schwingen: eine Rede des Dankes und der Begrüßung. »Ich wollte Dir meine Pauke eigentlich hersetzen« – schrieb ich an meinen Jugendfreund Heinrich Peter –, »aber es wäre zu ermüdend für Dich und mich. So will ich denn nur andeuten, daß ich mit Wendungen wie »keine sentimentalen Gefühlschristen«, »wahrhaft frei, weder knechtisch, noch zügellos«, ,sich eins fühlen auf dem festen Boden des Christentums und in der gleichen Liebe zum Vaterlands« – um mich geworfen habe. Es war ein sehr schöner Abend, diese Rezeptionskneipe am 23. November. Von geselligem Leben habt ihr in eurem winkligen, spießbürgerlichen Taubenschlag Buchsweiler gar keine Ahnung!«

So wechselte nun das Dasein zwischen akademischen Studien und akademischer Geselligkeit. Für das kirchengeschichtliche Seminar wurde mir eine Arbeit über Luthers Stellung zum Bauernkrieg aufgetragen; ganze Arme voll gelehrter Werke, besonders Janssen, waren nach Hause zu schleppen. Auch schwebt über den Stiftlern die löbliche Einrichtung halbjähriger Stipendiaten-Examina, im Studententon kurzweg »Stips« genannt. In drei Fächern wird der Musensohn, der im Stift haust, an jedem Semesterschluß geprüft, man durfte also nicht ganz faulenzen; dafür erhielt man dann noch eine Geldunterstützung (»Stipendium«) zu der schon billig berechneten Kost und Wohnung. Ich nahm einmal als Prüfungsgegenstand den griechischen Text des Römerbriefes, Geschichte der griechischen Philosophie, fünfundzwanzig Kapitel der Genesis im hebräischen Urtext; ein andermal Buch der Richter und Ruth – und hier war es ja wohl, wo mich unser scharfsinniger Alttestamentler in die Klauen nahm: er behielt mich nebst Freund Oschmann bis zuletzt, saß vor uns auf dem Tischrand und trieb nun mit mephistophelischem Behagen unsre Feld-, Wald- und Wiesenorthodoxie gehörig in die Enge.

Man war lächerlich unreif. Ich lernte für jene Prüfungen die wesentlichen Tatsachen der erhabenen griechischen Philosophie einfach auswendig; vom Sinn verstand ich so gut wie nichts. Immerhin, man erledigte diese Dinge kopfmäßig so gut wie irgendein andrer Fuchs und erhielt sein Stipendium.

Hier muß ich einer Beschämung gedenken, die meiner Unreife widerfuhr. Ich hörte ein Shakespeare-Kolleg bei dem früh verstorbenen Wetz, machte mir Notizen und arbeitete diese Notizen im – kirchengeschichtlichen Kolleg aus! Unser Kirchengeschichtslehrer hatte einen angenehmen Vortrag; er ist gestorben, ich habe später meine Abirrung nicht mehr entschuldigen oder erklären können. Der Gute bemerkte meine Unachtsamkeit, da ich zu seinen Füßen saß, geriet in Erregung und sprach immer heftiger; ohne Erfolg; ich war in Stratford am Avon und nicht auf einem Kirchenkonzil. Nach der Vorlesung holte mich der gekränkte Professor ein und hielt mir in seiner baltischen Mundart eine niederschmetternde Rede; den Schmerz einer solchen Mißachtung hätte er in seiner ganzen Dozentenlaufbahn noch nicht erlebt. Von dem bereits in mir gärenden Zwiespalt zwischen Theologie und Dichtung sagte ich nichts; ich bat zerknirscht um Verzeihung und ging meiner Wege.

Nebenbei war mir eine ähnliche heilsame Beschämung schon auf dem Gymnasium, in den oberen Klassen, durch unsern hervorragenden Direktor Deecke zuteil geworden. Ich versuchte bei einer Klassenarbeit in die Grammatik zu spähen; er bemerkte den Täuschungsversuch, winkte jedoch nur vornehm ab, kaum merklich, mit dem halblauten Zuruf: »Lassen Sie das, Lienhard!« So ganz gelassen, ganz unauffällig. Ein Menschenkenner! Er appellierte an mein Würdegefühl. Ich saß schamrot und war von solchen Schülerlisten geheilt.

Beiden ausgezeichneten Männern bin ich dankbar.

Unwahrhaftiges Wesen war mir zuwider. Das hatte uns der Vater eingeprägt; und Aufrichtigkeit entsprach meiner Natur. Nun war ich aber, schon seit dem Erwachen meiner verpönten dichterischen Liebhabereien, leider in die Lage versetzt, mein Tun und Dasein als etwas Unwahres oder doch Halbwahres empfinden zu müssen. Mein Herz war in den Gefilden der Dichtung, nicht auf den Bänken der Dogmatik und der Exegese. Und die Phantasie trieb sich herum, während mein Leib vor der Theologie saß.

Die Geselligkeit der Verbindung bot ein Gegengewicht gegen Grübelei und Träumerei. Ich denke an manchen lustigen Abend zurück, an dem ich als »Knödelwart« in Vers und Prosa meiner übermütigen Laune die Zügel schießen ließ. Es war das erstemal, daß wir Alt-Elsässer mit norddeutschen Kommilitonen in engere Lebensbeziehung kamen. Ihre straffere Art wirkte heilsam auf unsre süddeutsche Formlosigkeit. Wir mußten nun auch im alltäglichen Verkehr hochdeutsch reden; das war der Ausbildung und Geschmeidigung unsres deutschen Sprachgefühls sehr gesund. Mit Vergnügen denke ich an einige ältere Verbindungsbrüder, etwa an das ostfriesische Brüderpaar Heiko und Hinrich aus Wybelsum von der Nordsee oder an einen schneidigen hessischen Juristen, dessen Redegewandtheit uns Füchsen keine geringe Hochachtung abzwang. Sonntagsausflüge ins Flußland, manchmal auf Kähnen, oder ins Gebirge; eine Fahrt nach Tübingen und nach dem Uracher Wasserfall im herzigen Schwabenländle; eine Floßfahrt von Augst nach Basel – solche Besuche bei befreundeten Verbindungen schimmern noch heute lebendig in mir nach.

Wir hatten ja »Ekkehard« und den »Trompeter von Säckingen« mit Entzücken gelesen, tausendmal »Alt-Heidelberg, du Feine!« gesungen und liebten schon als Knaben Hauffs »Lichtenstein«. Oh, ihr hinreißenden deutschen Studentenlieder! Ihr brausenden Kommersgesänge! Im Quartett unsrer Verbindung schmetterte ich ersten Tenor; wir sangen einmal auf den Schneehöhen des Schwarzwaldes Neßler-Scheffels »Ich kniee vor Euch als getreuer Vasall, Pfalzgräfin, schönste der Frauen!« vor irgendeinem verschlossenen Burgtor in die köstlich klare Winterluft eines Wandertages. Und dann hatte ich die Freude, Alt-Heidelbergs Jubiläum als Abgesandter mitfeiern zu dürfen. Himmel, diese wogende Masse von festlichen Studenten, Philistern und Backfischen aller Gaue, Farben und Zöpfe! Das Städtchen am Neckar hob und dehnte sich ins Ungeheuerliche; in der wildumrankten Schloßruine glaubte man in einen summenden Wespenschwarm geraten zu sein. In den übervollen Straßen geriet ein Kind unter eine zweispännige Kutsche; ich höre heute noch den Aufschrei der Mutter und sehe unter den Hufen das umhergewirbelte Lockenköpfchen. Die Riesenkommershalle war eine dröhnende Volksstadt, an deren einem Ende, oder wo es war, man von Zeit zu Zeit irgend jemand sprechen sah, ohne viel zu vernehmen. Wir suchten in der ersten Nacht überhaupt kein Bett auf, sondern wuschen uns morgens am Marktbrunnen und zogen gleich aufs Schloß zum Frühschoppen. Der Blick von dort oben auf den schön geschwungenen Neckar ist ja unvergeßlich.

Aber da kam, etwa am vierten Tage dieser Festwoche, eine unliebsame Aufrüttelung. Ich hatte mein Nachtquartier an einen alten Herrn abgetreten und legte mich auf die Tannenkränze der Kneipe; ein Insekt stach mich am Arm, eine unheimliche Geschwulst war die Folge. Der besorgte Arzt schickte mich eilends nach Hause. Ziemlich gedämpft kam ich zu meinem erschrockenen Vater, der damals zur Kur in Baden-Baden weilte. Wir fuhren selbander recht gedrückt nach Schillersdorf; ich schlief mehrere Tage wie ein Toter. Die Geschwulst, die den ganzen Arm bis zur Schulter ergriffen hatte, heilte nur langsam. Die Stille des Krankenzimmers inmitten eines innigen Blühens der jungen Sommernatur – und hinter mir das verhallte Festgetöse der Neckarstadt: es war ein sehr zur Besinnlichkeit nötigender Gegensatz.

Wenn doch die deutschen Universitäten verschont bleiben möchten vom heillosen Zug in die Großstadt! Gewiß bietet die große Stadt Anregungen auf allen Gebieten des Lebens, wenn auch oft solche sehr zweifelhafter Art. Doch »was besagt das alles gegenüber der poesie- und reizumsponnenen kleinen Universitätsstadt, die mit ihrem Zauber bis ins Alter fortleuchtet und den schönsten Begriff des civis academicus geschaffen hat!« (Hillebrandt, Deutschland unter Kaiser Wilhelm II.; Berlin 1914.) Um die Neckarstädte Tübingen und Heidelberg spürte man diesen Zauber.

Die Ostertage nach dem ersten Semester hatten mich noch einmal nach dem Lothringer Hochland geführt. Dort im lieben Hause unter dem alten Nußbaum wurde der angehende Pfarrer freudiger als je zuvor bewillkommt. Mit Genugtuung sahen mich die Großeltern am Karfreitag im Amtsrock hinter dem Geistlichen das traute, von Obstbäumen umblühte Gotteshaus betreten und bei der Austeilung des heiligen Abendmahls das Brot reichen.

Einige erwarteten sogar, daß ich am Nachmittag predigen würde, wozu ich freilich zu jung war. Der Pfarrer, bei dem ich am Altar gestanden, schenkte mir nachher Luthers Predigten mit der Widmung: »Zum Andenken an den ersten Dienst im heiligen Amt«. Es war das erste- – und das letztemal, daß ich den Talar trug! Meine stillgeliebte Waldfee aus Frankreich war nicht anwesend; sie rückte mir bald überhaupt ein Weilchen ferner. Der gemeinsam verlebte Herbst wurde zwar noch einmal wunderschön. Dann aber zog ich mich in meine Welt zurück, wo weder sie noch sonst jemand meine Seelenkämpfe mitfechten konnte. Es gibt Schicksale und Probleme, deren Wert sich eben darin entfaltet, daß man sie allein durchkämpft. Denn nur dadurch kann man erstarken.

 

Immer näher bin ich nun dem Zwiespalt gerückt, der sich von Anfang an durch meine Studienzeit zog.

Ein Brief an Freund Heinrich (2. März 1886) klingt in Klagen aus: »Ich habe keinen väterlichen Freund Tholuck unter den Professoren gefunden; unter meinen Freunden keinen Goethe, Lerse, Lenz, Herder, Stilling; unter meinen Bekannten keine anregend beeinflussende Persönlichkeit« – was ja freilich ungerecht klingt und auch gewiß ungerecht war, denn ein Mann von Herz und Geist, wie z. B. Hackenschmidt, nahm sich unser liebevoll an. Die Ursachen meiner inneren Einsamkeit lagen tiefer. Und so stöhnt es auch aus einem andern Briefe: »Hier stehe ich mutterseelenallein!«

Mutterseelenallein! Ein blutjunger Student, der gleich im dritten Semester Vorsitzender und Fuchsmajor seiner Verbindung wurde, der eine muntere und gutartige Geselligkeit und Bücher die Fülle und Ausblicke genug um sich hatte – und dennoch »mutterseelenallein!«

Ich suchte und las auf gut Glück, was mir in die Hände fiel: Herders Briefe über das Studium der Theologie, Thomas a Kempis, Arndts »Wahres Christentum«, die Geschichte Israels nach Kurtz, Stöbers Sagen des Elsasses, Lipperts Kulturgeschichte; dann zehn Gesänge des Klopstockschen »Messias«, Webers »Dreizehnlinden«, Redtwitzens »Amaranth«, Mörike, Lenau, Heine, Geibel, Dickens – – ein Wirrsal!

In einem Briefe, dessen Entwurf während einer Vorlesung ins Kollegienheft floß, schrieb ich an Heinrich: »Was mein inneres Leben in diesen letzten Wochen betrifft, so kann ich Dir leider nicht die beruhigenden Worte schreiben: Dichterpläne quälen mich nicht mehr. Ich weiß selber nicht, wie es allmählich wieder gekommen ist: aber das theologische Ziel, das mir vor Augen stand, ist mir wieder ziemlich verrückt, und die Poesie malt mir schwankende, unklare, nebelhafte Ideale vors Auge. Ich habe Andersens »Improvisator« gelesen, mit Entzücken gelesen, viele Kapitel sogar zweimal. Nein, so eine Lektüre, nach vierteljahrlangem trockenem Studium, macht mich wieder auf Wochen lang glücklich! Diese gemütsinnige Darstellung und anschauliche Erzählung hat mich ganz hingerissen, obwohl die Komposition oft etwas märchenhaft und unwahrscheinlich ist. Doch diese Lektüre allein ist es nicht, was die Theologie wieder in den Hintergrund gedrängt hat. Schon seit der Fahnenweihkneipe und unserm Nachtmarsch nach Auenheim verfolgen mich dichterische Gelüste. Acht Tage vor Pfingsten habe ich Byrons ›Manfred‹ mit hohem Interesse durchflogen. Meine gute Theologie aber tritt zurück. Ich erinnere mich, daß mein Vater einmal zu mir sagte, ich bewegte mich immer in Extremen, und in mancher Beziehung hat er recht. Ich muß suchen, die Theologie nicht zu vernachlässigen, aber auch nicht Literatur und Poesie. Statt dessen werfe ich mich bald eine Zeitlang auf dies, bald wieder ganz einseitig bloß auf jenes. Wenn nur mit dem Zurücktreten der Theologie nicht auch die Religion in mir abnimmt!«

Damals suchte ich mich von einem Lieblingsdichter meiner Jugend zu befreien: von Lenau. »Ich bin lange nicht mehr so begeistert für Lenau wie vor fünf Jahren. Lenau hat zwar in seinem Wesen und Dichten ein Element, das mir sympathisch ist: das sinnende Sichversenken in seinen Gegenstand, das Wehmütige und Sehnende. Aber meine Melancholie ist nie so stark, so schwarz, meine Phantasie nie so düster, so trostlos umherschweifend wie bei jenem unglücklichen Dichter. Zudem bin ich auch gern heiter, gesellig, lustig, ein Element, das Lenau abgeht... Die ›Modernen Dichtercharaktere‹ [das damals erschienene revolutionäre Sammelbuch der ›Jüngstdeutschen‹, die nun zum erstenmal in meinem Gesichtskreis auftauchten] möchte ich gern einmal durchsehen. Wenn Du irgendetwas über diese Jungdeutschen erfährst, so teile mir's sofort mit. Ich bin überzeugt, daß nächstens ein größerer Dichter auftreten muß, der für unsre jetzige Literatur das wird, was Klopstock bei seinem Auftreten für seine Zeit gewesen. Ernst, Größe, Weihe, Leidenschaft fehlen unsrer jetzigen Literatur ...«

Der Jüngling, der nach so erhabenen Geisteskräften in der Dichtung Ausschau hielt, saß mit zerknitterten Gefühlen in der »Genesiszerstückelei«, wie er in einem andern Briefe klagt. Doch versichert er in demselben Schreiben, daß er den Ausgleich zwischen Theologie und Dichtung gefunden habe: »Ich freue mich des Christentums und seines Friedens, ich freue mich aber auch der Poesie und des schriftstellerischen Schaffens.« Wieder aber heißt es: »Wenn ich mein Dichten bis jetzt überblicke, so sehe ich ein, daß ich noch gar nichts zustande gebracht, daß kein einziges meiner Gedichte originell, selbständig, druckreif ist, daß ich meinen Ton noch nicht gefunden habe. Ob ich ihn überhaupt finden werde? Ob ich zum Dichter berufen bin?«

Da stand es schwarz auf weiß, was den Theologen insgeheim quälte: Ob ich zum Dichter berufen bin?!

Die Summe der Seelenkämpfe in jenen ersten Semestern ist in einem Tagebuch des Studenten niedergelegt, das ich hier gekürzt, aber sonst unverändert wiedergebe.

 


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