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Nachwort

Im Jahre 1575 starb in Valladolid der spanische Staatsmann, Humanist, Dichter und Geschichtsschreiber Diego Hurtado de Mendoza. Seinen Weltruhm verdankt er jedoch weder seiner erfolgreichen Tätigkeit als Gesandter Karls V. und Philipps II., noch seiner Darstellung der Kriege in Granada, die ihm den Ehrennamen des spanischen Sallust eintrug, auch nicht seinen teils im italienischen Modestil, teils im alten Volkston abgefaßten Gedichten, sondern einem kleinen Roman, dem »Leben des Lazarillo von Tormes«, den er als Student verfaßte und später anonym erscheinen ließ. Auch fesselt uns das Werkchen selbst heute nicht mehr in dem Grade wie einst seine Zeitgenossen, und wir würden seinen Verfasser nicht so hoch rühmen, hätte er damit nicht eine große Literaturgattung ins Leben gerufen, die des Schelmen-, Gauner- oder Abenteurerromans, der Werke von bleibender Bedeutung angehören.

Diese sind merkwürdigerweise nicht in Spanien, sondern in Deutschland und Frankreich entstanden. In Deutschland war im Zeitalter des Barock unter der Weltherrschaft des habsburgischen Kaiserhauses der spanische Geschmack auch in der Literatur geläufig; neben Andachtsbüchern wurden »Traumgesichte« – durch den Halbromanen Moscherosch – und Abenteurerromane – durch den Münchner Ägidius Albertinus – übersetzt und bearbeitet, bis endlich Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen 1668 mit seinem »Abenteuerlichen Simplicius Simplicissimus« die letztgenannte Hauptrichtung durch ein klassisches Werk zur höchsten Vollendung führte.

Im selben Jahre wurde in Sarzeau bei Vannes Alain René Lesage geboren. Er widmete sich erst dem Advokatenberuf, gab ihn aber bald zugunsten seiner dichterischen Ziele auf. Seine Haupttätigkeit galt der Bühne. Das meiste ist vergessen; aber die Komödien »Crispin rival de son maître« und »Turcaret« haben dauernden Wert. Wie diese, so schließen sich auch seine erzählenden Werke mehr oder weniger an spanische Originale an: »Le diable boiteux« an Guevara, »Les aventures de Guzman d'Alfarache« an Mateo Aleman – zwei Autoren, die auch Grimmelshausen benutzt hat. Am höchsten schätzte er selber sein Alterswerk, den »Bachelier de Salamanque« ein. Die Nachwelt hat den Kranz dem »Gil Blas de Santillane« gereicht, der von 1715 bis 1735 in vier Bänden erschien. In Spanien wie in Frankreich erhoben sich alsbald mißgünstige Stimmen, die den Roman als bloße Kopie eines spanischen Vorbildes ausgeben wollten; dort sprach zuerst der Jesuit Padre Isla solche Verdächtigungen aus, die hier namentlich von dem Neid eines Voltaire aufgegriffen wurden. Viel später eröffnete mit einem größeren Aufwand von Scheingründen, mit besserem Geschick und Erfolg der Spanier Llorente einen neuen Angriff; sein Werk erschien 1822, brachte außerhalb Frankreichs fast allenthalben und auch innerhalb Frankreichs vielfach den Glauben an die Selbständigkeit Lesages ins Wanken und wurde erst 1857 durch ein Essai von Charles Frédéric Franceson endgültig widerlegt. Danach ist der »Gil Blas« eine originale Schöpfung, in die allerhand Stücke italienischer und spanischer Herkunft frei verarbeitet sind. Und wie durch diese Abstammung, so gehören der »Gil Blas« und sein Dichter der Weltliteratur an durch die Wirkung, die von ihnen ausgegangen ist: Beaumarchais, Smollet und noch Balzac sind unmittelbar von ihnen beeinflußt. Als Zeuge der noch heute allenthalben fortwirkenden Kraft des Werkes kann Arthur Schopenhauer gelten, der ihn in den »Parerga« dem praktischen Menschen angelegentlich empfiehlt, während er die andern Romane fast ausnahmslos als schädlich verwirft. Und nicht minder bedeutsam ist die Stellung, welche die Geschichte der französischen Nationalliteratur dem Werk anweist. Auf dem Boden der absoluten Monarchie war die klassizistische Dichtung erwachsen und hatte durch die Gründung der Akademie ihre Weihe und ihre Stütze erhalten. Hofpoesie nach Form und Gehalt, mit allen Vorzügen ausgestattet und mit allen Mängeln behaftet, die dieser Name andeutet, mußte sie abtreten, als der Tod Ludwigs XIV. und die Regentschaft des Herzogs Philipp von Orléans für dessen unmündigen Urenkel der neuen Zeit der Aufklärung das Tor öffneten. Für den Inhalt der Dichtung gewann man damit ebensoviel wie für ihre Form: dort Opposition, Satire, hier Realismus. In beiden Hinsichten ist Lesages »Gil Blas« das erste klassische Werk der heraufsteigenden modernen Zeit.

Es ist ein interessantes Schauspiel, diesen Roman neben dem Grimmelshausens zu betrachten. Beide sind Abenteurerromane, beide aus unmittelbarer Kenntnis spanischer Vorbilder heraus geschaffen. Beide behalten das wesentliche Gerippe bei: sie erzählen das Leben der Helden von ihrer Geburt an bis zu ihrem freiwilligen Abschied von der Welt. Beiden erscheint diese Geschichte nicht als die einzige Aufgabe, sondern sie wollen ein Weltbild geben, das alle nur irgend möglichen Verhältnisse, das gesamte Leben und Treiben der Gegenwart getreu zur Darstellung bringt. Dies geschieht in beiden mit ausgesprochen moralischen Absichten; die Dichtung soll ihrer Zeit »gleichsam einen Spiegel vorhalten«. Die beiden Dichter sind aber auch die anerkannten Meister ihrer Epochen; jeder krönt hier mit einem Monumentalwerk seine Laufbahn; jeder leitet in seinem Land vom nicht bodenständigen Modegeschmack zur einfacheren realistischen Darstellung hinüber. Aber es sind die Tage, wo der Hof des Sonnenkönigs jeden Deutschen, der etwas auf sich hält, zur Vollendung seiner Bildung nach Paris lockt und wo gallische Scharen die Pfalz verheeren. Darf da der deutsche Dichter mit dem Franzosen um die Palme ringen? –

Doch auch wenn man kein Urteil sprechen mag, hat es einen hohen Reiz, Vergleiche zu ziehn zwischen den beiden Dichtern und den beiden Völkern; denn alle Unterschiede, die sich dem Blick bieten, sind in letzter Linie solche der Nationalität.

Der »Simplicissimus« ist roher, der »Gil Blas« feiner; doch gilt das mehr von der äußeren als der inneren Formgebung, in der das originale Genie des Deutschen die Mängel seiner literarischen Kultur wettmacht. Lesage bedient sich der Freiheiten des in bunter Mannigfaltigkeit spielenden und fast ziellos plaudernden romantischen Epos; wo Grimmelshausen die gleiche Technik anwenden will, tut er es ohne die unerläßliche Grazie, die Lesage reichlich zur Verfügung steht, und wirkt stellenweise ungeschickt, ja peinlich. Meist aber verzichtet er auf das fremde Kunstmittel; dann gestaltet er seine Erzählung konzentrierter und einheitlicher als Lesage und kommt wenigstens unsrem Geschmack weiter entgegen. Aber auch andre Ursachen sind hier wirksam; vor allem geht Grimmelshausen in seiner ganzen Auffassung und Problemstellung mehr in die Tiefe. Lesage freut sich an den Wechselfällen des Lebens wie an einem glitzernden Farbenspiel. Die innere Geschichte des Helden ist ihm der Faden, an dem er des Lebens bunte Steine aufreiht, während Grimmelshausen sich mit seinem Helden identifiziert, in der Haupterzählung eine künstlerisch gerundete Selbstbiographie schreibt und in den Schilderungen den lebendigeren Ton des in eben diesen Zuständen leidenden und wirkenden Menschen findet. Um dies zu erreichen, muß sich Grimmelshausen freilich freier von der Tradition halten als Lesage. Gil Blas ist Landstreicher wie Lazarillo, die Handlung spielt in Spanien, und nur die satirische Beleuchtung der Zeit und ihrer Sitten betrifft offenbar heimische, französische Verhältnisse. So ist Lesages Werk der eigentliche, echte Vertreter jener spanischen Barockdichtung für unsre Zeit. Grimmelshausen dagegen gibt ohne jede Maskierung ein Bild seines Vaterlandes zu seinen Tagen, ein Gemälde Deutschlands im Dreißigjährigen Kriege. Der Mensch, der da etwas erlebt und erfahren hatte, war aber der Soldat, und so macht der Dichter aus dem Abenteuer- den Kriegsroman. Infolgedessen dort ein Sittenbild, hier ein Kulturgemälde; dort mittelbare Satire, hier unmittelbare Darstellung; in beiden Fällen ein Kampf gegen menschliche Torheiten und Laster, aber der Riese Aktäon fühlt, wie die altgriechische Sage erzählt, höhere Kraft in sich, wenn er seinen Fuß auf den Boden setzt, der ihn gebar. Und auch im einzelnen eine begreifliche Verschiedenheit der Interessen. Als Gil Blas das Programm für den Grafen von Olivares abfaßt, oder als er erzählt, wie der König nach Saragossa reist, in Portugal die Revolution ausbricht und der Graf-Herzog in Ungnade fällt, da wäre es für Grimmelshausen das Gegebene, die wirtschaftlichen und sittlichen Verhältnisse des Volkes zu beleuchten. Lesage denkt nicht daran, diese Gelegenheit zu ergreifen; dafür führt er uns mit den Großen der Welt selbst zusammen, die wir bei Grimmelshausen nirgends kennen lernen. Sein Werk ist zum Teil ein politischer Roman, der »Simplicissimus« ein Kulturroman – zwei charakteristische Weiterentwicklungen des Urbildes Mendozas.

Andrerseits ist der »Gil Blas« mehr Literatur, mehr Kunst, und hat damit mehr zeitlich Bedingtes und Vergängliches; der »Simplicissimus« ist mehr Bekenntnis und hat mehr allgemein Menschliches und an sich Bleibendes. Man ist versucht, Worte Goethes hierher zu übertragen, die er aussprach, als er 1822 ein Werk »Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers, von ihm selbst verfaßt« unter dem Titel »Der deutsche Gil Blas« in die Literatur einführte: »Man muß erklären, daß der französische Gil Blas ein Kunstwerk, der deutsche dagegen ein Naturwerk sei und daß sie also in diesem Sinne durch eine ungeheure Kluft getrennt erscheinen.« So finden sich denn auch bei Lesage Proben einer wirklich wissenschaftlichen Kunstlehre und Erörterungen über Calderon, Lope de Vega, Sophokles, Homer, Hesiod. Gelegentlich wird der Künstler selbst – und zwar als Künstler, nicht als charakteristischer Menschentypus – Gegenstand des Kunstwerks. Aber wir dürfen darum nicht schlechtweg klassifizieren und das Werk Lesages als Kunstroman, das Grimmelshausens als Volksroman bezeichnen. Die Erfolge des einen in Frankreich und des andern in Deutschland sehen sich aufs Haar ähnlich, wären umgekehrt undenkbar gewesen und erklären auch diese Eigentümlichkeiten als national bedingt.

Aus alledem folgt, daß die Stellung des heutigen Lesers zu den beiden Werken, von denen er keines entbehren mag, wesentlich verschieden sein wird. Das Wichtigste ist ja nicht die materielle Kunstschöpfung in allen ihren Einzelheiten, sondern jene Resultante von Werk und Publikum, von künstlerischer Anregung und künstlerischer Aufnahmefähigkeit: der Kunsteindruck. Ihn wollen wir ebenso empfangen wie die ersten Leser vor zwei Jahrhunderten. Aber wir sind in diesem Zeitraum anders geworden, und so wird auch jener – einen naiven, nicht durch historisches Denken geregelten Genuß vorausgesetzt – durch die ursprüngliche Form des »Gil Blas« nicht mehr echt vermittelt. Das Gewebe, das jener Zeit verschlungen erschien, erscheint uns wirr. In solchen Fällen tritt die Bearbeitung mit Recht ein. So ist dem »Gil Blas« in dieser Ausgabe geschehn. Die eingeschalteten Erzählungen, darunter die verschiedenen Lebensläufe der auftretenden Nebenpersonen, sind gestrichen und die Stellen, die im laufenden Text auf sie Bezug nehmen, herausgehoben. Davon ist nur einmal eine Ausnahme gemacht worden: bei der Geschichte Alphonsos und der schönen Seraphine; denn diese Geschichte ist mit dem großen Zusammenhang der Erzählung zu sehr verzahnt, als daß sie hätte fernbleiben können, ohne daß jener durch Einschiebsel wieder hätte hergestellt werden müssen. Sie diene zugleich als Beispiel für die im Vorgehenden geschilderte romanische Technik. Ferner sind die Partien, die wesentlich dem Zeitgeschmack huldigen, so die Räuberszenerie im Anfang, die Satire auf die Ärzte und zum Schluß die Schilderung des Autorenelends, durch Auslassungen um etwa die Hälfte verkürzt worden.

Zu den Bildern dieses Buches ist zu bemerken, daß Chodowiecki zwei Folgen, jede von zwölf Blatt, zu Lesages »Gil Blas« radiert hat, die frühere zu einer Ausgabe von 1779 (Engelmann Nr. 273-76, 285-88, 313-16), die spätere 1783 (Engelmann Nr. 482). Aus beiden hat der Bearbeiter dieser Ausgabe Konrad Thorer die schönsten für sie ausgewählt, und zwar lieferte die erste Folge zwei Vignetten und fünf Vollbilder, die zweite drei Vollbilder. Nach Engelmann sind demnach folgende Nummern reproduziert (* bezeichnet den Zustand vor der Schrift): in Band I Vignette *273, Vollbilder *274, 482₃, *276, 286; in Band II Vignette *314, Vollbilder 4827, *288, 482₁₀ und *315.

In so verjüngter, nicht etwa »verbesserter« Gestalt wird der Roman auch in unsern Tagen fortwirken und so der Unsterblichkeit teilhaftig werden, die seine Zeit ihm geweissagt hat.

Reinhard Buchwald.


DIE DEUTSCHE ÜBERTRAGUNG DIESES BUCHES BESORGTE KONRAD THORER. TITEL VIGNETTEN UND VOLLBILDER SIND WIEDERGABEN CHODO- WIECKISCHER KUPFER ZUM GIL BLAS. DER DRUCK ERFOLGTE DURCH F. A. LATTMANN IN GOSLAR.

 


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