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Siebentes Buch


Erstes Kapitel

Gil Blas macht eine gute Bekanntschaft und findet eine Stellung. Geschichte Don Valerio de Lunas.

 

Nachdem ich kurze Zeit mit meinem Gelde ein freies Leben geführt hatte, fiel mir eines Morgens beim Erwachen Melchior de la Ronda ein; ich entsann mich, daß ich ihm in Granada versprochen hatte, seinen Neffen aufzusuchen, wenn ich je wieder nach Madrid kommen sollte; und ich beschloß, noch selbigen Tages mein Versprechen zu halten. Ich erkundigte mich nach dem Hause Don Baltasar de Zunigas und suchte es auf. Ich fragte nach dem Herrn Joseph Navarro, der gleich darauf erschien. Ich grüßte ihn; er empfing mich höflich, aber kühl, obgleich ich ihm meinen Namen genannt hatte. Ich konnte diesen kalten Empfang nicht mit dem Bild in Einklang bringen, das man mir von diesem Oberkoch entworfen hatte. Ich wollte mich schon mit dem Vorsatz, meinen Besuch nicht zu wiederholen, zurückziehn, als er plötzlich eine offene und lachende Miene annahm und sehr lebhaft zu mir sagte: Ah! Herr Gil Blas von Santillana, bitte, verzeiht mir den Empfang, den ich Euch bereitet habe. Mein Gedächtnis hat mich über meine Stellung zu Euch getäuscht. Ich hatte Euren Namen vergessen und dachte nicht mehr an den Kavalier, der in einem Brief erwähnt wird, den ich vor längerer Zeit aus Granada erhielt.

Laßt Euch umarmen! fügte er hinzu, indem er mir freudig um den Hals fiel. Mein Onkel Melchior, den ich wie meinen eignen Vater liebe und ehre, schrieb mir, wenn ich etwa die Ehre hätte, Euch zu sehn, so sollte ich Euch behandeln wie seinen Sohn und, wenn nötig, meinen und meiner Freunde Einfluß für Euch aufbieten. Er preist mir Euer Herz und Euren Geist in Worten, die mich veranlassen würden, Euch zu dienen, wenn auch seine Empfehlung es mir nicht geböte. Seht mich also, ich bitte Euch, als einen Menschen an, dem mein Onkel durch seinen Brief all seine Empfindungen für Euch übertragen hat. Ich schenke Euch meine Freundschaft; versagt mir die Eure nicht.

Ich antwortete mit der Erkenntlichkeit, die ich Josephs Höflichkeit schuldig war, und als lebhafte und aufrichtige Menschen schlossen wir auf der Stelle Freundschaft. Ich zögerte nicht, ihm meine Lage zu offenbaren. Kaum hatte ich es getan, so sagte er: Ich übernehme die Sorge, Euch unterzubringen, und bis dahin versäumt nicht, täglich zum Essen hierherzukommen. Ihr werdet hier bessere Mahlzeiten finden als in Eurem Gasthof. Dies Angebot schmeichelte einem Menschen, der nicht mehr viel Geld besaß, aber an gute Bissen gewöhnt war, zu sehr, um es abzulehnen. Ich nahm es an, und nach vierzehn Tagen war ich so rund wie ein Bernhardinermönch. Mir schien, Melchiors Neffe schor sein Schäfchen dort vortrefflich. Aber wie hätte er es nicht tun sollen! Er hatte drei Sehnen auf seinem Bogen: er war zugleich Kellermeister, Küchenchef und Haushofmeister. Und ferner, Freundschaft beiseite, ich glaube, der Verwalter und er verstanden sich vortrefflich.

Eines Tages, als ich wie gewöhnlich zum Diner ins Haus Zuniga trat, kam mir mein Freund Joseph entgegen und sagte heiter: Herr Gil Blas, ich habe Euch eine gute Stellung vorzuschlagen. Ihr werdet wissen, daß der Herzog von Lerma, der erste Minister der Krone Spaniens, um sich ganz der Verwaltung der Staatsgeschäfte zu widmen, seine eignen Angelegenheiten zwei Vertrauensmännern übergeben hat. Seine Einkünfte zu sammeln, ist Don Diego de Monteser beauftragt; für den Aufwand seines Hauses zu sorgen, Don Rodrigo de Calderone. Diese beiden Vertrauensmänner üben ihr Amt mit absoluter Macht aus, ohne voneinander abzuhängen. Don Diego hat gewöhnlich zwei Verwalter unter sich, die die Gelder einziehn; und da ich heute morgen erfuhr, daß er einen davon verabschiedet hat, so habe ich für Euch um diese Stellung gebeten. Der Herr von Monteser, der mich kennt und liebt, hat sie mir unschwer gewährt, da ich für Eure Sitten und Eure Befähigung bürgte. Wir wollen heute nachmittag zu ihm gehn.

Wir versäumten es nicht. Ich wurde sehr liebenswürdig aufgenommen und in das Amt des verabschiedeten Verwalters eingesetzt. Meine Tätigkeit bestand darin, daß ich unsre Pachthöfe aufsuchte, nötige Reparaturen herstellen ließ und von den Pächtern das Geld erhob; mit einem Wort, ich sorgte für den Landbesitz, und jeden Monat legte ich Don Diego meine Berichte vor, der sie, obgleich der Oberkoch ihm von mir soviel Gutes gesagt hatte, mit großer Aufmerksamkeit prüfte. Das war, was ich mir wünschte. Obgleich meine Rechtlichkeit oftmals so schlimm belohnt war, hatte ich mir doch vorgenommen, stets an ihr festzuhalten.

Eines Tages erfuhren wir, daß das Schloß von Lerma in Brand geraten und mehr als die Hälfte von ihm zu Asche geworden sei. Ich begab mich sofort an Ort und Stelle, um den Schaden zu prüfen. Und als ich mich genau nach den Umständen der Feuersbrunst erkundigt hatte, verfaßte ich einen ausführlichen Bericht, den Monteser dem Herzog von Lerma zeigte. Dem Minister fiel trotz des Schmerzes über eine so schlimme Nachricht dieser Bericht auf, und er konnte sich nicht enthalten, nach dem Verfasser zu fragen. Don Diego begnügte sich nicht damit, ihn ihm zu nennen: er sprach so vorteilhaft von mir, daß Seine Exzellenz sich sechs Monate später darauf besann, aus Anlaß einer Geschichte, die ich erzählen will, und ohne die ich vielleicht nie bei Hofe verwandt worden wäre.

Es wohnte damals in der Infantinnenstraße eine alte Dame namens Inesilla de Cantarilla. Man wußte nicht sicher, welcher Geburt sie war. Die einen behaupteten, sie sei die Tochter eines Lautenmachers, die andern, eines Komturs des Ordens von Santiago. Wie dem auch sei, sie war ein wunderbares Wesen. Die Natur hatte ihr das merkwürdige Vorrecht verliehen, ihr ganzes Leben hindurch – und sie hatte fünfzehn Lustren hinter sich – die Männer zu bezaubern. Sie war das Idol der Herren vom alten Hof gewesen, und die Herren vom neuen beteten sie an. Die Zeit, die sonst die Schönheit nicht schont, bestürmte die ihre vergebens; sie machte sie welk, ohne ihr die Macht des Gefallens zu entreißen. Vornehmheit, bezaubernder Geist und natürliche Anmut weckten bis in ihr Alter hinein die Leidenschaft für sie.

Ein Kavalier von fünfundzwanzig Jahren, Don Valerio de Luna, einer der Sekretäre des Herzogs von Lerma, sah Inesilla und verliebte sich in sie. Er erklärte sich, spielte den Leidenschaftlichen und verfolgte seine Beute mit aller Wut, die nur Liebe und Jugend einflößen können. Die Dame, die ihre Gründe hatte, sich seinem Verlangen nicht hinzugeben, wußte nicht, was sie beginnen sollte, um es zu zähmen. Eines Tages aber glaubte sie das Mittel gefunden zu haben. Sie entbot den jungen Mann in ihren Salon, zeigte ihm die Uhr auf einem Tisch und sagte: Seht, wie spät es ist! Heute vor fünfundsiebzig Jahren kam ich um diese Stunde zur Welt. Im Ernst, stände es mir in meinem Alter noch an, galante Abenteuer zu pflegen? Geht in Euch, mein Kind; erstickt Empfindungen, die sich für Euch so wenig ziemen wie für mich. Der Kavalier, der die Stimme der Vernunft nicht mehr hörte, versetzte mit allem Ungestüm dessen, der seinen Trieben gehorcht: Grausame Inesilla, weshalb nehmt Ihr Eure Zuflucht zu diesen frivolen Listen? Meint Ihr, sie könnten Euch in meinen Augen ändern? Schmeichelt Euch nicht mit so falscher Hoffnung! Ob Ihr seid, wie ich Euch sehe, oder ob ein Zauber meinen Blick betrügt: ich werde Euch immer lieben. Nun! erwiderte sie, wenn Ihr hartnäckig in dem Entschluß verharrt, mich mit Euren Aufmerksamkeiten zu ermüden, so soll Euch in Zukunft mein Haus verboten sein; ich untersage Euch, je wieder vor mir zu erscheinen.

Man glaubt vielleicht, Don Valerio habe nach dem, was er hören mußte, ehrlich den Rückzug angetreten. Aber er wurde vielmehr nur um so aufdringlicher. Die Liebe wirkt bei den Liebenden genau wie der Wein bei Trunkenbolden. Der Kavalier bat, stöhnte; und mit einem plötzlichen Übergang von der Bitte zur Wut wollte er durch Gewalt erreichen, was er anders nicht erhielt. Aber die Dame stieß ihn mutig zurück und sagte gereizt: Halt, Verwegener, ich will Eurer tollen Glut einen Zügel anlegen; erfahrt, Ihr seid mein Sohn.

Don Valerio war von diesen Worten betäubt; er hielt in seiner Gewalttat inne. Aber im Glauben, Inesilla spreche nur so, um sich seinem Drängen zu entziehn, rief er: Ihr erfindet diese Fabel, um Euch meinem Verlangen zu versagen. Nein, nein, unterbrach sie; ich enthülle Euch ein Geheimnis, das ich Euch ewig verborgen hätte, hättet Ihr mich nicht gezwungen, es zu offenbaren. Vor sechsundzwanzig Jahren liebte ich Don Pedro de Luna, Euren Vater, der damals Gouverneur von Segovia war: Ihr wart die Frucht unsrer Liebe; er erkannte Euch an und ließ Euch sorgfältig erziehn; und da er sonst keine Kinder hatte, so bestimmten ihn Eure guten Eigenschaften, Euch seinen Besitz zu hinterlassen. Auch ich habe Euch nicht im Stich gelassen; sowie Ihr in der Gesellschaft erschient, habe ich Euch zu mir ins Haus gezogen, um Euch jenes höfische Wesen einzuflößen, das einem Edelmann so nötig ist und das nur die Frauen den Kavalieren verleihen. Ich habe noch mehr getan: ich habe all meinen Einfluß aufgeboten, um Euch zum ersten Minister zu bringen. Kurz, ich habe mich für Euch interessiert, wie ich es für einen Sohn tun mußte. Nach diesem Geständnis wählt nun Euren Weg. Wenn Ihr Eure Empfindungen reinigen könnt und in mir nur noch eine Mutter sehen wollt, so verbanne ich Euch nicht, und ich werde Euch wie bisher meine ganze Zärtlichkeit bewahren; aber wenn Ihr dieser Anstrengung, die Vernunft und Natur von Euch fordern, nicht fähig seid, so flieht sofort und befreit mich von dem Grauen, mit dem ich Euch sehe.

Also sprach Inesilla. Inzwischen bewahrte Don Valerio finsteres Schweigen; man hätte meinen können, er raffe seine Tugend auf und suche, sich selbst zu besiegen. Aber daran dachte er keineswegs. Er entwarf einen andern Plan und bereitete seiner Mutter ein sehr andres Schauspiel. Da er sich nicht trösten konnte, so gab er feige seiner Verzweiflung nach; er zog sein Schwert und stieß es sich in die Brust. Er strafte sich wie ein zweiter Ödipus; nur daß der Thebaner sich blendete, weil er das Verbrechen begangen hatte, während der Kastilier sich tötete, weil er es nicht begehen konnte.

Der unglückselige Don Valerio starb nicht gleich; er hatte noch Zeit, um zur Erkenntnis zu kommen und die Verzeihung des Himmels anzurufen. Und da durch seinen Tod bei dem Herzog von Lerma ein Sekretärsposten frei wurde, so wählte der Minister, der meinen Bericht über den Brand so wenig vergessen hatte wie das Lob Don Diego de Montesers, mich als Ersatz für diesen jungen Mann.


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