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Erstes Leid und erste Freude

Vier Jahre lebte ich schon und lebte in dem glückseligen Zustand, in dem es Leid und Freude noch nicht gibt. Der Tag und die Stunde, in der sich die Welt mir im Leid offenbarte, diese zweite Geburt, der tatsächliche Eintritt ins Leben, war eine so große Erschütterung, daß ich sie nicht wieder erlitt, bis ich als Soldat zum erstenmal durch das Sperrfeuer von Granaten, Schrapnells und Maschinengewehrfeuer mußte.

Damals, vor vierzig Jahren, war es an einem schönen Herbsttag – ich seh ihn noch immer leuchten –, ich hatte die Schürze voll Roßkastanien gesammelt, sie in Mutters Küche getragen und war dann wieder hinunter zum Spielen gegangen.

Ich erinnere mich der sonnenbeschienenen Straße, sie war in der Mitte weiß von Staub; an den Rändern grün und dunkel von den Chausseebäumen, und in der Mitte zogen Karren und Wagen. Ab und zu kam auch eine Pferdebahn. An diesem Tage aber mußten die Fuhrwerke ganz auf einer Seite fahren, eine große Schar Arbeiter hatte die Straße, von unserer Hausseite an, aufgeschlagen. Wenn die Pferdebahn kam, hielten die anderen Wagen. Oft rutschten die Räder in die Gosse und saßen fest; dann gingen manchmal alle Arbeiter an die Räder, schrien und hoben den Wagen wieder auf die Straße. Der Kutscher schlug mit der Peitsche, die Pferde sprangen wild im Geschirr und rissen den Wagen heraus.

Um die Bäume herum wurden Rinnen gehackt; unter den grauen Steinen kam gelber Lehm heraus, der auf eine Schiebkarre geladen und weggefahren wurde. Zuerst spielten wir in dem gelben Lehm. Dann sahen wir, wie die Männer ein dünnes, breites Messer nahmen und an dem Baum vorbeizogen. Ein anderer Mann stellte eine Leiter an den Stamm und machte ein Seil in den Ästen fest. Als ich sagte: »Jetzt kriegt der Baum eine Schleife in die Haare!« lachten die Männer über mich.

Der Heinrichs Heini nannte das Messer »Säge«, sein Vater war Schreiner und hatte viele solcher Dinge. Ich sah diese merkwürdige Arbeit, die gar nicht voranging, neugierig an, und erst, als ein anderer Mann mit einem Beil kam, wurde ich unruhig. Der schlug zu, und aus dem grauen Stamm sprangen weiße Holzstücke. Da nahmen zwei Männer uns Kinder an die Hand, brachten uns in die Haustür und drohten mit der Faust, wenn wir bloß den Kopf herausstreckten. Inzwischen standen viele Leute weit um den Baum herum, einige hielten das Seil, einer schlug noch mit dem Beil. Als ich begriff, daß der Baum umgeschlagen werden sollte, fingen mir die Hände an zu zittern; vom Kopf her schoß mir ein Schauer durch den Leib, der Bauch war wie ein Stein hart und schwer, und dann konnte ich nicht mehr atmen. Auf einmal stand ich ganz allein in einem großen Kreis von Leuten. Der Mund ging mir weit auf, ich wußte nichts, sah nichts mehr vor Tränen, ich schrie. – Dann wurde es dunkel, ich roch die Küchenschürze meiner Mutter und wurde weggetragen. Dann muß ich wohl eingeschlafen sein, denn ich fand mich im Bett wieder.

Auch die Mutter hatte diese Stunde nicht vergessen; solange wir jung waren, hatte sie zu viel Not und Sorge, um über solche Kleinigkeiten zu reden. Erst als ich aus dem Kriege zurückkam und sie mich im Lazarett besuchte, sprach sie über meine Kindheit und erzählte mir viel, von dem ich keine Erinnerung mehr hatte. Mit diesem Ereignis aber fing sie an: »Erinnerst du dich an die Zeit, als an der Rheydter Straße vorbei noch Bäume standen? Weil der Verkehr zwischen den beiden Städten immer größer geworden war, wurden sie eines Tages abgeschlagen. Trotzdem die Arbeiter mit einem Seil den Platz abgesperrt hatten, bist du durch den Kreis gelaufen und bist dem Mann, der mit der Axt in der Grube saß und in den Stamm schlug, auf den Rücken gesprungen. Du hast ihm den Arm festgehalten. Du schriest immerzu: »Lieber Mann, du darfst den Baum nicht totmachen! Der gibt mir all seine Kastanien! Du darfst dem Baum nicht weh tun, das ist unser Baum, den kenn ich so gut!« Ein anderer Arbeiter hatte dich schon wieder weggenommen und dich an die Haustür gestellt, du aber bist immer zu dem Mann mit dem Beil gelaufen und hast ihn geschlagen, gekratzt und gebissen. »Der arme, liebe Baum! Du böser, frecher Mann!« riefst du, und dann kam ich und trug dich fort. Du hast geschrien, daß die Leute glaubten, du würdest ersticken oder platzen – geschrien, daß man es hundert Meter weit hören konnte. Immer hast du auf die Straße rennen wollen, hast um dich geschlagen und vor Wut weder mich noch deinen Vater gekannt. Es war ein richtiger Schreikrampf, der wohl eine Stunde gedauert hat. Dann hast du lange geschlafen, und wenn du die Bäume, die nun alle abgeschlagen wurden, krachen hörtest, fingst du immer wieder zu weinen an. Erst als die Straße wieder in Ordnung war, hörtest du endlich mit dem Weinen auf. Drei Wochen lang bist du nicht auf die Straße gegangen, so sehr hast du den Bäumen nachgetrauert!«

In Mutters Küche war wenig Lustiges zu erleben, Spielzeug gab es nicht viel, und da wir gar keine Verwandten hatten, die uns mit Besuch beglückten, so fiel nichts Außerordentliches in meine Kindheit. Auf die Straße wagte ich mich nicht zu oft. Ich war ein schwächliches Kind und bekam überall Püffe; ich war nicht stark genug, so wiederzuschlagen, daß meine Fäuste mir Achtung verschaffen konnten. Die Schule machte mich mit dem langen Weg müde, und weil ich der Kleinste in der Klasse war, noch eine Handbreit kleiner als der Nächstkleinste, mußte ich mich immer mehr des Übermutes der Größeren erwehren. Was es auch zu leisten gab, ich war immer der Letzte, der am wenigsten mitkonnte und den grausamen Spott der Stärkeren auszustehen hatte. Ich muß dazu von einem mimosenhaften Stolz gewesen sein, denn ich weinte viel über die Zurücksetzung. Zum Lernen fehlte mir die Aufmerksamkeit. Ich mußte immer zum Fenster hinaussehen oder hören; wenn der Gemüsehändler seinen melodischen Gesang über die Straßen schmetterte, so hörte ich da hin. Wenn die Spatzen im dichten Epheu, mit dem das Schulhaus bewachsen war, lärmten, so konnte ich meine Ohren nicht abwenden. Ob draußen Kinder spielten, der Sturm pfiff oder der Regen schlug, meine Sinne gingen nach draußen. Manchmal wollte ich wirklich etwas lernen; doch, wenn ich scharf aufpaßte, schlief ich ein. Ich hatte es nicht gut in der Schule, weil ich eben der Letzte war und vor Schlägen fürchterliche Angst litt.

Und doch hat die Schule mir meine erste große Freude vermittelt: es war in der Badeanstalt. Einmal kam zufällig anstatt des warmen nur kaltes Wasser aus den Röhren; so kalt, daß nach wenigen Sekunden die Jungen in den warmen Ankleideraum zurückliefen und nicht wieder in die Brausezellen wollten. Als der Wärter mit dem Lehrer kam und sie mich allein unter der Brause sahen, frugen sie mich, ob dieses Wasser denn nicht auch kalt sei. »Ach was! Das ist ganz mollig und schön!« rief ich. In Wirklichkeit schnatterten mir die Zähne vor Kälte. »Das kann doch nicht sein«, sagte der Wärter. »Wenn das Wasser überall kalt ist, so muß es auch an dieser Brause kalt sein.« Ich aber platschte und rieb mich, als seife ich mich ein. Als der Wärter mit der Hand das Wasser prüfte, kriegte er noch einen tüchtigen Platsch auf seinen weißen Mantel mit. »Junge, das ist ja genau so eisig wie überall! Du mußt ja frieren! Heraus!« rief er.

»Ach was!« sagte ich, »mir ist ganz schön warm dabei geworden!«

Da holte mich der Lehrer heraus und führte mich in den großen Ankleideraum zu den anderen. Der Lehrer legte mir ein großes Badetuch um die Schultern und sagte zu den anderen: »Hier! Ihr großen Kerle! Was für armselige Bangbüchsen seid ihr gegen den kleinen Lersch! Ihr glaubt, ihr wäret stark, wenn ihr mit euren großen Kräften und Knochen über den Kleinen Meister werdet und ihn verhauen oder verjagen könnt, drum seid ihr stärker als er! Ihr Dummköpfe! Ihr könnt euch drauf verlassen, der kleine Lerschkes, der bringt es mit seinem schwachen Körper weiter als ihr mit den starken Knochen. Ihr könnt die Schwächeren beherrschen, der kleine Lersch aber kann sich selber beherrschen! Und wer sich selber beherrschen kann, der ist wirklich stark und bringt es zu was im Leben! Nehmt euch ein Beispiel dran!«

Der Wärter stellte mich auf einen Stuhl und sagte: »Das war mutig, kleiner Heini! Siebzig Feiglinge und ein Held! Mach weiter so!« Der Lehrer achtete seitdem in der Pause immer auf mich. Aber es war nicht mehr nötig, sie ließen mich von selber in Ruhe.

Dieses kleine Ereignis unter der kalten Brause hat mir meine ganze Jugend darum und dadurch verschönt, weil ich Selbstvertrauen gewann. Immer wieder versuchte ich, mir durch eigene Hilfe vor der Übermacht der Größeren zu helfen. Bis dahin hatte ich nur einen Wunsch: groß und stark zu sein, um Rache an meinen Peinigern nehmen zu können. Seitdem wußte ich, daß nicht die Fäuste allein entscheiden! Mit den kleinen Siegen über meine eigene Schwachheit hatte ich über die Stärkeren gesiegt.

Von dem Tage an lernte ich das süße Glück der Macht kennen, die aus der eigenen Gnade und eignen Knochen, dem eignen Willen stammt. Das war die erste große Freude meines Leben und alle anderen Freuden sind mir nicht als Geschenk in den Schoß gefallen; alle kleineren und größeren Freuden, sie stammen, wie der Baum aus einem Samenkorn, aus jener ersten Freude her.


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