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Bildnis der Mutter

Die Mutter war eine ganz kleine Frau, hatte ein rundes, weißes Gesicht und schwarzes, glattgescheiteltes Haar, ein wenig Sommersprossen unter den dunklen Augen und trug immer dunkle Kleider. Im Sommer band sie ein weißes Tuch um die Stirne; sobald die Sonne schien, litt sie unter heftigen Kopfschmerzen. Im Winter hustete sie viel. Wenn sie eine kleine Last trug, ging ihr Atem schnell und heftig.

Von dem vielen unterdrückten Husten muß sie wohl den schmalen, etwas zusammengekniffenen Mund bekommen haben, der um der Worte Wert und Gewalt wußte. Sie hatte sieben Kinder. Kesselschmiedsbrut kommt schon halbtaub auf die Welt, die Natur ersetzt das fehlende Gehör durch größere Stimmkraft. Wenn wir die Küche mit unbeschreiblichem Lärm erfüllten, so klang manchmal vom Waschfaß oder Kochherd leise und ruhig das Wort: »Kinder!« Solche durchtönende Kraft, Zauber und Macht ging von Mutters Sprache aus, daß wir nicht nur gebändigt gehorsam, – sondern in uns gestillt und beruhigt wurden. Mit dem einzigen Wort: »Kinder!« – in vielfältiger Betonung, aber immer gütig und mild, hat Mutter uns erzogen. Nie fiel in dieser proletarischen Umgebung ein rohes oder Schimpfwort; sie glaubte so stark an das Anständige und Gute in ihren Kindern, daß Beifügungen wie bös' oder schlimm, in ihrer Sprache fehlten. Sie leitete uns mit der magischen Gewalt ihrer Augen. Wir fühlten ihre Blicke wie helle Sonnenkringel auf unserm Gesicht, wenn Mutters Augen auf uns sahen. Wir taten – und hier ist dieser Satz keine Phrase: »was wir ihr von den Augen absehen konnten«. Wenn wir etwas Unrechtes getan hatten, meldeten wir uns sofort bei ihr und beichteten. Mutters freudiger Blick sagte uns, daß sie nicht umsonst an den anständigen Kerl in uns geglaubt hatte.

Wir lebten alle im Bannkreis der mütterlichen Zucht wie im lautlosen, leuchtenden Licht der Sonne. Das Gesicht der Mutter stand über dem wildesten Spiel und ging so lebendig mit uns auf unsern Wegen, daß all unsre Taten und Unterlassungen von vornherein durch ihre Gegenwart gerichtet waren: »Was wird Mutter dazu sagen?« Dies Wort kam uns nicht einmal mehr bewußt ins Gedächtnis, es stand über unserm Leben.

Zärtlichkeiten waren unbekannt. Nie werde ich den ersten Kuß vergessen, den sie einem ihrer Kinder gab. Als Achtjähriger erwachte ich eines Nachts, tastete mich voll Unruhe durchs dunkle Haus in die Küche, stieß im Finstern an die Bank, fühlte auf dem Bankbrett ein kleines, eiskaltes Gesicht, dann den nackten, kalten Säugling. Ich tastete über den Tisch hin, stieß auf die Mutter, die mit dem Kopf über den Armen eingeschlafen war. Vor Angst und Aufregung konnte ich nicht sprechen. Da erwachte die Mutter, machte Licht und frug: »Heini, was fehlt dir?« Ich wies auf die Bank und sagte: »Leg ihm doch ein Kissen unters Köpfchen und decke ihn zu!« Da beugte sie sich über das kalte Gesichtchen und sprach: »Hermann ist tot, er braucht kein Kissen mehr, er ist diese Nacht gestorben!« Dann küßte sie das tote Kind auf den Mund, und da sah ich die ersten Tränen in der Mutter Augen. Wir erfuhren es erst später von der Nachbarin, daß sie fast jede Nacht mit dem wimmernden Kind in der Küche gewacht hatte, damit der Vater wenigstens schlafen konnte. Auch ein kleines Schwesterchen starb nach langer Krankheit. Jedes Jahr wurde ein neues Kind geboren und dann sahen wir Mutter drei Tage nicht; es waren die einzigen Tage, an denen sie krank feierte und ausruhte. Wenn am vierten Tage Kindtaufe war, tat sie, ein wenig blasser als vorher, ihre gewohnte Arbeit. Sie weigerte sich beharrlich, mit am Festtagstisch zu sitzen. Sie bediente die Taufgäste, wie sie das ganze Jahr über diente. Keiner von uns hat Mutter je mit am Familientisch essen sehen. Dreißig Jahre lang stand sie, wenn wir, Vater und Kinder, beim Essen saßen, zwischen Tisch und Kochherd; manchmal angelehnt in ausruhender Müdigkeit, aber immer gewärtig, einen Teller aufzufüllen oder eine Schüssel zu bringen. Zwischenbei richtete sie Vesperbrot für die Ausgehenden, ordnete oder säuberte still, daß sie niemand störte. Erst, wenn wir alle gegessen hatten und zur Arbeit weg waren, aß sie für sich allein.

Jeden Morgen stand sie vor fünf Uhr auf. Wenn wir von der Schlafkammer kamen, stand der Morgenkaffee mit gestrichenen Broten für alle bereit, hing die Wäsche fertig an den Schnüren. Manches Mal war sie schon um halb sechs Uhr in die heilige Messe gegangen, trotzdem der Weg dahin fünfzehn Minuten weit war.

Unsere Mutter war die älteste Tochter einer Familie von vierzehn Kindern, die im Jahre achtzehnhundertachtundachtzig nach Amerika auswanderte. Sie blieb allein hier, weil sie sich mit dem fast doppelt so alten Kesselschmied verheiratete. Im ersten Jahre verloren sie durch einen unglücklichen Prozeß ihre kleine, kaum errichtete Werkstatt. Sie wurden gleich im Anbeginn so mit Schulden belastet, daß sie nur noch für die Gläubiger zu schaffen hatten. Der Gerichtsvollzieher blieb einer der ständigen Gäste der Familie. Des Vaters Sinn verdüsterte sich durch dieses Unglück, er wurde auch körperlich krank. Nun hatte die Mutter auch noch die Last der Werkstatt zu tragen. Mit ihrer schönen Handschrift machte sie alle Schreibarbeiten, lernte das technische Rechnen und führte die vielen Prozesse durch, die der Vater wider ihren Willen anfing. Sie machte es so gut, daß die Werkstatt auf ihren Namen eingetragen wurde und ein Richter in eine Klageschrift wegen einer technischen Sache den Satz aufnehmen ließ: »Klägerin ist Fachmann!« – Die Krankheit des Vaters führte zu solch einem Eheelend, daß die wenigen Bekannten ihr rieten, sich von ihm zu trennen. Auch wir Kinder konnten ihr nichts anderes raten. Doch dann lächelte die Mutter traurig und stolz; jedesmal sagte sie: »Ich hab es Gott am Altar geschworen, meine Pflicht zu tun. – Kinder, ihr wollt doch nicht, daß ich wortbrüchig werde!«

Und so wuchsen wir heran; einer nach dem andern kam in die Werkstatt. Als der Jüngste aus der Schule entlassen wurde, brach der Krieg aus. Am Morgen des ersten Mobilmachungstages gingen wir noch einmal in die Messe. In dieser Stunde schrieb ich ihr zum Trost mein Abschiedslied: »Laß mich gehen, laß mich gehen!« in ihr Gebetbuch. Von ihrem Mutterherzen fand das Lied den Weg ins Vaterland und wurde zum Trostlied vieler Kameraden, auch das Todeslied ihres Jüngsten, der am zwölften September neunzehnhundertundachtzehn an der syrischen Front bei Bethlehem bei den Rückzugskämpfen vermißt blieb.

Sie hoffte, er würde heimkehren, bis es keine Hoffnung mehr gab. Dann wurde sie Großmutter von acht Enkelkindern, pflegte den Mann in stiller Pflichttreue bis er, vierundachtzigjährig, starb. Als sie diesen Mann, ihr Schicksal, in Gottes Händen wußte, da war ihr Leben und ihre Mission erfüllt: sie erkrankte gleich hinterher und starb, genau auf den Tag ein Jahr später wie der Vater. Sie starb, wie sie gelebt hatte, unter unsagbaren Leiden, am Krebs.

Meine Mutter war nur von Gestalt und Körperkraft eine ganz kleine schwache Frau. Ihre Seele jedoch war die einer großen Heldin. Sie war eine der Millionen stiller und schlichter Mütter des Volkes, die in christlicher Erkenntnis ihres Schicksals das Wort mit Blut und Leben zur Wahrheit machten: Besser Unrecht leiden als Unrecht tun!

Ich knie vor dem Bildnis meiner toten Mutter und erneuere den Schwur, den ich als kleiner Junge fest in mein Herz prägte: Stark und groß zu werden, um ein Kämpfer zu sein für das Recht der Mutter auf ihr mütterliches Glück!

Liebe Mutter, und du sollst tot sein?


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