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Etwas über Erziehung

Der Mensch wird in bestimmte Verhältnisse hineingeboren. Das Volk, dem er angehört, die Stadt oder Landschaft, der Stand und die übrigen Verhältnisse seiner Eltern, die Eigenart der dem Kinde nahetretenden Geschwister und Verwandten: das alles bildet in seinen sich mannigfaltig verknüpfenden Wechselwirkungen bereits einen Teil des äußeren Schicksals.

Aber der Mensch wird in diese Verhältnisse nicht als ein leeres Blatt hineingeschleudert, auf das jede beliebige Schrift geschrieben werden könnte, sondern er ist zugleich aus einem Kerne herausgeboren. Die Wissenschaft der äußeren Natur bezeichnet diese mit ihren Mitteln unerklärliche Thatsache als Vererbung. Der Ausdruck erklärt nichts, aber er weist doch darauf hin, daß jeder Einzelne Glied einer Wesensreihe sei, die zurück in die Vergangenheit, in die Zukunft vorwärts zeigt. Dieser Kern bildet in seinen Wirkungen den zweiten Teil unseres Schicksals.

Mit dem Worte Erziehung bezeichnet man gewöhnlich nur die beabsichtigte Einwirkung auf ein Kind. Aus irgend einer Lebensanschauung heraus versuchen Eltern und Erzieher den langsam erwachenden Geist auf eine bestimmte Bahn zu einem bestimmten Ziele zu lenken, vermitteln ihm sittliche und religiöse Anschauungen, oder doch Grundsätze dessen, was ihnen, ihrem eigenen Wesen gemäß, als Sittlichkeit und Religion erscheint. Sie bemühen sich durch Liebe, Ernst oder Zwang das hinwegzuräumen, was ihnen als Hindernis gilt, und das zu stärken, worin sie eine fördernde Kraft zu erkennen meinen.

Aber diese gewollte Erziehung ist viel seltener, als man anzunehmen pflegt. Der Vater hat zumeist für das Leben der Seinigen außerhalb des Hauses zu sorgen und ist von seinem Berufe oder von Neigungen, die er für wichtig hält, wenn sie es auch nicht sind, in Anspruch genommen. Vielleicht nehmen wirklich edle Bestrebungen den Rest seiner Zeit hinweg, oder er opfert ihn jenem politischen Scheinleben, das in so vielen Vereinen wie Unkraut wuchert und rechts und links Worthelden züchtet. Die Mutter hat im Haushalte zu schaffen, oder muß auch oft auswärts thätig sein, um durch ihren Erwerb etwas zu den Kosten des Lebens beizutragen. Nicht selten nimmt das »gesellige« Leben beiden Teilen sehr viel Zeit fort.

Unter diesen Verhältnissen kann es niemand Wunder nehmen, wenn diese gewollte Erziehung nur stoßweise geübt wird, wenn der Thätigkeit der Eltern oft jeder leitende Gedanke fehlt, oder bei günstiger Vermögenslage die ganze Mühe bezahlten Kräften überlassen wird, die sehr selten mehr thun, als die äußere Pflicht es ihnen vorschreibt.

Die Erziehung beginnt schon vor der Geburt, und eine launische, leidenschaftliche Mutter kann schon in der Zeit, wo sie das Kind im Schooße trägt, schwer sündigen. Jedenfalls aber ist es der Tag der Geburt, an dem die gewollte Erziehung ihr schweres Werk beginnen soll. Was man bis zum fünften Lebensjahre versäumt hat, das läßt sich gar oft überhaupt nicht mehr einholen. In dieser kurzen, aber unendlich wichtigen Zeit lassen sich bereits viele Keime des Guten einpflanzen, kann manches geil aufschießende Unkraut beseitigt werden. Selbstbeherrschung, Gehorsam, Bescheidenheit und so manche andere Tugend läßt sich schon jetzt ohne Einschränkung kindlicher Frische lehren und entwickeln, am besten, wenn dem Worte das Beispiel sich zugesellt und der Nachahmungstrieb mit Vorbedacht benutzt wird.

Jeder Ausbruch der Leidenschaft, dem Vater oder Mutter sich überlassen, ist eine Sünde an der Seele des Kindes, denn wo die geringste Anlage vorhanden ist, weckt auch er den Nachahmungstrieb.

Man darf dieses Wort nicht äußerlich fassen, als ob etwa in der Seele ein für sich bestehender eigenlebiger Trieb zur Nachahmung vorhanden wäre. Das Geistige im Kinde ist ein Ganzes, wie es dasselbe im fertigen Menschen ist. Eine scheinbare Auseinanderhaltung dieses Ganzen ergiebt sich nur durch dessen Beziehungen auf die äußere Welt der Erscheinungen und auf sich selbst.

In diesem Ganzen, Ungeteilten und Unteilbaren lebt bei dem Kinde in einer Kraft, die man meist unterschätzt, die Fähigkeit, Zeichen fremder Seelenzustände mit intuitivem Verständnis zu erfassen und die letzteren, falls diese Zustände der Eigenart entsprechen, unbewußt in sich erzeugen. Der Verstand ist noch unentwickelt und weiß sich die Beweggründe fremder Leidenschaften nicht zu erklären, aber das Gemüt fühlt sie mit, soweit sie in des Kindes eigenem Kerne vorhanden sind. Aus dieser blitzschnellen Intuition wird es begreiflich, daß sich leidenschaftliche Erregbarkeit so oft vom Vater und Mutter durch das Beispiel auf das Kind überträgt. Und aus ihr erklärt sich auch die zweite Thatsache, daß jede sichtbar gewordene Selbstbeherrschung der Eltern nicht nur in diesen den Ausbruch der Erregung niederhält, sondern zugleich, als wären die verschiedenen Seelen nur eine, auch in dem ähnlich gearteten Kinde. So ergiebt sich die große Wichtigkeit, welche die Selbsterziehung der Erwachsenen für die Erziehung der Werdenden hat.

Nichts Schöneres giebt es für eine liebevolle und ernste Mutter, als das geheimnisumwobene Erwachen des Kindergeistes zu belauschen, durch die Mitempfindung geleitet hinein zu blicken in die Werkstätte der Seele. Niemand, sehr selten auch der Vater, kann dieses Werden so beobachten, darum giebt es auch keinen besseren Erzieher des Kindes, als die liebende und zugleich kluge Mutter. Darum aber giebt es keine größere Sünde bei einer Mutter, als wenn diese die Aufgabe der Beobachtung, Überwachung und Pflege vernachlässigt oder gar nur jene Züge zu entwickeln sucht, die ihrer Eitelkeit oder augenblicklichen Laune behagen.

Die Worte, Geberden und Handlungen der Eltern sind die mächtigsten Hilfsmittel, oder der größte Verderb; sie erziehen mehr als die schönsten Lehrsätze und Warnungen zum Guten oder führen zum Bösen. Man kann eben nicht so erziehen, wie man etwa unterrichtet, d. h. in bestimmten Stunden des Tages: Erziehung ist eben das ganze Thun und Lassen der Eltern vom Morgengruß bis zum Abendgebet.

Aber dem Kinde treten auch andere Menschen entgegen, und jeder einzelne trägt, meist ohne Wissen und Willen das Seinige zur Erziehung bei: Geschwister, Verwandte und Bekannte, Dienstboten, Lehrer und Schulgefährten, die Menschen auf der Straße mit ihren Worten und ihrem Gebühren: sie alle treten in einer bestimmten Weise in den Vorstellungskreis des Werdenden ein, wirken anziehend und abstoßend, hemmen oder fördern auftauchende Begehrungen, wecken Reines oder Unreines. So wird schon das Kind der Mittelpunkt mannigfaltigster Beziehungen, deren Überblick den Eltern unmöglich ist. Die Menge der Einflüsse steigt von Jahr zu Jahr, je mehr das Kind, das ursprünglich sich zumeist nur ausnehmend verhielt, den Einwirkungen selbst entgegen kommt, ja diese aufsucht. Bücher, Zeichnungen, Gemälde und Standbilder, die Natur in ihren verschiedenen Erscheinungen, kurz alles, was in den Wahrnehmungskreis eintritt, kann von bestimmender Bedeutung für den werdenden Geist werden und nichts, nicht das Kleinste ist bedeutungslos. Ein flüchtiger Ton, ein einziges Wort vermag sich zum Ausgangspunkt einer langen Reihe von Vorstellungen zu gestalten, welche in irgend einer Art sich mit dem Willen, mit reinen oder unreinen Bestrebungen verknüpfen und dem noch unreifen Entwickelungsdrange eine neue Bahn eröffnen.

Damit steigt auch die Verantwortlichkeit der Erzieher. Unmöglich ist's ihnen, alle einzelnen Einflüsse wahrzunehmen, wohl aber vermögen sie diese aus kleinen oder größeren Wirkungen zu erschließen. Indem sie in verständiger und zugleich liebereicher Beobachtung der Kinder ihre eigene Kindheit zum zweiten Male durchleben, wird ihnen auch das Verständnis des werdenden Geistes erleichtert. So kann auch ein Wort oder eine Miene ihnen zum Fingerzeige werden, um die inneren Vorgänge zu verfolgen, ihnen zeigen, wo sie fördern, wo sie hemmen müssen; eine Kleinigkeit im Verkehr des Kindes mit anderen verrät Sanftmut, Güte, Trotz, Selbstsucht, Wahrheitsliebe oder Lügenhaftigkeit und zieht so für einen Augenblick den Schleier von dem sonst verhüllten Inneren. Und in solchen Augenblicken soll die Hand des Erziehers fest, ja wenn nötig, schonungslos eingreifen, um das Unkraut auszujäten. Aber auch hier wirkt am mächtigsten, aus dem schon oben angeführten Grunde, das eigene Beispiel.

Sieht das Kind, daß die Eltern Güte üben, so wird es allmählich, selbst gegen seine eigene Neigung, es im Kleinen auch thun; bemerkt es, daß bei ihnen Worte und Thaten vom Geiste der Wahrheit belebt sind, so wird es ähnlich empfinden und dann auch handeln lernen. Indem es so das Leitbild des Handels zunächst als Vorstellung in sich aufnimmt, diese sich im Inneren durch das stetig wirkende Beispiel befestigt, bildet sie langsam einen Teil des Gewissens. Sobald nun im Wollen des Kindes das Gegenteil, z. B. die Lüge, auch zuerst als Vorstellung auftaucht, stellt sich ihr die schon oft geübte der Wahrheitspflicht gegenüber und wird so zum Maßstabe. Indem nun die Eltern derartige Vorstellungen des Sittlichen mit religiösen Gedanken in Verbindung bringen und beide durch Wort und Beispiel befestigen, legen sie die Grundlage des ethischen GefühlsGefühls, noch nicht des Urteils.

Denn soll das Gute als solches zugleich ein Ethisches sein, muß es seine Wurzeln bis in das Tiefste, in das Gemüt senken. Denn nicht der Verstand, der ja nur Äußeres auf äußerliche Weise verknüpft, ist das Treibende des sittlichen Lebens, sondern das Gemüt. Der erstere kann wohl aus selbstsüchtigen Gründen zu sogenanntem anständigen Handeln führen, zur bloßen äußerlichen Moral, niemals jedoch läßt sich aus ihm die innere Verpflichtung zur echten Sittlichkeit gewinnen, noch erweisen.

Darum ist die Erziehung des Gemüts, wobei Verweichlichung vermieden werden soll und kann, so unendlich wichtig, viel wichtiger, als die äußere Verstandesbildung, in der heute leider die Erziehung oft ihre einzige Aufgabe erblickt. Ein warmer Herzschlag wiegt an Wert für die Menschheit das scharfsinnigste Urteil des bloßen Verstandes auf.

Schon mehrmals habe ich des Kernes gedacht, dessen, was im scheinbar Unbewußten des Kindergeistes als »vererbte Anlage« mit dem Drange nach Entfaltung schlummert. Während in der ganzen Zeit der ersten Entwickelung fast ununterbrochen von außen her Reize zuströmen, ist dieser Kern, dieses innerste geistige Wesen, durchaus nicht denselben widerstandsunfähig preisgegeben. Dieses Innerste gleicht nicht einer toten Wachstafel, in welche sich alles unterschiedslos einprägen kann, sondern es ist eine lebendige, aus sich selbst in die Welt und der Welt entgegenwirkende Wesenheit, eine zwar aufnehmende, aber zugleich umbildende Kraft. Sie wirkt nach eingeborenen Gesetzen, die noch nicht in das Licht des Tagesbewußtseins getreten sind, aber doch vom Geistigen aus ihr Licht empfangen haben.

Von zwei Kindern, beide gleich gesund und frisch, hat das eine mit kaum fünf Monaten nach allem gegriffen, was rot war, während es sich gegen Blau gleichgiltig verhielt, das zweite aber gerade umgekehrt diese Farbe bevorzugte und jene abwies. Jedes kam dem Reize entgegen, der seinem Wesen entsprach. Dieses Entgegenkommen oder Ablehnen bleibt in der ganzen Zeit des Werdens thätig: es findet mit größerer oder geringerer Bestimmtheit unter den andrängenden Reizen, Vorstellungen eine Auslese statt, so daß sich das Kind nicht nur in Übereinstimmung mit, sondern zugleich im Gegensatz zu seiner Umgebung entwickeln kann.

Ein Kind von sanfter Geartung wird den Zorn der Erwachsenen nicht verstehen, wenn auch vielleicht fürchten, denn in seinem Wesenskerne wird dabei das intuitive Verständnis nicht blitzgleich aufzucken. Es wird darum auch, mag sich die äußere Wahrnehmung noch so oft wiederholen, niemals zu jähem Aufbrausen erzogen werden können. Ein jähzorniges Kind aber wird diesem Beispiele leicht folgen, dagegen erst nach und nach mit innerem Widerstreben die von den Eltern geübte Selbstbeherrschung ausüben lernen, nachdem sich in ihm eine jener Vergleichsvorstellungen erzeugt hat, die ich als Förderungsmittel des sittlichen Gefühls und des Gewissens bezeichnet habe.

Aber selbst wenn eine der Bestrebungen des Kernes unterdrückt wird, so ist damit noch nicht immer deren Ausrottung erreicht. Die Spannung erhält sich oft trotz allem, setzt innerlichen Widerstand entgegen, wird dadurch stärker und weist alle Vorstellungen entgegengesetzter Art ab, während sie die verwandten an sich zu ziehen strebt oder mit Hilfe der Einbildungskraft aus sich erzeugt.

Die bestimmende Kraft des Kernes kann oft sehr lange schlummern. Das gilt nicht nur von den Anfängen sittlicher Eigenart, sondern ebenso von jenen bestimmter Beanlagungen. Zuweilen kommt es vor, daß sich eine Gabe von Vater auf Sohn vererbt, in welchem Falle man die Erscheinung verstandesmäßig auf empfangenen äußeren Einfluß zurückführen kann. Sehr oft jedoch ist das nicht der Fall.

Der Sohn eines Gebirgsbauern hatte keine Ahnung von der Kunst, aber das erste Stück Kohle, das ihm in die Hände fiel, wurde von ihm benutzt, jede erreichbare Fläche mit Abbildern des Gesehenen zu zieren. Er ist ein berühmter Maler geworden. Ein anderer Knabe begann, kaum daß in ihm das Gefühlsleben klar hervorgetreten war, zu dichten und träumte, ehe er noch etwas vom Beruf des Dichters ahnen konnte, von nichts anderem, als der Menschheit einst als Schriftsteller zu nützen. Ein dritter hatte nie das Wort Philosophie gehört, die Namen eines Kant und Fichte waren nie zu seinem Ohre gekommen, aber während er als Schlosserlehrling feilte und hämmerte, beschäftigte sich sein Geist mit den Problemen der Erkenntnis, mit dem Verhältnis von Subjekt und Objekt. In diesen dreien – und so in vielen Fällen – hat nichts Äußeres die Nachahmung erweckt, sondern aus dem tiefsten Innern, als Wesenhaftes brach es hervor; die Welt der Erscheinungen spielte dabei nicht die Rolle der Erzeugerin, sondern nur der Hebeamme.

So geht also neben der von außen wirksamen Erziehung stets eine selbständige Entfaltung des inneren Wesenkerns vor sich, der die erstere unterstützen oder hindern, von ihr, wenn er böse ist, zwar zurückgedrängt, aber sehr selten gänzlich beseitigt werden kann.

Nun geht die Erziehung von einem gewissen Alter ab mehr außen, als im Hause vor sich. Die Grundsätze, nach denen die Schulen heute geleitet werden, sind nicht heilsame, denn der Unterrichtsstoff hat den Erziehungsstoff fast ganz erstickt. Man hat die Menge dessen, was gelernt werden soll, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt vergrößert, alles gethan, um den Verstand mit Einzelheiten zu belasten, denen das » geistige Band« fehlt. Aber für die Bildung des Gemüts, Erziehung des sittlichen und echt religiösen Gefühls geschah nichts oder sehr wenig. Bei dem ungesunden Andrange zu den Mittelschulen ist es übrigens auch kaum möglich, daß sich zwischen Lehrern und Jugend innigere Beziehungen bilden könnten. Die Erziehung aber wurzelt im Verkehr zwischen Meister und Zögling; von Mensch zum Menschen, von Herz zu Herzen muß sich eine Leitung bilden – so aber liegen dazwischen Berge toten Wissens.

Von bedeutendem Einfluß können auch alle jene Anschauungen werden, die im Kreise, worin das Kind lebt und aufwächst, als Ergebnis der geschichtlichen Entwickelung Bestand gewonnen haben. Der Rang und Besitz der Eltern, vornehme oder niedrigere Geburt, erworbener oder ererbter Reichtum, oder die Armut, der Lebensberuf des Vaters: jedes von diesen führt zumeist schon an sich zur Bildung bestimmter Urteile über Sein und Wert des Menschen, Prägt verschiedene Werturteile über Welt und Weltlauf aus. Je mehr diese Ansichten mit dem beschränkten Kreise zusammenwachsen, desto einseitiger gestalten sie sich, desto mehr werden sie zu » Vorurteilen«.

Das Kind vermag nun, wie ausgeführt worden ist, zwar aus seinem Kerne, aus dem Gemüt heraus, den Einflüssen Widerstand zu leisten, aber nicht aus und mit dem Verstände, oder gar der Vernunft, denn diese beiden Thätigkeiten des Geistes sind eben im Werden, sind ungeübt. Infolgedessen lebt sich das Kind zumeist in die Urteile und Vorurteile der Umgebung hinein, nimmt äußerlich oder innerlich auf, ehe es im stande ist über den Wert oder Unwert derselben zu entscheiden.

Jede dieser Wahrnehmungen, die dem Kindergeiste als Urteil, als äußeres Gebühren, oder als Handlung entgegengetreten ist, wird zu einer Vorstellung, die sich, zugleich durch das Eigenwesen des Kindes bedingt, färbt, als angenehm oder unangenehm empfunden wird, und, nachdem sie einige Zeit im hellen Bewußtsein gestanden hat, unter dessen »Schwelle« sinkt, um einer anderen Platz zu machen. Sie wird nicht vergessen, sondern tritt nur in das mit Unrecht sogenannte »Unbewußte« ein. Hier schließen nun verwandte oder nicht verwandte Vorstellungen, engere Bündnisse, bei deren Bildung jedoch ebenfalls Begehrungen mitthätig sind. Jene Vorstellungsgruppe, die irgend einem Drange des Kerns am meisten Nahrung bietet, wird auch unter der Schwelle des Tagesbewußtseins die größte Spannung erhalten und stets bereit stehen, diese Schwelle zu überschreiten, sobald von außen her irgend eine Vorstellung der Gruppe geweckt wird.

In dem Kerne liegt der Trieb, sich immer neue Nahrung zu schaffen; er streckt die Fühlfäden des Geistes stetig nach allen Seiten aus, um das Gewünschte zu suchen und es sich eigen zu machen. Es ist dabei gleichgültig, ob der natürliche Drang gut oder böse ist; in beiden Fällen wirkt er nach gleichen psychischen Gesetzen, in beiden Fällen sucht das Ich sich selbst zu befriedigen, und darum fehlt Sittlichkeit im höheren Sinne bei den Guten, wie die Unsittlichkeit bei dem Schlechten. Das Kind, das aus dem dunkeln Drange heraus einem Hungernden seinen Apfel reicht, ist gut, aber natürlich gut, unfrei gut, und darum hat es auch nicht ethisch gehandelt; ein Kind, das von der frühesten Zeit rasch und wild aufbraust, ist böse, aber natürlich und unfrei böse, und es handelt deshalb nicht unsittlich.

Unter die Schwelle des Bewußtseins sinken bei dem Kinde auch die aus blinden Vorurteilen hervorgegangenen Worte und Handlungen der Umgebung. Ein kleines Mädchen hat z. B. oft gesehen, wie ihre Mutter das bescheidene Kleid einer Arbeiterin von oben nach unten maß, oder es hat bemerkt, daß sie mit allen ärmlich gekleideten Menschen hochmütig gesprochen hat. Diese wiederholten Eindrücke sind zwar als Vorstellungen jedesmal wieder untergetaucht, aber durch die Häufigkeit des Vorganges wurden sie nicht nur bestimmter ausgeprägt, sondern auch so gestärkt, daß sie bei irgend einem äußeren Anlasse im Kinde von selbst empor tauchen. Zuerst besteht die Gruppe nur aus wenigen Vorstellungen: Mutter, die Hochmut zeigt; das ärmlich gekleidete Weib; vielleicht noch dazu irgend ein Ausspruch, in dem sich die Mißachtung bekundet. Indem sich diese fest verknüpften Vorstellungen befestigen, wird allmählich die Aufmerksamkeit auf verwandte Eindrücke geschärft; von den herandrängenden Wahrnehmungen werden die ähnlichen ausgelesen und schließen sich eng an die schon bestehende Gruppe an. Noch sind Verstand und Vernunft nicht gebildet, noch kann ein reifes Urteil nicht stattfinden, aber ein Vorurteil ist fertig: die Überschätzung des eigenen Wertes.

In gleicher Art geht die Gesellschaftung anderer Vorstellungen vor sich, nach organischen, nicht mechanischen Gesetzen, mit einer unabweisbaren Folgerichtigkeit, unter unbewußtem Zwange, gleichviel ob der Inhalt der Vorstellung natürlich gut oder natürlich böse ist.

Gemeinsam ist dem Vorgange immer, daß sich in ihm alles auf das sich entwickelnde Ich bezieht, dieses immer mehr in den Mittelpunkt der Vorstellungen tritt, sich dort befestigt und jeden Punkt des Kreises beherrscht, sobald er in das Licht des hellen Bewußtseins tritt. Indem nun das Ich jede von außen kommende Vorstellung, wie jede von innen wieder auftauchende mit sich verknüpft, werden alle mit der Ichsucht – im weiten Sinne des Wortes – durchtränkt, mit einer Ichsucht, die an sich noch nicht unsittlich, weil unfrei ist, aber wohl natürlich böse sein kann.

Ich habe schon darauf hingewiesen, wie die Erziehung durch Wort und Beispiel Vergleichsvorstellungen einpflanzen kann, wie diese, dem dunkeln religiösen Triebe angeknüpft, einen Teil des werdenden Gewissens ausmachen. Wohl giebt es nun gewiß viele Familien, in denen Ernst und Liebe unablässig thätig sind, das Gewissen zu entfalten, die Selbstsucht zu hemmen und das religiöse Gefühl zu entwickeln. Aber auch sie können nur selten alle schädlichen Einflüsse verhindern.

Um so weniger ist das heute bei der Mehrzahl der Fall, die in irgend einer Art von den verderblichen Strömungen der Gegenwart ergriffen ist. Überschätzung der äußeren Verstandsbildung, Mißachtung des Gemütslebens, Hang nach äußerem Genuß, nach äußeren Ehren und Reichtum, Neid auf fremde Erfolge, Gleichgültigkeit dem Ethischen gegenüber, offener Materialismus und entschiedene Leugnung des Geistigen; Haß gegen die Besitzenden und Genießenden: das und vieles andere unterwühlt heute die Gesellschaft und macht die Familien oft ungeeignet zu Pflanzstätten sittlicher Erziehung.

So werden oben und unten den Kindern falsche Werturteile eingeimpft, und wenn die jungen Menschen dann in das Leben eintreten, wo der Einfluß des Hauses sich mindert oder aufhört, sind in ihnen schon irrige Anschauungen oft unausrottbar eingewurzelt.


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