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Fünfte Predigt.
Vom Chauvinismus, Scheinpatriotismus und echtem deutschen Sinn.

Wieder, meine lieben Zuhörer, hat sich Eure Zahl gemindert! Es scheint, daß ich doch keine rechte Begabung zum Prediger habe. Vielleicht ist der Ton verfehlt; vielleicht bin ich zu offen – und vielleicht hat gerade das letztere manchen verscheucht, der geblieben wäre, hätte ich schmeicheln wollen. Aber dazu besitze ich thatsächlich keine Anlage. Bei dem gar, was ich nun zu sagen habe, wäre es sehr schwer, viel Schmeichelhaftes vorzubringen ohne die Einbildungskraft zu Hilfe zu rufen.

Das Wort »Chauvinismus« stammt bekanntlich aus Frankreich. Wir haben dafür keinen deckenden Ausdruck, aber es ließe sich vielleicht mit Volkseitelkeit verdeutschen.

Wie das Wort ist auch die Sache in Frankreich entstanden und dort geschichtlich begreiflich. Der eine Bestandteil der Bevölkerung, der gallische, war von altersher zur Eitelkeit geneigt, prunkliebend und herrschsüchtig. Späterhin entwickelte der Werdegang diese Eigenschaften immer mehr und begründete den politischen und dann den geistigen Einfluß auf die Nachbarvölker, die sich nur zu Zeiten auflehnten, um dann sich um so tiefer zu beugen. Aus Selbstgefühl wurde oft Selbstüberschätzung, alles Eigene erschien um so mehr als Bestes, da die anderen Völker es nachahmten. Aus dieser Stimmung heraus mußte sich das entwickeln, was den Begriff des Chauvinismus bildet, wenn auch das Wort erst in diesem Jahrhundert entstanden ist.

Gewiß giebt es bei uns seit der Gründung des Reichs auch einzelne Chauvins, deren geistiger Schaukreis ein zu kleiner ist, um für Vergleichungen Platz zu bieten. Was Deutschland je Großes geschaffen hat, wird für sie Gegenstand der persönlichen Eitelkeit, als hätten sie es gethan. Aber diese Art ist nicht sehr ausgebreitet.

Eine der größten Schwächen unseres Eigenwesens, die aber zuweilen zum Vorzug werden kann, ist die fast unbegrenzte Aufnahmsfähigkeit für Fremdes. Das geschichtliche Werden mag immerhin einzelnes erklären, aber trotzdem bleibt die tiefste Ursache rätselhaft. Sie wird es noch mehr, wenn man die zweite Eigenschaft betrachtet: den oft starren Unabhängigkeitssinn, der oft so plötzlich auftauchte, und der Entwickelung in Staat, Religion und Wissenschaft neue Kraft zuführte.

Ein Grund für diese Aufnahmsfähigkeit und Fremdsucht liegt, meiner Ansicht nach, in etwas, was ich bei dem Einzelnen Bescheidenheit nennen könnte. Sie stammt aus Schwerfälligkeit, diese aber aus der Langsamkeit, mit der das deutsche Wesen alles in sich verarbeitet, ehe es aus seinem Innern das Urteil und die Entscheidung hervorbringt. Der Romane, nebenbei im Besitze einer älteren Kultur (nicht Gesittung; denn ich unterscheide diese Worte), ist findig, aus der Einbildungskraft rasch Vorstellungen schaffend, von ihnen schnell entflammt. Im Ansturm sucht er sie zu verkörpern, was ihm oft gelingt; wenn nicht, verliert er leicht die Geduld. Der Slave – einzelne kleine Stämme abgerechnet – empfindet stark, aber unbestimmt, er hat Wärme, aber nicht Tiefe; ihm fehlt das Erfinderische des Romanen, weil er – vielleicht nur jetzt noch – im Allgemeinen nicht sehr thatkräftig ist. Seine Auffassung für das Wirkliche ist rasch und lebhaft, aber er vertieft sich selten in das Innere; er begnügt sich äußere Beweggründe zu kennen, hat jedoch wenig Hang, nach inneren Ursachen zu forschen.

Ich sehe in dieser Fremdsucht also nicht nur bloße Nachahmungssucht – wenn auch diese in Äußerlichkeiten oft vorkommt – sondern nur den Beweis für jene Langsamkeit, die abzulehnen zögert, weil irgend etwas Fremdes berechtigt erscheint. Während es sich nun einbürgert, beginnt schon die Verarbeitung, und es rührt sich leise der Widerstand, aber so langsam wächst auch er, daß Fremdes oft fast eingelebt ist, ehe das Volkswesen sein Urteil abgeschlossen hat. Und dann kommen noch hundert Bedenken. Der oft weltflüchtige Idealismus unserer besten Geister schließt sehr oft in sich ein sehr reges Gerechtigkeitsgefühl. So rühmenswert das vom sittlichen Standpunkte ist, so lähmt es doch nicht selten den Willen in der Welt der Wirklichkeit, die oft für höhere Zwecke der Volkswohlfahrt Rücksichtslosigkeit heischt. Wer nicht in gewissen Lagen ein augenblickliches geringeres Unrecht thun will, muß oft dauernd ein größeres erleiden.

Die Achtung vor fremdem Geiste hat unser deutsches Wesen oft bereichert, wo das Aufgenommene einem verwandten Zuge entsprach. Wir haben es dann fast immer noch tiefer im Gemüt durchgearbeitet, es von Schlacken gereinigt und in edlerer Form den Völkern zurückgegeben. Nirgendwo – es liegt in dem Folgenden keine Überhebung – sind so viel Reichtümer des Menschengeistes aufgehäuft, wie bei uns. Deutsches Wesen ist heute noch die Sparbüchse der Weltgeschichte; daß wir diesen Besitz zum Teil verschimmeln lassen, ändert die Thatsache nicht.

Aber der weltbürgerliche Zug hat in vielen Deutschen jenes Feingefühl erzeugt, das auch in fremdartigsten Gewändern den edlen, schönen, wahren Kern erkennt und würdigt und dadurch die Achtung vor dem Eigenartigen offenbart.

Das ist die Lichtseite: sie schützt uns vor unberechtigter Überschätzung des Eigenwesens.

Aber dieser gute Zug ist gar oft in unserer Geschichte entartet. Es läßt sich ja manches zur Entschuldigung anführen, vor allem die Lage im Herzen des Erdteils und die vielen Einflüsse fremder Staatskunst, die so oft die Uneinigkeit der Deutschen für ihre Sonderzwecke ausgenützt hat. Aber alles, was man geschichtlich begründen kann, genügt nicht, den Fehler als solchen verschwinden zu machen.

Wie oft hat sich das deutsche Volk gefügig fremdem Geist gebeugt, selbst wenn er im Kerne allem Volksgemäßen feindlich war! Vom Mittelalter her durch alle Jahrhunderte standen Männer auf, die uns scharfe Worte, in des Zornes glühender Esse geschmiedet, zuriefen; treue Warner voll Liebe zu allem Besten, was unser Wesen in sich faßt. Aber immer bedurfte es einer ernsten Zeit, die selber das Amt des Züchtigers übernahm und den Deutschen aus seiner Bequemlichkeit aufstörte. Dann besann er sich, reckte die ungefügen Glieder und wandelte sich in den Siegfried – um bald wieder, sobald die Gefahr vorüber war, der »dumbe« Riese zu werden, der sich alles gefallen ließ.

Als der Krieg von 1870/71 zu Ende ging, da glühte in Millionen Geistern und Herzen die Liebe zum Vaterlande auf. Da dachten sie in ihrer Begeisterung, nun werde die Herrschaft des Fremden verschwinden und in Leben und Kunst, in Gemeinde, Staat und in dem Einzelnen alles aufblühen, was im besten Sinne deutsches Wesen verkörperte. An Anläufen aller Art hat es nicht gefehlt, aber bald erlahmte die Schnellkraft und die Fremdländerei gelangte zu einer Zwanggewalt, wie noch nie vorher. Denn niemals war der vaterland- und volkfeindliche Geist so tief in die mittleren und unteren Schichten eingedrungen, wie in den Jahrzehnten nach 1870.

Deutschland selbst war eine Weltmacht geworden, und die andern Staaten hatten es, zum Teil innerlich knirschend, geschehen lassen müssen. Verklungen war Spott und Hohn, die sich den deutschen Michel so oft zur Zielscheibe erkoren hatten. Freude und Stolz hätte alle Deutschen erfüllen müssen und der ernste Thatwille, nun den hochragenden Bau des neuen Reiches auch innerlich auszugestalten nach heimischer Volksart. Aber es kam anders, trotz einzelner echter Deutschen. Überall machte sich fremder Geist geltend, in Gesetz und Recht, in Lebensformen, in der Gesellschaft, in Dichtung und Kunst. Der Dämon des Materialismus, schon früher von einer einseitigen Wissenschaft aufgezogen, wuchs zur Riesengröße, und aus den Falten seines Mantels schlüpften die unreinen Geister: wilde Gold- und Genußgier; empörende Ichsucht, die den Nächsten, den Schwächeren zu Boden tritt, um rascher an's Ziel zu gelangen; scheuloser Spott, der alles Hohe und Reine mit Schmutz bewarf. Leise nur bereitete sich vor der Gegenkampf, den vielleicht erst das nächste Jahrhundert entscheiden wird.

Wenn das alles nach 1870 möglich war, so darf man wohl sagen, daß wir zur Überschätzung des nationalen Geistes wenig Begabung besitzen.

Viel eher noch zum Scheinpatriotismus, wenn es geht in Stammesfärbung.

Es ist so unendlich leicht und so billig das Vaterland zu lieben, wenn es mit bloßen Worten geschieht. Bei verschiedenen Festen, an Erinnerungstagen beim Glase begeisterten Trinksprüchen zuzujubeln, das kann bald einer. Die Kräfte des Staates zu Hilfe zu rufen, wenn es den Nutzen einzelner im wirtschaftlichen Kampfe mit dem Auslande gilt und dabei auf sein Deutschtum zu pochen, auch das ist nicht schwer. Es ist ein Kinderspiel, in Versen und Prosa, in Büchern und auf der Bühne mit klingendem Wortprast deutsch zu sein, oder bayrisch, preußisch, württembergisch. Und was man auch sagen mag, es ist, wenn auch löblich, so noch nicht groß, in Tagen des Kampfes hinauszuziehen und für das Vaterland sein Blut zu vergießen.

Die echte, die große Liebe zur Heimat, zum Geiste der Väter hat sich in Zeiten des Friedens zu bewähren.

Und diese Liebe fehlt Tausenden und Tausenden von uns.

Kaum ist die Begeisterung von Tagen, wo alles auf dem Spiele steht, verschwunden, so kommt über uns der alte Sippengeist. In allen Fragen gewinnt das Trennende die Oberhand; Neid, Haß, Ichsucht, Eigensinn und Wortklauberei sind geschäftig, tiefe Klüfte zu graben und so Inseln für die Parteien zu bilden. Und von einer zur andern tönen Verwünschungen, Worte des Hohns und der Verleumdung. Und die Sippe gebärt aus ihrem Schooße eine neue Sippe mit neuem Feldgeschrei und größer von Tag zu Tag wird der Lärm. Aber das Vaterland und der gute deutsche Geist leiden schweren Schaden.

Und immer wieder wandelt sich der berechtigte weltbürgerliche Sinn, in dem ein Gutteil christlichen Geistes lebt, in flachen Kosmopolitismus. Gesundes Weltbürgertum will fördern, was den idealen Bestrebungen der gesitteten Menschheit nützlich ist, aber es weiß, daß der Tempelbau dieser Einheit nur getragen werden kann, wenn die Säulen, die einzelnen Völker, in ihrem eigenartigen besten Wesen gekräftigt sind. Liegt im Geiste Gottes die Absicht, eine »neunte Symphonie« des Menschentums zu verfassen, so kann sie nur gespielt werden, wenn jedes Instrument sein Bestes giebt, nicht aber wenn alle Völker auf dem gleichen die gleiche eintönige Melodie abhaspelten.

Der Kosmopolitismus möchte aber die Säulen stürzen, alle Unterschiede vernichten – einen Menschheitsbrei zurichten – und hinter ihm stehen mit großen Löffeln der herzlose Kapitalismus und die geistlose Sozialdemokratie, beide bereit, die Riesenschüssel für sich zu beanspruchen, sobald der Koch das Gericht fertig hat.

Und in mannigfaltiger Verkleidung lebt dieser Kosmopolitismus unter uns. Er steht als gelehrter Herr auf Lehrkanzeln und erläutert, daß der Begriff Volk überhaupt nur mehr bloßes Wort sei, daß die Eigenart nationalen Geistes nur in der Einbildung bestehe. Und er sitzt in den Schreibstuben der Zeitungen und predigt gar witzig die Verneinung des Volkswesens, spricht vom »allgemeinen Menschentum« – das es noch nie gegeben hat und nie geben wird – spricht vom »Menschen schlechthin« – der doch nur in der vierten Dimension lebt – und bespöttelt alles, was, ohne die Bedeutung von allgemeinem Menschheitwohl zu verkennen, vor allem deutsch sein will. Er hält, als Abgeordneter verkleidet, Reden in Volksvertretungen, er plaudert im Salon, er schwätzt in Bezirksvereinen, donnert in Volksversammlungen und mauschelt auf der Börse und in Zahlstuben der Geldwechsler.

Und er dichtet und philosophiert auch. Aber immer und überall hat er nur ein Ziel: auszurotten das »Vorurteil« von Volkseigenart, die Liebe zum Vaterland. Das Festhalten am Guten der Väter brandmarkt er als Rückschritt, als geistige Beschränktheit, als unfreie Denkungsart. Und ehrliche Schwärmer glauben die Lehre und tragen sie weiter mit glühender Begeisterung – und besorgen so die Geschäfte des Teufels. Der bequeme Philister aber fühlt sich geschmeichelt; er will nicht rückschrittlich, nicht geistig beschränkt, vor allem nicht unfrei scheinen und so schwätzt er hinter dem Glase alle die Phrasen nach und fühlt sich als »Mensch schlechthin«.

Jede Fiber bebt dann vor Schmerz und Zorn dem Vaterlandsfreunde, wenn er dieses Treiben um sich gewahrt. Und Schwerter möchte er sprechen und Feuer aushauchen, und er muß oft entmutigt sich mit knirschenden Zähnen abwenden. O Schmach, tausendfache Schmach über Euch alle, die Ihr das Erstgeburtrecht um ein Linsengericht hohler Worte verschachert und nicht sehen wollt, was auf dem Spiele steht. Dann gleicht Ihr dem blinden Hödur, der aus Dummheit und blödem Vertrauen den Baldur, das ist das Leitbild echt deutschen Wesens, mordet.

Oft schon haben die oberen, manchmal auch die unteren Schichten, fremdem Geiste gefrohndet. Aber niemals mit solcher Knechtseligkeit, wie in der Zeit nach 1870. Aus Frankreich, Italien, Dänemark, Norwegen, England und Rußland, zuletzt aus Nordamerika, holten wir unsere Götzen. In Kunst und Dichtung, im Staatswesen und in der Volkswirtschaft, in den Wissenschaften der Natur, in Ethik und Religion suchten wir die Vorbilder in der Fremde.

Wenn ich am Nordpol mich in Felle kleide, handle ich richtig, wenn aber in den Tropen, dann thöricht. Habe ich als Durstender trockenes Brot in Hülle, nützt es mir nichts. Das gilt auch für den Geist. Alles, was wir einführten, mag im Ursprungslande an richtiger Stelle, mag dort wertvoll sein – ich will es nicht untersuchen – bei uns aber ist es um so mehr unserem Wesen feindlich, je mehr es der Eigenart des anderen Volks entspricht. So kann etwas dort Arznei sein, was bei uns zum Gifte wird. Aber wohl kann es auch überall als solches wirken.

Welche Einbußen wir geistig durch diese neue Fremdherrschaft erlitten haben, läßt sich nicht feststellen. Aber gelitten haben Schamgefühl, innere Keuschheit, Lebensernst, Gemütstiefe, ja selbst das deutsche Denken.

Wir jubelten fremden Gedanken zu, die nichts waren, als gestohlene Abfälle deutscher, wir verflachten im Urteil und griffen nach den plattesten Halbwahrheiten oder nach glitzerndem Wortschaum, weil er in fremdem Gewande uns einen gebietenden Eindruck machte. Es wird die Zeit kommen, wo man einsehen wird, wie ungenügend das Denken eines Darwin war, wie oberflächlich ein Mantegazza und Lombroso die Welt betrachteten; man wird staunen, daß die aus Polareis geschnittenen Menschen Ibsens von den Deutschen als Geschöpf einer neuen Kunst bewundert waren; daß man einen Brandes für bedeutend gehalten hat, die Irrtümer in Tolstoi's Denken nicht wahrnahm; daß man Henry George, daß man die platten Nützlichkeitsmoralisten Amerikas für ernst genommen hat. Hinter den Meisten ist ein Teil der materialistischen Weltansicht versteckt, die bewußt oder unbewußt den Menschengeist der Zwangsherrschaft des rohen Stoffes ausliefert, mag sie auch noch so viel von der Freiheit des »souveränen Menschengeistes« sprechen – die übrigens der mechanischen Weltanschauung ins Gesicht schlägt. Aber solche Widersprüche stören die modernste Wissenschaft überhaupt nicht.

Aus den Vordersätzen ihrer Lehren geht mit innerster Notwendigkeit überhaupt nur ein einziger Schluß hervor: »Erhalte im Kampfe ums Dasein mit allen Mitteln, durch Anpassung und Klugheit Dein Ich und sorge für andere nur, wenn das Ergebnis auch Dir zugute kommt. Du kommst aus dem Stoff; in den Stoff kehrst Du zurück: Darnach richte Dein Leben ein, daß es Dir so viel Lust als möglich gewähre. Aber genieße mit Klugheit, um lange genießen zu können.«

Das allein ist logisch verschlossen aus der heutigen Naturwissenschaft, die ja fast alle Gebiete beeinflußt hat. Spricht sie anderes, redet sie von Selbstlosigkeit, Liebe, von Idealen, dann hört sie auf logisch zu denken.

Aber alle diese Sätze sind in ihrem tiefsten Wesen Todfeinde des deutschen Gemüts.

Die Geschichte unsers Volks weist gar manche dunkle Seite auf, aber sicher ebensoviele leuchtende. Und ein Zug vor allen ist kennzeichnend für das Beste unseres Stammes: wo immer durch den Zeitensturm die Tiefen aufgewühlt wurden, dort brach mächtig ein sittlich-religiöser Drang hervor, der mit dem Wesen germanischen Gemüts untrennbar verknüpft ist. Dafür sprechen seine ältesten, urtümlichen Schöpfungen: Sprache, Helden- und Göttersage. Der Romane (und selbst der Grieche mit seiner einseitig, wenn auch herrlich entfalteten Schönheitreligion) ist zumeist vom Reize der Erscheinung gefesselt gewesen und ist es noch; er spielt gerne mit den Gestalten seiner Einbildungskraft und besitzt ein viel feineres Formempfinden. Der Germane, trotzdem er so oft zum Nachahmer hinuntersank, zeigt den Drang in das Innere. Mochte er immerhin äußerlich oft derb und ungeschlacht sein, in seinem öffentlichen und häuslichen Leben, in den Beziehungen zum Weibe, in der Art, wie er das Recht auffaßte, in seinem Naturgefühl und der frisch auftauchenden Freude am Humor zeigt sich uns eine Fülle ursprünglicher Gemütskraft und die stetige Beziehung zu seinen Göttern. Selbst Fremdes hat er in früheren Tagen mit tieferer Innerlichkeit ergriffen und, nicht zufrieden mit dem farbenreichen Zauber abenteuerlicher Geschehnisse in sie seine sittlich-religiösen Leitbilder hineingelegt. Bei den besten Geistern deutscher Erde brach dieses Selbst hindurch: der Einzelne suchte in irgend einer Art die Verbindung mit dem »Allvater«. Und welche Tiefe enthüllt uns die Göttersage, welch' klares sittliches Urteil, welche Fülle des Gemüts. Durch Selbstverschuldung ließ der Germane seine Asen untergehen in der Götterdämmerung. Aber sein suchendes, sehnsuchtsvolles Herz ließ dann einen neuen Gott, einen Allvater werden und sein Reich der Liebe und Gerechtigkeit. Todverachtender Heldenmut, unbeugsame Wahrheitsliebe, Keuschheit, Treue, rührende Mutter- und Gattenliebe, Frömmigkeit, Verachtung der List – das sind die Tugenden, die uns nicht nur aus der Sagenwelt entgegenleuchten, sondern die, wie wir wissen, auch von den lebenden Menschen geübt worden sind und durch manchen Schatten deutscher Eigenart nicht verdunkelt werden.

Nur weil im germanischen Gemüt der tiefe Drang des gottsuchenden Selbst lebensvoll wirkte, hat es das Christentum – wenn auch mancherorts nach blutigem Kampfe – so innig aufgenommen und mit so viel persönlichem Lebensgehalt erfüllt. Christus war im tiefsten Wesen einem Volke nicht fremd, das in seiner Göttersage den Liebling der Asen und der Menschen, den milden, liebreichen, gerechten Baldur geschaffen hatte, der schuldlos sterben mußte, und das von einem Allvater träumte. Der Zug zur sittlich-religiösen Vertiefung zeigte sich auch in der ritterlichen und religiösen Dichtung, in mancher mystisch gefärbten Mariendichtung, in Wolframs »Parcival«; in Lehrgedichten, wie im altern »Winsbecke«, einer Sammlung von goldnen Lebensregeln, die ein Vater seinem Sohne giebt; er trat in wunderbarer Innerlichkeit bei den alten Mystikern hervor. Als dann nach längerer Erstarrung des Geisteslebens von Holland und von Italien herüber die Renaissance nach Deutschland kam, da war es nicht die schöne Form, was die tieferen Geister erregte, sondern der sittliche Gehalt der alten Schriftsteller und Dichter, den man mit christlichen Vorstellungen verknüpfte. Die älteren »Humanisten« waren nicht wie die Italiener von ästhetischer, sondern von ethisch-religiöser Begeisterung erfüllt. Ein Nicolaus von Cues († 1464) forderte, daß man »mitten in den Bewegungen der Zeit« den eigenen Geist, die Geistesfrüchte der Menschen aller Jahrhunderte und die Natur immer tiefer ergründen möge, um zu erkennen, daß nur die Demut groß macht und alles Erkennen und Wissen nur dem hilft, der darnach lebt und handelt. Und ein Johannes Trithemius spricht: »Ob wir mit dem Worte oder der Feder wirken, stets sollen wir bedenken, daß wir Prediger der Wahrheit, Verkündiger der Liebe sind, und daß diese Liebe in uns selbst Frieden erzeugen, und, so weit unsre Kraft reicht, Segen und Heil über Andere verbreiten muß.« In solchen Worten spiegelt sich klar und bestimmt das Beste des deutsch-christlichen Wesens, das einen Zug nach dem Ganzen besitzt, aber zugleich den nach Schaffung des Selbstandes der freien Persönlichkeit.

Aus der Quelle des Volksgewissens schöpfte auch die Reformation, ehe sie in Wortstreitigkeiten entartete, ihre Kraft, und ebenso schöpften hier, was zu wenig erkannt ist, auch die besten katholischen Deutschen. Das sittlich-religiöse Bewußtsein wirkte dann lebendig in den Kämpfen des 17. Jahrhunderts, hob Tausende über die Not der Zeit, spricht zu uns aus den innigsten Liedern protestantischer und katholischer Dichter, aus dem »Simplicius« und aus vielen anderen Schriften. Und als dann nach Jahrzehnten wieder ein besserer Geist erwachte, trat wieder die Innigkeit deutschen Gemüts hervor; sittlich-religiöse Leitgedanken begeisterten einen Klopstock, für sie traten in anderer Art, aber auch ehrlich, Lessing und Herder ein. Und dieser deutsche Zug ist offenbar auch bei Schiller und bei Goethe, mag man den letzteren immerhin einen »Heiden« schelten. Und auch heute wieder regt es in Hunderttausenden viel gewaltiger, als es den Anschein hat, und wieder ist's das Gemüt, das bald stürmisch seine Rechte fordern wird, die der kalte, hochmütige Verstand ihm hat entreißen wollen – und auch dieser neue Drang geht in der Richtung des besten deutschen Wesens.

Wenn nun eine solche Erscheinung in der Geschichte eines Volkes immer wieder auftritt, so verrät sie eine zeitlose, vom Wechsel unabhängige, unzerstörbare Kraft.

Niemand, nicht ein Volk, nicht der Einzelne, kann stark sein, als in der Richtung des ursprünglichen besten Wesens. Folgt er ihr, dann hat er nicht mühsam den Weg zu bahnen, der Weg selbst trägt ihn vorwärts.

Wenn ich nun bedenke, daß dieser Drang in keinem anderen Volke – nicht bei Romanen, nicht bei Slaven, noch bei einem Volke des Ostens, auch den Indern nicht – so stark ist, wie im germanischen Wesen; wenn ich sehe, daß alle Übel der Zeit, die geistigen wie wirtschaftlichen, aus der Mißachtung der sittlich-religiösen Mächte hervorgegangen sind und nur durch deren Belebung nach Möglichkeit beseitigt werden können, dann ergeben sich die Schlüsse von selbst: das deutsche Volk hat heute die heilige Pflicht, in der Richtung seines besten Wesens schreitend, alle Kräfte einzusetzen, um sittlich-religiöse Leitbilder zur Herrschaft zu bringen.

Sie allein – das steht fest, und mögen es Tausende leugnen – können die Wertschätzung unter den Volksgenossen wieder herstellen, die sich heute in Haß, Neid, Hohn bekriegen; sie allein können die Reichen und Mächtigen zur Erkenntnis bringen, daß sie – wenn auch oft unbewußt – unter unsittlichen Lebensbedingungen leben und das Gebäude ihres »Glücks« aufbauen oft mit Hilfe Geknechteter – zu denen ich nicht nur jene rechne, die sich hochmütig »Arbeiter« nennen; sie allein können die Massen aus Verrohung und Unbildung emporheben; sie allein die Zaubermacht des goldenen Kalbes vernichten, der Entwürdigung des Weibes, dem wahnsinnigen Luxus und den Lastern, die unten und oben, offen oder geheim herrschen, einen Damm entgegenstellen. Nur sie vermögen es, die Satzungen des Staats und der Volkswirtschaft mit den Forderungen des Gemüts, mit Liebe und Gerechtigkeit so zu vereinen, wie es auf dieser Erde eben möglich ist. Ein unaufgelöster Rest wird ja dabei immer bleiben. Und sie nur können die Künste wieder emporheben, ohne daß diese ihre innere Freiheit einbüßen, blutlos werden müßten.

Wenn an einem Körper ein Geschwür erscheint, und es wird ausgebrannt oder ausgeschnitten, so ist es verschwunden. Aber das, was es erzeugt hat, ist noch nicht geheilt. Und das geschieht nur, wenn die versteckte Ursache gefunden und dem Leibe die Möglichkeit gegeben wird, aus sich heraus zu gesunden. So ist's auch im Völkerleben.

Wohl erzeugen Gesetze Sitten, und Sitten können Gesetze erzeugen. Aber das ist, wie die Geschichte erweist, ein sehr langsamer Vorgang. Zu meinen, daß durch Gesetze allein Krankheiten, Geschwüre am Körper der Gesellschaft zu heilen seien, das ist ein verhängnisvoller Irrtum.

Wie im Einzelnleibe die Heilung von innen heraus kommen muß, so muß auch der Volkskörper aus den Tiefen seines Wesens die geistigen Heilkräfte in Bewegung setzen.

Dieser Heilvorgang, obwohl Sache der Allgemeinheit, kann aber dennoch nicht von ihr als solcher äußerlich betrieben werden. Es ist zunächst Pflicht des Einzelnen, ihn in sich einzuleiten. Da er nun Glied des ganzen Volkes ist, wird bei der überwiegenden Mehrzahl – die Richtung durch den gleichen Drang gegeben sein, der im Volkswesen selbst, wenn auch zu Zeiten schlummernd, vorhanden ist, und auch er wird die größte Kraft in dieser eingeborenen Richtung des Geistes entfalten können. Mit anderen Worten: Jeder echte Deutsche hat heute die heilige Pflicht, alle Willenskraft einzusetzen und zunächst in sich den sittlich-religiösen Drang zu wecken, zu stärken und zur Herrschaft zu bringen. Damit folgt er der Richtung der tiefsten und besten Kraft des Volkswesens, damit beweist er heute am deutlichsten das, was im edelsten Sinne Vaterlandsliebe heißt. Schon regt sich, oft verzerrt, unklar und unsicher des Wegs jener Drang. Tritt er aber erst an hundert Stellen aus deutschen Herzen hervor, wird die Bewegung nach allen Richtungen ausstrahlen und in einem Jahrzehnt einen Wandel schaffen, den wir jetzt noch nicht einmal ahnen.

Damit aber der Einzelne den Weg finde, will ich es versuchen in der letzten Predigt ihn zu zeigen. Wer aber dann urteilen will, ob es der richtige sei, der muß ihn gehen – nicht aber am Beginn einfach sagen: »Nein, dieser Weg führt nicht zum Ziel.« So thun es ja wir Männer gar oft aus bloßem Eigensinn, den wir sonst so gern als weiblichen Fehler verspotten und verdammen.


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