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Vierte Predigt.
Vom Gigrltum und der Streberei

Wenn ich meinen Blick über Euch, liebe Zuhörer, schweifen lasse, so sehe ich, daß gar mancher, der anfänglich da war, den Saal verlassen hat. Das thut mir leid; nicht aber um mich, sondern um jene, die gegangen sind. Umsomehr aber freue ich mich Eurer, die Ihr geblieben sind. Euere Ausdauer beweist, daß Ihr Freunde der Wahrheit seid, daß Ihr mir in manchem zustimmt und die ehrliche Absicht des Laienpredigers auch dort anerkennt, wo Ihr nicht ganz seine Überzeugungen teilt. Vielleicht aber klingen die Worte auch dann in Eueren Seelen weiter, und es ist nicht unmöglich, daß Ihr später noch manchem beipflichtet, was Ihr jetzt nicht für zutreffend anseht.

Was ich nun jetzt behandeln will, wird kaum einen von Euch unmittelbar treffen. Aber ein holländisches Sprüchwort sagt, niemand habe so weisen Sinn, daß nicht ein kleiner Geck in ihm stecke. So dürftet Ihr vielleicht Spuren jener Thorheiten in Euch entdecken, die ich behandeln will, oder auf andere einwirken können, in denen sie zur Blüte sich entfaltet haben.

Jede Zeit hat ihr Gigrltum, weil jede Moden hat. Gigrln der verschiedensten Gattungen hat es schon im alten Athen und Rom gegeben; sie sind in Egypten zu finden gewesen und meiner Überzeugung nach immer und überall eine unvermeidliche Erscheinung. Wenn ich dem Darwinismus zustimmte, was nicht der Fall ist, trotzdem ich eine Entwickelung anerkenne, so möchte ich sagen: das Gigrltum ist schon bei den Tieren zu finden, bei Hunden und bei Hähnen. Vielleicht sogar im Protoplasma. Man könnte ja Professor Haeckel darüber befragen, der es sicher weiß.

Ehe man über etwas spricht, ist es ratsam, den Begriff festzustellen.

Gewöhnlich nennt man nur jene Gecken »Gigrln«, die durch äußere Übertreibung bestimmter Moden in Tracht, Benehmen und Sprache Aufsehen zu erregen suchen. Ist's Mode zu näseln, so grunzen sie; trägt man hellbraune Handschuhe, so gebrauchen sie schreiend rotbraune; kämmt man die Haare der Stirne zu, so lassen sie die Locken bis zu den Augenbraunen hängen; ist's Mode langsam, etwas vorgebeugt zu gehen, so schleichen sie, ganz in sich zusammengesunken wie Mummelgreise, selbst wenn es sie anstrengt. Kurz: das Gigrl übertreibt.

Es will aber dadurch auch Aufsehen erregen, will als etwas Besonderes betrachtet sein, es will scheinen. So kann man also den Begriff im Allgemeinen so fassen: Gigrltum ist das Bestreben, durch Übertreibungen etwas zu scheinen.

Die Arten des gewöhnlichen Gigrltums sind ziemlich reich. Am tiefsten steht das Modegigrl. Es ist nicht immer so blödsinnig, wie es aussieht. Halbwüchsige Jünglinge, die noch kein festes Ziel für ihre Zukunft im Auge haben, sind oft selbst bei thatsächlicher geistiger Begabung sehr leicht geneigt, sich einige Zeit in Äußerlichkeiten zu verlieren. Ist es Mode, jugendlich elastisch zu gehen mit lächelndem Munde und blitzenden Augen, so werden sie tanzend dahinschreiten, und ist's Mode, alt zu scheinen, so werden sie greisenhaft schlurfen, als hätten sie Blei in den Füßen. Trägt man dünne Spazierstöcke, so werden sie die dünnsten wählen, wenn dicke, so werden sie Knüppel tragen. Hat sich die Mode für lange Röcke entschieden, so wird das Gigrl die Schöße schleppen lassen, wenn für kurze, wird es sie an den Hüften enden lassen. Aber auch im Benehmen wird es die Mode übertreiben. Verlangt diese eine süßliche blumenreiche Sprache, wird das Gigrl Zucker sein und die ganze Botanik zu Hilfe rufen; fordert sie einen lässigen, gelangweilten Ton, wird es jede Silbe unter Gähnen herauspressen. Solchem Gigrltum haben sogar ungemein geistreiche Menschen zu verschiedenen Zeiten gehuldigt.

Im Grunde ist dieses Gigrltum, so unleidlich und lächerlich es oft ist, das harmloseste, so lang es rein äußerlich bleibt. Aber die Gefahr liegt vor, daß die Überschätzung der Äußerlichkeiten, durch den Verkehr mit zweifelhaften Menschen vermehrt, sich in das Innere einschleicht und dann Frivolität, Genußsucht, Verschwendung groß zieht, und diese unter Umständen zu verbrecherischen Handlungen verleiten können. Vernünftige Eltern und Erzieher können über einzelne Zeichen vom Gigrltum ruhig lächelnd hinwegsehen, aber sie sollen entschieden Einhalt gebieten, wenn es über harmlose Einzelheiten hinausgeht. Am besten gegen jedes Gigrltum wirkt eine Erziehung, die vom Anbeginn auf die Entwickelung schlichter Natürlichkeit und guten Geschmacks hinarbeitet und darauf aufmerksam macht, daß jede Übertreibung im Grunde unfein und ungebildet erscheinen läßt.

Sehr verbreitet hat sich im letzten Jahrzehnt das Sportgigrltum.

Ich selbst bin großer Freund körperlicher Bewegung und wünschte, daß die Kräftigung der Glieder viel früher begänne, auf den Schulen viel mehr beachtet würde und im Leben höhere Würdigung genösse, als es heute bei uns der Fall ist. Hauptsächlich die Kopfarbeiter vernachlässigen das Muskelleben in einer oft unverantwortlichen Weise und sind oft schon am Ausgang der Zwanzigerjahre ohne Schnellkraft, ungewandt und so bequem, daß sie nicht einmal regelmäßige Spaziergänge unternehmen mögen. Mancher junger Mann wird durch das Freiwilligenjahr für einige Zeit aus dem Sichgehenlassen herausgerissen, um sofort, wenn die Pflicht erfüllt ist, in den alten Schlendrian zurückzufallen. Der Sport der Engländer und Angloamerikaner züchtet manche häßliche Roheit, aber diese läßt sich vermeiden, wenn man die Vorbilder als Anregung benutzt, ohne sie einfach nachzuahmen. Lange haben die geistig höheren Schichten das Segeln, Eisschuhlaufen, ja selbst das deutsche Turnen sehr vernachlässigt und erst seit kurzer Zeit beginnen sie ihnen wieder Teilnahme zuzuwenden. Manche Krankheitserscheinung im geistigen Leben der Gegenwart ist unmittelbar darauf zurückzuführen, daß man die Nerven überangestrengt und die Muskeln vernachlässigt hat. Wenn auch das Wort der Alten: ›Ein gesunder Geist im gesunden Körper‹, nur innerhalb bestimmter Grenzen wahr ist, so ist es eben doch wahr in ihnen. Darum sollen Eltern, Erzieher und Lehrer nicht nur die Kinder oder Zöglinge durch kräftigende Übungen stählen, sondern auch, so weit und wie es geht, sich selber kräftig und gewandt erhalten. Es lassen sich dann auch geistige Lasten leichter ertragen. Die verwendete Zeit wird durch doppelte Frische ersetzt.

Ein anderes nun ists mit dem Sportgigrltum, daß sich seit einigen Jahren besonders in den Großstädten sehr bemerkbar macht. Vom Rennsport will ich nicht sprechen, da die damit verbundenen Kosten ihn nur für einen sehr kleinen Kreis gefährlich machen. Anders steht es um den Tretrad- und den Segel- und Rudersport, obwohl auch diese nicht geringe Kosten verursachen.

In Anlehnung an sie hat sich ein Gigrltum entwickelt, das auf die Jugend des wohlhabenden Mittelstandes und der Handels- und Börsenkreise einen nicht immer günstigen Einfluß ausübt. Die Freude an der besonderen Tracht, die an sich schon von der Menge unterscheidet, lockt viele, denen es um die Sache nicht einmal viel zu thun ist. Es giebt sogar Radfahrer ohne Rad und Ruderer ohne Boot, die sich aber im Anzuge ganz besonders gut gefallen und ihn auch dort mit Selbstgefühl tragen, wo er gar nicht hingehört. Sie wollen »scheinen«, was in großen Städten leichter gelingt, da der Einzelne doch nur einem kleinen Kreise persönlich bekannt ist. – Den Übungen wird oft eine Zeit geopfert, die mit dem Zwecke der Körperkräftigung im Mißverhältnis steht, und die ernsten Lebenspflichten in den Hintergrund drängt. In Verbindung mit dem Sport entwickeln sich häufig Gewohnheiten, die der gesunden Ausbildung des Geistes zuwiderlaufen, die Freude an kindischen Äußerlichkeiten, Kneipereien und geschlechtliche Ausschweifungen. In Großstädten spielen dann in gar manchen dieser Vereine schlecht erzogene Söhne reicher und vernunftloser Eltern die erste Geige und verführen weniger bemittelte Genossen zu Ausgaben aller Art.

Es giebt noch eine zweite Gattung von Gigrln, die in mehrere Spielarten zerfällt: es ist die der geistigen Gigrln.

Unter ihnen nehmen Gemütsgigrln die erste Stelle ein. Wie das Modegigrl mit einem roten Frack und langen Spitzschuhen zu glänzen sucht, so jene mit »Gemüt«. Stets haben sie das Herz am unrechten Orte, d. h. auf der Zunge. Sie lächeln immer so gutmütig, so teilnehmend, daß schon der Anblick ihres Gesichtes Vertrauen einflößt; ihre Stimme schmiegt sich jedem an, wie feines Wildleder einer weichen Frauenhand. Bei jeder Gelegenheit deuten sie geschickt Rührung an, mit einer gewissen Beherrschung, als müßten sie die Flutwelle des Gefühls zurückhalten. Und wie warm erst ihr Händedruck, wie innig ihr Blick! Mit rührender Bescheidenheit stellen sie ihre Meinung stets gegen die anderer zurück und wissen dabei so unmerklich zu schmeicheln, daß man alles glaubt, ohne zu ahnen, wie das Gemütsgigrl innerlich spottet und höhnt. Denn alle Wärme und Zuthunlichkeit ist erlogen – innerlich sind sie unter uns Männern etwas ähnliches, wie unter Frauen die sogenannten »kalten Hundeschnauzen« – der Ausdruck ist nicht schön, aber er genießt heute das Bürgerrecht auch in der Sprache der Gesellschaft, die sich »exklusiv« nennt, weil sie meistens Wissen und tiefes Gemüt ausschließt.

Das Gemütsgigrl ist in verschiedenen Schichten zu finden. Es neigt zu Fettansatz, hat meist eine gutmütige runde Nase und hält den Kopf beim Zuhören gewöhnlich zur Seite.

Minder gefährlich aber, meist sehr unausstehlich ist die Art der Wissensgigrln. Sie neigen sehr oft zur Magerkeit, haben rasche Bewegungen, tragen den Kopf hoch und zeigen um den Mund den Zug der Ironie. Sie wissen alles; jedes Urteil geben sie in bestimmten Aussagesätzen von sich. Die Umschreibungen mit »dürfte«, »könnte« fehlen ihrem Stil, die Ausdrücke »möglicherweise«, »vielleicht« ihrem Wortvorrat. Wagt man einen Einwand, dann kneifen sie die Augen zusammen, lächeln überlegen und sehen den Gegner mit einem Blicke an, der ihn in Verwirrung setzt. Am liebsten unterhalten sie sich mit Laien und solchen Frauen, die nichts einzuwenden wissen. Gereizt werden sie boshaft.

Sehr verbreitet sind die im Leben meistens sehr harmlosen Begeisterungsgigrln. Sie schwärmen für Bildhauerei, Baukunst, Malerei, Poesie, Schauspielkunst und Musik, verstehen aber von allem zumeist gar nichts; sie unterscheiden mit Mühe griechische Stilarten von der Gothik; Rembrandt von Rubens oder Dürer; oder Dur von Moll. Aber sie sind unglaublich begeistert, sprechen fast nur in der dritten Vergleichsstufe, machen glänzende Augen, schweigen ungern und mit halboffenem Munde, gehen rasch und haben sehr gesunde Eßlust. Sind sie reich, so lassen sie sich gern von Berühmtheiten anpumpen und werden Mäcen.

Eine Art verdanken wir erst den letzten Jahren: es ist die der » Décadencegigrln«. Das Beiwort hat eine lange Ahnenreihe, die durchaus französischen Ursprungs ist. Das » pli« zeugte den » chic«; chic zeugte vlan; vlan zeugte pschutt; pschutt zeugte fin de siècle; und fin de siècle zeugte décadence. Die Wortreihe giebt in Kurzschrift einen großen Teil der französischen Geistesgeschichte der Jahrzehnte seit dem Staatsstreiche.

Décadence-Verfall. Eine halb verfaulte Gesellschaft, körperlich und sittlich um alles gesunde Empfinden betrogen, hat im Bewußtsein der Erschöpfung den Ausdruck auf sich gedeutet. Sie riecht die eigene Verwesung; der ekelhafte Mißduft strömt ihr entgegen aus den Falten eines Weiberkleides, aus einem verrückten Hut, aus bestimmten Körperbewegungen; sie fühlt ihn in den Worten der Schriftsteller, dem Strich des Zeichners, in den Farben eines Gemäldes und den Flächen eines Bildwerks – sie hat ihn überall eingeatmet, wo sich das Leben von » tout Paris« abspielt. Wohl weiß sie, daß es Duft der Verwesung ist, aber sie zieht ihn doch in sich, von Genußgier durchzittert und doch genußmüde. Cynisch spottet sie der Abstumpfung und giert dennoch, nachdem alle Quellen natürlichen Genusses erschöpft sind, nach neuen »Sensationen«, um der tätlichen Langweile zu entgehen. Und diese Gesellschaft ist witzig, in ihrer Art geistreich, überverfeinert im Geschmack, ironisch bis zur vollständigen Selbstzersetzung, glaubenslos und doch dem krankhaft Mystischen sich genügend, weil es in ungewohnten Schauern Genuß zu versprechen scheint; oft äußerlich anmutig und glänzend. Aber alle diese Männer und Weiber, ob geistsprühend oder genußverblödet, von vornehmer Geburt oder Emporkömmlinge, gebildet oder unwissend, sie alle sind innerlich mehr oder minder ausgehöhlt, verlebt, vergiftet bis ins Mark, wie einst die lächelnden vornehmen Darsteller der Tragikomödie des hinsterbenden » ancien régime«. Ihre Lustigkeit ist Totentanz einer dem Untergang geweihten Gesellschaftsschicht.

Daß auch bei uns Kreise vorhanden sind, in denen die Verseuchung bis in die Knochen vorgedrungen ist, kann niemand leugnen, der neben scharfen Augen den Mut der Wahrheit besitzt. Einzelne Lebemenschen hat es stets in allen Kreisen gegeben und wird es immer geben. Aber eine Lebewelt im weltstädtischen Sinne hat sich erst nach 1870, vornehmlich in Berlin entwickelt. Die Nährmutter war jener Dämon des Schwindels, der die Gründerjahre gezeitigt hat, die Gier nach mühlosem Gewinn ins Maßlose steigerte und aus ihr den unersättlichen Durst nach aufregenden Genüssen hervorgehen ließ. Seine Hochburg hatte dieser verderbenbringende Dämon in den Börsenkreisen, aber freiwillige Gefolgschaft fand er überall. Er benutzte eine sittlich abgestumpfte Presse für seinen Zweck; zog Schriftsteller, Maler und Bildhauer in seinen Dienst; für ihn wirkten Schauspielhäuser, in denen man die frechsten Stücke voll offener Schamlosigkeit bejubelte: nicht nur Männer, nein, auch Frauen und Mädchen, die es bald für kleinlich hielten, zu erröten. Und während eben auf den die Halbwelt bedeutenden Brettern alles reine Empfinden mit Füßen getreten wurde, begegneten sich im Zuschauerraum verständnisinnige Blicke ein Widerspiel des »Lebens« dort oben: Décadence.

Eine Menge einfach schamloser Bücher französischer Schriftsteller, manche mit Bildern gleicher Art ›geschmückt‹, wurde bei uns verschlungen, im Geheimen oder offen, von Frauen und Männern, von halbwüchsigen Mädchen und Knaben, deren Einbildungskraft das Gift in sich aufnahm und zu geheimen Sünden verführte, die den Kern der Gesundheit schädigen.

Aber selbst Dichter von echter Anlage wurden von der krankhaften geschlechtlichen Erregung ergriffen; sogar das, was sie als warnendes Bild hinstellten, konnte so nur aufreizend wirken. Andere aber, auch bei uns, verstanden sich auf ihren Vorteil, sprachen vielleicht so nebenbei von »neuen Bahnen«, von »Wahrheit« und »Natur«, um mit scheinbarem Rechte nicht das Nackte, denn das kann keusch sein, sondern das mit Berechnung Entblößte zum Hauptstoffe der Darstellung zu machen. Es giebt kaum eine Verirrung geschlechtlichen Wahnsinns, die nicht ihren Schilderer gefunden hätte.

Es ist der Fluch des Niedergangs einer Gesellschaftsschicht, daß die Verrohung sich vornehmlich auf geschlechtlichem Gebiete offenbart. So war es im Altertum, so ist es auch heute. Wer die verhüllenden Schleier vom Gesellschaftsleben entfernt, der kann wahrnehmen, daß diese Verderbtheit der Sitten die mächtigste der auflösenden Kräfte ist, daß sich von ihr aus das Gift nach allen Richtungen verpflanzt. Dann wird das entartete Weib als Geschlechtswesen die Gottesgeißel, und verkörpert in sich den Dämon der Zeit und macht Tausende von Männern zu ehrlosen Knechten des Naturtriebs. Der lauert dann als Einbläser hinter Verbrechen mancher Art; er ist die verborgene Ursache von Betrügereien, Unterschlagungen, von Beugung des Rechts, Beraubung des Staats; er vernichtet den Frieden des Hauses; er verunreinigt Kunst und Dichtung; er ist der versteckte Prediger von Wahngedanken, die den Bund der Ehe als verrotteten Rest einer abgestorbenen Zeit zu Gunsten der »freien Liebe«, d. h. der tierischen Geschlechtswahl vernichten möchten. Fast alles, was man in dem Worte » décadence« zusammenfaßt, wurzelt im kranken, übererregten und darum trotz des Sinnenfiebers erschöpften Geschlechtsleben.

Dieser Vorgang ist nun in Frankreich im Allgemeinen viel weiter vorgeschritten, als bei uns. Gewisse Zeichen, so das sich stetig ausbreitende Einkindsystem, treten dort schon in den unteren Schichten hervor, und herrschen fast unbeschränkt in den reichen und vornehmen Ständen. Bei uns sind noch größere Schichten von der Verderbtheit frei, wenn auch das Übel leider in den großen Städten sich sehr verbreitet hat und von ihnen aus nach den kleineren und auf das Land zu wirken beginnt.

Frankreich, Paris vor allem, hat nun unter den Männern echte Décadents gezeitigt. Sie sind mehr oder minder »fertig«. Sie haben nichts mehr, woran sie glauben; sie haben sich körperlich verbraucht und geistig zerfasert. Wie ihre Vorfahren vor der »großen« Revolution, beneiden sie die Bäume, »denn diese können sich nicht langweilen«. Aber bei ihnen ist die Langweile trotz aller Mattheit der Seele, ein quälender Hunger geworden – und sie tasten nach allem, was noch eine neue Scheinerregung der Sinne in der Phantasie hervorbringen kann. Sie möchten sich martern, um nur zu empfinden; sie, versunken in Materialismus, suchen die Mystik, obwohl die Vorhalle zu deren Tempel nur den Reinen aufnimmt –; sie träumen wieder Gott, obwohl sie gottlos sind, nur um neue »Sensationen« empfinden zu können.

Nun sind wir groß im Nachahmen. Sicherlich giebt es bei uns auch einzelne echte Verfallzeitmenschen. Aber noch sind sie eben nur vereinzelt. Dagegen wird häufiger das »Décadencegigrl«, dieser Urenkel der falschen Byronisten und Weltschmerzler vom Anfang des Jahrhunderts. Es giebt sich den Anschein, als habe es das Ei der irdischen Genüsse schon längst ausgeschlürft; als wandele es nun ungerührt und unberührt von allem durch die Welt. Es zwingt sich zuweilen ein Lächeln matter Ironie um die Lippen, sonst aber macht es ein gleichgiltiges, zum Sterben gelangweiltes Gesicht. Es verachtete gern die Weiber – denn es kennt alle, alle auswendig; es verachtete sie, wenn es nicht Mühe machte zu verachten. Es hat viel in vielen Büchern herumgeblättert und bildet sich nun ein, daß alles wertlos sei; es wehrt aber dennoch ab, wenn man ihn pessimistisch nennt, denn auch den Pessimismus findet er unsinnig wie schließlich alles.

Hat das Décadencegigrl das Geld dazu, so kleidet er sich sehr modisch, geht, das Haupt gebeugt, mit schlurfenden Schritten einher; das Haar trägt er gerne in die Stirne gekämmt. Ist es arm, so vernachlässigt es sich und läßt die Haare lang wachsen.

Wenn man nun dieses Geschöpf – sein Alter schwankt zwischen 20 und 25 Jahren – genau untersucht, so ist die ganze zur Schau getragene »Décadence« bloßes Spiel, hervorgegangen aus der Sucht, durch Übertreibungen Aufsehen zu erregen. Oft ist »der Mann, der alles schon genossen hat«, ein leidlich unverdorbener, guter Junge, in dem noch sehr viel Kinderei steckt, daneben aber ebensoviel Eitelkeit. Wie harmlos aber das »Décadencegigrl« im Allgemeinen auch ist, so liegt doch in dem Spiele manche Gefahr. Erstlich schädigt es, wie jedes Scheinwesen mit der Zeit den Kern der Persönlichkeit, andererseits kann sich das Spiel auch zur Wahrheit wandeln und auf andere verderblich wirken, die den Schein als Ernst nehmen und sich von ihm innerlich bestimmen lassen.

Auch auf diesem Gebiete zeigt sich die Macht der Phrase, des fliegenden Wortes. Je mehr von einer Sache geredet und geschrieben wird, desto mehr gewinnt sie an Einfluß. Sie tritt aus dem Lande der Vorstellung in die sogenannte Wirklichkeit hinaus und beeinflußt nun wieder die Vorstellungen unfertiger Menschen. An einen sehr kleinen Wahrheitskern schließen sich verwandte und unverwandte Begriffe an; das öffentliche Bewußtsein scheidet ja zwischen beiden sehr selten, denn da müßte das große »Man« denken, und man denkt nicht gern. Heute giebt es nun Hunderttausende, ja Millionen, denen sehr viel daran liegt, daß der Glaube an den Verfall alles Bestehenden sich ausbreite, und so Platz geschafft werde für die Wahngebilde des Zukunftstaates. Sie rechnen ganz klug: wenn alle überzeugt sind, daß alles Überlieferte vernunftwidrig sei, so werden sie den Druck des Bestehenden nicht ertragen wollen und zuletzt »reif« werden für unsere Anschauungen.

Wir – ich spreche den Namen jener Tausende, die sehr gut wissen, daß vieles Alte abgestorben ist, aber ebenso, daß vieles Alte lebendige Kraft in sich birgt – wir sehen vollkommen ein, daß auch in unserem Vaterlande gar manches faul ist, aber ebenso fest überzeugt sind wir, daß das Gerede von allgemeiner Décadence – eine »konventionelle Lüge« ist, die ihren Mann nährt, der mit spielendem Geiste darüber wissenschaftlich schwätzt. Aber weil solcher falscher Geist gerade auf die Jugend leicht Einfluß gewinnt, müssen wir Männer ihn überall, wo wir ihn treffen, bekämpfen. Schon dieser frische Kampf wird beweisen, daß wir uns nicht als Décadents fühlen, sondern im Besitze frischer Kraft, deren Quellen aus allem sprudeln, was noch deutsches Wesen in sich enthält.

In manchem verwandt mit dem Décadencegigrl ist der Streber.

Streben soll der Mensch, so lange er auf Erden lebt. Durch Vertiefung in sein eigenstes Wesen soll er sein Selbst zu erkennen ringen, soll sein Bestes auszugestalten suchen und es in Thaten ausprägen, die Geltung haben in der sittlichen Welt. Er soll seine Gaben durch ernste Arbeit ausbilden, sie nützen für den Kreis, in den er gestellt ist. Wer nicht so strebt, wirft sich selber zu den Toten.

Echtes Streben bezieht sich nicht überall und stets auf das Ich, das seiner Natur nach nur sich, den eigenen Nutzen will – das Strebern aber ist in der Ichsucht begründet und beschlossen. Echtes Streben denkt oft gar nicht an äußere Anerkennung, an Zeichen der Ehre, an das Steigen und Fortkommen, es findet in der Möglichkeit streben zu dürfen, Lohn und Befriedigung; es ist nicht selten beglückt, anderen gedient zu haben, auch wenn es für sich nur ein bescheidenes Dasein gewinnt.

Der Streber dagegen denkt stets nur an den Vorteil des Ichs; stets überlegt er alle Umstände, die ihn fördern können; er dient der Sache, dem Gedanken nur, wenn er damit sich dienen kann; er setzt sein Wissen, seine Begabung, die auch groß sein kann, nur dann ein, wenn er den Erfolg vorher berechnet zu haben glaubt. Das Wohl anderer ist ihm innerlich ganz gleichgültig, wenn es ihn nicht weiter vorwärts bringt; er kennt innere Befriedigung nicht, wenn er nicht äußere Ehre und äußeren Erfolg findet.

Und während das echte Streben meist mit zartem, oft vielleicht peinlich genauem Gewissen verbunden ist, zeichnet sich der Streber durch Rücksichtlosigkeit und durch Geschmeidigkeit aus, wo es auf diese ankommt.

Da er beobachtet sein, sich über andere erheben will, muß er sein Können und Wissen stets in bestes Licht setzen und – vergrößern. So wird ihm das Scheinen zum Beruf und darum die halbe Lüge, die Übertreibung zur Gewohnheit. Diese Züge sind es, in denen die Verwandtschaft mit dem Gigrl wurzelt. Sehr oft wird der Streber auch äußerlich zum Gigrl, nicht aus Unreife, sondern aus Berechnung, wenn er glaubt, dadurch seinen Vorgesetzten und deren Frauen und Töchtern zu gefallen. Wie er fast jede Rolle darzustellen weiß, die ihm Erfolg verspricht.

Gigrltum und Streberei sind beide gleich unwürdig des echten Mannes, in welcher Form immer sie auftreten mögen. Sie widersprechen auch dem Kerne des deutschen Wesens, sind eingeführte Waare; darum laßt uns diese beiden Feinde gesunden Mannessinns bekämpfen, wo immer wir sie finden mögen.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch Eins erwähnen. Wenn ich auch das äußere Gigrltum bekämpfe, so verwerfe ich noch nicht das Bestreben in Kleidung und Auftreten sich guten Geschmacks zu befleißigen. Der Deutsche vernachlässigt sich auch heute noch sehr gerne und glaubt, unnatürlich zu werden, wenn er fein ist. Aber Feinheit und Natur lassen sich auch vereinigen; man kann ungezwungen sein, ohne plump zu werden und kann aus dem Herzen heraus eine Feinheit des geselligen Verkehrs entwickeln, die von Heuchelei vollständig frei ist und niemals unmännlich wird.


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