Leo Leipziger
Die neuen Linden
Leo Leipziger

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X.
Gegenüber.

Edith sprach im Wagen kein Wort. Sie sah zum Fenster hinaus, um nicht den Blicken Fifis oder ihres Bruders zu begegnen. Als Franz sie teilnahmsvoll fragte, ob sie sich nicht wohl fühle, meinte sie, der Wein wäre ihr nicht gut bekommen, und sie bäte um Entschuldigung. Mechanisch drückte sie den beiden die Hände, als sie zu Hause angelangt war; mechanisch ging 90 sie die Treppe hinauf und sank in ihrem Zimmer auf einem Stuhl zusammen. Sie bedeckte ihr Antlitz mit den Händen und konnte das Entsetzliche nicht fassen. Alles . . . ihr ganzes Leben, ihre Hoffnungen und ihre Wünsche, alles war in wenigen Augenblicken zusammengebrochen. Ihre Seele glich einem blühenden Rosengarten, den plötzlich ein kalter Hagelschlag vernichtet. Empörung und Verzweiflung kämpften in ihrem Herzen. Verachtung trug die große Liebe, die einzige Leidenschaft ihres Lebens, traurig zu Grabe.

Sie empfand das demütigende Gefühl der Erniedrigung. Von ihrer eigenen Schwägerin und von dem Mann, an dem ihr Herz gehangen hatte, war sie nur als Deckmantel benutzt worden für das eigene Verbrechen. Ohne es zu ahnen, war sie die Kupplerin gewesen. Man hatte sie überallhin mitgenommen, um der Welt ein Schnippchen zu schlagen und sich selbst die Sünde bequemer zu machen. Nicht nur sie war das Opfer, sondern auch ihr Bruder und – seine Kinder.

Edith liebte die Kleinen über alles. Fifi hatte ja niemals Zeit, sich um sie zu kümmern, und so war Edith es gewesen, die so manchen Abend, wenn Franz mit seiner Gattin im Theater oder in Gesellschaft war, bei ihnen zugebracht hatte. 91 Dem Gedanken an die Kinder verdankte sie in diesen schweren und traurigen Stunden das erste Gefühl des Mitleids. Vielleicht hatte sie sich doch getäuscht. Das Benehmen der beiden war ja verdächtig gewesen, aber immerhin lieferte es noch keinen überzeugenden Beweis von ihrer Schuld. Die Bewegungen, die sie wahrgenommen hatte, konnten am Ende doch vielleicht eine ganz harmlose Auslegung erfahren. Vielleicht waren es ganz unschuldige Dinge, die Fifi dem Referendar ins Ohr geraunt hatte. Und in dieser Stunde der höchsten Not klammerte sich Edith an diese Idee. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren. . . . Aber diese Blicke! . . .

Dieses gierige Verlangen, das aus den trunkenen Augen sprach und ihr jungfräuliches Schamgefühl in der brutalsten Weise verletzt hatte! . . . Dieses freche Zurschautragen der widerwärtigsten Sinnlichkeit! . . .

Auch hier fand ihr Herz, in dem die Flamme der Liebe doch noch emporflackerte, einen Entschuldigungsgrund. Fritz war eben seiner Sinne nicht mehr mächtig gewesen. Er hatte dem Wein zu hastig zugesprochen. Sein Benehmen war unbegreiflich, aber vielleicht erklärlich. . . .

So wurde sie allmählich ruhiger, sie sammelte ihre Gedanken und entwarf einen Plan nach dem anderen, wie sie der Wahrheit auf den Grund 92 kommen und dem letzten Vermächtnis ihrer seligen Mutter gerecht werden könnte. Darüber schlief sie ein. . . .

Als es am anderen Morgen an ihre Tür klopfte, fand sie sich noch in den Kleidern auf dem Stuhl sitzend, wie an dem Abend vorher. Erschrocken fuhr sie empor, strich sich mit der Hand über die Stirn, und es dauerte geraume Zeit, bis sie sich vollständig in die Wirklichkeit zurückversetzte.

Sie machte Toilette und ließ sich das Frühstück auf das Zimmer bringen. Von neuem begannen die quälenden Gedanken. Endlich reifte in ihr der Entschluß, zu Richard zu gehen und furchtlos die ganze Situation mit ihm zu besprechen. Dagegen sträubte sich aber bald ihr weibliches Zartgefühl. Hätte sich der Rechtsanwalt nicht als Liebender entpuppt, dann hätte sie ihre Absicht vielleicht ausgeführt, aber so – unmöglich! Wie hätte sie in Ruhe und Sachlichkeit mit Richard ein Thema behandeln können, bei dem immerhin ihre Liebe zur Sprache kommen mußte. Sie wußte weder ein noch aus. . . .

Da klopfte es, und die Kammerjungfer brachte ihr einen Brief, den ein Messengerboy soeben abgegeben hatte. Sie erkannte Fritzens Schrift und zerriß hastig das Kuvert. . . . 93

Verehrtes gnädiges Fräulein!

Die Pflicht ruft mich soeben nach dem Gericht, wo ich heute Protokoll zu führen habe. Sie können sich denken, daß mir die Erfüllung meines Berufs ziemlich schwer fallen wird. Nach dem wüsten Abend drängt es mich, Sie für mein Benehmen um Verzeihung zu bitten. Es ist mir allerdings ziemlich schleierhaft, was ich begangen habe, aber ich habe so das instinktive Gefühl, als ob Fritz wieder mal recht direktionslos gewesen sei. Heute abend fahre ich zu dem Stiftungsfest meines Korps, und so bleibt mir nichts anderes übrig, als auf diesem Wege um Ihre Gnade zu flehen.

Ihr ergebener Dr. Fritz Arndt.

Der saloppe und frivole Ton dieser Epistel erregte bei ihr nur Ekel und Abscheu. Sie ließ das Schreiben auf die Erde gleiten und stieß es mit dem Fuß fort.

In demselben Augenblick wurde sie ans Telephon gebeten. Es war Fifi, die ihre Schwägerin anrief und sich nach deren Befinden erkundigte. Bei dieser Gelegenheit teilte sie ihr mit, daß auch ihr der Abend sehr schlecht bekommen sei, daß sie nur einen Augenblick aufstehe, um ihr dies mitzuteilen, und den ganzen Tag das Bett zu hüten gedenke.

94 Nachdenklich begab sich Edith wieder auf ihr Zimmer und schloß die Tür ab, um endlich ungestört ihren Gedanken nachgehen zu können.

Ihr halb eingeschlafenes Mißtrauen war wieder erwacht. Der Verdacht regte sich sogar stärker. Fifi war es sonst nie eingefallen, in ähnlichen Situationen an ihre Schwägerin zu telephonieren. Das war also die Angst des schlechten Gewissens, und vielleicht noch mehr: Die verbrecherische Absicht, das abends zuvor besprochene Rendezvous doch einzuhalten und bei Edith den Glauben zu erwecken, als ob sie als müde und kranke Frau gesonnen sei, den ganzen Tag zu Hause der Ruhe zu pflegen. Mit diesem fein ausgedachten Plan stimmte auch Fritzens Brief merkwürdig genau überein. Auch er wollte durch seine Zeilen die Vermutung hervorrufen, daß er den ganzen Tag auf dem Gericht beschäftigt sei und abends verreisen müsse, so daß ihm für eine Zusammenkunft mit Frau Fifi unmöglich Zeit hätte bleiben können.

Zorn und Rache flammten in ihrem Herzen auf. Alles andere war vergessen, alle weicheren Regungen geschwunden. Sie durchschaute die beiden; sie wollte nicht länger mehr das Spiel ihrer sündigen Launen sein. Ruhe und Entschlossenheit gewannen in ihrer Seele die Oberhand. Fest und klar faßte sie ihre Entschlüsse, 95 und mit männlicher Energie ging sie an die Ausführung.

Bei Herrn Geheimen Kommerzienrat Gleiwitzer wurde um Eins geluncht und um Sieben diniert. Der Geheimrat war bereits ausgefahren, und sie ließ für ihn eine Zeile zurück, daß sie in der Stadt zu tun hätte, und daher nicht zum zweiten Frühstück erscheinen könnte. Das kam häufiger vor und fiel nicht weiter auf.

Dann verließ sie das Haus und bog in die Passauer Straße ein.

Sie kannte die Wohnung, in der Fritz hauste; das heißt, der Lage und der Etage nach. Oft genug, wenn sie gemeinschaftlich vorübergingen, hatte er Witzchen über seine »Bude« und seine aimable Wirtin gemacht. Sie sandte ihre Blicke empor. Die beiden Fenster seines Zimmers waren noch dicht verhängt.

»Die erste Lüge!« murmelte sie vor sich hin. »Auf dem Gericht scheint der Herr Doktor ja nicht zu sein.« . . .

Die gegenüberliegenden Häuser machten auch keinen besonders herrschaftlichen Eindruck: In jedem der Gebäude vier bis fünf Pensionen, und zahlreiche Zettel an den Haustüren mit der markanten Inschrift: »Möblierte Zimmer auf Tage, Wochen und Monate.«

96 Gerade vis-à-vis von Fritz bot sich nach dieser Richtung hin reichliche Auswahl. Edith trat in das Haus. Ein muffiger Geruch im Flur, auf der Treppe ein abgetretener Läufer, der einst rot gewesen war, an den Türen neben dem Messingschild des Mieters zahlreiche mit Reißnägeln befestigte Visitenkarten. Im ersten Stock machte Edith halt. »Krampert« lautete der Name unter der Klingel. Edith drückte auf den Knopf, aber sie mußte dies öfter wiederholen, bis sich endlich schlürfende Tritte vernehmen ließen.

»Sie wünschen?« . . .

Der Korridor war so dunkel, daß Edith nur eine heisere weibliche Stimme vernehmen, Gesicht und Gestalt der Betreffenden aber nicht erkennen konnte.

»Ich komme wegen eines möblierten Zimmers,« versetzte Edith zaghaft.

»An einzelne Damen vermiete ick nich,« lautete die barsche Antwort, und schon wollte die Inhaberin der Wohnung die Tür zuschlagen, als Edith in liebenswürdigstem Tone hinzufügte:

»Es ist nicht für mich, sondern für meinen Bruder, einen Offizier, der hierher kommandiert ist.«

Die Stimme wurde etwas freundlicher:

»Dann kommen Se man rin!«

97 Aus der am Korridor gelegenen Küche drangen üble Gerüche, so daß Edith ganz schlecht wurde. Noch schlimmer ward ihr jedoch zumute, als sich eine fette, nasse Hand auf die ihrige legte:

»Hier jehts lang, Freilein!« . . .

Nun stand sie in einem Vorderzimmer, das nach der Straße hinausging, gerade der Wohnung von Fritz gegenüber. Jetzt konnte Fräulein Edith auch in Muße die Wirtin betrachten. Frau Krampert hätte als Zwillingsschwester des Fräulein Möwitz gelten können. Dieselbe heimtückische List und Verschlagenheit, dieselben widerlichen verlebten Züge. Mit Abscheu wandte sich Edith ab.

»Also for Ihren Bruder, einen Herrn Leitnant, suchen Sie das Zimmer?« begann Frau Krampert die Unterhaltung.

Edith zögerte einen Augenblick; aber da sie es nicht verstand, Komödie zu spielen, platzte sie mit der Wahrheit heraus.

»Hören Sie mal, Frau Krampert! . . . Ich brauche dieses Zimmer bis heute gegen Abend. Die Gründe brauche ich Ihnen nicht auseinanderzusetzen. Zu Ihrer Beruhigung will ich Ihnen jedoch mitteilen, daß ich ganz allein bleibe. . . . Ich trage mich auch«, fügte sie bitter lächelnd 98 hinzu, »nicht mit Selbstmordgedanken; meinetwegen können Sie die ganze Zeit die Tür auflassen. Wenn Sie einverstanden sind, gebe ich Ihnen hundert Mark.« . . .

Sie hielt der Frau Krampert einen blauen Schein hin.

Die Züge der Alten verklärten sich bei diesem Anblick.

»Aber jewiß, jnädiges Freilein!« stammelte sie überselig. »Das können Se allens haben. Ick werde Ihnen scheen heizen, daß Se nich kalte Füße kriegen. Un wenn Sie mit eine feine Tasse Bollion gedient ist . . .«

»Ich danke Ihnen,« entgegnete Edith abwehrend, denn bei dem Gedanken an die »Bollion« stieg ihr der üble Küchengeruch wieder in die Nase.

Frau Krampert war durch diese Ablehnung nicht weiter pikiert. Sie deutete auf einen Stuhl im Erker.

»Sehen Se, da setzen Se sich man hin. Da können Se de janze Straße übersehen, und de Jardinen sind so dick, daß Ihnen keener sieht. Eene kleene Liebessache wird ja da wohl mang sein,« sagte sie meckernd, indem sie ihre Triefaugen bewundernd über ihre Besucherin gleiten ließ.

99 Edith schwieg und sah nach dem gegenüberliegenden Haus, wo die roten Gardinen sich immer noch nicht bewegen wollten. Die schlaue Alte hatte den Blick aufgefangen.

»Aha!« grinste sie. »Natürlich wieder bei de Möwitzen! Bei der is immer was los! . . . So 'ne Herrn, wie die, hat aber auch keen Mensch in de janze Straße. Da is eener immer versoffener wie der andere, und der Krach jeht de janze Nacht. Eener is da drunter, der wohnt schon lange da, een Referendar – er hat furchtbar reiche Eltern – der kommt überhaupt nie nüchtern nach Hause . . .«

»Das interessiert mich alles nicht, Frau Krampert,« unterbrach sie Edith heftig.

Die Schamröte hatte ihr Gesicht dunkel gefärbt. Diesen Mann, von dem selbst eine Frau Krampert so verächtlich sprach, den hatte sie, Edith Gleiwitzer, mit der ganzen Kraft ihrer Seele geliebt. . . . Tränen traten ihr in die Augen. . . . Tränen der Wut und der Verzweiflung. . . .

Frau Krampert, die wohl eingesehen haben mochte, daß ihre Unterhaltungsgabe ihr hier nicht viel nützen würde, hatte sich mit dem Hundertmarkschein in der Hand heimlich und lautlos gedrückt.

Unverwandt starrte Edith nach den roten Gardinen, bis ihre Augen schmerzten. Es war 100 ihr, als ob Gestalten in blutigen Gewändern rastlos hin und her schwebten. Dann schloß sie die Lider, und wenn sie sie wieder aufschlug, war der Spuk vergangen.

Über Nacht war tiefer Schnee gefallen, und noch immer wirbelten weiße Stäubchen durch die Luft.

Die Minuten wurden ihr zu Stunden; von Zeit zu Zeit stand sie auf und durchwanderte das kahle und öde Gemach. . . .

Endlich, so um Eins, wurden drüben die Vorhänge zurückgezogen. Edith ging an ihren Beobachtungsposten. . . .

Aber es war nichts zu sehen, denn die gelben Stores verhinderten jeden Blick in das Innere. Gegen Zwei öffnete sich ein Fenster. Fritz erschien mit einer Zigarette im Mund. Das aufgedunsene Gesicht blickte blöde und gedankenlos hinaus. Ediths Herz krampfte sich zusammen. Sie erstickte ein Schluchzen in ihrem Taschentuch. . . .

Nach einer Weile wurde das Fenster wieder geschlossen. Die Zeit verfloß, ohne daß sie Gelegenheit gehabt hätte, irgend etwas Wichtiges zu entdecken.

Die Uhr zeigte auf halb Drei. Eine Marquise wurde drüben heruntergelassen. Das mußte 101 etwas zu bedeuten haben. Denn kein Sonnenstrahl leuchtete, und um das müde Tageslicht abzuwehren, hätte ja die rote Gardine vollständig genügt.

Kurze Zeit darauf verließ Fritz das Haus. Edith war überrascht. Ihre Blicke folgten ihm, und sie sah, wie er in die Augsburger Straße hineinbog.

Sollte ihr Vorgehen nutzlos gewesen sein? . . .

Und da fiel ihr plötzlich ein, daß das, was sie befürchtet hatte, doch eigentlich ganz unmöglich sei. Frau Krampert hatte doch selbst gesagt, daß noch mehrere Herren da drüben wohnten. Wie würde sich Fifi jemals der Möglichkeit ausgesetzt haben, wenn auch nur zufällig, auf der Treppe oder auf dem Flur mit anderen Mietern zusammenzutreffen? Und wenn Fritz wirklich ihr Geliebter war, so gab es in Berlin doch tausend andere Stätten für ein Rendezvous, als diese banale »Bude«, wie Fritz seine Wohnung selbst bezeichnete. Fifi war ja so verwöhnt – die brauchte doch für ihr Köpfchen einen seidenen Divan und für ihre Füßchen einen türkischen Teppich. Dieses verwöhnte Geschöpf in einem solchen Haus, in einem möblierten Zimmer bei Fräulein Möwitz! . . .

Edith stand so völlig unter dem Bann dieser Erleuchtung, daß sie schon im Begriff war, das 102 Feld zu räumen, als sie plötzlich den Referendar wieder um die Ecke biegen sah. Er ging langsam, blickte vorsichtig nach allen Seiten und schritt dann schnell in sein Haus. Einige Augenblicke darauf erschien er flüchtig am Fenster und ließ auch die zweite Marquise herab. . . .

Ediths Herz klopfte und hämmerte. Es war zehn Minuten nach Drei. Den heißen Kopf gegen die Gardine gedrückt, spähte sie hinab.

An der Ecke der Augsburger Straße hielt eine Droschke. Eine Dame stieg aus. Nach der Figur Fifi; aber im Äußeren gänzlich verändert. Ein schwarzer Filzhut mit grauen Federn, unter dem die goldenen Haare verräterisch hervorquollen, ein langer heller Mantel, den Edith an ihrer Schwägerin noch nie gesehen. Eiligen Schritts ging sie vorwärts, sich scheu umsehend, als ob sie sich vor Verfolgern sichern wollte. Gerade vor der Haustür drehte sie noch einmal den Kopf und sah empor. . . . Edith konnte ihr direkt ins Antlitz blicken . . . kein Zweifel . . . Fifi! . . .

»Se haben jewiß den janzen Tag noch nischt jejessen?« . . .

Das waren die Worte, die an Ediths Ohr tönten, als sie aus ihrer Bewußtlosigkeit erwachte. Verständnislos stierte sie der Sprecherin 103 ins Gesicht. Frau Krampert war es, die neben ihr stand und sich um sie bemühte.

»Na, Jott sei Dank!« meinte die Alte, als Edith die Augen aufschlug, »ick hatte schon Angst, Se hätten sich aus Jram wirklich das Leben jenommen, und dann hätte ick de Scherereien mit de Polizei jehabt. Jlooben Se man,« fuhr sie in mütterlichem Tone fort, »die Kerls sind alle nich wert, daß eene anständige Frauensperson sich ihretwegen ooch nur uffregt. Bande und Jesindel sind se, weiter nischt!« . . .

Während dieses Ergusses kam Edith allmählich zum Bewußtsein ihrer Situation. Sie warf einen verzweifelten Blick auf die Fenster, die durch die herabgelassenen Marquisen hermetisch von der Außenwelt abgeschlossen waren, und brach in ein krampfartiges Weinen aus, bei dem sogar die ehrlich gemeinten Tröstungen der Frau Krampert nicht verfangen wollten.

»Wie spät ist es?« fragte Edith schluchzend.

»Jleich sechsen.«

»Lassen Sie mich, bitte, noch eine halbe Stunde allein, Frau Krampert!«

Diesmal brauchte Edith nicht lange zu warten. Nur wenige Minuten, und Fifi verließ das Haus des Referendars. . . .

104 Edith erhob sich; ohne von Frau Krampert bemerkt und belästigt zu werden, öffnete sie leise die Korridortür und taumelte schwankend die Treppe hinab. . . .

Um sieben Uhr saß sie bei Tisch ihrem Vater gegenüber und plauderte so lebhaft, daß der alte Herr auch nicht die geringste Veränderung an ihr hätte bemerken können.

Sie hatte sich vorgenommen, nunmehr stark zu bleiben – bis ans Ende! In den wenigen Stunden hatte sie alles von sich abgestreift, was weich, milde und weiblich war – die Kraft des Gerechten war über sie gekommen. . . .

 


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