Leo Leipziger
Die neuen Linden
Leo Leipziger

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VI.
Im kleinen Kreis.

Fifi lebte wirklich zurückgezogen.

Die Kreise, um deren Gunst sie buhlte, pflegen in bezug auf Familientrauer sehr strengen Anschauungen zu huldigen. Diese Erwägung war daher für sie entscheidend. Desto lebhafter gestalteten sich jedoch die Abende im eigenen Heim. Fritz und Edith fehlten selten, und auch Richard wurde häufig hinzugezogen. Fritz, der den Rechtsanwalt Frau Fifi gegenüber unter vier Augen häufig als »begabten Judenjungen« bezeichnete, hatte im Grunde eine große Achtung vor der Art und Weise, wie Dr. Menkus seine Praxis ausübte. Bei Gericht hatte er ja selbst am besten Gelegenheit, wahrzunehmen, mit welcher Aufmerksamkeit die Richter den 49 Plaidoyers des Rechtsanwalts Dr. Richard Menkus folgten, wie sie die Akten, die sie sonst bei ähnlicher Gelegenheit durchzublättern beliebten, beiseite legten, um kein Wort seiner materiellen und rechtlichen Ausführungen zu verlieren. Und wenn sich dann das Kollegium ins Beratungszimmer zurückzog, wurde in allen Tonarten sein Lob gesungen, sein reiches Wissen, seine Gründlichkeit und seine Vornehmheit gerühmt. Das hinderte jedoch den Herrn Referendar nicht, über das Aussehen des Rechtsanwalts unpassende Bemerkungen in Hülle und Fülle zu machen. Er spottete über seinen gebückten Gang, über die schwarzen auf die Stirn herabfallenden Locken, über die gelbliche Aktenfarbe seines Teints. Vor allen Dingen waren ihm die Röllchen, die Dr. Menkus trug, ein Dorn im Auge. Aber das lag nun mal in seiner Natur.

Um den runden Tisch im Eßzimmer von Franz Gleiwitzer waren Fifi, Edith, der Hausherr und Fritz versammelt. Wie üblich, stand die Champagnerflasche im Kübel, denn andere Getränke wagte die Frau des Hauses ihrem Stammgast nicht anzubieten. Der fünfte Platz war noch leer; Richard hatte sein späteres Eintreffen mit dringenden Amtsgeschäften entschuldigt. Franz war übler Laune. Die Börse war flau gewesen; die Kurse paßten ihm nicht. 50 Fritz stand noch nicht genügend unter Alkohol, um Heiterkeit verbreiten zu können, und Edith und Fifi vermochten auch nicht gegen die ungemütliche Stimmung anzukämpfen.

»War Frau von Hofer heute bei dir?« fragte Franz seine Gattin. »Ich sah draußen in der Schale ihre Visitenkarte liegen.«

Frau Fifi nickte.

»Hast du sie empfangen?«

»Selbstverständlich. Hast du vielleicht etwas dagegen?« . . .

»Na,« meinte Franz begütigend, »vorgestern im Klub hat man viel über sie gesprochen. Man versteht nicht recht, wo der Luxus herkommt, den sie treibt; jedenfalls stehen die Einnahmen ihres Gatten im Mißverhältnis zu dem Glanz ihrer Toiletten, zu der Kostbarkeit ihres Schmucks. Ich glaube, es wäre ganz gut, wenn du diesen Verkehr etwas einschränken würdest.« . . .

Fifi, der diese Zurechtweisung in Gegenwart von Fritz und Edith noch weniger paßte, sah ihren Gatten giftig an.

»Frau Fifi Gleiwitzer«, entgegnete sie schneidend, »verkehrt nur mit anständigen Frauen! Wenn ich auch nur den geringsten Zweifel an der ehelichen Treue der Frau von Hofer hegen würde, wäre ich die letzte, sie 51 zu empfangen. Herr Dr. Gleiwitzer . . . ich bitte, sich das zu merken!«

Franz war an diese kalten Wasserstrahlen seitens seiner Gattin gewöhnt und vertiefte sich ruhig wieder in die Lektüre des Kurszettels. In diesem Augenblick erschien Dr. Richard Menkus, doppelt herzlich begrüßt, weil er durch sein Kommen der immerhin etwas peinlich gewordenen Situation ein Ende bereitet hatte.

»Du hast wohl wieder schrecklich viel zu tun gehabt, armer Richard?« fragte Edith teilnahmsvoll.

»Ich arbeite gern,« erwiderte der Rechtsanwalt herzlich. »Mein Sprechzimmer wurde nicht leer. Und ich mußte mich doch noch schnell umziehen, um eurer würdig zu sein.«

Der Blick des Herrn Referendars glitt etwas spöttisch über den Gehrock aus schwarzem Tuch, der, ohne guten Schnitt und Eleganz, den schmächtigen Körper des Anwalts ziemlich schlotterig umhüllte. Und Frau Fifi empfand unmerklich diese abfällige Kritik. Während Richard sein Abendbrot einnahm, plauderten die anderen über gleichgültige Dinge.

»Schade, daß Sie das Fest für das Cäcilien-Krankenhaus nicht mitmachen können, Frau Fifi!« meinte Fritz. »Es soll ja ganz kolossal werden.«

52 Frau Fifi eilte an ihr Pult und holte die Einladung, die sie bereits vor ihrem Vater produziert hatte. Triumphierend zeigte sie das Dokument um den Tisch herum, und auch der Rechtsanwalt überflog flüchtig die fettgedruckten Namen der Patronessen. Irgend etwas schien dabei sein besonderes Interesse zu erregen, denn er nahm plötzlich das Blatt zur Hand und sagte laut:

»Gräfin Geiringer?! . . . Wie komisch! . . . Eine merkwürdige Duplizität der Ereignisse.« . . .

»Wieso?« fragte Frau Fifi gespannt.

Der Rechtsanwalt hüstelte.

»Vor einer Stunde ließ sich in meinem Bureau ein Graf Geiringer bei mir melden. Wahrscheinlich ein naher Verwandter ihres Mannes.« . . .

»Wollte er Sie auch auffordern, in das Komitee für das Wohltätigkeitsfest einzutreten?« warf Fifi spöttisch ein.

»Das nicht! Im Gegenteil! Es handelte sich um einen Akt der Wohltätigkeit für seine eigene Person. Er erklärte mir zunächst, daß er von allen Mitteln entblößt sei. Da er nun gehört hätte, daß sich unter meinen Mandanten sehr reiche Herren befänden, die unter Umständen einmal in die Lage kämen, ihre Maitressen auf 24 Stunden verheiraten zu wollen, um ihnen einen Namen zu geben, so biete er sich und 53 seinen Grafentitel gegen ein festes Honorar von 5000 Mark zu diesem Zweck an.«

»Und was haben Sie geantwortet?« warf Dr. Arndt ein.

»Was ich in solchen Fällen, die leider ziemlich häufig sind, immer antworte: daß ich kein Kuppler bin. Dagegen habe ich ihm zehn Mark geschenkt, wofür er mir dankbar die Hand reichen wollte, die ich jedoch nicht nahm.«

Edith betrachtete ihren Vetter mit einem zufriedenen Blick.

»Das hast du gut gemacht, Richard! . . . Aber ich verstehe nicht, wie ein Mann von Rang und Namen so weit sinken kann!«

Richard zuckte die Achseln.

»Weil der erste des Geschlechts vielleicht ein ganz tapferer und ehrenwerter Mann war, weil der zehnte und elfte es verstanden haben, reisende Kaufleute im Hohlweg zu berauben, darum hat der dreißigste doch noch kein Recht darauf, ohne Arbeit ein freudvolles Dasein zu führen. Aber du siehst ja, etwas ist ja der Ruhm der Ahnen immer noch wert – in diesem Fall ziffernmäßig: Fünftausend Reichsmark!« . . .

»Alter Sozialdemokrat!« rief Fritz, dessen Schmisse sich unter der Einwirkung des Champagners bereits sanft zu röten begannen.

54 »Ich bin gar kein Sozialdemokrat,« erwiderte Richard ernst, »denn ich habe meine eigene Meinung, die ich mir von niemand anderem aufdrängen lasse. Die Sozialdemokraten nörgeln öffentlich und die anderen insgeheim; das ist der ganze Unterschied. Jede Kaste ist heute unzufrieden – mit Ausnahme der Großindustriellen –, die haben das Geld, und dafür können sie bekommen, was sie wollen: Titel, Wappen, Orden. Alles, was es in einer Monarchie zu kaufen gibt!«

Franz fühlte sich als Kommerzienratssohn durch diese Äußerungen gekränkt und meinte etwas von oben herab: »In einem preußischen Offizierkorps dürftest du derartige Äußerungen nicht fallen lassen.«

Aber der Rechtsanwalt gab nicht klein bei.

»Die Offiziere«, fuhr er fort, sind die unzufriedensten. Ich möchte nicht wünschen, daß über alles das, was in den Kasinos geredet wird, ein Stenogramm aufgenommen und dieses zur Kenntnis des obersten Kriegsherrn gebracht würde. Derartige Zustände sind ja auch nur zu natürlich. Seit länger denn 40 Jahren Frieden und nichts als Garnisondienst! Ein Offizier, der sein ganzes Leben den Feind nicht sieht, ist wie ein Jurist, der es nicht zum Richter, wie ein Mediziner, der es nicht zum Arzt bringen kann. 55 Verpfuschtes Leben, verfehlter Beruf! Das sind die Segnungen des bewaffneten Friedens! Tausende von tüchtigen, begabten Menschen vergeuden ihren Geist, ihre Kraft, und was bleibt ihnen wirklich anderes übrig, als zur Flasche oder zur Karte zu greifen?« . . .

Fifi unterbrach diese Ausführungen.

»Weißt du denn nichts Amüsanteres, Richard?«

So kam es immer, wenn in Fifis Gegenwart das Gespräch auf ernstere Bahnen gelenkt wurde. Jede Unterhaltung, die Nachdenken und Logik erforderte, war für sie eine Unmöglichkeit. Und das galt nicht nur von Politik, sondern auch von Kunst und Literatur. Ihre sogenannte Bildung hatte mit dem Buch begonnen, das zufällig in ihrem siebzehnten Jahre gerade modern gewesen war. Jedes solide Fundament fehlte. Und diese Frau, die nichts gelernt hatte, las Ibsen, Nietzsche, Tolstoi, Oskar Wilde! Sie verstand nichts und sprach über alles.

»Amüsantes?« . . . fragte Richard gedehnt.

Er hatte sich über die Art und Weise geärgert, in der Fifi mit der Einladung zum Komitee für sich Reklame gemacht hatte, und wollte ihr dafür einen kleinen Hieb versetzen.

»Eine Neuigkeit wüßte ich allerdings! Dr. Roderich Braun ist für sein Werk ›Über das 56 Kunstgewerbe im Mittelalter‹ zum Ehrendoktor der philosophischen Fakultät der Universität Jena ernannt worden.«

Fifi wurde um eine Nüance bleicher.

»So–o?!« . . . Weiter brachte sie nichts heraus.

Die Mitteilung hatte sie an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen, an ihrer blinden Begeisterung für die künstlerische Bedeutung ihres Vaters. Dr. Richard Braun war nämlich der Kunstkritiker, der in der abfälligsten Weise über die Gemälde des Professors Braumann geurteilt und den Vater Fifis, als er sich in eine Zeitungspolemik mit ihm eingelassen, in der schmählichsten Weise abgeführt hatte.

Die Bemerkung Richards, die also für Fifis Familie nicht sehr schmeichelhaft war, erregte jedoch bei den anderen entschiedene Befriedigung. Fritz konnte nämlich den alten Braumann ebenfalls nicht ausstehen; Franz war die Verwandtschaft zu teuer, um ihm besonders am Herzen zu liegen, und selbst Edith hatte wenig Sympathien für die Angehörigen ihrer Schwägerin. Außerdem empfand Franz eine diebische Freude darüber, daß Richard ihn, ohne daß er es ahnte, für den in der Angelegenheit der Frau von Hofer empfangenen Rüffel gerächt hatte. Fifi, die sich die Anti-Braumannsche 57 Stimmung der Anwesenden nicht verhehlte, biß sich daher auf die Lippen und wandte sich, um ihre Verlegenheit zu verbergen, an Edith.

»Bitte, Edith, spiel' ein wenig Klavier! Das wird uns vielleicht in bessere Stimmung versetzen.«

Edith ließ sich nicht lange nötigen. Man begab sich in den Musiksalon, und Richard setzte sich so, daß er die Züge der Spielenden betrachten konnte.

Edith spielte eine Phantasie aus der »Walküre«. Die Macht der Töne zauberte eine liebliche Röte auf ihr Antlitz, und Richard meinte ihre Blicke auf sich geheftet zu sehen. Immer, wenn er die Augenlider hob, glaubte er, daß ihr Spiel ihm gelte; zu ihm war das Köpfchen geneigt, zu ihm drangen die Akkorde. Als die letzten Töne des »Feuerzaubers« verklungen, legte sich eine schwere Hand auf seine Schulter.

»Klatschen Sie doch, Herr Doktor!« animierte Fritz, der die ganze Zeit, ohne daß Richard es wußte, hinter ihm gestanden hatte.

Der Rechtsanwalt fuhr zusammen.

»Wiederum hat mich ein dummer Traum genarrt!« murmelte er bitter vor sich hin.

Gleich den anderen, trat er auf Edith zu und machte ihr banale Komplimente.

Edith mahnte zum Aufbruch.

58 Franz beauftragte seinen Vetter, sie nach Hause zu bringen, da Fritz vorgab, schleunigst auf seine Bude eilen zu müssen, um die Arbeit für den nächsten Tag zu erledigen.

Die wenigen Schritte bis zum Kurfürstendamm – die jungen Gleiwitzers wohnten in der Meinekestraße – legten die beiden schweigend zurück. Aber Richard stand noch unter dem Bann der Töne und seines Traums.

Wie, wenn die Blicke wirklich nur ihm gegolten, wenn Edith ihm ihr Innerstes durch die Macht der Musik offenbart hätte?! Je mehr sie sich dem Ziel der Wanderung näherten, desto höher wuchs sein Mut. Er deutete auch ihr jetziges Stillschweigen in einem für ihn günstigen Sinn. Wenn er ihr gleichgültig wäre, würde sie doch vielleicht banale Worte gefunden haben. Aber gerade in dem zufälligen Umstand, daß sie stumm blieb, glaubte er ein günstiges Symptom für seine Hoffnungen zu entdecken.

Die kalte, rauhe Luft wirkte im Gegensatz zu der parfümierten Atmosphäre des Gleiwitzerschen Musiksaales verwirrend auf seine Sinne. Er fühlte, daß er nicht mehr ganz Herr seiner Entschlüsse war, daß das Herz im Begriff war, Oberhand über die Vernunft zu gewinnen. In dem Halbdunkel der Straße sah Edith noch interessanter, noch berückender aus. Sein Arm 59 streifte den ihren, ohne daß sie die Berührung unwillig zurückwies. Sie standen am Haustor. Freundlich reichte sie ihm die Hand zum Abschied. Da ihre Gedanken ganz wo anders weilten, gab sie sich selbst keine Rechenschaft darüber, daß sie ihre Rechte länger in der seinen ließ, als es der Augenblick erforderte. Er aber deutete den Vorgang ganz anders. Er fühlte sich beseligt, er glaubte an eine nahe Stunde des Glücks. Und er führte ihre Hand an seine Lippen und bedeckte sie mit heißen Küssen. Erst jetzt, in diesem Augenblick, erwachte Edith aus ihrem Traumzustand und übersah mit einem Blick die Situation.

»Richard! . . . Du bist wahnsinnig!« . . .

Heftig stieß sie die Worte hervor und verschwand in dem Hause des Vaters, ohne daß Richard Zeit gehabt hätte, zur Besinnung zu kommen und eine Bitte um Verzeihung zu stammeln. . . .

 


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