Leo Leipziger
Die neuen Linden
Leo Leipziger

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I.
Die trauernden Hinterbliebenen.

Ein milder Herbstwind strich über die Höhen von Westend, über den Friedhof der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Mitleidig küßte er die sterbenden Astern und Chrysanthemen, die auf einem frischen Hügel dahinwelkten. Der Gottesacker, soeben noch ein Versammlungsort der Finanzaristokratie aus Berlin W, war wieder einsam und leer. Nur ein paar Totengräber besorgten die Aufräumungsarbeiten auf dem Erbbegräbnis der Familie Gleiwitzer. In den weißen Tempel aus kararischem Marmor war heute der erste Gast eingezogen: Frau Kommerzienrätin Rosalie Gleiwitzer, geb. Menkus, »unsere unvergeßliche Gattin, Mutter, Schwiegermutter und Großmutter«, wie es so würdig in der dritten Beilage der Zeitungen gestanden. Der Pastor hatte eine wunderschöne Rede gehalten. Er schilderte, wie das die Seelsorge wohl zu verlangen pflegt, in rührenden Worten, wie die Leidtragenden die große Lücke, welche die prächtige Frau hinterlassen, eigentlich erst später so recht spüren würden. Er sagte das so überzeugend, daß nicht nur die Augen der nächsten Angehörigen sich mit Tränen füllten, 4 sondern daß selbst ein Bankdirektor beim Verlassen des Friedhofs mit dem Taschentuch eine Zähre aus den Augenwinkeln entfernte.

Nun war alles vorüber.

Tutend und rasselnd waren die Autos der Berliner Finanzaristokratie wieder die Höhen von Westend herabgesaust, und der Mercedeswagen des Kommerzienrats Ludwig Gleiwitzer hatte den trauernden Gatten zu seinem Palais am Kurfürstendamm zurückgeführt.

Einige Neugierige betrachteten den Vorgang vom Café des Westens und machten schnoddrige Bemerkungen über den Kommerzienrat. Lachend erzählten sie die Geschichte von seinem Kollegen, der unter gleichen Verhältnissen vom Friedhof heimkehrend seinen Freunden schluchzend zugerufen hatte: »Ich kann sie immer noch nicht vergessen!« Dann servierte man sich noch einige nette Anekdötchen von den Gleiwitzerschen Vorfahren, die am anderen Ende der Stadt auf dem jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee ihre letzte Ruhestatt gefunden hatten, und endlich ging man zur Tagesordnung über: Zum neuesten Skandal in Berlin W.

Herr Kommerzienrat Ludwig Gleiwitzer saß in seinem Arbeitszimmer. Seine Blicke waren auf das Bildnis seiner verstorbenen Gattin geheftet, das an der gegenüberliegenden Wand 5 hing und von keinem Geringeren als Professor Max Liebermann gemalt war. Der Meister hatte die charakteristischen Züge der Verstorbenen, an denen die vor etwa zwanzig Jahren vollzogene Taufe spurlos vorübergegangen war, in voller Lebenswahrheit wiedergegeben. Aus den braunen Augen sprachen Menschenliebe und Herzensgüte. Die Adlernase verriet Energie. Aber um die Mundwinkel lag ein herber, wehmütiger Zug. Wer sich in das Porträt vertiefte, konnte klar erkennen, daß diese Frau trotz allem Reichtum nicht glücklich gewesen war, daß Kummer und Leid an ihrem Herzen genagt hatten.

Der Kommerzienrat Ludwig Gleiwitzer spielte mit dem Papiermesser und senkte verlegen das Haupt, als ob er sich scheute, dem Blick der Verblichenen zu begegnen.

»Sie hat mich nie verstanden,« murmelte er unhörbar vor sich hin. »Zeitlebens war sie Frau Rosalie Gleiwitzer aus der Königstraße; zu der Frau Kommerzienrätin Gleiwitzer vom Kurfürstendamm hat sie sich nie aufschwingen können.« . . .

Kaum hörbar öffnete sich die Tür. Der Diener brachte Briefe und Abendzeitungen.

»Die Kondolationen haben später Zeit,« dachte der Kommerzienrat. »Immer dasselbe.« . . .

6 Er nahm die Abendzeitungen zur Hand, und sein Antlitz erhellte sich, als er im lokalen Teile die Notiz las, die mit fettgedruckten Lettern also begann:

Auf dem Erbbegräbnis der Familie Gleiwitzer in Westend wurde heute . . . und nun schilderte der Reporter in bewegten Worten die Trauerfeier. Selbstverständlich wurden auch die Namen der Anwesenden, soweit sie von Bedeutung waren, genau wiedergegeben, und sogar die Widmungen der Kränze verzeichnet, welche die Prokuristen und Angestellten des Hauses Gleiwitzer der entschlafenen Gattin des Chefs gewidmet hatten. . . .

»Störe ich dich auch nicht, Vater?« . . .

Fräulein Edith, die einzige Tochter des Hauses, trat lautlos ins Gemach. In der Dämmerung konnte man sie mit ihrem bleichen Antlitz, in ihrer tiefschwarzen Kleidung, beinahe für den Geist der Verstorbenen halten. Dieselben Augen, dieselbe energische und charakteristische Nase, derselbe leidende Zug. Ihre Stimme klang ein wenig müde und tonlos.

»Braumanns haben eben angeklingelt, ob sie heute zu uns kommen sollen.«

»Das fehlte mir auch noch! Ich bin froh, wenn ich die Gesellschaft nicht sehe.« . . .

7 »Wird das Fifi nicht übelnehmen?« wandte Edith zögernd ein.

»Soll sie's übelnehmen.«

Die Stimme des Kommerzienrats klang ziemlich barsch. »Ich bin heute wirklich nicht in der Stimmung, mich mit den Eltern meiner Schwiegertochter zu unterhalten.« Und etwas freundlicher fragte er seine Tochter: »Edith, wie denkst du darüber?«

»Ich finde, du hast ganz recht. Mir wäre es am liebsten, wenn überhaupt nur Franz und Richard kämen. Meinetwegen könnte auch Fifi zu Hause bleiben.«

Der Kommerzienrat machte mit der Hand eine unwillig abwehrende Bewegung.

»Ja, ja, ich kenne deine Sympathien für deine Schwägerin Fifi. Aber als Gattin meines Sohnes hat sie heute sogar die Pflicht, ihm beizustehn.«

Edith zuckte mit den Achseln.

»Aber Edith! Heute an diesem traurigen Tage könntest du wenigstens gegen mich etwas rücksichtsvoller sein. Du magst von deiner Schwägerin denken, wie du willst, aber heute ist ihr Schmerz sicher ehrlich. Wem verdankt sie es denn, daß ich zu ihrer Heirat mit Franz meine Genehmigung gegeben habe? Doch nur meiner armen verstorbenen Frau.« . . .

8 »Wie du willst, Vater.« Das klang trocken, beinahe schneidend und verletzend. »Und Richard?«

Der Kommerzienrat überlegte einen Augenblick. »Richard soll kommen. Meine arme Rosalie hat einige letztwillige Verfügungen hinterlassen, die ich respektieren werde. Da ist es mir ganz lieb, daß der Rechtsanwalt kommt. Außerdem hat er als Neffe meiner armen, guten Frau ein Anrecht darauf, unsere Trauer zu teilen.«

Edith zögerte einen Augenblick, als wenn sie noch etwas auf dem Herzen hätte.

»Noch etwas?« fragte der Kommerzienrat sanfter.

»Wann willst du die Kinder von Franz sehen?«

»Morgen. Nur nicht in tiefer Trauer. . . . Man soll das heitere Gemüt von Kindern nicht umdüstern.«

»Kinder? . . . Marie ist vierzehn Jahre alt, da ist man kein Kind mehr; besonders Marie nicht.«

Die Stirn des Kommerzienrats legte sich wieder in Falten. »Edith, ich bitte dich, heute keine unerquicklichen Auseinandersetzungen! Es ist am besten, wenn jeder mit seinem Schmerz allein bleibt.«

»Das ist Ansichtssache. Mir wäre es freilich am liebsten, wenn ich niemand zu sehen 9 brauchte. Andere Leute müssen ihre Herzen ausschütten.«

»Zu denen du nicht gehörst. Mit deinen 25 Jahren bist du ja gereifter als ein Mann, der 10 Jahre älter ist. Das macht die böse Wissenschaft. Seitdem du Chemie studierst, kommst du mir überhaupt nicht mehr wie ein junges Mädchen vor. Immer ernst, immer in dich gekehrt, immer mit dem verächtlichen Zug um den Mund.«

»Deine Schwiegertochter ist ja dafür heiter genug.«

»Schon wieder!«

Der Kommerzienrat bezwang sich nicht länger mehr. Die Faust, die das Papiermesser hielt, schlug auf den Tisch.

»Haltet wenigstens heute Frieden! Heute, wo deine gute Mutter zur letzten Ruhe bestattet ist. Glaubst du denn nicht, daß die ewigen Mißhelligkeiten in unserer Familie ihre Krankheit verschlimmert, ihr Leiden vergrößert, ihr Sterben verfrüht haben? Habt ihr denn nicht so viel Pietät, daß ihr . . .« Er unterbrach sich plötzlich. Schon bei seinen ersten erregten Worten war Edith hinausgegangen. 10

 


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