Heinrich Laube
Louison
Heinrich Laube

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Dreizehntes Kapitel.

Louison war von alledem wie betäubt. Es kreisten in ihrem Kopfe die Gedanken: Was ist wirkliche Welt? Was ist deine Welt, die Welt der lustigen Komödie? Du weißt es nicht; du weißt nichts zu tun, du mußt alles geschehen lassen.

Da trat Rose ein und die Mama. »Nun?« fragte die Mama.

»Übers Meer werde ich nach Irland reisen in zwei Stunden und dort O'Briens Frau werden.«

Mama schrie zweimal auf. Beim Worte »Meer« erschrocken, beim Worte »Frau« zufrieden. »Endlich!« sagte sie. »Aber das Meer vertrag' ich nicht. Ihr kommt doch wieder?«

»Ja.«

»Dann wart' ich in Brüssel. Jetzt muß ich aber packen!« und sie lief fort.

Rose schüttelte den Kopf und sagte: »Nein!«

»Aber was sonst?«

»Ich weiß es nicht. Wenn nur Herr Doctor Zech da wäre!«

»Aber er ist nicht da!«

»Haben Sie ihn denn wirklich lieb, den –?«

121»Ich weiß es nicht. Aber er ist doch hilfreich und scheint mich zu lieben.«

»Ich trau' ihm nicht.«

»Da lies!«

Sie reichte ihr das Blatt; aber noch ehe Rose fertig war mit dem Lesen, wurden Stimmen hörbar aus dem Vorzimmer. Es waren die Gläubiger, und man hörte Narziß laut sagen: »Geduld! Lord O'Brien hat alles übernommen und kommt sogleich.« – Hierauf wurde es still.

»Nehmen Sie mich mit?« fragte Rose.

»Freilich! Und das Blatt hebe auf! Du bist ordentlicher als ich.«

»Dann unterschreiben Sie doch geschwind!« Und sie reichte ihr den Zettel und einen Bleistift.

Sitzend unterschrieb Louison ihren Namen.

»In zehn Minuten bin ich wieder da!« sagte Rose und ging fort.

Louison blieb regungslos sitzen. Da trat O'Brien ein mit der Frage: »Und das Billett an den Direktor?«

»Das habe ich noch nicht geschrieben,« sagte Louison leise.

O'Brien setzte sich an den Schreibtisch und schrieb das Billett, ihr sodann die Feder reichend, damit sie es unterzeichne.

Sie stand auf, trat an den Schreibtisch, las das Billett und – zögerte. Sie blickte O'Brien, der neben ihr stand, in die Augen. O'Brien nickte freundlich, und – sie unterschrieb.

Er steckte es in ein Kuvert, schrieb die Adresse und ging nach der Tür. Ehe er sie öffnete, sagte er noch: »Sie müssen sich ankleiden, liebe Louison, und fertig machen! Unser Geistlicher kommt sogleich. Und die Mama?«

»Die geht nach Brüssel zurück.«

»Gut. So fahren wir über Brüssel nach Ostende. – Nun die Rechnungen!«

Louison öffnete das Schubfach. O'Brien nahm den ganzen Stoß von Papieren und ging ins Vorzimmer zu den 122Gläubigern. Dort verlas er die einzelnen Namen und Summen, und jeder Einzelne meldete sich zu seiner Rechnung. Er unterließ nicht, bei diesem und jenem zu sagen: »Hundert Prozent!« und den Kopf zu schütteln. Dann sprach er mit einem gewissen Nachdruck: »Schlag sechs Uhr in meiner Wohnung zur Empfangnahme des Geldes. Narziß, du sagst den Leuten meine Adresse, du empfängst dort die Leute und wartest auf mich, wenn ich noch nicht da sein sollte.«

Narziß sprach deutlich und genau die Adresse aus und öffnete die Ausgangstür. Sie waren ein wenig unschlüssig, aber sie gingen. Als Narziß hinter dem letzten die Tür schließen wollte, trat Ferval ein. Er betrachtete O'Brien und Narziß und fragte lachend: »Alles im Gange?«

O'Brien nickte und sagte halblaut: »Aber erst nach dreimal vierundzwanzig Stunden einkassieren! Es könnte in die Zeitungen kommen und mich stören. Du sendest mir den Betrag nach Dublin ins ›Kleeblatt‹.«

Da kam Rose zurück und fragte, was aus den Sachen würde, die man nicht mitnehmen könnte, und aus dem Logis?

»Herr Ferval übernimmt alles. – Du willst wohl mit uns?«

»Ja, Herr!«

»So hilf alles fertig machen!«

O'Brien, Ferval und Narziß gingen fort. Gegen zwei Uhr erfolgte die Abreise, und um fünf Uhr verkündeten Theateraffichen, daß Demoiselle Louison plötzlich erkrankt und daß deshalb »relâche« im Theater nötig sei.

Der irische Geistliche, welcher mitreiste, beschäftigte als neue Figur Louison und Rose angelegentlich. Auf Louisons Verlangen saß Rose in demselben Coupé. Dieser Geistliche war ein noch junger Mann mit kurzgeschnittenem, glattem Haar, glatt rasirt, schwarz gekleidet, ein schwarzes Seidenkäppchen auf dem Scheitel und ward vorgestellt als Pater Patrik. Er sprach schlecht französisch und sprach vielleicht deshalb wenig. Er schlief viel in seiner Ecke. Dasselbe tat Mama Miot.

123Als man nach Brüssel kam, blieb der Pater Patrik auf dem Bahnhof zurück, während Mama, Louison, Rose und O'Brien hinausfuhren zu Papa Miot. Rose hatte auf dem Bahnhof bleiben sollen, Louison hatte aber wiederum verlangt, daß sie mitführe.

Papa Miot war sehr erstaunt, als er die Neuigkeit erfuhr, daß ein Schwiegersohn vor ihm stünde – »Ein Lord!« flüsterte ihm Mama ins Ohr –, erstaunt, ja betroffen. Der »Lord« schien ihm nicht zu gefallen, und Louison ängstigte ihn auch. Sie war so ernsthaft, wie er sie nie gesehen, wenn auch sehr zärtlich gegen ihn.

Begrüßung und Abschied wurden auf O'Briens Treiben kurz gehalten. Und doch hatte der Abschied des Vaters etwas Rührendes, da der alte Mann sein Kind noch einmal zurückrief, als sie schon im Hausflur war. Er umarmte sie noch einmal, heftiger als es sonst seine Art war, und sagte mit erstickter Stimme zu der dabei stehenden Rose: »Behüten, behüten!« Dann ging er ins Zimmer.

Rose flüsterte Louison zu: »Reißen wir aus, Fräulein! Es geht. Dort ist eine Hintertür. O'Brien und die Mama, welche ihm das Geleit gibt, sind auf der anderen Seite voraus; wir schlüpfen in die Stadt und verbergen uns. Geschwind! Der Mann macht Sie ja unglücklich.«

Louison folgte ihr wirklich einige Schritte. Dann blieb sie stehen, hielt Rose an der Hand fest und sagte: »Ich darf nicht; er hat alles für mich getan, und er hat meine schriftliche Zusage. So wie er mir Wort hält, so muß auch ich ihm Wort halten. Er meint's auch gut mit mir.«

»Nein!« sagte Rose ärgerlich, folgte aber ihrer Herrin.

Und so ging die Reise weiter. Zunächst mit der Eisenbahn nach Ostende, dann mit dem Dampfschiff nach England, dann auf rasend schnell fahrenden Bahnzügen quer durch England, endlich wiederum mit einem Dampfboot nach Dublin.

Der Verkehr unterwegs blieb von seiten O'Briens sanft 124und freundlich gegen Louison. Erst als das Dampfboot in die Nähe von Dublin kam, wurde die Rede O'Briens etwas lauter, seine Annäherung an Louison dreister.

»Ich hab's vorausgesagt!« flüsterte Rose heimlich zu Louison und setzte hinzu: »Der duckmäuserische Pater gefällt mir auch nicht; er macht kuriose Augen auf mich, tritt mir auf den Fuß und greift nach meinem Arme.«

Louison schwieg dazu, verlangte aber bei der Ankunft im Dubliner Hotel, daß Rose mit ihr in demselben Zimmer schlafen sollte.

Da brauste O'Brien zum ersten Male auf, dieses Verlangen zurückweisend.

Louison sah ihn betroffen an, erwiderte aber ruhig: »Ich bestehe darauf.«

Er zuckte, besann sich aber und machte eine zustimmende Bewegung mit der Hand. Louison und Rose erhielten ein gemeinschaftliches Zimmer.

Es war gegen Abend, als sie ins Hotel kamen. Sie speisten zusammen, und Pater Patrik war zum ersten Male gesprächig, offenbar weil er irisch reden konnte mit dem ernsthaften Wirte, welcher aufmerksam zusah, ob seine Kellner die Bedienung prompt leisteten, namentlich in Betreff der schweigsamen Louison.

Als man sich trennte, kündigte O'Brien Louison an, daß am nächsten Tage um die Mittagsstunde die Trauung vollzogen werden sollte, und zwar auf ihrem Zimmer.

»Wo nehmen wir aber die Zeugen her?« rief Rose.

O'Brien, unangenehm berührt durch die naseweise Frage, mochte doch nicht behaupten, daß Zeuginnen für die Braut unnötig wären, sondern sagte: »Du selbst kannst Zeugin sein.«

»Und die männlichen Zeugen? Nicht wahr, Herr Pater, es sind männliche Zeugen nötig?«

Der Pater sagte: »Yes«.

»Was schwatzt die Närrin! Die männlichen Zeugen werden 125nicht fehlen, ich bin ja hier wie zu Hause. Also um die Mittagsstunde morgen. Gute Nacht!«

Rose war außer sich. Sie war voll von Mißtrauen. Eine rechtschaffene Natur mit gesundem Verstande, wehrte sie sich mit Hand und Fuß gegen diese Heirat und schlug beim Schlafengehen Louison nochmals dringend vor, sich diesem Ehebündnisse noch in dieser Nacht durch die Flucht zu entziehen.

Louison gestand ihr, daß sie bei dem Gedanken erzitterte, von einem Manne wie O'Brien gewaltsam umarmt zu werden.

»Nun also!«

»Aber er hat ja schriftlich zugesagt, dies nicht zu tun. Und so wie ich erwarte, daß er Wort halten werde, so muß auch ich Wort halten. Ich weiß ja ohnedies nicht mehr, was ich will, was ich werde, denn ich habe gar keinen Haltepunkt mehr in mir. Wenn ich nun selbst noch unehrlich würde, dann müßte ich vergehen, wie ein Nichts geradezu vergehen.«

Dennoch schlief sie keine Minute in dieser Nacht. – Rose dagegen schlief fest und ordnete am nächsten Vormittage – da es nun doch nicht mehr zu ändern war – alles an zur Feierlichkeit, soweit diese ihre Herrin betraf. Sie packte den Koffer aus, sie machte das weiße Atlaskleid zurecht, sie verschaffte sich durch das Dienstmädchen einen Orangenzweig und flocht denselben ins Haar Louisons, sie putzte ihre blasse, schweigende Herrin sorgfältig.

Als es zwölf Uhr schlug, war sie fertig, und mit dem Glockenschlage traten die Herren auch ein: Pater Patrik, O'Brien und zwei elegant gekleidete Herren.

Der Pater trug einen schwarzen Priesterrock und zog die kirchliche Stola aus der Tasche. Diese legte er auf einen kleinen Tisch, welchen einer der Zeugen in die Mitte des Zimmers rückte. Der andere Zeuge zündete zwei Kerzen an und stellte sie auf den Tisch.

Vor diesen Tisch trat nun der Pater und winkte dem Brautpaare, ihm gegenüberzutreten. Als dies geschehen, nahm 126er ein Büchlein aus dem Gewande und las eine lateinische Litanei mit eintöniger Stimme ab. Hierauf fragte er kurz in französischer Sprache, ob Braut und Bräutigam aufrichtig das Ehebündnis wünschten. Man hörte nur das laute »Yes« O'Briens, und sofort verlangte er von den Zeugen, daß sie ihre Namen nannten. Sie nannten beide irische Namen, und der Pater ergriff nun die Stola, schlang sie um die vereinigten Hände O'Briens und Louisons – Louisons Hand zitterte heftig, O'Brien drückte seine Hand fest in die ihrige – und so sprach er lateinisch den Segen über das Paar, damit schließend, daß er französisch sagte: »So seid ihr ein Ehepaar!«

Die Zeugen und der Pater entfernten sich, und O'Brien umarmte Louison mit dem Ausrufe: »Nun bist du mein!«

Louison wich zurück und sagte heftig: »Das ist gegen unseren Vertrag!«

»Mein bist du, sag' ich. Und jetzt fahren wir spazieren; ich zeige dir unsere Hauptstadt Dublin. Kleide dich an, in einer halben Stunde hol' ich dich ab.« Draußen auf dem Korridor rief er den Zeugen nach: »Warten, warten! Ihr müßt ein Telegramm unterschreiben, das ich nach Paris sende.«

Louison sank auf einen Sessel, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Als Rose eintrat und sie umkleidete, sagte Louison: »Rose, es ist geschehen, und mir ist, als wäre ich jetzt noch unglücklicher.«

»Ich bin immer der Meinung gewesen. Gebe Gott, daß wir uns irren.«

»Er nennt mich du und hat mich umarmt, was der Vertrag untersagt.«

»Vertrag!« rief Rose mit dem Tone der Geringschätzung. Weiter aber wurde nichts zwischen ihnen gesprochen, unter Stillschweigen geschah die Umkleidung, und sie war kaum beendet, da trat O'Brien ein, um sie in seinem Wagen abzuholen.

127Es war ein Wintertag mit jeweiligen Sonnenblicken, welche durch ein feines Schneewehen hindurchschimmerten. Louison sah wenig von den Plätzen, Straßen und Häusern, welche ihr O'Brien preisend zeigte. Das schien ihn auch wenig zu kümmern, er war mehr darauf bedacht, ihr lustig in die Augen zu sehen und sie an sich zu ziehen.

Es wurde zeitig dunkel, und sie bat ihn, heimzukehren, es würde ihr kalt.

»Du sollst schon erwärmt werden!« rief er und befahl dem Kutscher, nach dem Hotel zu fahren.

Als Louison auf ihr Zimmer kam, fiel sie Rose um den Hals und weinte heftig.

»Führe mich in eine Kirche, Rose; Gott allein kann helfen, du hast recht. Mir ist angst und bange. Er nennt mich du und drängt sich an mich. Sein Auge, sein Mund, sein ganzes Gesicht, seine Stimme sind verändert. Sie sind roh wie damals in Biarritz; der Mann hat sich verstellt – wird er wenigstens Wort halten?«

»Nein!«

»Rose?! – Verlaß mich nicht, Rose! Mir ist zumute, als sollte ich hingerichtet werden.«

»Also tun wir jetzt, was ich immer vorgeschlagen habe: fliehen wir! Ich weiß den Weg zum Hafen, verbergen wir uns auf einem Schiffe!«

Sie standen vor einer kleinen Kirche. Die Tür war offen; es war eine katholische Kirche. Ein Lämpchen dämmerte vor einem Muttergottesbilde.

»Also, liebes Fräulein! Ach nein, Sie sind eine Frau –«

»Ich kann nicht entfliehen, Rose. Ich muß mein Wort halten, so lange er das seinige nicht bricht.«

»Dann wird's zu spät sein.«

»Das stell' ich der Mutter Gottes anheim.«

Und mit diesen Worten eilte sie vor den Altar, kniete nieder und betete inbrünstig um Schutz.

128Nach zehn Minuten erhob sie sich und schien gefaßt.

»Komm, Rose, er erwartet mich zur Tafel mit seinen Freunden. Halten wir unser Wort. Wer recht tut, dem geschieht recht, hat mein Pater in Brüssel gesagt.«

Die Tafel war in O'Briens Zimmer, und außer dem Pater Patrik nahmen die zwei Trauzeugen daran teil. Es wurde lärmend getrunken, und Louison sah mit Schrecken, daß besonders der Pater übermäßig trank. Er hielt dazu lustige Reden in der für sie unverständlichen Landessprache, und der Champagner floß in Strömen. Louison meinte unter Wilden zu sein. Sie erklärte endlich O'Brien, sich zurückziehen zu müssen, sie sei unwohl.

»Geh', Täubchen, und putze dein Gefieder für mich!« rief er und wollte sie küssen.

Sie entfloh. Ein schallendes Gelächter der Tischgesellschaft begleitete ihre Flucht.

Eilig rannte sie nach ihrem Zimmer und rief nach Rose. Rose war nicht da – aber sie kam eben mit Schnee bedeckt.

»Wo bist du denn?! Hilf mich geschwind auskleiden, mir fliegen die Hände, ich will schleunigst ins Bett, um mich zu erwärmen.«

Rose half eifrig, und Louison setzte hinzu: »Verlaß mich ja nicht, gute Rose!«

»Gewiß nicht!« – Gleich darauf aber schrie Rose: »Himmlischer Vater, mein Bett ist fort! Das hat er fortschaffen lassen, er will Sie überfallen!«

Entsetzt richtete sich Louison auf und sagte nach kurzer Pause: »Er hat ja versprochen, er muß ja Wort halten –«

»Er wird es nicht. –«

»Rose, was sagst du da?!«

»Eine Torheit. Ich dachte an die Burschen in unserem Dorfe, die kümmerten sich den Kuckuck um ein Versprechen, wenn die Trauung vorüber. Aber die vornehmen Leute sind ja anders –««

129Da hörte man die jauchzende Stimme O'Briens vor der Tür. Diese wurde aufgerissen, und lustig rief er: »Endlich, Täubchen, endlich sind Jakobs sieben Jahre um, und deine weichen Arme, deine heißen Küsse sind erobert, die leere Komödie ist aus.«

Auf Louison's Bett zuschreitend, erblickte er Rose, und nach ihr mit dem Arme greifend, schrie er: »Hinaus, Dirne! Du hast hier nichts zu suchen. Dein Bett steht gegenüber im Dienerzimmer, wohin du gehörst.«

Rose war seinem Arme behende entschlüpft; er aber ging, von Weinlaune erregt, auf Louison zu.

»Rose!« schrie Louison.

Rose bedurfte der Aufmunterung nicht. Sie hatte schon mit starker Hand den Glockenzug an der Tür ergriffen und läutete mit einer Kraft, daß es durchs ganze Haus schallte. Mit der anderen Hand hatte sie die Tür geöffnet und rief gellend in den Korridor hinaus: »Hilfe! Hilfe! Räuber und Mörder! Hilfe!«

O'Brien stürzte auf sie zu, faßte sie grimmig bei den Schultern und warf sie zur Tür hinaus; aber das starke Vogesenmädchen hielt außen die offene Tür fest und schrie unausgesetzt: »Hilfe! Hilfe! Räuber und Mörder!«

Kellner und Dienstmädchen flogen herbei mit: »Was ist? Um Gotteswillen, was geschieht?« Ja, der Wirt des Hauses selbst, ein stämmiger Walliser, kam den Korridor entlang und rief schon aus der Ferne: »Ruhe! Ruhe!«

Er hatte offenbar schon im Laufe des Tages O'Brien und Genossen mit Aufmerksamkeit angesehen und auch die niedergeschlagene junge Frau beobachtet. Er hielt auf die Ehre seines Hauses und trat ziemlich barsch an den tobenden O'Brien heran mit den Worten: »Donnerwetter, Mylord, mein Haus steht zwar in Irland, aber ich bin ein Walliser und halte auf Ruhe und Anstand in meinen vier Pfählen.«

Und dabei wies er auf das offenstehende Zimmer, in 130dessen Mitte die arme Louison stand, mit flehender Miene auf ihn blickend. Sie war aus dem Bett gesprungen und hatte sich nur eiligst mit einem Tuch umhüllen können.

»Was schwatzest du da!« polterte ihm O'Brien entgegen – »was schwatzest du da, fremder Sachse, von Ruhe und Anstand, wenn ich eine Dienstmagd meiner Ehefrau aus dem Zimmer werfe, weil sie sich unverschämt aufführt! Fort mit Euch allen! Fort auf der Stelle!«

Und dabei ging er erhobenen Armes auf die Kellner und Dienstmädchen los, welche erschrocken zurückwichen.

Unterdessen schob der Wirt Rose ins Zimmer hinein, schlug die Tür hinter ihr zu und ging dann O'Brien nach, welcher die Dienstleute vor sich her jagte. Er faßte O'Brien kräftig am Arme und sagte halblaut: »Geduld, Mylord, so werden wir die Leute nicht los. Nur wenn wir fortgehen, endigt der Skandal, und Sie kommen zu Ihrem Ziele. Folgen Sie mir, meinetwegen zankend, dort hinten in mein Zimmer. Dann ist die Sache zu Ende für das Volk, und die Leute verschwinden von selbst. In zehn Minuten ist alles leer, und Sie kehren unbehelligt zurück zu ihrer Ehefrau.«

Und nun nahm er O'Brien unter den Arm und ging mit ihm auf die Leute zu, ihnen sagend, es walte da ein bloßes Mißverständnis, und er befehle ihnen, den Korridor zu räumen.

Sie wichen langsam zurück bis zur Treppe, neben welcher des Wirtes Zimmer lag. »Marsch!« rief er noch einmal und führte den noch halb widerwilligen O'Brien hinein, die Tür hinter sich schließend.

Das Mittel half. Die Leute hatten nichts mehr zu sehen, nichts mehr zu hören und gingen kopfschüttelnd von dannen.

Rose aber hatte die Zeit benutzt, ihre Herrin mit fliegender Hast angekleidet, ihr Mantel und Schal umgehängt und ein am Ofen liegendes Paket ergriffen. »Jetzt ist's Zeit zur Flucht!« flüsterte sie.

»Ja,« hauchte Louison, »er ist ein Schurke!«

131Rose eilte nun an die Tür, öffnete sie nur eine Spalte weit, um hinausblicken zu können; dann sagte sie: »Leer! Alles fort. Kommen Sie! Rechts, rechts! Nicht umschauen! Dort ist eine Hintertreppe, die führt auf die Nebengasse. So begegnen wir niemand.«

Dabei hatte sie Louison an der Hand gefaßt, um sie zu führen, weil nach rechts hin die Beleuchtung des Korridors aufhörte. Schweigend schlichen sie die dunkle Treppe hinab. – Da strauchelte Louison und fiel.

»Haben Sie sich weh getan?«

»Ja.«

»Die Zähne aufeinander beißen und weiter, wir haben keinen Augenblick zu verlieren!«

»Was nützt es denn? Wohin? Wir wissen's nicht.«

»Doch, doch, ich weiß es.«

»Und wir haben kein Geld.«

»Falsch, falsch! Wir haben auch Geld; nur auf und weiter!«

Sie kamen glücklich aus dem Hause heraus.

»Wieder rechts!« sagte Rose, »und rasch!«

»Wohin denn?«

»Zum Hafen. Ich hab's ja lange kommen sehen! Während Sie speisten, bin ich am Hafen gewesen. Ein Dampfschiff geht in der Nacht nach England, und ich hab' ja Ihr Geld, Ihre Monatsgage. Sie haben mir ja noch im letzten Augenblicke in Paris die Quittung unterschrieben, und diese hab ich damals einkassiert. Sie kümmerten sich ja um nichts. Ich hab's kommen sehen, und dies Paket ist schon lange fertig. 's ist unsre Wäsche drin und auch etwas Schmuck von Ihnen. Wir kommen fort, wenn wir nur jetzt – können Sie nicht schneller gehen?«

»Ja, ja!«

»Sie sind also nicht mehr lahm?«

»Nein.«

132»Auch wenn Sie's wären, jetzt gilt's! wie unser Schulmeister sagte.«

Der Schnee fiel in dicken Flocken. Aber Rose, kaum einen Moment unsicher, verirrte sich nicht. Sie kamen glücklich aufs Dampfschiff und erhielten eine Kabine mit zwei Lagerstätten, eine über der anderen.

»Kriechen wir unter die Decken,« flüsterte Rose, »und rühren wir uns nicht, bis das Schiff in Bewegung kommt. Der Schurke könnte uns hierher verfolgen.«

So war es auch. O'Brien hatte den Rat des Wirtes, den Abzug der Dienstleute abzuwarten, nicht lange befolgt; er hatte die Zimmertür aufgerissen, und als er den Korridor leer gefunden, war er nach dem Zimmer Louisons gegangen, den noch immer dreinredenden Wirt zurückstoßend. Er kam dort an in dem Augenblicke, als Rose und Louison die dunkle Hintertreppe hinabschlüpften. Als er das Zimmer leer fand, stürzte er zum Wirt zurück und verlangte eine Durchsuchung des Hauses.

Der Wirt wurde grob, weil dies eine Erhöhung des Skandals mit sich brächte, und setzte wegwerfend hinzu: »Die geängstigte Frau ist auch gewiß nicht mehr im Hause, sondern auf der Flucht – vor der Brautnacht.« Die letzten Worte sprach er leise.

O'Brien verstummte einen Moment. Die Rede schien ihm einzuleuchten. Endlich fragte er barsch: »Wann geht das nächste Dampfboot nach England?«

»Um elf Uhr. Da schlägt's just elf.«

Man hörte eine Uhr auf dem Korridor schlagen.

Unter wildem Fluchen stürzte O'Brien die Treppe hinab, aus dem Hause hinaus. Der letzte Wagen war eben fortgefahren. Er sah ihn noch, er lief ihm nach, besann sich aber, ob er nicht dabei Zeit verlöre, wenn er den Wagen doch nicht einholte, und wendete sich jählings, um zu Fuß nach dem Hafen zu laufen.

133Der Hafen lag voll von Schiffen, und er verlor wieder einige Zeit, ehe er den richtigen Dampfer fand, an welchem gerade die Landungsbrücke aufgehoben wurde. Er sprang auf die schon in Bewegung gesetzte Brücke und schrie: »Sind soeben zwei Damen aufs Schiff gekommen?«

»Weiß nicht,« antwortete ein Matrose und setzte sogleich hinzu: »Zurücktreten, wenn Sie nicht naß werden wollen.«

»In drei Teufels Namen Antwort, ob zwei Damen –« schrie O'Brien in echt irischem Landesakzent.

»Brücke abheben!« klang gut englisch ein Kommando hinter dem Matrosen.

Der Matrose hob, O'Brien flog zurück, fiel aber nicht ins Meer, sondern auf den steinernen Strand.

Der Dampfer stieß ab.


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