Heinrich Laube
Louison
Heinrich Laube

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Fünftes Kapitel.

Rambert hatte schweigend den Bericht Jurons angehört, völlig schweigend.

Juron war entrüstet über dies Schweigen und sagte heftig: »Ja, soll dieses moralisch verdorbene Weib noch länger auf deine Kosten verpflegt werden?«

»Moralisch verdorben? Das nimmt sich kurios in deinem Munde aus, der du sonst in der Kunst und im Kunstgetriebe nichts von Moral wissen willst!«

»Alles hat seine Grenze. Grundsätzliche Undankbarkeit eines jungen Geschöpfes ist ja doch entsetzlich.«

»Ist hier wohl nur leichtsinnige Phrase. Das Mädchen wird wohl besser sein, als es sich selber schildert. Es kann aber auch sein, daß sie erst unglücklich werden muß, ehe ihre egoistische Frechheit zu Boden fällt. Gönnen wir ihr noch einige Zeit des gedankenlosen Glückes. Der Geschmack für den Clown ist das Schlimmste. Dem müssen wir sie entziehen. Der Sommer kommt; ich werd' sie auf meinen 34Landsitz in der Gironde mitnehmen und dann in ein Seebad – da ist sie!«

Louison trat unbefangen ein, küßte wie gewöhnlich den guten Onkel Rambert auf die Wange und fragte ganz fröhlich nach dem Spruche des hohen Gerichtsherrn.

»Ich bin nicht dein Gerichtsherr; ich bin, wie du sagst, dein Onkel. Als solcher frag' ich dich: Liebst du den Clown und willst du ihn heiraten?«

»Herr Gott, laßt mich doch endlich mit dem Heiraten in Frieden! Ich denke nicht daran; ich stell' mir's vor als etwas, das ich in meinem Leben nicht brauchen könnte. Einem Manne anzugehören, ganz anzugehören, um und um und über und über, puh, das ist ja unangenehm und peinlich.«

»Aber du liebst ihn doch!«

»Was weiß ich! Ich hab' ihn gern, weil ich lustig bin, wenn er neben mir ist.«

»Ob du ihn liebst? steht die Frage.«

»Ja, was heißt denn Liebe? Das müßt ihr ja besser wissen als ich. Ich denk' mir's nach den Rollen, die ich gelernt, und nach den Stücken, die ich gesehen und gelesen, das muß noch ganz was anderes sein. Ich kann's und versteh's wahrscheinlich noch nicht.«

»Das glaub' ich auch. Ich gehe in den nächsten Tagen auf mein Landgut in der Gironde und von da später ins Seebad, wahrscheinlich nach Biarritz; willst du mit?«

»Freilich, wenn ich darf.«

»Aber auf dem Lande wirst du dich langweilen.«

»Warum?«

»Die stille Natur ist nichts für dich, die unterhält dich nicht.«

»Warum nicht?! Man kann da herumspringen, wie man will, und kann man nicht auch fischen, jagen, reiten?«

»O ja; willst du reiten lernen?«

»O ja, das möcht' ich wohl. Und liegt nicht Biarritz an der spanischen Grenze?«

35»Ja, man sieht von da eine lange Strecke der spanischen Küste. Das reizt dich wohl, weil Spanien das Vaterland des Sennor Rosas ist?«

»Ah, auch die Spanierinnen sind interessant mit ihren Schleiern und Fächern.«

»In Biarritz jedoch sind nur Basken und Baskinnen.«

»Aber wir fahren einmal hinüber, wenn's so nahe ist? Wir fahren übers Meer? Darauf freu' ich mich. Und das Baden im Meer, das denk' ich mir sehr hübsch.«

Rambert war nicht sehr erbaut von diesen Antworten, aber er wollte nicht weiter in sie dringen trotz aller dazu aufmunternden Gesten Jurons, und er wollte namentlich die störende Ansicht Louisons über Dankbarkeit nicht zur Rede bringen, weil er ihre Äußerung darüber gern für kindisches Geschwätz halten mochte. Ein junges Mädchen, meinte er, dürfe man nicht zu eigensinniger Verteidigung einer unbedacht ausgesprochenen Torheit nötigen. Das setze sich dann fest. Und bei Louisons eigensinnigem Kopfe sei es vorherzusehen, daß sie auch gegen ihr besseres Wesen das einmal behauptete Unrecht verteidigen werde. Seine Vorliebe für Louison wollte verhüten, daß sie sich selbst kompromittierte. Auf Umwegen und in guter Stunde sei das Thema mit ihr zu erörtern.

Er schwieg also eine Weile und sagte dann langsam: »Ehe wir reisen, sollst du auch mich erst öffentlich auftreten sehen.«

»Onkel?!«

»Du sollst mir zuhören.«

»Und zusehen?«

»Auch das, wenn du willst. Ich heiße Professor, mache aber durchschnittlich nur einmal im Jahre von diesem Titel Gebrauch, indem ich einen Vortrag halte, und zwar nicht bloß für Studierende, sondern auch für gebildete Leute überhaupt. Unter ihnen pflegen sich auch zahlreiche Damen 36einzufinden, und unter diesen Damen wirst auch du diesmal sein, wenn du Lust hast.«

»Ob ich Lust habe!«

»Die Arbeit über den Charakter Karls V., welche ich bei euch in Brüssel betrieben, ist in diesen Tagen vollendet worden, und diesen Essay werd' ich in einem kleinen Saale der Universität morgen vormittag um elf Uhr vortragen. Freund Juron wird dich hinbringen.«

»Das ist prächtig! Nun kann ich einmal auch dich kritisieren. Ich werde sehr streng sein und gewiß sehr glücklich.«

So geschah es denn am nächsten Vormittage. Der Saal war voll. Die ersten Reihen der Sessel waren von geladenen Gästen besetzt, unter ihnen zahlreiche Damen, die hinteren Reihen von Studierenden.

Auf einer Estrade hinter einem Tische saß Rambert und las aus einem zierlich gebundenen Hefte seinen Essay vor. Es nahm sich alles sehr elegant aus. Er sprach ohne Aufwand, fast in konversationellem Tone und erhob nur da die Stimme zu größerem Nachdruck, wo Folgerungen hervorzuheben waren. Bei geistreichen Wendungen unterließ er es nicht, unter wohlangebrachter Pause und unter einem feinen Lächeln die Aufmerksamkeit zu wecken, und das Auditorium seinerseits unterließ nicht, solche Einschnitte durch lebhaften Beifall auszuzeichnen. Seine schöne stattliche Erscheinung im schwarzen Salonrock, von welchem die feine Wäsche blendend abstach, sein ausdruckvoller, edel geschnittener Kopf, sein warmes Auge, der wohlgeformte Mund voll weißer Zähne, die wohlgepflegte graziöse Hand und das sonore weiche Organ, welches das reinste Französisch anmutig zu Gehör brachte – alles das machte den Effekt guter Gesellschaft, klaren Wissens und edlen Geschmacks. Das Ganze hatte etwas durchaus Vornehmes, und am Schlusse drängten sich Damen und Herren der ersten Reihen zu dem aufstehenden Rambert heran, um ihm Glückwünsche und Dank in bester Manier auszudrücken, 37was Rambert wie ein vollendeter Gentleman aufnahm ohne Ziererei und ohne Arroganz.

Der Saal leerte sich langsam, und vieler Blicke hafteten auf der schönen Louison, welche harrend dastand. Wie es schien, harrte sie auf Rambert, welcher von der Estrade heruntergestiegen war. Juron, ihr Begleiter, war ihr augenblicklich entführt worden durch einige Damen, die er angesprochen, und sie erschien verlassen. Rambert, welchem sie von weitem entgegennickte, kam sogleich zu ihr, unbekümmert darum, daß die zuletzt abgehenden Studierenden einander zuwinkten und ersichtlich den vornehmen Professor beneideten, welcher eine so schöne junge Dame übrig behalten vom Publikum.

Das störte, wie gesagt, Rambert gar nicht. Er bot Louison den Arm und führte sie über die Estrade nach dem Ausgange, welcher nur für ihn bestimmt war und an dessen Schwelle Jean mit leichtem Paletot seiner wartete.

Jeans Gesichtsausdruck schien es zu mißbilligen, daß sein Herr mit dem jungen Mädchen seinen Rücktritt nähme aus so ehrenvoller Gesellschaft; aber Rambert blickte nicht auf das mißvergnügte Gesicht seines Dieners, sondern sagte heiter: »Da Juron dich verlassen, so muß ich dich nach Hause bringen.«

Jean meinte zur Warnung für seinen Herrn bemerken zu müssen: es würden sicher Studierende unten am Wagen auf die Abfahrt des Herrn Professors warten.

»Warum sollten sie nicht?« sagte Rambert, »nun werden sie nicht bloß mich, den sie ja kennen, erblicken, sondern auch eine schöne Dame, welche sie noch nicht kennen.«

Jean schüttelte ärgerlich den Kopf und folgte verdrießlich. Er war im saubersten Salonanzuge, der Kutscher in seiner fashionablesten Kleidung, die Pferde vor dem schönsten Coupé waren im glänzendsten Geschirr – und dazu nun dies Komödiantenmädchen, die Flamme eines Clown aus dem Zirkus! Unanständig.

38Und es war unten so, wie er gedacht. Studierende warteten, grüßten und staunten, daß ihr gelehrter Herr eine so prächtige Jugend, welche ihn voll Heiterkeit anblickte, in den Wagen hob, und daß er unter fröhlichen Äußerungen neben ihr Platz nahm.

Rambert war bester Laune über das Gelingen seines Vortrags, und es war ihm offenbar darum zu tun, nun die Lobsprüche seines künstlerischen Naturkindes zu genießen. Er war eben auch ein Mensch, der Lob brauchte. Zunächst rief er jedoch plötzlich, als Jean die Wagentür schließen wollte: »Warte!« und zu Louison setzte er hinzu: »Wir könnten bei deinem künftigen Direktor vorfahren, um die letzte Abmachung wegen deiner Debüts im Herbste festzustellen – also, Jean, auf dem Boulevard Montmartre vor dem Gymnase halten! Vorwärts!«

Als wollte er sie verpflichten, ehe sie über seinen Vortrag spräche.

»Nun sage,« fuhr er fort, »wie ist dir denn dies alles vorgekommen?«

»Sehr schön! Sehr schön! So vornehm, daß ich's wohl gar nicht beurteilen kann. Für den Vortrag selbst bin ich noch zu dumm, da muß ich noch sehr viel lernen.«

»Ich werd' dich's schon lehren.«

»Und alles so sehr feierlich! Ich hab' einen ungeheuren Respekt vor dir gekriegt, Onkel.«

»Kann nicht schaden.«

»Und die Idee, daß ich eigentlich gar nicht dahin gehöre, wo es so exquisit hergeht, daß ich einem so vollendeten Vortrage gar nicht gewachsen bin, diese Idee –«

»Wird allmählich schwinden.«

Der Wagen hielt. Sie waren vor der Wohnung des Direktors, welche Jean kannte, stiegen aus und fanden den Direktor im Disput mit einem kleinen feisten Herrn, welcher sehr laut sprach, als sie eintraten.

39Der Direktor stellte ihn vor als Herrn Malevy, einen wichtigen dramatischen Auteur, welcher leider sehr eigensinnig wäre, wenn sich's um Inszenesetzung seiner allerdings sehr wirksamen Stücke handelte.

»Ja wohl!« rief Herr Malevy, »denn die Direktoren kommen alle zu einer gewissen Schablonenpraxis, und darin stecken bleibend, wollen sie die Wirkung eines neuen Stückes vorher besser kennen als die Autoren. Sie kennen aber nur das Herkömmliche und verkennen das Neue.«

»Nun, hier ist was Neues,« entgegnete der Direktor, »eine schöne junge Künstlerin, und wir brauchen für sie was Neues, ein Stück, welches für ihre eigentümliche Persönlichkeit paßt. Zeigen Sie, Herr Malevy, daß Sie das schreiben können, dann wird Demoiselle Louison anfangs Oktober in Ihrem neuen Stücke auftreten.«

Herr Malevy war elektrisiert von dem Äußeren Louisons und von diesem Auftrage. Er sprang mit beiden Füßen in das Gespräch mit ihr und überschüttete sie mit Artigkeiten und Fragen. Vorzugsweise mit Fragen.

»Unser sonst so vorurteilsvoller Direktor,« sagte er, »hat hier einmal vollständig recht. Eine neue Künstlerin braucht ein neues Stück. Wenn sie in einem alten Stück auftritt, dann muß sie unbillige Zinsen zahlen für ihre Vorgängerin in ihrer Rolle. Vergleiche und Vergleiche häufen sich da. Wie hat das die X. gemacht! Und erst die Y.! Nein, Mademoiselle, neu muß man sein, und also auch originell. Man muß die Rolle ›geschaffen‹ haben, wie der Kunstausdruck lautet. Wenn dem nun so ist, dann ist vor allem nötig, daß ich Sie kennen lerne, denn Ihre Rolle muß Ihr eigentümliches Wesen widerspiegeln. Sich selbst spielt man ja doch am besten.«

»Es wird uns freuen,« sagte sofort Rambert, »wenn Herr Malevy mir das Vergnügen seines Besuches schenkt. Demoiselle Louison wohnt in meinem Hause und steht unter 40meiner Protektion. Nächster Tage gehen wir auf mein Landgut in der Gironde. Wenn Herr Malevy, welcher meines Wissens ein besonderer Naturfreund, uns dahin begleiten oder uns nachfolgen will, so wird er in den Reizen einer artigen Landschaft sich ergehen können, sei's wandelnd oder fahrend oder reitend, wie es ihm gefällt.«

»Reitend?«

»Ja wohl. Und wird im täglichen Verkehr auch das reizende Naturell meiner Mündel völlig auffassen können mit seiner unübertroffenen Fähigkeit, das Charakteristische und Pikante jeder Persönlichkeit spielend zu entdecken.«

»Bravissimo, Herr Rambert, ich bin dabei!«

Der Vorschlag gefiel Herrn Malevy über die Maßen. »Natur! Natur!« rief er, »das ist meine schwache Seite. In diesem Steinhaufen Paris vertrocknet man endlich.«

Und dabei wendete er sich mit neuen Fragen und Fragen über ihre Lebensschicksale an Louison. Sie wußte sich gar nicht zu retten vor dem eindringlichen kleinen Manne, der's absolut nicht glauben wollte, daß sie noch gar keine Lebensschicksale gehabt hätte. »Die haben Sie ja doch gehabt,« versicherte er, »und die werd' ich auch erfahren, zuverlässig, Mademoiselle, die muß ich erfahren. Sie werden ja der Faden unseres Stückes.«

Dabei strich er einmal um das andere seinen buschigen Backenbart, welcher ein feistes, rosig gefärbtes Gesichtchen mit funkelnden Augen begrenzte. Ein feiner Mund und eine unerschöpflich witzige Suade machten, daß man bei all' seiner Petulanz ganz angenehm von ihm berührt wurde.

Es ward dann abgemacht, daß er binnen vierzehn Tagen nach Ramberts Landgute in der Nähe des Städtchens Pons käme, und daß er dort das neue Stück schreibe, dessen Entwurf ja wohl in den nächsten vierzehn Tagen gemacht sein würde.

»Wird! Wird entstanden sein, entsteht schon!« rief er enthusiastisch, und hierauf trennte man sich.

41Einige Tage nachher reiste Rambert mit Louison und ihrer Mama nach dem Süden. Juron wollte ebenfalls später nachkommen.

Rambert war also jetzt eine Zeitlang allein mit Louison, denn Mama zählte nicht, und er war wie auf eine große Probe begierig: wie sich Louison im einfachen Landleben, vorzugsweise auf den Zauber der stillen Natur angewiesen, zeigen oder entwickeln werde. Das schien ihm von größter Wichtigkeit zu sein in bezug auf das innere Wesen und den tieferen Charakter Louisons. Hat sie dafür keinen offenen Sinn, meinte er, und findet sie darin keinerlei Genüge, so ist ihr Künstlertum doch nur ein oberflächliches und eitles. Zeigt sie jedoch volle Empfänglichkeit dafür, dann ist das Mädchen ein Schatz, der sorgfältig gehütet zu werden verdient.

Jedoch auch für diesen zweiten günstigen Fall regte sich kein eigentlicher Liebestrieb im Herzen Ramberts. Er hatte sie lieb und würde sie doppelt lieb haben, sagte er sich, wenn ihre Entwickelung gleichen Schritt hielte mit ihren bisherigen Vorzügen; aber an eigentliche Liebe dachte er nicht, und es schien auch wirklich keine Anlage mehr in ihm vorhanden zu sein für eigentliche Liebe.

Die Landschaft um sein Gut herum war einfach und angenehm. Er hatte dies sein Landgut Beaurepos genannt und war gern dort während eines Teils des Sommers. Das Wohnhaus war ein altes Schlößchen aus der Zeit Franz I., der unweit von hier aufgewachsen war und nach der Charente hinauf viel verkehrt hatte. Das Schlößchen war umgeben von uralten Bäumen, Resten jener »haute futaie« welche als hohe Wälder der Stolz des alten Adels, der eigentlichen Grandseigneurs gewesen waren. Diese prächtigen Bäume, Ahorn und Platanen in der Mehrzahl, erstreckten sich vom Schlößchen bis hinab zum kleinen Flusse auf einem grünen Rasenboden und bildeten nicht sowohl einen Park als einen großen Hain. Nordwärts vom Schlößchen stieg das Land 42hügelförmig in die Höhe, und hier auf trockenem Boden zog sich ein Nadelholzwald weit hinaus, welcher Rambert ebenfalls gehörte. Rambert hatte keine Neigung zur Jagd, aber für seine Gäste ließ er hier das Wild schonen und hegen. Seitwärts oberhalb des Schlößchens, also dicht am Nadelholzwalde, standen die Wirtschafts- und Stallgebäude, und hier wohnte der Verwalter des Gutes, zu welchem unten jenseits des Flüßchens links und rechts hügelauf und hügelab Getreidefelder und Weingärten gehörten.

Vom Schlößchen abwärts hatte man durch den Hain einen vielfach offenen Ausblick auf den Fluß und auf ferne bewaldete Höhen jenseits des Flusses. Hier an diesem Aussichtspunkte hatte Rambert am Schlößchen eine Veranda anlegen lassen, in welcher er sich den größten Teil des Tages aufhielt, und hier saß er jetzt an einem Morgen des Frühsommers. Die Vögel im Haine sangen noch, warme Stille lag ringsum verbreitet, und hier begann Ramberts Prüfung, ob im Herzen Louisons Raum und Empfänglichkeit wäre für die stille Natur.

Das alles war ihr neu und schien ihr sehr zu gefallen. Sie sprach wenig und hörte mit großer Aufmerksamkeit zu, wie Rambert die einzelnen Reize dieser stillen Welt hervorhob.

Ihm selbst schien sie dabei näher und näher zu kommen, das heißt, sie wurde vertraulicher, als ob eine Zärtlichkeit in ihr aufwachte, welche bisher in ihrem munteren Wesen gar nicht vorhanden gewesen. Sie fuhr ihm mit der Hand in das lockige schwarze Haar und sagte: »Neulich in der Vorlesung flüsterte eine der Damen ihrer Nachbarin zu: du könntest ein Asiate sein, ein Perser oder Armenier! wie Herr Malevy wohl einer ist. Bist du so was! Nein!«

»Nein. Wir aus dem Süden Frankreichs grenzen eben näher an die Orientalen.«

»Nein, du bist keiner. Sonst könnt' ich nicht so nahe mit dir verkehren. Vor einem Orientalen, wie du's nennst, würde ich mich scheuen, der hat was Fremdes.«

43»Und du scheust dich vor mir nicht?«

»O, gar nicht!« und dabei küßte sie ihn auf die Wange.

Das war ihm ganz behaglich, aber es war ihm doch nicht mehr, und er fuhr gleichmütig fort: »Ich weiß, was du willst, Schmeichlerin!«

»Jean!« rief er, und Jean trat aus dem Schlößchen.

»Jean, ist der Damensattel von Bordeaux angekommen?«

»Jawohl!« antwortete Jean nicht ohne Ärger.

»Ah! bist du lieb!« jauchzte Louison.

»Der Reitknecht Jacques soll ihn auf die Fuchsstute, auf die Sochne, legen und für mich den Scheitan satteln.«

»Gleich hinaus? Aber ich habe noch nie auf einem Pferde gesessen.«

»Die Sochne ist lammfromm, und wir reiten heute nur Schritt, damit du nicht herunterfällst. Zieh' dein Reitkleid an.«

Kurz, nach einer Viertelstunde hatte er sie aufs Pferd gehoben und ihr deutlich auseinander gesetzt, wie sie die Zügel zu führen und wie sie das Knie anzupressen habe, und zwischen ihm und Jacques auf der anderen Seite ritt sie langsam durch den Hain zum Flusse hinab. Sie war selig. Alles begriff sie schnell, und Rambert meinte deshalb, man könnte sogleich einen Ausflug über die Brücke hinüber in die Hügellandschaft wagen. Es ging wirklich; sie saß bald ganz unbesorgt auf dem Rosse und schaute guten Mutes umher, einzelne Partien der Gegend mit einem »hübsch!« auszeichnend, so daß Rambert meinen konnte: sie hat Sinn für die Natur! Da kam eine Störung. Ein Bauer mit einem Esel zog an ihnen vorüber, und der Esel schrie plötzlich. Sochne erschrak, zog sich zusammen und Louison verlor den Sitz. Sie sank nach der Seite in Ramberts Arme, der sein Pferd rasch an Sochne hinangedrückt hatte. Jacques seinerseits hatte Sochne sogleich am Zügel festgehalten, und Louison konnte sich wieder in ihren Sitz einrütteln.

44Da war eine Umarmung vorgefallen, und Rambert – nein, auch diese Umarmung ging spurlos an ihm vorüber. Er blieb der Onkel.

Louison selbst war nicht besonders erschrocken und sagte gefaßt: »Ich weiß nun, worauf es ankommt; ich muß das Knie immer fest andrücken, das vergess' ich nicht mehr.«

Sie vergaß es wirklich nicht, sie hatte auch für diese Kunst Geschick. Tägliches Ausreiten brachte es in einer Woche dahin, daß sie allein ihr Pferd führen und daß Jacques hinter ihr zurückbleiben konnte. Nach vierzehn Tagen ritt sie ganz tapfer.

Aber nun wollte sie früh und spät reiten, und Rambert brachte es nicht mehr zu einem Spaziergange mit ihr, dessen gesammelte Stimmung ihm gestattet hätte, ihren Sinn für Naturreize zu beobachten. Und nun kam Herr Malevy dazu. Jetzt war die Prüfung unmöglich, die Einsamkeit zu zweien war am Ende. Er hatte nur erfahren, daß sie ein rasches Auge besitze für malerische Punkte der Landschaft, weiter nichts.

Nun war die Zerstreuung da mit dem witzigen Schriftsteller, der immer witzig sein wollte und es auch wirklich meistens war, eine Lockung, welcher Louison immer folgte. Dabei, gestand sich Rambert, kann sich kein Seelenleben entwickeln.

Wohl aber entwickelte sich Malevys Stück. Das Gerippe der Komödie, welches er mitgebracht, war darauf berechnet, daß jeder Akt mit einem Lebensakte Louisons ausgefüllt würde. Sie mußte also erzählen, ausführlich erzählen, was sie noch von ihrer frühesten Jugend wußte.

Bei der Erziehung im Kloster sollte der erste Akt beginnen. Der Verkehr mit den Mitschülerinnen sollte lustig zur Einleitung dienen. Dann sollte eine, die im Alter etwas vorgerückt war, den Mittelpunkt der Intrige bilden. Sie hatte Billetdoux nach außen gewechselt, sie hatte ein Rendezvous im Klostergarten gewagt. Ganz zufällig kommt Louison in die Nähe und hört mit Staunen die gegenseitigen 45Liebeserklärungen. Sie findet das sehr hübsch. Aber die Intrige ist von der Oberin entdeckt worden, das Rendezvous wird gestört, wird überfallen, und es folgt eine feierliche Untersuchung. Louison, welche man in der Nähe gesehen, soll Zeugnis ablegen. Wie benimmt sie sich? Lügt sie? Sie lügt nicht, sagt aber nichts aus zum Schaden der Mitschülerin; kurz, es kommt ein schlagender Moment für eine – ingénue. Dann folgt die Aufführung eines Stückes, und da extemporiert sie in bezug auf Liebesschwüre allerliebst.

Zweiter Akt. Glühendes Verlangen Louisons nach dem Theater. Unterrichtsstunden bei Rambert. Naive Äußerungen Louisons als ihr das Talent abgesprochen wird. Komische Verzweiflung und dann herzhafter Entschluß zur Flucht. Vorbereitungen dazu mit den Kleidern. Dann küßt sie den schlafenden Vater. Rührung. Mitten in der Rührung stiehlt sie dem Vater Geld und begründet in einem merkwürdigen Monologe ihr Recht zu dieser Missetat.

»Notabene,« schob Malevy dazwischen, »bei den Unterrichtsstunden müssen wir die notwendigen Liebesverhältnisse vorbereiten. Das Mädchen versteht es noch nicht, wenn der Vortragsmeister Liebesregungen für sie empfindet.«

»Sind Sie toll, Malevy, mir solche Dinge öffentlich anzudichten!« rief Rambert, welcher nicht weit von ihm und Louison in der Veranda sein Journal las.

»Toll? Wie so? Ich kann doch nicht ein Drama zustande bringen ohne Liebesneigung und Liebessteigerung? Hier ist ja nur von einer kleinen Flamme die Rede, welche ganz natürlich –«

»Und ganz Paris erführe, daß der verliebte Seladon mit kleiner Flamme Professor Rambert wäre!«

»Ah, das wäre charmant!« rief Louison.

»Charmant? Das verbitt' ich mir ernstlich. Törichtes Mädchen! Ich war nie in dich verliebt und bin es nicht. Malevy, das geht nicht.«

46»Geduld! Geduld! strenger Herr. Das Publikum braucht's ja nicht zu glauben. Die Eltern nur sollen's glauben, Papa und Mama Miot. Die eigentlich erste Liebschaft kommt ja erst in Paris, die Liebschaft mit einem Seiltänzer.«

»Was?!« schrie Louison.

»Sie werden ja rot! 's ist also richtig.«

»Nein Malevy,« sagte Rambert aufstehend, »eine so grelle Benutzung wirklicher Vorgänge für ein Theaterstück ist unzulässig.«

»Unbesorgt, edler Professor! Das sieht nur in der Skizze so grell aus, in der Ausführung verschwinden die Ähnlichkeiten. Aber sie haben recht: man muß ein Stück nicht komponieren in Gegenwart der Personen, welche darin vorkommen und handeln sollen. Die schreien immer. Basta! Mademoiselle Louison, Sie haben versprochen, mit mir spazieren zu reiten.«

»Können Sie denn reiten, Pariser?« fragte Rambert.

»Na, ob! Alle freien Künste sind mir untertan.«

Es geschah, wie er wünschte; und er fiel richtig vom Pferde, aber auf eine so drollige Weise, daß Louison herzlich dabei lachen konnte und daß auch Rambert lachte, als Malevy wie Falstaff auseinander setzte, daß er diesen Fall, das heißt einen Purzelbaum beabsichtigt habe, um das Herz Louisons für sein Stück zu prüfen. Seine Voraussicht über den Charakter dieser Dame habe sich bewährt: so wie sie keine Dankbarkeit kenne, so empfinde sie auch kein Mitleid. Ehe sie noch gewußt, ob er den Hals oder wenigstens einige Rippen gebrochen, habe sie aus vollem Halse gelacht. Dankbarkeit und Mitleid seien untergeordnete Empfindungen für ein künstlerisches Genie, und das sei von Wichtigkeit für sein Stück.

Rambert blieb nicht ohne Besorgnis, daß Malevy, ein sehr indiskreter Gesell, ihn und Louison kompromittieren könne in seinem Drama, und beauftragte den endlich ankommenden 47Juron, dies zu verhindern. Juron hatte als Schriftsteller größere Macht über Herrn Malevy und bezweifelte nicht, daß er mit ihm zustande kommen werde.

Dabei vergingen die heißen Sommertage, und man rüstete sich zur Reise nach Biarritz. Über das innere Wesen Louisons war Rambert nicht eben vorgerückt an Kenntnis, denn es zeigte sich nicht klar, ob ihr Sinn für die Natur mehr wäre als karges Wohlgefallen an landschaftlichen, also nur an malerischen Reizen. Und auch ein zweiter Versuch der Aufklärung über ihr inneres Wesen führte nicht zum Ziele. Dieser zweite Versuch betraf die Lektüre. Rambert gab ihr Bücher aller ersinnlichen Art und ermahnte sie zum Lesen derjenigen, welche ihr zusagten. Dadurch allein sei Bildung zu erwerben. Sie las hier und da, weil er eben nachfragte, ein Buch, und beim Gespräch über dasselbe zeigte sich, daß sie es gut gelesen. Sie kannte den Inhalt genau. Aber ihr Bericht verriet, daß ihr die Lektüre kein besonderes Interesse erweckt hatte, und sie zeigte niemals Lust, ein neues Buch anzufangen.

Zweifelnd blickte Rambert auf das ungetrübt heitere Mädchen, welches täglich in Malevy drang, ihr die Rolle einzuhändigen, welche sie in seinem Stücke zu spielen hätte. Dies interessierte sie mehr als alles.

Jean, welchem der Briefbote aus Pons täglich die angekommenen Briefe einhändigte, berichtete seinem Herrn Rambert außerdem, daß allwöchentlich ein Brief an die Demoiselle ankomme, welcher sicherlich vom Clown Rosas herrühre. Ramberts Zweifel wurden dadurch nur erhöht.

Die Abreise war endlich auf den nächsten Tag festgesetzt. Malevy, welcher fleißig gearbeitet hatte an seinem Drama, wollte nach Paris zurück, weil er das Landleben doch verdummend fand, und bat Louison am letzten Abend um einen Besuch auf seinem Zimmer. »Erschrecken Sie nicht,« sagte er lachend, »ich bin ein Kurmacher ohne Konsequenz, ich kann nicht einmal kompromittieren. Und es handelt sich gar nicht 48um mich, sondern um unsere Komödie und um Ihre Rolle. Die Komödie ist so gut wie fertig, Sie sollen sie in den Hauptumrissen kennen lernen, damit Sie ihre Rolle verstehen, und Sie sollen Ihre bereits ausgeschriebene Rolle in Empfang nehmen.«

»Ich komme.«

»Aber Sie sollen darüber gegen die Herren Rambert und Juron absolut schweigen.«

»Ich werde schweigen.«

So kam sie denn äußerst neugierig auf sein Zimmer, und es zeigte sich in seiner Einleitung, daß er die Beziehungen auf Rambert und auf Rosas vollständig angebracht hatte, und daß sie selbst sprach und handelte, wie sie in ihrem bisherigen Leben gesprochen und gehandelt hatte.

Sie erschrak, erschrak von Szene zu Szene mehr, sagte aber nichts, sondern blickte ihn am Ende nur schweigend an.

»Nun, gefällt's Ihnen?«

»Sehr. Aber –«

»Schönes Kind,« sprach er plötzlich mit ungewöhnlichem Ernste, »was man will, das muß man ganz wollen. Sie wollen eine Schauspielerin von Wirkung werden?«

»Ja.«

»Sie wollen mit Ihrem ersten Auftreten in Paris einen durchschlagenden Erfolg erringen?«

»Ja.«

»Nun, hier in diesem Manuskripte sind dazu die richtigen Mittel. Das weiß ich. Schwächen Sie diese Mittel ab durch Rücksichten auf persönliche Bekanntschaft, so schwächen Sie das Stück und schwächen Ihre Rolle, ja wir verderben wahrscheinlich beides. Ich sage verderben. Denn gerade in diesem Punkte, den Sie abschwächen wollen, pulsiert die eigentliche Kraft des Stückes und Ihrer Rolle. Verstehen Sie mich?«

»Ich glaube, ja.

49»Nun, so zeigen Sie, daß Sie eine künstlerische Natur sind, daß Ihnen die Kunst und der künstlerische Erfolg höher steht als irgend ein Privatverhältnis. Akzeptiren Sie Stück und Rolle, wie sie wirkungsvoll vorliegen, und verschweigen Sie Rambert, Juron und jedermann, wie Stück und Rolle beschaffen sind. Wollen Sie?«

Nach kurzer Pause sagte sie: »Ja, ich will.«

«Bon! Da ist die Rolle. Niemand darf sie sehen, und Sie werden dieselbe in der Stille lernen. Wenn es im Herbst zu den Proben kommt, dann werd' ich dafür sorgen, daß niemand zugelassen wird, auch Juron und Rambert nicht. In unserem Falle mit einer wichtigen Debütantin, welche überraschen soll, erzwingt das der Direktor unter dem Vorwande, daß der Reiz der Neuheit vollständig gewahrt werden müsse.«

Und nun erzählte er ihr den ganzen Vorgang des Stückes und las ihr wichtige Szenen ganz vor, so daß sie nach einer Stunde den Gang des Stückes, den Zusammenhang mit ihrer Rolle kannte.

Als er fertig war, wiederholte er die Frage: »Wir sind einig über unverbrüchliches Schweigen?«

»Einig« – antwortete sie festen Tones, ihren Freund und Wohltäter entschlossen verratend.

»Und nun,« fuhr er fort, »bitt' ich mir pränumerando einen Kuß aus für den vorbereiteten Triumph!«

Dabei putzte er sich den grauen Schnurrbart mit dem Taschentuche ab – er war leider ein Schnupfer – und breitete die kurzen dicken Arme aus.

Louison machte keine Umstände, sondern lachte und verabreichte ihm diesen Kuß.

Des anderen Tages reiste er mit seinem verräterischen Manuskripte nach Paris, und Rambert, Juron, Louison und Mama reisten nach Biarritz.

Rambert hatte keine Ahnung, daß ihn sein künstlerisches50Pflegekind so ganz als Künstlerin behandeln und hintergehen könnte.


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