Kurd Laßwitz
Aspira
Kurd Laßwitz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Im Laboratorium

Vergeblich suchte Wera den Schlummer.

Sie war ratlos. Sie schämte sich dieser Liebkosung beim Abschiede, – das war eine Willensanstrengung, aus langem inneren Ringen hervorgegangen, und doch, sie fühlte es, ein leeres Spiel, ein künstliches Feuer, das ihr keine innere Wärme gab. War es nicht ein Betrug?

Sie wußte ja genau, wie glücklich er jetzt sein würde. Und wie gönnte sie ihm dies Glück, wie innig wünschte sie, es ihm so zu geben, wie sie es früher als Wera gekonnt hatte. Aber nun! Es war ja doch eine Verstellung. Würde sie es durchsetzen können, um seines Glückes willen sie zu üben? Durfte sie das?

Nein! Nein! So oft sie sich diese Frage vorgelegt hatte, immer zwingender schien ihr dieses Nein zu werden. Hinweg von hier, hinweg! klang es in ihr.

Sie war nahe daran gewesen, ihn zu bitten: »Gibt mich frei!« Aber warum? Was sollte sie ihm sagen? Daß sie sich in ihrer Liebe getäuscht habe? Um seinetwillen konnte sie den Mut nicht finden. Und sie selbst?

Zehn Wochen täglichen, vertrauten Zusammenseins, und doch keine Spur in ihren Adern, kein Hauch in ihrem Herzen von der Glut der Leidenschaft, von der verzehrenden Seligkeit, die Liebeswonne heißt – – Gebärden ohne Gefühl!

Und trotzdem hatte sie heute noch einmal den Versuch gemacht – – Eine neue Hoffnung hatte sich in ihr geregt. Woran sie gezweifelt hatte, daß sie die Liebe gewinnen konnte, die er verdiente, das erschien ihr nun nicht mehr unmöglich; das war der Gedanke, der ihr bei der letzten Wendung des Gesprächs über Undine aufgeblitzt war. Vielleicht konnte dieser Teil der Seele Weras wirklich erst von ihr errungen werden, wenn sie Pauls Frau geworden war. Vielleicht gehörte dazu dieses unverständliche Zusammenleben, das die Menschen Ehe nannten. Und wenn es Jahre dauerte – was sind Jahre für ein Wolkenleben? Sie mußten daran gegeben werden, wenn sie dadurch ihrer Aufgabe leben konnte, ohne sein Glück zu zerstören. Und wenn es dann gelang, wenn sie sich beiden nun wirklich ganz finden lernten, auch noch in diesem Innersten des Menschenseins, dann war es ja kein Unrecht, keine Lüge, keine Entwürdigung mehr, wenn sie bis dahin sich zwang, das zu scheinen, was sie werden wollte, werden würde. Sie mußte den Schmerz der Zärtlichkeit darangeben, bis er sich in Lust und Glück verwandle, solange noch eine Hoffnung des Gelingens war.

Und darum hatte sie ihn heute so glücklich gemacht. Und sie barg das Gesicht in ihre Hände und weinte.

Auf dem stummen Heimwege hatte sie sich das ausgedacht. Aber nun – nun kamen ihr doch wieder Zweifel, und sie fuhr empor von neuen Fragen durchwühlt. Die Unwahrheit! Was halfen da Beschwichtigungen! Selbst in dem Vertrauen, Paul alles zu werden, was er von Wera erhoffte, durfte sie diesen Bund eingehen, wenn sie ihrem Manne das Geheimnis ihrer Herkunft für immer verschweigen mußte? Menschen können sich ja lieben und ein gemeinsames Leben führen und doch ganz verschiedene Ansichten über Welt und Dinge haben, aber sie müssen es voneinander wissen, sie müssen sich verstehen, sie müssen es sich sagen können und ihre Gründe achten. Sie aber konnte niemals sagen: »Du hast eine Wolke geheiratet.«

Warum nicht? Es war ihr verboten. Dennoch, wenn sie sich entschloß, ein Mensch zu bleiben und nie wieder mit dem Wolkenreich in Verkehr zu treten, so war sie auch an das Verbot des Vaters nicht gebunden. Aber das durfte sie nicht eher, bis sie ihre Sendung erfüllt hatte, bis den Elementen das Verständnis für die Aufgabe der Menschen erschlossen war. Das konnte sie nur durch diese Seelenmischung erreichen. Sonst verlor sie die Macht des Zusammenhangs und der Vermittlung. Also mußte sie hinaus zu den Geistern der Berge, ehe sie das Band der Menschheit unauflöslich um sich legte.

Aber wenn es wirklich einmal dazu käme, daß sie die Wahrheit sagen durfte um ihrer Aufgabe willen – würde denn das jemals möglich sein um der Menschen willen? Das hatte sie eben vorläufig erproben wollen. Und heute hatte sie ja deutlicher wie je gesehen – man würde ihr nie glauben. Diese Menschen konnten sie nicht verstehen. Man würde sie für geistesgestört halten, für wahnsinnig!

Und Paul! O Gott! Auch für ihn wäre sie die Unzurechnungsfähige, die sich an eine fixe Idee klammert. Ja, das war die Angst, die manchmal leise in seinem Auge, in seinen verständnislosen Mienen zuckte, wenn sie von den Elementargeistern sprach. Und diese Angst, diese Qual – würde sie ihn nicht vernichten? Zum mindesten ihr gemeinsames Leben würde sie zerstören. Er würde sie ertragen, wie man einen unheilbaren Kranken erträgt – aus mitleidiger Liebe – doch das war kein Leben. Dazu wird man nicht ein Mensch. Und das durfte sie um seinetwillen nicht tun.

Sie grübelte verzweifelt. Gab es keinen Ausweg?

Nur dann, wenn sich Paul von der Wahrheit überzeugen ließ, daß ihre Sendung zu den Menschen kein Spiel wahnwitziger Phantasie sei, wenn er begriff, daß es Elementargeister gibt, daß ein Verkehr zwischen ihnen und den Menschen möglich ist. Aber das wußte sie schon jetzt, das würde bei ihm niemals eintreten.

Sollte sie ihr Menschsein aufgeben, ihre Sendung verleugnen? Statt des Leides lieber das freie, sorglose Spiel der Wolke wieder wählen? Das durfte sie doch nicht, ohne zuvor sich den Rat des Vaters geholt und versucht zu haben, die Geister der Berge für ihr Werk zu gewinnen.

Ja, sie mußte hinauf in die Heimat. Vielleicht konnte sie von dort mit neuen Hoffnungen zurückkehren.

Aber eines mußte vorher noch hier geschehen. Noch eine Hoffnung mußte sie verfolgen. Sie war es auch ihm schuldig, dem sie so vieles zu rauben drohte. Wenigstens die Sorge sollte er nicht haben, daß seine Braut ihres klaren Verstandes nicht mehr mächtig wäre. Die Liebe, die sie ihm gab, sollte ihn nicht nur zur mitleidigen Duldung ihres Glaubens führen, er sollte ihr Recht anerkennen, er wollte gewiß werden, daß sie bewußt und pflichttreu wie er selbst eine geprüfte Überzeugung vertrat.

Und dann, dann mochte die letzte Entscheidung fallen nicht hier, sondern dort, wo ihre letzte Zuflucht war – –

Aus angstvollen Träumen durch ihre Gedanken immer wieder aufgeschreckt, versank Wera erst gegen Morgen in einen wohltätigen Schlaf. Später als gewöhnlich erwachte sie.

Auf dem Frühstückstisch fand sie einen Brief mit dem Poststempel »Schmalbrück«. Neugierig öffnete sie. Von Martin, dem Ingenieur. Sie war von Schmalbrück abgereist, ohne ihn seit ihrer Unterredung im Walde wiedergesehen zu haben. Von Weidburg aus hatte sie ihm einen Abschiedsgruß geschickt, aber nichts mehr von ihm gehört.

Sie las:

»Hochverehrtes Fräulein! Das Interesse, das Sie bei unserer letzten Unterredung über den Tunnelbau bekundeten, und die wichtige Anregung, die ich durch Ihre Bemerkung über die Quelle im Silbertobel empfing, geben mir den Mut, mich in dieser Angelegenheit an Sie zu wenden. Auch fühle ich mich verpflichtet, Ihnen meinen innigsten Dank auszusprechen und zugleich über den Verlauf der Angelegenheit zu berichten.

Die genauere örtliche Untersuchung und die chemische Prüfung des Wassers an verschiedenen Stellen des Tobels haben Ihre Vermutung durchweg bestätigt. Doch hat sich gezeigt, daß in einer kleinen Parallelschlucht etwa 200 Meter weiterhin eine zweite, schwächere Quelle ähnlicher Art auf ein nochmaliges Auftreten von Kalk hinweist. Bedenklicher sind gewisse Erscheinungen beim Fortschritt des Tunnels, die es wahrscheinlich machen, daß noch andere Verwerfungen in der Tiefe bei weiterem Vordringen von unten her unsere Arbeit bedrohen. Obgleich wir alle technischen Vorsichtsmaßregeln getroffen haben, um einem etwaigen Einbruch heißer Quellen sofort zu begegnen, hat sich die Direktion doch entschlossen, noch ein geologisches Obergutachten einzufordern, und beabsichtigt, sich zu diesem Zwecke an Herrn Professor Sohm zu wenden.

Dieses Ansuchen und der Bericht mit den erforderlichen Zeichnungen ging heute früh an Ihren Herrn Bräutigam ab. Vielleicht darf ich hoffen, daß Ihre Teilnahme an dem Schicksal des Tunnels dazu beitragen könnte, Herrn Professor Sohm zur Annahme des Antrages der Direktion geneigt zu machen.

Möchten Sie, hochverehrtes Fräulein, in erwünschter völliger Wiederherstellung Ihres Befindens diese Zeilen empfangen, mit denen sich Ihnen empfiehlt Ihr aufrichtig ergebener Theodor Martin.«

Die Nachricht konnte Wera nur halb befriedigen. Sie fühlte sich aufs neue beunruhigt, und ihr Entschluß erstarkte nur um so mehr, das Innere des Berges so bald wie möglich selbst in Augenschein zu nehmen, wenn – ja wenn sie wieder die Macht dazu hatte.

Sie beeilte sich, in das chemische Laboratorium zu kommen, wo sie jetzt die einzige noch Arbeitende war. Kaum hatte sie ihre gewohnte Beschäftigung aufgenommen, als Sohm bei ihr eintrat. Er legte schnell einen Stoß Papiere aus der Hand und zog Wera in seine Arme. Von gestern sprachen sie nicht mehr.

»Ich weiß schon, was du da bringst,« sagte sie endlich. »Ich habe auch einen Brief erhalten.«

»Von der Direktion?«

»Nein, von dem Oberingenieur am Tunnel. Ich habe dir ja erzählt, daß ich dort war und dann die Silberquelle aufgesucht habe.«

»Ja, und deine Vermutung war richtig, wie die Analysen in Zürich zeigen. Da weißt du wohl schon, daß ich zu einem Gutachten aufgefordert bin?«

»Tu's doch!« sagte sie, seine Hand ergreifend und sich an ihn lehnend.

»Wenn du's willst, so wird wohl nichts anderes übrig bleiben,« antwortete er glücklich. »Aber es müßte dann sofort sein. Bekomme ich denn so leicht Urlaub von dir?«

»Es ist ja nicht auf lange.«

»Siehst du,« sagte er lächelnd, »das kommt nun davon. Wärest du schon mein Frauchen, wie ich eigentlich wollte, so könnten wir jetzt zusammen hingehen.«

»Wer weiß, wo wir da jetzt wären,« sagte sie. »Aber« – sie stand nachdenklich – »vielleicht – vielleicht könnte ich dich einmal besuchen. Ich könnte ja auf ein paar Tage nach St. Florentin gehen, da kommst du leicht hinüber –«

»Abgemacht!« rief er fröhlich. »Das muß besiegelt werden, du geliebtes –«

Auf dem Arbeitstisch zischte etwas.

»Himmel, mein Apparat!« rief Wera und sprang hinzu, um zum Rechen zu sehen.

Sohm holte die Papiere. »Ich habe mich schon so ziemlich orientiert,« sagte er, während Wera sich vor den Tisch setzte. »Ich werde heute telegraphieren und den Nachtzug benutzen.« Er blätterte in den Plänen.

»Und was denkst du denn über den Fall?« fragte Wera gespannt.

»Soweit ich sehe, glaube ich eigentlich nicht an eine Gefahr. Nach der Stärke deiner Silberquelle muß der Gneis das brüchige Kalkband ganz abschließen. Die zweite Quelle ist schwach und viel weniger kalkhaltig, sie kann also garnicht mit der ersten zusammenhängen. Dort liegt wohl nur ein versprengtes Stück der Schicht. Aber freilich – die Temperaturzunahme macht Bedenken – da muß ich erst einmal an Ort und Stelle sehen, wie die Schichten liegen.«

»Es würde mich wirklich sehr freuen,« rief Wera, »wenn alles gut ginge!«

»Wohl um des Herrn – wie heißt er?«

»Martin. Ja. Er würde mir so leid tun. Und er ist so nett.«

Sohm drohte lächelnd mit dem Finger. »Da muß ich schon einmal hin, um mit den Mann anzusehen. Übrigens – so sicher ist die Sache keineswegs. Da der Kalk offenbar in der Tiefe zermalmt ist, kann von dort aus irgendwo ein Schlammerguß nach oben gedrückt werden. Kein Mensch kann so einem Berge in den Leib sehen.«

»Ein Mensch freilich nicht, aber –«

»Wera, du willst doch nicht wieder von dem unglücklichen Thema anfangen? Lassen wir das doch nun –«

»Aber Paul, du siehst doch, hier ist einmal ein Fall, wo der Geologe fast machtlos ist. Wenn es jedoch ein Wesen gäbe, das nun wirklich durch die Kalkschicht in ihren verschiedenen Teilen hindurchstreichen könnte –«

»Das gibt's auch. Wasser oder Luft.«

»Ja. Wenn dir aber dann das Wesen genau sagen könnte, wie die Schicht verläuft und in welchem Zustande –«

»Hm! Ja! Das wäre ganz schön. Das Wasser brauchte nur Kompaß, Barometer, Thermometer und Geschwindigkeitsmesser mitzunehmen und seine Route kartenmäßig festzulegen, und dann müßte es sich etwa noch ein menschliches Sprachorgan anschaffen – oder meinst du, daß eine Schreibmaschine genügen würde?«

»Du bist unausstehlich!«

»Aber, lieber Schatz, du kannst doch nicht verlangen, daß ich solche Reden ernst nehme?«

»Warum nicht? Wenn das Wasser oder die Luft nun Bewußtsein besitzt und ein so feines Orientierungsvermögen, daß es seinen Weg ohne Instrumente kennt, und wenn es dann sein Bewußtsein in das eines Menschenhirns umsetzen könnte –«

»Wenn und wenn! Wenn du nichts Gescheiteres weißt, so schließe wenigstens deine Waage ab, damit man dir einmal in die nichtsnutzigen Augen sehen kann.«

»Du sollst sehen, daß ich ganz vernünftig bin,« sagte Wera, indem sie den Glasverschluß der Waage zuschob und aufstand. Dann trat sie dicht an Sohm heran und legte die Arme um seinen Hals.

»Nun sieh mir in die Augen,« rief sie, »und sage, ob ich verrückt bin.«

»Die Pupillen sind groß –«

»Weil ich in deine schwarze Seele schaue. Aber die Lippen sind ganz kühl, nicht wahr? Bist du mir noch böse?«

Er war machtlos. Sie lehnte sich an ihn und flüsterte:

»Weißt du, was ich heute Nacht geträumt habe? Wir waren irgendwo zusammen, und du – so wie jetzt – und auf einmal war ich ein kleines, ganz kleines Wölkchen, und mit einem Atemzuge sogst du mich ein, ohne es zu wissen. Und nun war ich in dir, ganz, in diesem furchtbar klugen Kopfe, und wußte alle deine Gedanken. Aber auch du – du kanntest mich nun ganz und verstandest, warum ich an die Beseelung der Elemente glaube. Und da sagtest du: Da hat die Wera in ihrer Art doch auch recht, und sie ist wirklich nicht verrückt. Das will ich ihr doch gleich sagen. Da sahst du dich nach mir um und suchtest mich überall, aber ich war nicht mehr da, ich war ja in dir, ganz in dir. Und ich sah, wie du dich um mich ängstigtest und dich quältest, und deine Qual war mein Qual, und ich fühlte ich so namenlos elend, daß ich laut aufschrie: Zu spät! Da wachte ich auf und war so froh, daß es nur ein Traum war.«

»Du mein geliebtes Glück, du bist ja meine gute, verständige Wera! Aber wenn du immer diesen mystischen Gedanken nachhängst, so darfst du dich nicht wundern, wenn sie dich schließlich bis in den Traum verfolgen und ängstigen.«

Sie schüttelte traurig den Kopf. »Meine Gedanken ängstigen mich ja gar nicht, nur die Sorge, daß ich dich kränken, daß du um meinetwillen dich beunruhigst. Das ist es, was mich quält. Was der Traum zeigt, ist sinnlos, aber die Stimmung, aus der er kommt, ist echt. Und Sorgen wollen wir uns doch nicht machen. Deshalb bitte ich dich, Paul, vertraue mir, glaube mir, daß ich weiß, was ich denke, daß meine Gedanken nicht verworren sind, wenn sie dir auch wunderlich erscheinen, und – ängstige dich nicht um mich und mein bißchen Verstand!«

»Um Gotteswillen, Wera, was sagst du da!«

»Sei gut. Ich weiß doch, daß es dich beunruhigt, wenn ich solche Ansichten äußere. Ich will sie ja auch möglichst unterdrücken. Aber ich kann mich doch nicht selbst verleugnen. Meinen Glauben mußt du mir schon lassen.«

»Aber Herz, das versteht sich doch von selbst, daß du deine Freiheit hast, und daß ich sie achte. Glauben magst du ja, was du willst. Und ich bin auch sicher, daß wir in dem Wege übereinstimmen, den unsere Arbeit zu nehmen hat; wir wissen beide, daß es keine andere Erkenntnis gibt, als durch die Erforschung des Gesetzes.«

»Ja, Paul.«

»Und durch die Mittel der Wissenschaft.«

»Ja, aber diese Mittel können erweitert werden unbeschadet der wissenschaftlichen Methode.«

»Unbeschadet? Siehst du, Wera, das eben ist die Frage. Das ist die Stelle, wo wir auseinandergehen. Der Weg, den du im Auge hast, ist ein Phantasma, ein subjektiver Glaube, ich sage eine Illusion. Und wer sich solchen Einbildungen hingibt, dem droht eine ungeheure Gefahr. Der überschreitet die Grenzen der Wissenschaft, der gewöhnt sich an eine spielende Beschäftigung des Geistes, die ihn verführt, den langsamen, mühsamen Weg aufzugeben und sein Glück auf seinem Sprunge ins Leere zu versuchen.«

»Nein Liebster. Was ich im Auge habe, ist nichts anderes, als es die Erfindung eines neuen Instrumentes wäre, ein neues Mittel, das wir noch nicht kennen.«

»Eben das ist die Gefahr. Mit diesem Suchen nach unmöglichen Erfindungen haben schon Unzählige ihr Leben vergeudet und –«

»Sprich es nur aus« – rief Wera, sich aus seinen Armen lösend.

»Nein, Wera! Ich will dich nur bitten, spiele nicht mit deinen Phantasien. Oder ja, spiele, aber eben nur da, wo dieses freie Spiel sein Recht hat, in der Dichtung. Doch in der Forschung, wo wir handeln müssen, wo wir nicht Gefühle formen, sondern Schlüsse, da bringe nichts hinein von dem, was im Reiche des schönen Scheins seine ewige Wahrheit hat, aber im Reiche der Wahrheit ewiger Schein bleibt und darum verwerflich ist. Wera! Wenn dir unser gemeinsames Werk heilig ist, so rühre nicht an dem Grunde, worin wir wurzeln.«

Wera ließ sich auf einen der hölzernen Schemel fallen und stützte ihre Arme auf den Arbeitstisch, das Gesicht in ihre Hände vergrabend. Sie hätte es hinausschreien mögen: Aber es ist keine Phantasie, ich weiß es besser! Ich bin selbst das Instrument, von dem ich rede. Ich bin das Wasser, das durch die Kalkschicht fließen kann. Und doch kann ich denken und reden wie die Menschen! Doch sie mußte sich bezwingen. So saß sie zusammengebrochen am Tische.

Sohm machte einige Schritte durchs Zimmer. Er konnte nicht verstehen, was Wera so heftig bewegte. Wie konnte sie so eigensinnig sein? Wie konnte ihr eine solche Marotte so tief gehen? War er denn unfreundlich gewesen? Hatte er etwas Heftiges gesagt?

Er trat an ihre Seite und legte den Arm um sie. Er versuchte ihren Kopf aufzurichten. Sie bewegte sich nicht.

»Habe ich dir wehe getan, Liebste?« fragte er sanft. »Sei doch nicht traurig. Du weißt doch, daß ich dir nur meine ehrliche Ansicht sagte, wie du mir. Und ich bin dir dankbar für dein Vertrauen. Ich habe dir gesagt, warum ich deine Ansicht für gefährlich halte, – weil sie nämlich bloß auf dem Gefühle beruht. Hast du ernste Beweise, so teile sie mit. Gründe kann man erwägen, Gefühle beweisen hier nichts. Kannst du mir etwas Faßbares sagen?«

»Ich will nicht,« murmelte sie.

Sohm stand ratlos, verzweifelnd. Er durchmaß das Zimmer und trat wieder neben sie. Er streichelte ihr Haar und küßte es.

»Wera,« begann er wieder, »es ist doch gar kein Grund, so trostlos zu sein. Es hat sich doch nichts zwischen uns geändert. Ich wollte dich nur warnen. Ich glaube ja an dich!«

Da richtete sie sich auf und sah ihn groß an.

»Du glaubst an mich? Und dieser Glaube genügt dir für unser Leben? Warum dann nicht der meine für unsre Arbeit? Kannst du Gründe angeben, die beweisen?«

»Ich könnte sagen, daß es sich hier um etwas ganz anderes handelt. Hier gilt es das Vertrauen zwischen Personen, und das beruht allein auf dem guten Glauben. Die Liebe ist kein Erkenntnisproblem. Aber ich kann dir auch Gründe angeben. Ich kenne dich seit Jahren. Ich weiß, wie sich deine wissenschaftliche Überzeugung gebildet hat, ich weiß, wie gewissenhaft und umsichtig deine Arbeit ist, ich kenne ihren Wert und den ehrlichen Ernst, der sie leitet. Diese Gründe beweisen mir, daß du deines Weges sicher bleiben und die Lockung der Phantasie überwinden wirst.«

»Nun denn,« antwortete Wera, indem sie sich erhob, »wenn du diese Überzeugung hast, dann mußt du auch wissen, daß ich ebenfalls Gründe für meine Ansicht besitzen werde. Dann mußt du wissen, daß ich, deine Wera, eine von der deinen so stark abweichende Anschauung nicht auf einem phantastischen Einfall werde gebaut haben, nicht auf ein Spiel der Einbildungskraft, und daß sie nicht eine Ausgeburt des Wahnsinns ist –«

Sie wehrte seinen Versuch, sich ihr zu nähern, mit einer hoheitsvollen Bewegung ab. Noch nie hatte er sie so gesehen, in stolzem Selbstbewußtsein, in heiligem Ernste, ihr Ich gegen das seine.

»Diese Gründe sind so gewiß,« fuhr sie fort, »wie ich hier vor dir stehe. Du aber verlange nicht, sie zu hören. Das mußte ich sagen. Mehr kann ich nicht. Und nun – ich bitte dich – sorge dich nie wieder um mich. Ich weiß, was ich tue.«

Beide sahen sich in die Augen. Vergeblich hoffte Sohm auf ein milderes Wort, auf einen versöhnenden Schluß. Wera schwieg.

Er fühlte sich verletzt. Er konnte nicht begreifen, warum sie ihm so feierlich begegnete.

»Aber ich glaube ja an dich,« sagte er endlich befremdet.

»Und ich wollte nur sagen,« antwortete sie ruhig, »daß an mich glauben nichts anderes bedeuten darf, als an den Ernst und die Klarheit meiner Überzeugung zu glauben.«

Er schüttelte den Kopf. Aber ihr Blick wurde so finster, daß er sie nicht aufs neue erzürnen wollte. Er schwieg.

Nun trat sie langsam auf ihn zu. Sie streckte ihm die Hand entgegen und sprach:

»Wir wollen uns Lebewohl sagen, Paul. Reise glücklich und hilf dem Tunnel.«

»Jetzt Lebewohl? Und so? Wir sehen uns doch noch am Nachmittag? Holst du mich denn nicht ab?«

»Ich glaube nicht. Ich bin müde, ich habe schlecht geschlafen und du hast noch viel zu tun. Laß mich lieber jetzt allein.«

»Aber heute abend bei Röteleins? Mein Zug geht erst um halb zwölf.«

»Ich kann es nicht versprechen.«

»Ich werde dich schon noch finden. Und es bleibt dabei, du kommst nach St. Florentin?«

»Wir können uns ja schreiben oder telegraphieren.«

»Ich rechne bestimmt auf dich. Also auf Wiedersehen.«

Sie waren inzwischen bis an die Tür gelangt. Er hielt ihre Hand fest und sah ihr angstvoll in die Augen, denn es war ihm, als wolle sie sich ihm entziehen.

Da fühlte er sich plötzlich wieder heiß umschlungen.

»Lebewohl«, flüsterte sie noch einmal und riß sich los.

Die Tür hatte sich geschlossen. Sohm stand auf dem Korridor. Er hatte seine Papiere liegen lassen. Sollte er noch einmal umkehren? Schon griff er nach der Klinke, da hörte er die Klingel, durch die Wera den Institutsdiener rief.

Sohm ging weiter. Er wollte später noch einmal nach ihr sehen.

Wera war auf einen Stuhl neben der Tür gesunken. Mit Gewalt hatte sie sich aufrecht gehalten. Jetzt war ihre Kraft gebrochen. Wie hatte sie sich zu dieser zärtlichen Hingebung überwinden müssen, um ihn nicht in seinem Glücke zu kränken, auf das er so volles Recht hatte. Und wie wenig hatte es doch genügt, ihn über das Recht ihrer eignen Überzeugung zu beruhigen! War das die Achtung vor der inneren Klarheit ihres Wesens? Wo war die Hoffnung – –?

Da vernahm sie die Schritte des Dieners.

Sie raffte sich zusammen und erhob sich. Sie wußte, was sie wollte.

»Guten Morgen, Fräulein Doktor.«

»Guten Tag, Herr Walter. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich jetzt gehe und in den nächsten Tagen nicht herkommen kann. Sie können die Sachen dort forträumen. Und dann – Herr Professor Sohm hat diese Papiere liegen lassen. Sie sind wohl so gut und tragen sie nachher hinüber. Und einen freundlichen Gruß von mir, bitte.«

»Sehr wohl, Fräulein Doktor.«

Wera verschloß ihren Schrank, setzte den Hut auf und verließ noch vor dem Diener das Zimmer.


 << zurück weiter >>